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Zehntes Kapitel.

Isabella. Ach, wie gering ist meine Fähigkeit
Ihm wohlzuthun.

Lucio. So thut nur, was Ihr könnt.

Maß für Maß.

Als Frau Sattelbaum in das Zimmer trat, wohin ihre Gäste sich zurückgezogen hatten, fand sie die Fensterladen verschlossen. Die Schwäche, welche seiner langen Bewußtlosigkeit gefolgt war, hatte es nöthig gemacht, den alten Mann ins Bett zu bringen. Die Vorhänge waren zugezogen und Jeanie saß bewegungslos vor dem Bett. Frau Sattelbaum besaß viel Gutmüthigkeit, aber keine Zartheit des Gefühls. Sie öffnete den Fensterladen, zog den Bettvorhang zurück, faßte ihren alten Freund bei der Hand und ermahnte ihn, sich aufrecht zu setzen und seine Leiden wie ein redlicher Mann und Christ zu tragen. Doch kraftlos sank seine Hand wieder auf das Bett hin, sobald sie sie losließ, und er machte auch nicht den Versuch zu einer Antwort.

»Ist Alles aus?« fragte Jeanie leise, und ihre Lippen und Wangen waren bleich wie Asche, – »und ist keine Hoffnung mehr für sie?«

»Keine, oder so gut wie keine,« entgegnete Frau Sattelbaum; »ich hörte es mit meinen eigenen Ohren von dem Kerl, dem Richter. – Eine Sünde und Schande, wahrhaftig, sie alle in ihren rothen und schwarzen Mänteln sitzen zu sehen, nur um einem armen einfältigen Dinge von Mädchen das Leben abzusprechen. Ich machte mir nie sonderlich viel aus meines Mannes lieben Gevattersleuten, und jetzt sind sie mir vollends zuwider. Das einzige vernünftige Wort brachte noch Herr Kirk hervor, welcher sagte, sie sollten den König um Gnade bitten. Aber er predigte tauben Ohren. Er hätte den Athem sparen können, seine Suppe kalt zu blasen.«

»Und kann der König sie begnadigen?« fragte Jeanie lebhaft; »Einige sagen, er könnte es nicht in Fällen des Mord– in Fällen wie der ihrige.«

»Ob er es kann? Freilich kann er es, wenn er will. Ich könnte Euch genug solcher Geschichten erzählen. Und ist es nicht erst ganz kürzlich mit dem Hans Porteous geschehen? Gnade ist vorhanden, dafür stehe ich Euch, wenn man nur dazu gelangen könnte.«

»Porteous?« sagte Jeanie; »es ist wahr. Ich vergesse Alles, dessen ich am meisten gedenken sollte. – Leben Sie wohl, Frau Sattelbaum; und möge es Ihnen nie an einem Freunde in der Noth fehlen.«

»Kind, Jeanie, willst Du denn nicht lieber bei Deinem Vater bleiben?« sagte Frau Sattelbaum.

»Ich werde wohl dort drüben nöthig sein,« sagte sie, nach dem Gefängniß hindeutend, »und ich muß ihn jetzt verlassen, oder gar nicht. – Ich fürchte nicht für sein Leben, ich weiß wie stark sein Herz ist. Ich weiß es,« sagte sie, die Hand auf die Brust legend, »an meinem eigenen in diesem Augenblick.«

»Gut, Kind, und wenn Du meinst, so ist es wohl besser er bleibt noch hier und erholt sich, als daß er nach St. Leonard's zurückgeht.«

»Viel besser, viel besser. – Gott segne Sie! Gott segne Sie! – Lassen Sie ihn auf keinen Fall fort, ehe Sie von mir hören.«

»Aber Du kommst doch bald wieder, Jeanie?« sagte Frau Sattelbaum, sie zurückhaltend; »sie werden Dich doch nicht drüben behalten, Kind?«

»Ich muß aber dann gleich nach St. Leonard's. – Es ist viel zu thun, und wenig Zeit dazu. – Und ich habe noch mit Freunden zu sprechen. – Gott segne Sie! – Sorgen Sie für meinen Vater.«

Sie hatte schon die Thür des Zimmers erreicht, als sie plötzlich umkehrte, und vor dem Bette hinkniete. »O Vater, gib mir Deinen Segen!« sagte sie. »Ich darf nicht gehen, ehe Du mich segnest. Sage nur: Gott segne und behüte Dich, Jeanie. Versuche nur dies zu sagen.«

Ein unwillkürlicher Antrieb eher als eine Anstrengung seiner Seelenkräfte setzte den alten Mann in den Stand ein Gebet zu murmeln, daß der Segen der Verheißung auf ihr ruhen möge.

