Walter Seidl
Anasthase und das Untier Richard Wagner
Walter Seidl

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12.

Nur wenige Minuten hatte Anasthase in einem Salon mit leinwandverhüllten Möbeln zu warten. Obgleich der Raum in seiner Gänze zu rotieren schien, vermochte Anasthase an der Wand dennoch das Bildnis Richard Wagners zu unterscheiden. Das verhaßte Profil war einem anderen Porträt zugekehrt; dem eines Mannes mit komisch aufgedrehtem Schnurrbart, der nicht gerade musikalisch aussah. Anasthase stierte aber nur auf das Wagnerporträt, schnitt eine Grimasse und steckte ihm die Zunge heraus. Da öffnete sich eine Tür, und auf der Schwelle stand in ergriffenem Schweigen ein Mann im Hausrock: der Onkel! Anasthase fühlte sich plötzlich wie gelähmt, fand keine Worte.

»Ich wußte es, daß du einst kommen wirst. Mein Sohn!« deklamierte der Onkel endlich in das Schweigen 64 hinein, ging mit ausgebreiteten Armen auf Anasthase zu, zog ihn an die Brust.

»Friedrich Wilhelm!« setzte er dann leise hinzu und begann Tränen zu vergießen. Tränen der Freude. –

Auch Anasthase fühlte große Liebe zu dem alten Mann. Und auch ihm stieg ein Brennen in die Augen. Er streichelte die Wangen des Generals, lachte glücklich. Der General schluchzte: »Schnee mußte auf meinem Haupte sein, eh ich dich kennenlerne, Friedrich Wilhelm redivivus!«

Anasthase war seltsam wohl ums Herz. »Ach, Onkel!« jubelte er. »So komisch hab' ich dich mir ja immer vorgestellt, haha! Warum aber trägst du nicht deinen großen Federnhut – wer wird sich denn auf den Kopf schneien lassen? Haha – entschuldige, ich mußte ja immer schon soviel lachen, mit der Mama, über deine pompöse Ausdrucksweise. Aber ich bin ja so froh, daß ich jetzt da bin. Wenn sich die Mutter das träumen ließe! Die würde erst lachen, hahaha . . .!

»Was?« machte der General gedehnt und trat etwas von Anasthase zurück. »Ich verstehe nicht . . . hm . . . nimm Platz! Ich will nur gleich meine Frau rufen.« (Wie immer, wenn er etwas nicht verstand, der Schlachtenlenker!)

Nun verging eine geraume Weile. Anasthase vernahm aus dem Nebenzimmer ein erregtes Flüstern. Allmählich dämmerte ihm bange, er habe sich irgendwie unschicklich benommen. Aber er war doch nur gut aufgelegt gewesen! – Jedenfalls wäre er am liebsten wieder fortgegangen. Da kam aber der Onkel bereits zurück. Mit einer würdigen Dame, in einem hochgeschlossenen, recht altmodischen Schwarzseidenen.

65 »Na also« – sprach die Tante Anasthase an. Mit krampfartigem Lächeln und einer Stimme, die Anasthase höchst unangenehm berührte. »Hat man doch einmal die große Ehre, dich kennenzulernen?« Damit gab sie ihm einen ebenso unangenehmen Kuß auf beide Wangen. Alle drei standen sie dann in verlegenem Schweigen. Während welches Anasthase peinlich immer nur das eine empfand: daß er schwer besoffen war. Mühsam überlegte er also, wie er von hier schnellstens wieder fortkäme.

»Bist du für längere Zeit in München?« fragte ihn da die Tante. Und betrachtete ihn von oben bis unten. Mit sichtlichem Mißfallen.

»Ja eben, bist du für längere Zeit in München?« sagte auch der General. Und er verlegte sein Schwergewicht jetzt auf den anderen Fuß.

»Woher«, log Anasthase errötend, »ich fahre gleich weiter. Leider!«

Onkel und Tante tauschten einen Blick. »So. Wohin denn?« die Tante. Und: »Nach Paris zurück?« der Onkel.

