Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel.

Solche Abenteuer, die jetzt nur in Werken bloßer Erdichtung geschildert werden, waren in jener Zeit des Faustrechts, wo Gewalt allgemein über das Recht ging, nichts Ungewöhnliches. Daraus folgte, daß die, deren Lage sie öftern Gewalttätigkeiten aussetzte, fertiger im Widerstande, aber auch geduldiger im Ertragen waren, als man sonst von Alter und Geschlecht hätte erwarten sollen. Lady Eveline fühlte, daß sie eine Gefangene war. Furcht beschlich sie freilich, wenn sie sich fragte, zu welchem Zwecke man sie geraubt hätte; aber weder ihre eigene Unruhe noch die Raschheit, mit der man sie fortführte, hinderten sie, ihre Sinne zusammenzunehmen und mit Geistesgegenwart alle Vorgänge zu beobachten. Aus dem lauten Hufeklappern um sie her schloß sie, daß der größte Teil der Räuber sich zu Pferde gesetzt hatte; dies stimmte, wie ihr bekannt war, mit dem Gebrauch der welschen Landstreicher überein, deren Pferde zwar schwach und klein und zum Dienste im Gefechte untauglich, aber doch schnellfüßig genug waren, ihre gewandten Reiter mit der notwendigen Eile am Schauplatz ihrer Taten auftauchen und dann wieder verschwinden zu lassen. Diese Tiere schritten auch ohne Schwierigkeit und unter der Last eines schweren Kriegers über die wilden Bergpfade, von denen die Gegend durchschnitten war, und auf deren einem Lady Eveline Berenger sich jetzt befand. Am Schritt ihres Zelters, der von jeder Seite durch einen Mann zu Fuß gehalten wurde, glaubte sie zu merken, daß er eben eine Anhöhe erklommen und nachher mit noch größerer Gefahr hinabzusteigen schien.

In diesem Augenblicke wandte sich eine Stimme, die sie bisher noch nicht unter den andern gehört hatte, in anglo-normännischer Sprache zu ihr, fragte mit scheinbarer Teilnahme, ob sie auch sicher in ihrem Sattel säße, und erbot sich, wenn dem nicht so sei, alles zu ihrer Bequemlichkeit herzurichten.

»Spottet nicht über meine Lage, daß Ihr von Sicherheit redet,« sagte Eveline, »Ihr könnt es nur immer glauben, daß ich nach solcher Gewalttat mich nicht sicher wähnen kann. Ist es Lösegeld, was Ihr begehrt, so nennt die Summe, und ich will Befehl geben, sie herbeizuschaffen, aber haltet mich nicht in Gefangenschaft, das kann mich nur beleidigen und Euch nichts helfen.«

»Lady Eveline,« antwortete die Stimme, noch immer im Tone der Höflichkeit, der so schlecht mit der verübten Gewalttätigkeit übereinstimmte, »wird sehr bald erfahren, daß unsere Handlungen rauher sind als unsere Absichten.«

»Wenn Ihr wißt, wer ich bin,« sagte Eveline, »so könnt Ihr nicht zweifeln, daß dieser Frevel gerächt werden wird. Ihr müßt wissen, wessen Banner jetzt meine Länder beschützt.«

»De Lacys Banner,« antwortete die Stimme, sehr gleichgütig, – »Was weiter! – Ein Falke fürchtet nicht den andern.« In diesem Augenblick wurde Halt gemacht, und ein verworrenes Gemurmel erhob sich unter den Leuten um sie her, die bisher geschwiegen hatten, außer wenn sie zuweilen in welscher Sprache, und so kurz wie möglich, sich über den Weg verständigten oder einander zur Eile ermuntert hatten.

