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Der Platz, auf dem das Scharmützel sich abgespielt und Lady Evelinens Befreiung stattgefunden hatte, war eine wilde, abgelegene Stelle, eine kleine, ganz ebene Fläche zwischen zwei sehr rauhen Fußpfaden, von denen der eine sich längs des Flusses hinzog; der andere aber weiter emporführte. Von Bergen und Gehölz umgeben, war diese Stelle besonders reich an Wild, und in früheren Zeiten hatte ein Walliser Fürst, der durch seine allgemeine Gastlichkeit, seine Liebe zur Jagd berühmt geworden, hier ein Jagdhaus errichtet, wo er seine Freunde und Anhänger mit einer Verschwendung, die in Cambria ohne Beispiel war, zu bewirten pflegte.
Die Phantasie der Barden, denen alle Pracht imponierte und die besondere Art von Verschwendung gefiel, die dieser Fürst betrieb, hatte ihm den Beinamen Edris von den Bechern gegeben, und sie erhoben ihn in ihren Gesängen mit so hohen Lobsprüchen, wie nur noch die Helden des weitberühmten Hirlas Horn gepriesen worden waren. Der so schwärmerisch besungene Zecher und Nimrod fiel endlich als ein Opfer seiner Schwelgereien, indem er bei einem Zwist, der nach einem wüsten Gelage ausbrach, erstochen wurde. Empört über dieses Ereignis begruben die versammelten Briten die Leiche des Fürsten an dem Ort, wo er starb, eben in jenem engen Gewölbe, in welchem Eveline eingekerkert war. Nachdem sie den Eingang der Grabesstelle mit Felsstücken gesperrt hatten, türmten sie darüber einen ungeheuren Cairn oder Steinhaufen als Grabhügel, auf dessen Spitze sie dem Mörder den Tod gaben. Aberglaube wob manche Schrecken um den Ort; viele Jahre blieb dieses Denkmal des Edris unverletzt, obgleich das Jagdhaus in Trümmer zerfallen und jede Spur davon erloschen war. In spätern Jahren hatte eine herumstreifende Bande welscher Räuber den geheimen Eingang entdeckt und ihn in der Absicht geöffnet, die Gruft nach Waffen und Schätzen zu durchwühlen, die in alten Zeiten oft mit den Toten begraben wurden. Sie täuschten sich und erhielten durch diese Entweihung des Grabes nichts weiter, als die Kenntnis dieser geheimen Stelle, die sehr gut zum Versteck geraubter Beute oder auch im Notfall einem Flüchtling als Zufluchtsort dienen konnte.
Als die Begleiter Damians, fünf oder sechs an der Zahl, dem Wilkin Flammock mitteilten, was ihnen an diesem Tage zugestoßen, so ging daraus hervor, daß Damian Befehl gegeben, mit Tagesanbruch aufzusitzen, und zwar in viel größerer Anzahl, um, wie sie verstanden hatten, gegen eine Bande rebellischer Bauern aufzubrechen. Doch plötzlich habe er seine Meinung geändert, seine Mannschaft in kleinere Abteilungen getrennt und von ihnen mehrere Bergpässe zwischen Wales und den Marken in der Nähe von Garde Douloureuse durchsuchen lassen. Dies pflegte er so oft zu tun, daß niemand etwas Auffallendes darin fand. Oft wurden dergleichen Streifzüge von den kriegerischen Herren der Marken unternommen, um teils die Walliser allesamt, besonders aber die gesetzlosen Banden, die, keiner regelmäßigen Herrschaft untertan, diese wilden Grenzen beunruhigten, in Furcht zu erhalten.
Es war ungefähr um die Mittagszeit, als Damian und seine Begleiter, weil es das gute Glück wollte, auf einen der flüchtigen Reitknechte stießen und die Nachricht von dem Unglück der Lady Eveline erhielten. Bei ihrer vollkommenen Kenntnis der Gegend waren sie imstande, den Räubern im Paß von Edris, wie er genannt wurde, durch den sie gewöhnlich ins Innere des Landes zurückkehrten, den Weg abzuschneiden. Wahrscheinlich hatten die Räuber nicht die geringe Zahl erkannt, an deren Spitze Damian stand, und da sie wußten, daß ihnen eine heiße Verfolgung bevorstand, war der Anführer auf den sonderbaren Gedanken gekommen, Evelinen in dem Grabmal zu verstecken, während einer von den Räubern Evelinens Hut und Mantel antun mußte, um die Angreifer zu täuschen und sie von der Stelle, wo sie wirklich verborgen war, hinwegzulocken. Dahin wollten dann die Räuber zurückkehren, sobald sie ihren Verfolgern entgangen wären.