»Ja, ja, nach Paris zurück«, bestätigte Anasthase. Eine grenzenlose Apathie hatte sich seiner bemächtigt. Wenn sie ihn jetzt auf die Bahn begleiten sollten, überlegte er, dann würde er einfach tatsächlich nach Paris zurückfahren. Wäre ihm sowieso das liebste! Aber wenn man sich nur schon setzen wollte! Das Zimmer begann nämlich wieder wild um Anasthase zu kreisen, er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Die zwei jedoch standen immer noch, schauten ihn nur blöde an. Taktlos! – Willenlos ließ er sich schließlich in einen der verhüllten Fauteuils hineinfallen. Und schwach wandte er der Tante einen vergebungheischenden Blick zu: Grünlich stach ihr Auge in das seine, ihr Busen atmete Erregung.

66 »Also dann laß dich nur gottswillen nicht weiter aufhalten!« stach schließlich auch ihre Stimme. – Gerade jetzt wäre es Anasthase zwar lieber gewesen, sie hätte ihn in dem Fauteuil schon ruhig sitzen lassen. Eine kleine Weile wenigstens! Denn er spürte, daß Brechreiz ihm aufzusteigen begann. – Aber einen so unfreundlichen Empfang – nein, das hatte er wirklich nicht nötig! Er wußte immer noch, was er sich schuldig war, ein Mensch, über den alle Zeitungen berichtet hatten, wußte immer noch, was er sich schuldig war, das wohl, höhö!

– Und er kam, dessen eingedenk, endlich wieder auf die Beine zu stehen. Legte das Gesicht möglichst in korrekte Falten und wollte gerade in möglichst eisigem Ton sagen: Dann will ich allerdings nicht länger dérangieren! – aber da kam ihm der Onkel, der ihn die ganze Zeit bei halboffenem Mund und mit entsetztem Blick angestarrt hatte, zuvor, indem er bemerkte: »Laß nur, Maus!« (sagte »Maus« zur Tante, haha) und: »Richte immerhin einen kleinen Imbiß fiir den Jungen und ein Nachtlager. Ich werde schon mit ihm reden!«

Entsetzt wollte Anasthase einwenden, daß es keinen Zweck habe, denn er müsse fort. Aber die Zunge lag ihm wie ein Brett im Munde. Diese seine Wehrlosigkeit machte die Tante sich auch prompt zunutze; sie knisterte, ehe Anasthase noch die Sprache wiedergewinnen konnte, mit der Seide mißbilligend davon. Wahrscheinlich, um den dummen Imbiß – (was für ein trottelhaftes Wort!) – den Imbiß herzurichten. Vorher hatte sie dem depperten Onkel – Anasthase konnte ihn schon nicht mehr ansehen! – hatte sie dem Heerführer noch einen Blick zugeworfen, als hätte sie sagen wollen: »Sehr wohl, du 67 altes Kamel!« Feine Verwandte! Warum er nur überhaupt hergekommen war? Zu blöd! Und das schönste war: Jetzt konnte er nicht mehr sagen, er müsse fort, man möge sich daher keine Mühe machen. Das konnte er jetzt nicht mehr sagen, wo er doch solange die Sprache nicht gefunden hatte – na ja, er war auch schließlich kein Deutscher! – jetzt konnte er nur noch sagen: »Zu liebenswürdig.«

Also sagte er's.

Jetzt, da die Tante draußen war, ging der Schimmer eines guten Lächelns über das Gesicht des Generals. »Na ja, weiß schon,« flüsterte er Anasthase zu, »hast halt unser gutes bayrisches Bier ausprobiert, was? Nimmst dich aber vor der Tante ein bißl zusammen, weißt? Sag, daß du müd bist von der Reise und gleich schlafen gehn willst. Morgen früh wollen wir dann ausgiebig der Unterhaltung pflegen. Über deine kulturellen Verpflichtungen, verstanden? – Wie geht es denn deiner Mutter?« – –

 