Das Murmeln hörte auf, und ein Stillschweigen von einigen Minuten erfolgte. Endlich vernahm Eveline wieder die Stimme, die sich zuvor an sie gewandt hatte, und die jetzt Befehle austeilte, die sie nicht verstand. Darauf sprach der Mann zu ihr selbst: »Ihr werdet jetzt selbst sehen,« sagte er, »ob ich wahr sprach, wenn ich erklärte, daß ich Euch nicht gerne Fesseln anlegen ließ. Aber Ihr seid zugleich die Ursache des Kampfes und der Preis des Sieges. Für Eure Sicherheit muß demnach so gut gesorgt werden, als die Zeit es erlaubt. So befremdend auch die Art des Schutzes sein mag, dem wir Euch vertrauen wollen, so hoffe ich, daß der Sieger in dem bevorstehenden Kampfe Euch unverletzt wiederfinden wird.«

»O, laßt doch nicht, um der heiligen Jungfrau willen, Kampf und Blutvergießen entstehen!« sagte Eveline. »Bindet mir lieber die Augen auf und laßt mich mit denen reden, deren Annäherung Ihr fürchtet. Sind es meine Freunde, wie es mir scheint, so will ich die Friedensvermittlerin zwischen Euch sein.«

»Ich verachte den Frieden,« sagte der Fremde. »Ich habe ein so entschlossenes und gewagtes Abenteuer kühn unternommen und sollte nun, wie es ein Kind beim Spielen macht, bei dem ersten Gedanken, es könnte unglücklich ablaufen, die Hand davon ziehen? Habt die Güte, vom Pferde zu steigen, edle Lady! oder vielmehr nennt es nicht ungütig, daß ich Euch vom Sattel hebe und auf den Rasen niedersetze.«

So wie er sprach, so fühlte sich auch Eveline vom Pferde gehoben und sorgfältig auf den Erdboden in sitzender Stellung niedergelassen. Den Augenblick darauf nahm ihr derselbe Mann, der sie vom Pferde herabgehoben hatte, den Hut ab, dieses Meisterstück der Dame Gillian, und dann den Mantel. »Ich muß Euch ferner ersuchen,« sagte der Banditenhauptmann, »auf Händen und Füßen in diese enge Oeffnung zu kriechen. Glaubt mir, es tut mir leid, daß ich Euch, der Sicherheit wegen, in eine so enge Festung bringen muß.«

Eveline kroch vorwärts, wie ihr geheißen worden war, indem sie wohl begriff, daß Widerstand hier von keinem Nutzen wäre und daß dieser Mann, der in gebietendem Tone sprach, sie gegen die zügellose Wut der Welschen in Schutz nehmen würde. Von den Wallisern aber durfte sie nichts Gutes erwarten, weil sie an Gwenwyns Tod schuld war, und um ihretwillen die Britonen unter den Wällen von Garde Douloureuse eine schwere Niederlage erlitten hatten.

Sie kroch durch einen engen, dumpfigen Gang, der zu beiden Seiten von unbehauenen Steinen gebildet und so niedrig war, daß man nur kriechend hineinkommen konnte. Als sie etwa neun Fuß vorwärts gedrungen war, dehnte sich dieser Durchgang zu einer Höhle oder Kammer aus, die sonst unregelmäßig und enge, dennoch hoch genug war, daß sie bequem darin sitzen konnte. Zu gleicher Zeit bemerkte sie an einem Geräusch hinter sich, daß die Räuber den Weg verrammelt hatten, durch den sie so in den Schoß der Erde gelangt war. Sie konnte ganz deutlich das Rasseln der Steine hören, womit sie den Eingang verschlossen, und sie merkte es, wie der frische Luftstrom, der zuvor durch die Oeffnung gedrungen war, allmählich aufhörte und die Atmosphäre dieses unterirdischen Gemaches immer dumpfiger, feuchter und drückender wurde.

In diesem Augenblick drangen entfernte Töne von draußen zu ihrem Ohre, in denen Eveline Geschrei, starke Schläge, Pferdegetrappel, Flüche, Jauchzen und Heulen von Fechtenden unterschied, aber alles klang gedämpft durch die Felsenmauer ihres Gefängnisses, wie ein verworrenes, hohles Gemurmel.

