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Mein Heimathland, leb' wohl!
Lord Byron.
Heutiges Tages ist eine Reise von Edinburg nach London auch für einen unerfahrnen und unbeschützten Reisenden etwas sehr Leichtes und Einfaches. Eine große Anzahl Fuhrwerke aller Art gehen fortwährend hin und her, so daß auch der Furchtsamste und Unerfahrenste den Weg schnell und sicher zurücklegen kann. Doch anders war es im Jahr 1737. Der Verkehr der beiden Hauptstädte mit einander war gering und die Landstraße verödet. Wer nicht zu Fuß gehen wollte, nahm Postpferde, von denen der Reisende das eine und der Führer das andere ritt. Doch konnten nur Reiche sich dieser ermüdenden Bequemlichkeit bedienen, den Aermeren war sie zu theuer.
Mit starkem Herzen und rüstigem Körper wanderte Jeanie Deans unermüdlich vorwärts und erreichte Schottlands Grenze. Bis dahin war sie unter ihren Landsleuten gewesen, für welche ihre Tracht nichts Auffallendes hatte. Als sie aber weiter kam, sah sie, daß ihr buntes schottisches Tuch, welches sie statt des Schleiers über dem Kopf trug, so wie der Mangel der Fußbekleidung sie höhnischen Bemerkungen aussetze. Sie legte also jenes sorgfältig in ihr Bündelchen und ersetzte es durch einen großen Strohhut, wie ihn die Landmädchen in England trugen. Auch richtete sie sich nach der Sitte, stets Schuhe und Strümpfe zu tragen, obgleich sie ihr anfangs beim Gehen beschwerlich waren.
Sie fand bald, daß man auch ihre Sprache und ihren Ton bespöttele und suchte daher das Sprechen so viel als möglich zu vermeiden. Grüße der Vorübergehenden erwiederte sie nur mit einer höflichen Verbeugung, und wählte nur stillere, anständig scheinende Wirthshäuser zu Ruheplätzen. Größtentheils fand sie eine gute freundliche Aufnahme. Zuweilen verschaffte man ihr auch die Gelegenheit, auf irgend einem Wagen eine Strecke Weges mit fortzukommen.
Zu York, wo Jeanie zu ihrer Freude in der Besitzerin des Gasthofs eine Landsmännin antraf, verweilte sie beinahe einen ganzen Tag, theils um neue Kräfte zu sammeln, theils um an ihren Vater und an Butler zu schreiben – ein Geschäft, welches für ihre ungeübte Feder kein leichtes war. In der Nachschrift theilte sie ihrem Vater mit, was sie unterwegs als Mittel gegen eine gewisse Krankheit des Rindviehs gelernt, damit er es bei einer ihrer kranken Kühe versuchen könne. Ferner berichtete sie ihm, daß sie in London sogleich zur Tabackshändlerin Frau Glas, ihrer Verwandten, gehen wolle. Sie aufzufinden, meinte sie, würde ein Leichtes sein.
Ihrem Freunde Butler ertheilte sie gleichfalls einigen Bericht von ihrer Reise; sie erkundigte sich mit liebevoller Theilnahme nach seiner Gesundheit, bat ihn getrost zu sein, und ihr nach London zu schreiben, wie es ihm gehe. Sie bemühte sich in diesen Briefen froher, muthiger und hoffnungsvoller zu erscheinen, als sie es in diesem Augenblick wirklich war. – »Wenn sie glauben, daß es mir gut geht, und daß es mir gelingen kann,« dachte die arme Pilgerin, »so wird mein Vater freundlicher gegen die arme Effie sein, und Butler freundlicher gegen sich selbst; denn gewiß ist ihre Besorgniß um mich größer als meine eigene.«
Frau Bickerton, die Wirthin zu den sieben Sternen in York, bezeigte sich sehr freundlich gegen ihre Landsmännin. Sie lud sie ein mit ihr zu essen und bis zum nächsten Morgen dort auszuruhen. Jeanie nahm diese Aufforderung an, und so viel Vertrauen flößte ihr die mütterliche Sorgfalt der guten Frau ein, daß sie, obgleich verschwiegen von Natur, ihr den Grund und die Absicht ihrer Reise mittheilte. Frau Bickerton starrte sie mit großen Augen an und erhob verwundert die Hände bei der Erzählung. Doch zeigte sie auch viel Theilnahme und gab ihr einigen guten Rath. Sie erkundigte sich nach Jeanie's Baarschaft, die sich jetzt noch ungefähr auf fünfzehn Guineen belief. Dies könnte wohl hinreichen, meinte Frau Bickerton, wenn sie es nur sicher fortbrächte; denn in den südlichern Gegenden, wo sie hinkäme, wäre viel von Straßenräubern zu fürchten. Sie rieth ihr deshalb, das Gold in ihre Kleider zu nähen, und nur einiges Silbergeld heraus zu behalten.