Am Morgen. Während bei schmerzendem Schädel Anasthase sich erwachend noch zurechtzufinden suchte, durchzuckte ihn schon mit Entsetzen die unklare Erinnerung an ein peinliches Geschehnis der Nacht. Mit einem Ruck richtete er sich im Bette auf, blickte auf den Bettläufer hinunter. Tatsächlich! er hatte in der Nacht erbrochen, und da unten starrte es jetzt, feucht und eklig. – »Schweinshaxn«, erinnerte er sich und verzerrte vor Wut und Beschämung das Gesicht. »Wenn die Tante – –«, dachte er. »Um Gottes willen!!« – Er sprang aus dem Bett und begann mit Papieren, die er ungesehen aus seinen Rocktaschen riß, wie gehetzt den Teppich zu säubern. Aber da hätte er sich beinahe 68 neuerdings übergeben, er mußte sofort aufhören. Stöhnend ließ er sich in einen Sessel fallen: Nur fort! – Denn er war ohne jeden Mut, der Tante oder nur dem Onkel überhaupt noch unter die Augen zu treten; auf alles das hinauf! In einem dumpfen Fluchtwillen begann er sich hastig anzukleiden. Jedes Geräusch, das in den Nebenzimmern oder am Gang draußen erklang, fuhr wie eine feurige Nadel in seine Nerven, lähmte seinen Herzschlag. Herrgott, nur ungesehen verschwinden können! betete er in einem fort.

Jetzt war er so weit. Er schlich an die Türe. Faßte mit zitternden Fingern die Klinke. Lauschte. Gerade war Ruhe. Er hätte die Flucht wagen können – aber seine Beine versagten den Dienst. Und ob er überarbeitet war! – das bewiesen jetzt seine streikenden Nerven. Wenn es ihm nur noch einmal gelänge, von hier zu entkommen, dann würde er sich gewiß für gar nichts mehr interessieren, lange Zeit, sondern alles tun, um sich zu erholen. Das gelobte er sich. – Draußen knallte eine Tür. Er vollführte einen Satz bis in die Mitte des Zimmers zurück, preßte beide Hände gegen das klopfende Herz. Ein unerträglicher Zustand! –

Jetzt wieder rührte sich nichts auf dem Korridor. Er riß sich gewaltsam zusammen. Öffnete behutsam die Tür. Schlich auf Fußspitzen hinaus. Jede Tür, an welcher er vorbei mußte, wie eine wilde Bestie scharf fixierend, wie eine Bestie, die jeden Augenblick Verderben springen konnte – ach, und es war, als gäbe es hier Tausende solcher Türen! – Endlich, da – da winkte sie schon. Vor ihm, die Freiheit, die wiedergewonnene Sorglosigkeit: die Korridortüre zum Stiegenhaus! Er ging nicht mehr, er sprang, lautlos wie ein Raubtier, die Türe an, faßte 69 die Klinke; ein sanfter Druck auf sie . . . Da – bumm – verflucht!! – jemand – –

»Ach – da bist du?! . . . hm . . .«: Der Onkel!

»Ja, ja, das bin ich, hehe, guten Morgen, Onkel, wo ist denn da die Toilette, bitte, ich . . .!« Anasthase stand angewurzelt, lächelte verzerrt den Onkel an und vollführte unwillkürlich mit den Armen die Bewegungen unbefangener Munterkeit.

Der General geleitete ihn zum Klosett. Mit etwas umdüsterter Miene. Anasthase dankte ihm freundlich und schloß hinter sich ab. Da stand er nun in dem engen bescheidenen Raum und fragte sich: Was jetzt?

Minuten stand er so. Schließlich hätte er in hilflosester Lethargie sich am liebsten auf das Brett gesetzt und vor qualvoller Festgefahrenheit zu weinen begonnen. Bis er diese Situation endlich doch als seiner durchaus unwürdig erkannte. Da verließ er in erzwungen heldischer Haltung sein Gefängnis, dem Onkel die schmachvolle Tatsache kurz und bündig einzugestehen. Ihn bei dieser Gelegenheit aber auch gleich seiner verwandtschaftlichen Mißachtung zu versichern, jawohl! Denn schließlich: wie diese Leute sich seiner Mutter gegenüber aufgeführt hatten, verdienten sie, daß man ihnen auf den Teppich kotzte! Jawohl! –