In so furchtbarer Lage durch Verzweiflung getrieben, arbeitete Eveline, fast mit der Kraft einer Wahnsinnigen, um sich zu befreien, so daß es ihr zum Teil gelang, ihre Arme aus den Banden herauszupressen. Aber dies allein genügte, sie zu überzeugen, daß eine Flucht unmöglich sei; denn als sie den Schleier wegriß, der ihr Haupt umhüllte, fand sie sich in der tiefsten Finsternis, und indem sie mit den Armen rasch umherfühlte, entdeckte sie, daß sie in einer unterirdischen, sehr engen Höhle eingesperrt war. Die Hände, mit denen sie umhertastete, fanden nur Stücke von verrostetem Metall, und noch etwas, das zu anderer Zeit ihr Entsetzen eingeflößt hätte, da es in der Tat nichts anders, als die Gebeine eines Toten waren. Jetzt konnte dieser Umstand kaum ihre Furcht vermehren, eingemauert wie sie sich wähnte, um eines gräßlichen Todes unter der Erde zu sterben, indes ihre Freunde und Befreier wahrscheinlich wenige Schritte von ihr entfernt waren. Wild streckte sie die Arme aus, um irgend eine Oeffnung zur Flucht zu finden, aber jeder Versuch, den sie machte, sich aus diesem lastenden Bau um sie her zu befreien, war so unwirksam, als hätte sie versucht, den Dom einer Kathedrale umzustoßen.

Der Lärm, den sie zuerst vernommen, nahm immermehr zu, und einen Augenblick schien es, als ob die Decke des Gewölbes, unter dem sie sich befand, von Gestampf oder Stößen widerhalle. Unmöglich hätte ein menschliches Gehirn diese Schrecken überstehen können; aber glücklicherweise dauerte dieser höchste Grad der Angst nicht lange. Töne, die immer hohler wurden und endlich in der Ferne erstarben, ließen erkennen, daß einer oder der andere Teil sich zurückgezogen hatte; zuletzt war es still.

Eveline konnte nun ihre schreckliche Lage ungestört erwägen. Das Gefecht war vorbei, und allem Anscheine nach waren ihre Freunde Sieger geblieben. Denn wäre es anders gewesen, so hätten die Sieger sie aus ihrem Gefängnisse befreit und ihre Gefangene mit sich genommen. Aber was konnte nun der Sieg ihrer treuen Freunde und Anhänger Evelinen nützen, die in einem verborgenen Winkel eingeschlossen war, wo sie niemand finden würde? Waren dann ihre Freunde abgezogen, so kehrten gewiß die Feinde zurück, und sie fiel ihnen aufs neue in die Hände, oder aber sie starb in Finsternis und Einsamkeit eines gräßlichen Todes. Daran konnte das unglückliche Mädchen nicht denken, ohne ein Gebet zum Himmel zu schicken, daß wenigstens ihre Todesangst abgekürzt werden möge.

In dieser furchtbaren Stunde gedachte sie des Dolches, den sie trug, und der finstere Gedanke durchzuckte ihre Seele, daß, wenn jede Hoffnung des Lebens schwände, es wenigstens in ihrer Hand läge, sich einen schnellen Tod zu geben. Als ihre Seele bei diesem traurigen Troste zusammenschauerte, drängte sich plötzlich die Frage vor, ob sie diese Waffe nicht zu ihrer Befreiung benützen könnte, statt damit ihre Leiden auf einmal zu endigen?