Demzufolge hatten sie sich zu einem regelmäßigen Rückzug vor dem Grabmal aufgestellt, von wo aus sie entweder einen zur Verteidigung geeigneten Platz finden, oder, wenn sie überwunden würden, ihre Pferde verlassen und sich zwischen den Felsen zerstreuen konnten, um den Angriffen der normannischen Reiterei zu entgehen. Ihr Plan wurde durch die Schnelligkeit Damians vereitelt, der, als er Evelinens Hut und Mantel unter den Fliehenden gewahrte, sie wütend angriff, ohne die geringste Rücksicht, auf ihre Ueberzahl oder auf seine leichte Rüstung zu nehmen, die einzig aus einem Helm und einem büffelledernen Wams bestand – gegen die welschen Messer und Spieße eine sehr unzulängliche Deckung. So wurde er beim Angriff schwer verwundet, und er wäre umgekommen, wenn seine Begleiter sich nicht aufs äußerste angestrengt, und die Walliser nicht gefürchtet hätten, daß, während sie von vorne den Kampf fortsetzten, sie im Rücken von Evelinens Vasallen angegriffen werden könnten, die jetzt wahrscheinlich schon alle unter den Waffen und auf dem Marsche wären. Sie zogen sich also zurück oder flohen vielmehr, und Damians Leute setzten auf Befehl ihres verwundeten Herrn ihnen nach, mit der ausdrücklichen Weisung, unter keiner Bedingung von der Verfolgung abzulassen, bis die gefangene Lady von Garde Douloureuse ihren Entführern entrissen sei.
Dank ihrer genauen Kenntnis der Nebenwege und der Gewandtheit ihrer kleinen Pferde gelang es allen Wallisern, zu entkommen, zwei oder drei ausgenommen, die Damian bei seinem wütenden Angriff niederhieb. Von Zeit zu Zeit schossen sie Pfeile gegen die Verfolgenden ab und lachten über die nutzlosen Bemühungen der schwer bewaffneten Krieger, mit ihren gepanzerten Rossen sie einzuholen. Aber die Sachlage änderte sich, als Wilkin Flammock auf seinem mächtigen Streitrosse an der Spitze von Fußvolk und Reiterei erschien und den Bergpaß zu erklimmen begann. Die Furcht, sich abgeschnitten zu sehen, veranlaßte die Landstreicher, ihre Zuflucht zu ihrer letzten Kriegslist zu nehmen; sie ließen ihre welschen Klepper laufen, sie selbst flüchteten sich in die Felsen, und die Mehrzahl wußte sich, dank ihrer Schnellfüßigkeit und Gewandtheit im Klettern den Verfolgern zu entziehen. Doch nicht alle waren so glücklich, einige fielen Flammocks Leuten in die Hände, unter andern, der, den man mit Evelinens Hut und Mantel angetan hatte. Wie groß war die Ueberraschung derer, die gerade ihm auf den Fersen gefolgt waren, als sie nun nicht die Lady erblickten, die sie befreien wollten, sondern einen schön gelockten jungen Walliser, der, nach seinen wilden Blicken und unzusammenhängenden Reden zu schließen, nicht recht bei Verstande zu sein schien. Dies wäre jedoch kein Anlaß gewesen, ihn nicht auf der Stelle zu töten – wie es stets denen erging, die in solchen Scharmützeln gefangen genommen wurden, hätte nicht Damians schwacher Stoß ins Horn, dessen Leute zurückgerufen und Wilkin Flammock bewogen, Halt zu machen. In der allgemeinen Verwirrung, dem Hornruf so rasch wie möglich Folge zu leisten, kümmerten die Leute sich nicht um den Gefangenen, dem es nun glückte, zu entrinnen; auch hätten sie in der Tat wenig von ihm erfahren, wäre er auch imstande gewesen, ihnen etwas mitzuteilen. Alle waren indessen überzeugt, ihre Gebieterin sei einem Hinterhalt Dawfyds des Einäugigen, eines gefürchteten Freibeuters jener Zeit, in die Hände gefallen, der dieses kühne Unternehmen in der Hoffnung auf ein reiches Lösegeld gewagt hatte, und über diese kühne Frechheit höchst erbittert, weihten sie sein Haupt und seine Glieder dem Adler und dem Raben.
All diese Einzelheiten teilten sich nun die Leute Flammocks und Damians gegenseitig mit. Als sie am roten Teiche entlang zurückkehrten, trafen sie mit Frau Gillian zusammen, die ihrer Freude über die glückliche Rettung ihrer Gebieterin und ihrem Schmerze über den unerwarteten Unfall Damians in lauten Rufen Luft machte. Sie erzählte dann den Kriegern, daß den Kaufmann, dessen Falken an all diesen Begebenheiten schuld wären, einige Walliser auf ihrem Rückzuge gefangen mit sich genommen hätten, und daß sie selbst und der verwundete Raoul das gleiche Schicksal erlitten haben würden, nur daß die Feinde kein Pferd übrig gehabt hätten, sie mitzunehmen. Von dem alten Raoul hätten sie sich wohl kein Lösegeld versprochen, und ihn zu erschlagen, mochten sie nicht der Mühe wert gehalten haben. Einer hätte zwar wirklich einen Stein nach ihm geworfen, aber unglücklicherweise, sagte die Dame, verfehlte er sein Ziel. »Es war nur ein kleines Kerlchen, der den Stein warf,« sagte sie. »Da war ein großer langer Mann unter ihnen; hätte der den Wurf getan, so wäre es mit Unserer Frauen Hilfe wohl anders gekommen.« Mit diesen Worten machte sie sich auf und ordnete ihre Kleidung, um sich wieder zu Pferde zu setzen.
Der verwundete Damian wurde nun auf die aus Baumzweigen schnell zusammengesetzte Tragbahre gelegt und nebst den Frauen in die Mitte des kleinen Trupps genommen, an den sich die übrige Mannschaft des jungen Ritters anschloß, die sich nach und nach zusammenfand. Die vereinte Schar zog nun mit militärischer Ordnung ab und durchschritt die Pässe mit aller Vorsicht, stets darauf gefaßt, nochmals auf den Feind zu stoßen.