Der General erwartete ihn auf der Schwelle des Speisezimmers und ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen: Es sei nun fürwahr höchste Zeit zum Frühstück geworden, deklamierte er in seiner unerträglichen Weise. Er – heute ein alter Mann! – sei, dessenungeachtet, noch immer Frühaufsteher. Denn für geistige Arbeit – und die tue er, jawohl, immerdar – für geistige Arbeit seien die Morgenstunden die ertragreichsten. Heute zum 70 Beispiel sei er bereits seit 5 Uhr 30 morgens – jetzt ist es 9 Uhr 12! – auf den Beinen! Ohne in Erwartung des Gastes – denn die Höflichkeit des Hauswirtes habe er zeitlebens gewahrt – ohne bislang noch etwas zu sich genommen zu haben! – Seine Frau lasse sich vom Frühstück beurlauben; auch sie konnte ihre Verrichtungen natürlich nicht so ungebührlich lange hinausschieben und geht in der Stadt bereits ihren Besorgungen nach. – Nach dieser in scharf tadelndem Ton gehaltenen Standrede lud er Anasthase – mit militärischer Handbewegung – an den Frühstückstisch. Dessen gastronomische Beschickung soviel Aufhebens durchaus nicht rechtfertigte.

Aber davon merkte Anasthase nichts. Wie auch sein Zorn über die unverblümte Zurechtweisung sofort dem Gefühl einer ungeheueren Erleichterung wich, da er nur hörte, die Tante sei nicht zu Hause. Sie hatte er am meisten gefürchtet! An Parsifal mußte er jetzt denken; dem dürfte ähnlich zumute gewesen sein, als ihn nach langer Qual die Botschaft vom Heiligen Gral erreichte . . . Dann begann Anasthase kalt und sachlich zu erwägen: Gelingt es ihm, den Onkel durch fesselnde Gespräche fürs nächste im Speisezimmer festzuhalten, so ist er gerettet. Denn bevor die Tante zurückkehrt, wird ihm doch hoffentlich auch ein passender Vorwand eingefallen sein, um sich zu verabschieden! Dann mochte man zehnmal die Schweinerei in seinem Zimmer entdecken! Was konnte ihm an der Meinung dieser Pfahlbürger schon viel gelegen sein! – Und die Unhaltbarkeit seiner Lage verlieh Anasthase eine diplomatische Gerissenheit, wie sie keiner seiner Bekannten ihm wohl jemals zugetraut hätte. Nachdem er nämlich kurz angedeutet, daß er – 71 »in einem gewissen, bescheideneren Sinne natürlich« – ein junger Berufskollege seines »verehrten Onkels« sei, nämlich Musikreferent eines führenden Pariser Blattes – (die Fähigkeit hierzu habe er übrigens ohne Zweifel einzig dem Schünemannschen Blute zu danken) –, versetzte er durch die Aufzählung aller Eindrücke von deutscher Kultur, die ihn auf dem Frankfurter Musikfest, überwältigt hätten, das deutsche Gemüt des Generals in wahre Tubaresonanz; verzückt fraßen dessen Augen die Worte von Anasthases Lippen gleichsam hinweg. Ohne daß er dabei allerdings verbergen konnte, wie gierig er selbst schon darauf lauerte, das Wort zu ergreifen. Doch Anasthase sprach wie eine Maschine. Dabei horchte er ohne Unterlaß angstvoll auf den Gang hinaus, ob die Tante nicht vor der Zeit zurückkehre und ob das Dienstmädchen nicht bereits über sein Zimmer gehe. – Jetzt aber mußte er einen Augenblick lang vergessen haben weiterzusprechen, denn leuchtenden Blicks fiel der Onkel ein: »Was? Und in Frankfurt verstehn's den Wagner halt auch zu bringen!« Anasthase vergaß seine Rolle. »Aber Wagner wurde doch dort nicht gespielt!« erwiderte er. Da wurden die Augen des Onkels stier, seine Lippen bebten ein wenig. »Ja, was ham's denn dann gespielt?« fragte er, entmutigt und etwas ungehalten. »Hindemith«, wollte Anasthase beginnen, aber er kam nicht weiter. Denn:

»Das wohl, mein Sohn«, riß der General das Wort nun endgültig an sich; sein ganzes Wesen geriet ins Tönen, und Anasthase merkte, daß er die gleiche Rede schon oft gehalten haben mußte. »Das wohl, mein Sohn! Und an dieser Granitmauer eherner kultureller Werte soll auch die Wut der Feinde Deutschlands zunichte schellen. 72 Denn wie vormals die Schlünde der von Kruppschen Riesenkanonen, die eine feige waffenstarrende Welt uns meuchlings entrissen hat, wehren jetzt die Verse Schillers, die Farben Dürers, über allem aber die Kunst Richard Wagners, des wonnigsten deutschen Dichtermusikers, dem schnöden Vernichtungswillen der Feinde; jener Feinde, die Deutschland in tiefstem Frieden werwolfwütend angefallen haben und die in schier wahnwitziger Vermessenheit heute vergeblich am Werke sind, ihm auch die Waffen des Geistes zu entwinden. Wir aber werden ihnen beweisen, was es heißt, Deutschland – –«