Sobald diese Hoffnung einmal gefaßt war, so zauderte auch die Tochter Raymond Berengers nicht, den Versuch zu machen, und es gelang ihr durch wiederholte Anstrengung, wiewohl mit großer Beschwerde, ihre Stellung zu verändern, so daß sie den Raum ihres Kerkers ringsumher umschauen und besonders den Gang finden konnte, durch den sie hereingekommen war, und nun wieder zum Tageslicht zurückzukehren versuchen wollte. Sie kroch bis zum äußersten Ende und fand, wie sie erwartete, die Oeffnung mit großen Steinen und Erde versperrt, die so zusammengestampft waren, daß gegenüber diesem Wall alle Hoffnung auf Flucht schwinden mußte. Doch war die Mauer sehr schnell errichtet worden, und Leib und Leben waren ja ein Preis, um den man alle Kräfte wohl aufbieten konnte. Mit ihrem Dolche schaffte sie die Erde und die Rasenstücke weg, und mit den Händen, die an solche Arbeit nicht gewöhnt waren, schob sie mehrere Steine fort, bis sie schließlich einen Schimmer von Licht sah und, was nicht weniger kostbar war, ein wenig frische Luft schöpfen konnte. Aber zu gleicher Zeit mußte sie erkennen, daß die Größe und Schwere eines gewaltigen Steines, der den Durchgang von außen schloß, ihr jede Hoffnung raubte. Hier konnten ihre Kräfte allein, ohne einen Beistand von außen, nichts mehr ausrichten. Doch war ihr Zustand jetzt wenigstens erträglich: denn sie hatte nun wenigstens Luft und Licht und konnte vielleicht auch jemand zur Hilfe rufen.

Aber ein solches Geschrei um Hilfe stieß sie eine Zeitlang vergebens aus – wahrscheinlich lagen nur Tote oder Sterbende in der Nähe; denn leise, unverständliche Klagelaute waren einige Minuten lang die einzige Antwort, die sie erhielt. Endlich, als sie wiederholt rief, sprach eine schwache Stimme, wie die eines Menschen, der eben aus einer Ohnmacht erwacht, folgende Worte: »Edris aus dem unterirdischen Hause, rufst Du aus Deiner Gruft den Elenden, der zu seiner eigenen hinabeilt? – Sind die Schranken zerbrochen, die mich mit den Lebenden zusammenhielten? – Höre ich schon mit meinen leiblichen Ohren die schwachen Klagelaute der Toten?«

»Es ist kein Geist, der hier spricht,« erwiderte Eveline überfroh, daß sie endlich einem lebenden Wesen sagen konnte, wo sie sich befand, »kein Geist, sondern ein sehr unglückliches Mädchen, namens Eveline Berenger, eingemauert in diesem dunklen Gewölbe und in Gefahr, gräßlich umzukommen, wenn Gott nicht Erlösung sendet.«

»Eveline Berenger!« rief derjenige, zu welchem sie sprach, mit dem Tone der Verwunderung. – »Es ist unmöglich. – Ich sah ihren grünen Mantel – ihren Federhut, als die Feinde mit ihr davonjagten und ich nicht imstande war, sie zu retten.«

»Getreuer Vasall, oder besser getreuer Freund, oder freundlicher Fremdling, oder wie ich Dich nennen soll,« erwiderte Eveline, »wisse, Du bist durch die List der Walliser Räuber getäuscht worden, Mantel und Hut Eveline Berengers haben sie in der Tat bei sich, aber sie haben sie nur gebraucht, meine treuen Freunde, die wie Du um mein Schicksal besorgt sind, irre zu führen. Deshalb, tapferer Herr, ersinne irgend eine Hilfe, wenn Du kannst, für Dich und mich. Denn ich fürchte, wenn die Räuber der Verfolgung entronnen sind, so kehren sie hierher zurück wie der Dieb zu dem Schlupfwinkel, in dem er das gestohlene Gut niedergelegt hat.«

»Nun, die heilige Jungfrau sei gepriesen,« sagte der verwundete Mann, »daß ich mit dem letzten Atemzug noch Dir einen Dienst erweisen kann. Ich wollte zuvor nicht ins Horn stoßen, um niemand von den Verfolgern zurückzurufen, weil ich glaubte, sie könnten Dich retten. Gebe der Himmel, daß der Ruf jetzt gehört und meine Augen noch Lady Eveline in Freiheit und Sicherheit sehen mögen!«

