Walter Seidl
Anasthase und das Untier Richard Wagner
Walter Seidl

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5.

Bis eines Tages ein Brief vom Oheim kam. –

Gleich nach Kriegsschluß hatte Frau Mathilde ihre Verwandten vom Tode ihres Gatten benachrichtigt. Damals hatte sie nur einige kühle Zeilen des Beileids mit einer tönenden, doch unverbindlichen Schlußfloskel erhalten. In diesem Brief aber hieß es jetzt ungefähr:

Deutschland liege, in seinem Lebensmarke getroffen und aus den Wunden von Hekatomben blutend, für einige Zeit schwer darnieder. Auch er, der Oheim, im Kriege kommandierender General geworden, sei jetzt pensioniert. Dies alles wäre der Meute gelungen! Eines indes könnten die Feinde dem wunden Gegner selbst 30 heute nicht und nimmermehr rauben: den Glauben an deutsche Art und Kunst. Schon entstehe auf den Inflationstrümmern seines politischen Leibes ein neues Deutsches Reich. Ein deutsches Reich der kulturellen Werte, das auf Granit aufbaue – und dieser Granit sei – Richard Wagner. Er selbst – (der Oheim, nicht der Granit!) –, losgelöst nunmehr von aller – legitimen – militärischen Tätigkeit, werde ebensowenig wie das Reich nie und nimmer rasten noch rosten, in stillem, ernstem Mannesdienste an der Errichtung dieses neuen – zunächst nur kulturellen – Weltreiches sein Scherflein beizutragen. Immerdar! Und wie er in langen Friedensjahren ehedem seine Truppen in eiserner Manneszucht auf den Exerzierplatz, später in den glorreichen Kampf geführt hatte, so führe er jetzt die Feder zum Ruhme des deutschen Geistes. Eine in ihrer Art nicht minder erhabene Aufgabe! Das heißt, er widme sich jetzt vor allem der Mitarbeit an den »Bayreuther Blättern« – er, ein alter Mann! Doch volksbewußt! Immerdar! – In diesem seinem vergeistigten Lebensabend stehe nun aber ein Wunsch des Gefühls. Ein Wunsch, der allerdings einer Forderung gleichkommen müsse an seine Nichte Mathilde. Der Forderung nämlich, seinen lieben, ihm bis heute unbekannten und ihm auf der Astralebene doch so nahen Enkel Anasthase – (der Name konsequent ohne das Schluß-E geschrieben) – an sich zu ziehen. Zumal es fürwahr auch höchste Zeit geworden sei, den Burschen nun nicht mehr länger in den Banden eines eitlen und seichten Romanismus schmachten zu lassen, sondern seiner gewiß sehr tüchtigen Seele durch die Zufuhr deutscher Tiefe und deutschen Gemütes neue – und wahrlich nicht 31 schwächliche – Nahrung einzuverleiben. Anasthase sei heute bereits im Alter, um an deutschen Hohen Schulen jene Kultur zu studieren, an deren Brüsten er bald – daran zweifle er, der Oheim, nicht einen Moment – jene Heimstatt finden werde, die ihm das Mißgeschick, in welschen Gauen gebürtig zu sein, bisher versagt haben mußte. Sollte Mathilde aber der Meinung sein, daß sie sich von dem Burschen auf keinen Fall trennen kann, so möge sie denn in Gottes Namen ein Gesuch an die französische Regierung richten, ihre Pension im Auslande verzehren zu dürfen und möge allemal auch in seinem Hause weilen. Es sei ihr alles verziehen, sintemalen das Geschick ja leider selbst dafür gesorgt hätte, daß sie schwer sühnen mußte. Dank begehre er keinen. Anasthase möge lediglich nicht länger säumen, seiner kulturellen Verpflichtung eingedenk, nach München an die Hohe Schule und an die Brust zu eilen seines ihn liebenden Oheims Schünemann. – Beigeschlossen ein Inskriptionsformular für Ausländer, das Anasthase umgehend ausfüllen und zurückschicken möge, damit er der dreißigprozentigen Fahrpreisermäßigung nicht verlustig gehe. –

Der Brief, den Frau Mathilde und Anasthase beim erstenmal nicht ohne einige Empörung, später jedoch unter großer Heiterkeit wiederlasen – (Anasthase bemerkte: »Der Onkel ist wohl ganz blöd geworden!«, wobei er seit langer Zeit wieder einmal richtig jungenhaft froh lachte) – dieser Brief machte ihnen nichts anderes klar, als daß es für Anasthases weitere Entwicklung tatsächlich und unumgänglich nötig geworden, den kleinen Ort, der ihm keinerlei Bildungsmöglichkeit mehr bot, mit der Hauptstadt zu vertauschen.

So entschloß sich Frau Mathilde – recht schweren 32 Herzens – zu dem Opfer, das alte graue Häuschen am Rande der Landstraße zu verkaufen, um mit ihrem Jungen nach Paris gehen zu können.


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