Gerade hatte es an der Korridortür geschellt. Anasthase rieselten Schauer über den Rücken. Aber freundlich, lauernd unterbrach er den Redeschwall des Generals: »Ach, das wird wohl die Tante sein!« und er versuchte den Ton einer aufgeräumten Munterkeit in diese Worte zu legen. Auch der General horchte eine Sekunde lang hinaus. »Nein,« entschied er dann, »das ist nur der Müllwagenmann!« Er schien etwas ärgerlich über die Unterbrechung. Anasthase hingegen hätte nie vermutet, wie sympathisch Müllwagenmänner ihm werden konnten! Erleichtert wandte er sich, und gespannteste Aufmerksamkeit in seine Miene legend, dem Onkel neuerdings zu. Über den folgenden Ausführungen des Onkels vergaß er zeitweise völlig auf Tante und Teppich, so ungeheuerlich schien ihm das Gesagte. Und mußte in der Tat nicht gerade er gierig aufhorchen, wo ein Typus Deutscher, wie sein Onkel ihn zweifellos darstellte, sich mit Wagner – seinem alten Peiniger Wagner! – auseinandersetzte?

»Aus dem Schutthaufen des inflationsgeschändeten Volkskörpers«, hymnte der Onkel, »hebt sich, strahlend 73 von neuem Glanze, der Phönix Bayreuth empor, leuchtet mit seinem milden Gralslichte zur Erneuerung des Reiches. Richard Wagner, der hehrste Mann, hat für sein Titanenwerk seinerzeit sehrend ein Volk als Publikum gefordert: heute ist's Erfüllung.« (»Außerdem mit nur einem halben Jahrhundert Verspätung!« dachte Anasthase.) »Aber mehr als das: –« (Der General beeilte sich, ein Stück Buttersemmel hinunterzuschlucken, das ihm die Rede verlegte und dessen betont dünne Butterschicht dem Neffen vermutlich recht augenscheinlich die von der Inflation hart betroffene Bevölkerungsschicht illustrieren sollte.) – »Mehr als das: Jeder wahrhaft Volksbewußte stärkt seine Kraft zur Wiederaufbauarbeit heute am Genius Wagner, dessen Riesenwerk einzig der Verherrlichung deutsch-germanischer Art und Sage dient. Jener schnöde Hundsfott aber – sei er in deutschen oder fremden Gauen wo immer zu Hause, der Hundsfott, der bei den Heilrufen der Mannenchöre in der »Götterdämmerung« sein zages Herz nicht höher schlagen fühlt und dem bei Hans Sachsens kernigem Aufruf ans deutsche Volk nicht die Tränen freudigsten Stolzes ins gedemütigte Auge schießen, der ist fürwahr nie und nimmer wert solcher Begnadung. Indes – sieh da! – an allen Orten der Welt, wo wahrhaft Kunstbegeisterte siedeln, taumeln die Massen trunken ins Wagnertheater – und ihrer sind mehr denn je zuvor. Kein Volk mehr darum, nein: die ganze Welt hat der deutsche Geist sich neu unterworfen. Aus aller Herren Ländern strömt die Elite der Nationen wieder brünstig nach Bayreuth – der Stadt, wo des deutschesten Künstlers Wähnen Frieden fand – legt ihre Andacht im Festspielhause und nachher in einem schlichten Kranze am Wagnergrabe nieder.« – 74 Hier machte der General eine erschütternde Pause; immerhin sprungbereit, um sofort weiterzusprechen, sobald der Neffe Miene machen sollte, etwas sagen zu wollen. – »Ich selbst«, setzte er dann fort, »bin nur ein bescheidener Diener an diesem prangenden Bau. Mit den Waffen des beschwingten Wortes – doch darin allen voran – kämpfe ich dafür, als einer der längstjährigen und verdientesten Mitarbeiter der ›Bayreuther Blätter‹, diese Sendung Bayreuths der aufhorchenden Welt zu verkünden. Und von Bayreuth aus soll es auch sein, daß das morsche Europa an den tieferen Sinn des hart verkannten und darum vielgeschmähten Dichterwortes glauben lerne, das da sagt: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!«