In so schwachem Tone auch diese Worte gesprochen wurden, so atmeten sie doch eine wahre Begeisterung, und nun folgte ein Stoß in ein Horn, das nur sehr schwach ertönte und keine Antwort als nur den Widerhall aus der Grube selbst erhielt. Jetzt wurde schärfer und lauter ins Horn gestoßen, doch brach der Ton so plötzlich ab, daß es schien, der Atem habe den Verwundeten mitten in der Anstrengung verlassen. – Ein sonderbarer Gedanke ging in diesem Augenblick der Ungewißheit und des Schreckens durch Evelinens Seele. – »Das,« sagte sie, – »war das Signal eines de Lacy. – Ihr seid doch nicht mein edler Verwandter, Sir Damian?«

»Ich bin der unglückliche Elende, der den Tod dafür verdient, daß er für seine Schutzbefohlene so schlecht gesorgt hat. – Wie konnte ich nur unbekannten Boten trauen? – Ich hätte die Heilige, welche meinem Schutz übergeben war, stets mit wachsamem Blick anbeten sollen. Nirgends hätte ich verweilen sollen, als an Eurem Tore, länger davor wachen, als der glänzendste Stern am Himmel. Ungesehen und von keinem gekannt, hätte ich nie aus Eurer Nähe weichen sollen. Dann wärt Ihr nicht in die gegenwärtige Gefahr geraten, und Du, Damian de Lacy, wärst nicht als meineidiger, nachlässiger Schurke in die Gruft gefahren!«

»Ach, edler Damian,« sagte Eveline, »brecht nicht mein Herz, indem Ihr Euch einer Unbesonnenheit wegen tadelt, die ganz meine Schuld ist. Eure Hilfe war immer nahe, sobald ich nur einen Wink gab, daß ich ihrer bedürfe; und es verbittert mein eigenes Unglück, daß meine Uebereilung die Ursache Eures Unfalles ist. Antwortet mir, teurer Verwandter, und laßt mich hoffen, daß die Wunden, die Ihr erhalten habt, geheilt werden können. – Ach! wieviel von Eurem Blute sah ich schon fließen, wie grausam ist doch mein Geschick! Stets muß ich Kummer über all diejenigen bringen, für welche ich gern mein eigenes Glück aufopfern wollte! aber laßt uns nicht die uns durch des Himmels Gnade gegönnten Augenblicke in fruchtloser Reue verbringen. –Versuche alles, was Du kannst, Dein Blut zu stillen, das so kostbar ist – für England – für Eveline – für Deinen Oheim.«

Damian seufzte, als sie sprach und schwieg; während Eveline halb wahnsinnig bei dem Gedanken, er könne aus Mangel an Hilfe umkommen, ihre Anstrengungen verdoppelte, sich zum Heil ihres Verwandten und ihrer eigenen Rettung hinauszuarbeiten. Es war alles vergebens, verzweifelnd gab sie ihre Versuche auf, und von einem gräßlichen Gegenstande des Schreckens zum andern übergehend, lauschte sie mit geschärftem Ohr den sterbenden Seufzern des edlen Damians, als – welches Entzücken! – Pferdegetrappel schnell sich näherte. Doch wenn auch dieser freudvolle Ton ihr Erlösung aus dem Grabe verhieß, würde er ihr auch die Freiheit bringen? Es konnten ja die räuberischen Bergbewohner sein, die zurückkehrten, ihre Gefangene zu holen. Aber auch diese würden ihr erlaubt haben, die Wunden Damian de Lacys zu untersuchen und zu verbinden; denn es konnte ihnen weit mehr Vorteil bringen, ihn als Gefangenen zu behalten, als ihn zu töten. Ein Reiter kam herbei, Eveline rief ihn um Beistand an, und das erste Wort, das sie hörte, war ein flamländischer Ausruf des getreuen Wilkin Flammock – ein Ruf, den nur dieses Schauspiel höchst ungewöhnlicher Art dem phlegmatischen Manne entreißen konnte.

