Walter Seidl
Anasthase und das Untier Richard Wagner
Walter Seidl

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6.

Anasthase stand am offenen Fenster und sah in den Herbst hinaus. Morgen sollte er also dieses Haus, die alte Straße davor, für immer verlassen! Das Zimmer, dessen Luft er jetzt noch atmete, das Zimmer mit seinen trauten Winkeln für immer verlassen – – ! Jetzt fühlte er, daß alles hier ihm doch sehr ans Herz gewachsen war. Obwohl er so lange schon auf nichts mehr geachtet hatte. Jeder Gegenstand hier verband ihn irgendwie mit seiner Kindheit . . . Und jetzt sah er auch, daß er recht arm geworden war, seither. Obgleich ja schon als Kind nie so voll Bewegungslust froh wie die anderen . . .

Es fröstelte ihn, als er jetzt an die Zukunft dachte, an Paris, diese große, graue Unbekannte. Seltsam, daß er Paris auf einmal so grau vor sich sah! Sonst hatte er doch gerade immer an ein Lichtermeer gedacht, wenn er sich Paris vorzustellen suchte . . .

Er stand und sah draußen den Herbst.

Und zum erstenmal ergriff ihn etwas am Wesen dieser Jahreszeit, daß es ihn lähmte: Die Bäume am Straßenrand! – Wie lichtlos der Himmel zwischen den Blättern durchschien! – –

Noch niemals hatte Anasthase eine so innige Verbundenheit mit dem Vater gespürt. Waren es die Bäume da draußen, die ihn heute so stark an den Toten denken ließen?

33 Im Sommer war es neun Jahre gewesen, daß sein Vater fiel. Neun Jahre! . . . Was mochte da heute von ihm noch bestehen!? Und welcher Ausdruck läge wohl auf seinem Gesicht, wenn er in ähnlichen Gedanken jetzt an diesem Fenster stünde und es wüßte, daß er in Flandern irgendwo tot liegt? – – Es quälte Anasthase, daß er sich die Gesichtszüge des Vaters nicht in jeder eingebildeten Situation vorzustellen vermochte. Wie oft hatte die Mutter ihm seither vom Vater erzählt! Alles, was sie selbst von ihm wußte. Und doch war er ihm nie so bekannt, so vertraut gewesen wie heute, wo ihn keine Erzählung, sondern nur ein paar farbig verlöschende Bäume mit dem Toten verbanden.

»Vater« – was für einen feierlich-eisigen Klang das Wort für ihn gewonnen hatte! Das Wort. Denn seinen Sinn suchte er noch. »Vater« – das ist etwas ganz anderes als alles übrige. Vieles ist in seinem Wesen wohl grundverschieden voneinander. Die Straßenlaterne dort drüben und das Mädchen zum Beispiel – was ist Gemeinsames an ihnen? Und doch scheint es, als glichen sie einander immer noch mehr, als der Sinn von »Vater« allem übrigen Wesen ähnelt. Nur eines hebt sich ebenso grundverschieden von allem restlichen Sein ab: Gott. Was alles ist aber nötig, um Gott mit leisem Schauer bloß zu ahnen! Und nennen die Menschen nicht auch ihn »Vater«? – – Die Mutter dagegen! Wenn in ihren letzten Gründen auch sie noch manches Dunkle, Verschleierte für den Sohn barg, von ihr hatte er doch Begriff, der festumrissen vor ihm stand, sobald er »Mutter« dachte. Wie sie jetzt in seinem Rücken beim Tisch saß und nähte, konnte er sie im Geiste Zug für Zug malen. Ja er wußte sogar, wie sie aussähe, wenn er sich 34 plötzlich umwenden und ihr zuschreien würde, er sei blind geworden, oder wenn sie allmählich Sicherheit gewänne, daß der Vater lebe und alles nur ein böser Traum gewesen. – – Sie kannte er also. So etwa, wie er Ravels »Petit Poucet« kannte, in jedem Ton. Den Ungeheuren aber, der bewirkte, daß die Mutter und daß die Klänge in der Welt waren, den kannte er noch um vieles weniger als den Vater in Flandern . . .

Ja, was wußte er schließlich um sich selbst? Um nur zu wissen, daß er hochaufgeschossen, schmalschultrig, bleich und dunkel war, hatte er einen Spiegel nötig. Und was ihm sonst über sich bekannt war, wie wenig bedeutete das der Welt an Unbewußtem gegenüber, die in ihm war, deren blinde Macht über sein Fühlen und seine Handlungen ihm nicht verborgen geblieben, aber die zu bezeichnen er nicht einmal Namen hatte! Freilich, einiges Tatsächliche war ihm ja klar: Daß er zum Beispiel die Menschen, wo er es kann, meidet. Daß er also nicht jung wie seine Altersgenossen ist, daß vielmehr die »Erwachsenen« ihm kindisch, ja unfaßbar in ihrer Gedankenlosigkeit vorkommen. Daß diese ihn frühreif nennen, weil er, der sich Gedanken macht, ihnen nicht heimlich ist. Daß keiner ihn liebt, daß er aber auch von keinem geliebt werden will. Daß er heute, besessen von der Idee des Todes, alles grau und frierend vor sich sieht – aber sich doch nicht einsam fühlt. Solange nur seine Mutter auf der Erde ist. Denken, daß auch sie sterben könnte! – – Daß endlich ein Glücksgefühl ihm allein noch die Musik vermitteln kann . . .

Von solchen Gedanken gebannt, schrak Anasthase plötzlich auf: Ein Windstoß hatte ihm rote Blätter ins Gesicht, ins Haar geworfen.

35 Eines von ihnen hielt er in der Hand, betrachtete es. Dann blickte er zu dem Baum hinüber, der es verloren, und dachte daran, wie er vor Monaten auch einmal in trüben Gedanken an diesem Fenster gestanden . . . Damals hatte er auf demselben Banm die ersten schüchternen Knospen entdeckt – – Und was hatte die Zwischenzeit zum Schlag der alten Wanduhr hinter ihm reifen lassen? –

– Ein Blätterleben . . .


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