Der General schwieg. Erschüttert. Von seinen eigenen Worten. Nach deren Wirkung er jetzt in den Zügen des Neffen forschte. Als Anasthase sich dessen versah, beeilte er sich etwas Zustimmendes zu bemerken. »Natürlich! Ohne Frage!« murmelte er etwas zerstreut – denn soeben hatte er wieder drohende Geräusche auf dem Gang draußen unterschieden. Gleich darauf errötete er freilich über seine Feigheit. Und um so mehr schämte er sich dieser Unmännlichkeit, als bei dem wenigen, das er von der Rede des Onkels aufgefaßt hatte, sein alter Widerwille gegen Wagner wieder einmal heftig frei geworden war; sah er doch diese Abneigung jetzt glänzend gerechtfertigt durch den Umstand, welche Sorte Mensch dieses »Kunstwerk« also für sich in Anspruch nahm! »Sehr schön«, dachte er mit Bitternis weiter. »Der Kunstgeschmack des Generals Schünemann ist in gewissem Sinne auch der meine. Wie weihevoll: Onkel und Neffe wetteifern, der eine in offener, der andere in geheimer 75 Wagnerverehrung. Pfui, wie das schmeckt!« und er verspürte eine müde Regung, den pathetischen Kracher da vor ihm mitsamt seinem »wonnigsten Dichtermusiker« unflätig zu beschimpfen. Aber er tat es nicht. Die unaufhörliche Furcht vor der Entdeckung seiner Schmach hatte ihn bereits so elend gemacht, daß er einzig noch darauf bedacht war, den Onkel gesprächig zu erhalten und bei guter Laune. Bis er sich dieser Hölle durch die Flucht – denn nur in ihr sah er noch Heil – entziehen konnte. Er tat also, als lasse er schweigend die Rede noch auf sich wirken, und erwog fiebrig alle Fluchtmöglichkeiten.

Da kam ihm der Onkel selbst zu Hilfe. Nachdem er sich nochmals vergewissert hatte, ob Anasthase auch tatsächlich Referent eines großen Blattes sei, kam ein Ausdruck von Lüsternheit in sein Gesicht. Ob Anasthase nicht einige – (gleich einige!) – seiner Schriften über Bayreuth ins Französische übersetzen und in seiner Zeitschrift abdrucken könnte? – Anasthase versprach es. »Aber natürlich!« Und mit allen Anzeichen freudiger Überraschung ließ er sogar etwas durchblicken vom Widerhall, den diese Schriften in Frankreich zweifellos hervorrufen würden. Der General, zitternd vor eitler Genugtuung – er schwelgte bereits im Vorgefühl künftiger internationaler Geltung –, gab Anasthase eine Zigarette, betonte noch, daß auf dem Kontinent letzten Endes eben nur die Franzosen und die Deutschen eine Kultur hätten, dann stürzte er aus dem Zimmer. Die Manuskripte holen. Damit Anasthase die für den Anfang geeignetsten gleich auswähle.

Das war der Augenblick! Kaum hatte sich hinter dem Onkel die Türe geschlossen, stand Anasthase auch schon 76 im Vorzimmer. Bleich vor Erregung, riß er Hut und Überrock vom Haken, stürzte aus der Wohnung. In völliger Haltlosigkeit. Stiegen hinab. – Da – halt! Frauenschritte, tappend, die Treppe herauf. Könnte die Tante sein! – dachte es, machte kehrt, zurück, in den nächsten Halbstock hinauf. Dort lauerte er hinter einem Pfeiler verborgen, schielte übers Geländer hinunter: Tatsächlich die Tante! Verflucht, um ein Haar – – ! Die Tante, sie trug eine Einkaufstasche, läutete an der Wohnungstür. Anasthase wartete, bis ihr geöffnet war, dann jagte er die Treppen wieder hinab, auf die Straße hinaus, bog ums nächste Eckhaus herum, planlos durch Seitengassen . . . Und atmete erst auf, bis er in tiefer Beschämung, doch sicher geborgen in seinem Hotelzimmer stand und die Tür doppelt hinter sich abgeschlossen hatte.


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