»Und Mädchen,« sagte sie, »Du mußt nicht in London herumlaufen und fragen, wer Frau Glas im Tabacksladen zum Dornbusch kennt. Da würden sie Dich schön auslachen; aber geh' nur zu diesem ehrlichen Mann,« – sie gab ihr eine genaue Adresse – »er kennt die meisten unserer Landsleute dort, und wird Dir schon Deine Freundin auffinden helfen.«
Jeanie sagte ihr den herzlichsten Dank für ihre Theilnahme. Erschreckt jedoch durch die Nachricht von der Unsicherheit des Weges, gedachte sie jetzt der Warnung Ratcliffe's und zeigte der Wirthin den wunderlichen Paß, den er ihr gegeben.
Die Wirthin zu den sieben Sternen pfiff auf einem silbernen Pfeifchen, welches nach damaliger Gewohnheit an ihrer Seite hing, und eine Magd trat in's Zimmer.
»Der Kellner soll heraufkommen,« sagte Frau Bickerton.
Dieser, ein häßlicher Kerl mit schielenden verschmitzten Augen und einem hinkenden Fuße, erschien sogleich.
»Richard,« sagte die Wirthin im Tone der Gebieterin, »Du bist ziemlich bekannt mit dem, was auf der Landstraße vorgeht.«
»Ei nun,« meinte Richard mit halb reuigem, halb listigen Achselzucken, »zu meiner Zeit habe ich freilich dies und jenes davon gewußt.« Er nahm einen pfiffigen Blick an und lachte, dann wieder einen ernsten und seufzte, wie Einer, der bereit ist, die Sache von beiden Seiten zu nehmen.
»Kennst Du unter andern dies?« fragte Frau Bickerton, ihm Ratcliffe's Papier zeigend.
Als Richard es angesehen, blinzelte er mit einem Auge, dehnte seinen unförmlichen Mund von einem Ohr bis zum andern aus, kratzte sich tüchtig in den Kopf und sagte: »Kennen? – Nun kennen möcht' ich's vielleicht, wenn's ihm keinen Schaden bringt.«
»Nicht den geringsten; aber Dir bringt es ein Glas Branntwein, wenn Du sprichst.«
»Nun, so kann ich denn wohl sagen, daß jeder ordentliche Kerl auf der Landstraße diesseits Stamford Jakob Ratcliffe's Paß kennt und ihn wird gelten lassen.«
Frau Bickerton gab ihm die versprochene Belohnung und entließ ihn.
»Ich rathe Dir,« sagte sie zu Jeanie, »wenn Du unterwegs grobe Gesellen antriffst, ihnen dies Stückchen Papier vorzuzeigen, es wird Dir nützlich sein.«
Früh am andern Morgen wollte Jeanie ihre Reise fortsetzen. Sie sagte daher noch am Abend ihrer gastfreundlichen Landsmännin Lebewohl. Die gute Frau wollte durchaus von keiner Bezahlung hören, versah sie noch mit einigen Empfehlungsschreiben an Inhaber von Gasthöfen auf der londoner Straße, und bat sie, auf ihrer Rückreise wieder zu ihr zu kommen und sie von dem Ausgang ihres Unternehmens in Kenntniß zu setzen.