Als er von Lady Eveline vernahm, in welcher Lage sie sich befände, und von ihr zugleich beschworen wurde, den Zustand Damian de Lacys genau zu untersuchen, begann er mit bewunderungswürdiger Fassung und einiger Sachkenntnis die Wunden des einen zu verbinden, während seine Begleiter einen Hebebaum herbeibrachten, welchen die Welschen bei ihrem Rückzuge zurückgelassen hatten, und bald imstande waren, an der Befreiung Evelinens zu arbeiten. Mit großer Vorsicht und unter der erfahrenen Leitung Flammocks wurde der Stein endlich so lange gehoben, daß man Eveline sehen konnte. Groß war das Entzücken aller, besonders ihrer treuen Rose, die ohne Rücksicht auf persönliche Gefahr um den Kerker ihrer Gebieterin herumflatterte, wie ein seiner Jungen beraubter Vogel um den Käfig, in den ein mutwilliger Bube sie gefangen hält. Große Vorsicht war notwendig, als man nun den Stein aufhob, weil er leicht nach innen fallen und die Lady beschädigen konnte.

Endlich war das Felsenstück so hoch gelüftet, daß sie hinaus konnte, während ihre Leute aus Wut über ihre erlittene Einsperrung nicht aufhörten mit Stangen und Hebebäumen zu arbeiten, bis sie den schweren Block aus dem Gleichgewicht gebracht hatten. Nun stürzte der große Stein, der die Oeffnung des unterirdischen Ganges versperrt hatte, nach der Seite über und begann den steilen Abhang hinunterzurollen. Immer schneller kollerte und krachte und donnerte er den Berg hinab, mitten unter Feuerfunken, die er aus den Felsen schlug, unter Wolken von Rauch und Staub, bis er endlich in das Bett eines Waldbachs schlug, wo er in fünf große Stücke zerschellte, mit einem Gekrach, das wohl drei Meilen weit gehört werden konnte.

Mit zerrissenen und beschmutzten Gewändern, mit aufgelöstem Haare, erschöpft von dem Aufenthalt in ihrem stickigen Kerker und von der Anstrengung, sich zu befreien, verwandte Eveline doch nicht eine Minute dazu, auf ihren eigenen Zustand zu achten; nein, mit dem Eifer einer Schwester, die ihrem einzigen Bruder zu Hilfe eilt, ließ sie es sich angelegen sein, die schweren Wunden Damians de Lacy zu untersuchen, den Bluterguß zu stillen und ihn aus seiner Ohnmacht zu wecken. Wir haben es anderswo gesagt, daß gleich andern Frauen jener Zeit Eveline in der Wundarzneikunst nicht unerfahren war, und jetzt entwickelte sie noch größere Kenntnisse, als man ihr zugetraut. In jeder ihrer Anordnungen lag Klugheit, Umsicht und Zartgefühl; und die Sanftmut des weiblichen Geschlechts, die nimmermüde Menschenliebe, die stets bereit ist, das Elend zu mildern, wo sie es findet, schien in ihr durch den Scharfsinn eines energischen Verstandes noch auf eine höhere, würdevollere Stufe gehoben. Nachdem Rose ein paar Minuten bewundernd die klugen, sinnreichen Anordnungen ihrer Gebieterin angehört hatte, schien es ihr plötzlich einzufallen, daß der Kranke nicht der ausschließlichen Sorge Evelinens allein überlassen werden dürfte; sie ging ihr daher zur Hand und leistete ihr Beistand, soviel sie konnte, wahrend die Diener eine Bahre anfertigten, auf der der verwundete Ritter nach dem Schlosse von Garde Douloureuse gebracht wurde.


 << zurück weiter >>