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Schon in den ersten Jahren äußerte Anasthase große Empfindsamkeit für Musik, später einen ungewöhnlich sachlichen Erkenntnisdrang allem gegenüber, was mit ihr zusammenhing. Frau Mathilde spielte ihm häufig am Klavier vor. Die Couperin und Rameau, die Haydn und Mozart entlockten dem Kleinen ein zufriedenes Lächeki, brachten ihn manchmal auch zum Tanzen. Mit der Zeit 10 wurde sein Geschmack aber ausgesprochener, er zeigte eine erklärte Vorliebe für Beethoven, Franck, Schumann, Tschaikowsky und auch Bach – freilich ohne daß diese Namen ihm bekannt gewesen wären –, ja er lehnte mit sichtlichem Unwillen ab, wenn seine Mutter dann immer noch versuchte, sein Gemüt mit heiter-anmutiger Musik zu erfüllen. Daß sie den Versuch trotzdem beharrlich erneuerte, war nicht Sache ihres eigenen musikalischen Geschmackes – der deckte sich völlig mit dem des Kleinen –, aber Anasthase war noch ein Kind und gerade deshalb erschreckte die Eltern, spielte man Beethoven, der finstere Ernst in dem Kindergesichtchen. –
Einmal, zu Weihnachten, kam ein Paket. Vom Oheim. Es enthielt einen Brief, dazu bestimmt, dem Kleinen von Mathilde am Heiligen Abend verlesen zu werden. Er handelte von der Heiligkeit der Muttersprache, von Kulturgütern und dergleichen, und schloß mit dem Gedichte »Muttersprache, Mutterlaut«. (Wäre es Frau Mathilde auch je eingefallen, den Brief vorzulesen, Anasthase hätte davon natürlich nicht das Geringste auffassen können.) Aber daneben barg das Paket allen nötigen Schmuck und die vielen kleinen Wunder eines Weihnachtsbaumes.
Die Eltern besorgten eine Tanne, putzten sie auf. Und am Weihnachtsabend stand der Kleine zitternd vor dem strahlenden, glitzernden, klingelnden, Silbersterne sprühenden Märchengebilde. Die Eltern waren selbst so gerührt von seiner Ergriffenheit, daß sie feuchte Augen bekamen, Frau Mathilde den Kleinen in die Arme schloß, auf den Baum wies, und, etwas erzieherisch allerdings, bemerkte: »Siehst du, Liebling, das ist etwas ganz, ganz 11 Deutsches. Nicht wahr, du wirst immer ein Volk lieben, dem so schöne Dinge eigen sind?«
Da entdeckten Herr und Frau Alfaric, daß an den Fensterscheiben platt gedrückt viele Nasen klebten und geweitete Kinderaugen ins Zimmer sahen. Sie lachten und holten die Kleinen herein.
– Nur mit größter Mühe und unter dem wiederholten Versprechen, daß der Baum am folgenden Tage nochmals angezündet würde und die Kinder dann wiederkommen dürften, gelang es, sie wieder fortzuschaffen. –
Für Anasthase umschloß der Abend jedoch noch ein weiteres Wunder: Unter dem Baum fand er das Geschenk seines Vaters, ein Bilderbuch: »La boîte à joujoux«. Es war Debussys Ballettmusik, als Buch für Kinder ausgestattet. Frau Mathilde las dem Kleinen aus dem Text vor, zeigte ihm die Bilder und spielte dazu am Klavier. Anasthase geriet in helles Entzücken. (War es dieser Augenblick, der den Grund für die spätere verhängnisvolle Aufnahme des Wagnerschen Gesamtkunstwerkes in seine Sinne legte?) So beglückt hatten die Eltern ihren Kleinen noch niemals gesehen; sie hatten sich mitunter schon Sorgen über den unkindlichen Ernst seines Wesens gemacht. Er wollte auch nicht schlafen gehen, sondern die »Boîte à joujoux« immer von neuem hören. Als er schließlich doch im Bett lag und Frau Mathilde ihm den Gutenachtkuß gab, schlang er plötzlich seine Arme um ihren Hals, brachte seinen Mund an ihr Ohr und flüsterte leidenschaftlich: »Ist das auch etwas Deutsches, Mama, das Schöne mit den Noten?« – Da wurde Frau Mathilde sich der Bedeutung, die ihre Antwort für das Kind gewinnen mußte, bewußt. »Nein, mein Kleiner,« antwortete sie nach einiger Überlegung, »das ist französisch. Siehst 12 du, und so ist an jedem Volk etwas Schönes. Du sollst an beiden Völkern das Schöne lieben!«
Das Gerücht von dem Wunderbaum hatte sich am nächsten Tage mit größter Schnelligkeit unter den Kindern des Viertels verbreitet. Als nun der Abend kam, standen sie in Scharen und ungeduldig vor dem Hause Alfaric. Es war unmöglich, sie alle zugleich vor den brennenden Baum zu führen. Freilich bedurfte es eines ganzen Elternaufgebotes, um sie in Gruppen zu teilen, die Nachdrängenden zurückzuhalten und da und dort ausbrechende Tätlichkeiten zu verhindern. –
Anasthase war mit einem Male das von den Kindern meistbeneidete Geschöpf geworden. Als er einige Tage später mit einem Küchentopf vor der Haustüre spielte, sprachen Kinder um ihn noch immer von dem Lichterbaum. Da überkam es Anasthase wie Stolz. »Mein Lichterbaum!« betonte er. Ein kleines Mädchen begann darüber zu weinen. In den übrigen aber schwoll Haß gegen Anasthase auf. Ein etwas älterer Junge riß ihm den Topf aus der Hand, stülpte ihn Anasthase wie einen Hut über und schlug mit der Faust noch darauf, bis der Topf über den Kopf, den er eng einschloß, bis an die Schultern hinabglitt. Anasthase stieß ein dumpfklingendes Geschrei aus, lief blind umher, verwundete seine Hände an der Mauer. Frau Mathilde stürzte hinzu. Trotz verzweifelter Anstrengungen konnte sie aber den Topf vom Haupt ihres Sohnes nicht entfernen. Zum Glück gab es ganz in der Nähe einen Spengler, dem es endlich gelang, den Halberstickten mittels einer Blechschere zu befreien.
Seit diesem Tage aber war dem kleinen Anasthase folgendes klar: Deutsch ist der Weihnachtsbaum. 13 Französisch die »Boîte à joujoux«. Er will immer beides lieben. Dafür muß er leiden. Denn die anderen, die beides nicht besitzen, rächen sich. (Der Topf!)