»Er hat mein Vorhaben gesegnet,« rief sie, sich von ihren Knieen erhebend, »und es ist mir als müsse es gelingen.«

Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer. Frau Sattelbaum sah ihr nach und schüttelte den Kopf. »Wenn sie nur nicht irr spricht, das arme Ding. Die Deans haben alle so etwas Wunderliches an sich. Es ist nichts, wenn man so viel besser ist als andere Leute, es kommt selten Gutes davon. – Wenn sie aber gegangen ist, um nach den Kühen zu St. Leonard's zu sehen, so ist das was anderes, die müssen freilich abgewartet werden. – Grete, komm herauf und sieh nach dem alten Mann, und laß es ihm an nichts fehlen. – Du einfältige Dirne Du, wozu hast Du Dich so aufgeputzt! Ich dächte, der heutige Tag sollte Euch Närrinnen allen zur Warnung dienen.«

Wir lassen die gute Frau ihre Strafpredigt gegen weltliche Eitelkeit fortsetzen, und begeben uns dorthin, wo die unglückliche Effie jetzt in strengerer Haft schmachtete. Sie hatte dort etwa eine Stunde in einem Zustande dumpfen Schreckens zugebracht, als die klirrenden Schlösser und Riegel ihres Kerkers sie aus der Betäubung rissen, und Ratcliffe eintrat. »Eure Schwester ist da, Effie,« sagte er, »sie will Euch sprechen.«

»Ich kann Niemand sehen,« rief sie, durch ihr Elend mehr als je zu bitterer Heftigkeit gereizt, »ich kann Niemand sehen, und am wenigsten sie. – Sagt ihr, sie solle für den alten Mann sorgen. – Ich bin ihnen nichts mehr, und auch sie mir nicht.«

»Sie will Euch durchaus sprechen,« sagte Ratcliffe. Bei diesen Worten stürzte Jeanie herein und schlang die Arme um ihrer Schwester Hals.

Effie suchte sich ihr zu entziehen. »Was hilft's, daß Du hieher kommst und weinst, nun Du mir den Tod gegeben hast? Den Tod, wo ein Wort aus Deinem Munde mich retten konnte. Den Tod, da ich doch unschuldig bin. – Und ich hätte Leib und Seele daran gesetzt, nur Deinen kleinen Finger vor Schaden zu bewahren.«

»Du sollst nicht sterben,« sagte Jeanie mit feuriger Entschlossenheit; »sage, denke von mir, was Du willst; nur – denn ich fürchte Dein stolzes Herz – versprich mir, Dir kein Leides anzuthun, und Du sollst diesen schmachvollen Tod nicht sterben.«

»Einen schmachvollen Tod will ich nicht sterben, Mädchen. In meinem Herzen – ist es gleich ein allzu hingebendes gewesen – wohnt etwas, das keine Schmach erträgt. Geh heim zu unserm Vater und denke meiner nicht mehr – ich habe die letzte irdische Speise genossen.«

»O Gott! dies war's, was ich gefürchtet,« sagte Jeanie.

»Ei, Possen!« sagte Ratcliffe, »Possen! Davon versteht Ihr nichts. Wenn ihnen das Urtheil noch in den Ohren klingt, sollte man meinen, sie hätten alle Herz genug, sich selber zu tödten, ehe die sechs Wochen um sind; aber keiner thut es. Ich kenne das Ding gar zu gut; dreimal in meinem Leben habe ich schon dem verteufelten grauen Kerl gegenüber gestanden, und hier ist Jakob Ratcliffe noch frisch und gesund, als ob nichts vorgefallen. Hätte ich mir gleich das erstemal mein Schnupftuch fest um den Hals geschnürt, wie mich die Lust dazu anwandelte – und es war um weiter nichts, als einen kleinen Grauschimmel, keine zehn Pfund werth – wo wäre ich jetzt?«

»Und wie wurdet Ihr befreit?« fragte Jeanie; denn dieser ihr früher so verhaßte Mensch erweckte plötzlich ihre Theilnahme durch die Aehnlichkeit seines Schicksals mit dem ihrer Schwester.

»Wie ich frei wurde?« sagte er lachend; »so lange ich die Schlüssel habe, soll keiner auf die Weise aus dem Gefängniß kommen, dafür stehe ich Euch.«

»Meine Schwester soll bei hellem Tage hinausgehen,« sagte Jeanie; »ich will nach London, und den König und die Königin für sie um Gnade bitten. Wenn sie dem Porteous verziehen, können sie ihr auch verzeihen. Wenn eine Schwester auf ihren Knieen um ihrer Schwester Leben fleht, werden sie ihr verzeihen – sie müssen ihr verzeihen, und tausend Herzen werden sie dadurch gewinnen.«

Effie horchte in starrem Erstaunen, und so hinreißend war ihrer Schwester schwärmerische Zuversicht, daß unwillkürlich ein Strahl der Hoffnung in ihr dämmerte; doch verschwand derselbe sogleich wieder.

»Ach, Jeanie! der König und die Königin wohnen in London, tausend Meilen von hier – weit, weit jenseits der See. Ich werde längst todt sein, ehe Du hinkommst.«

»Du irrst,« sagte Jeanie; »es ist nicht so weit, und man kann zu Lande hinkommen. Ruben Butler hat mir etwas von dergleichen Dingen gelehrt.«

»Ach, Jeanie, Du lerntest immer nur Gutes von ihnen, mit denen Du umgingst; aber ich – ich« – sie rang die Hände und weinte schmerzlich.

»Denke jetzt nicht daran,« sagte Jeanie; »laß das, bis wir diese Zeit erst hinter uns haben. – Lebe wohl. Wenn ich nicht unterwegs sterbe, will ich des Königs Antlitz sehen, der Gnade verleihen kann. – O Herr,« sagte sie zu Ratcliffe, »seid gütig gegen sie. Sie wußte nie bis jetzt, was es heiße, eines Fremden Güte zu bedürfen. Lebt wohl. – Lebe wohl, Effie. – Sprich nicht zu mir, ich darf jetzt nicht weinen, mir schwindelt der Kopf nur schon allzusehr.«

Sie riß sich aus den Armen ihrer Schwester, und verließ das Gemach. Ratcliffe ging ihr nach und winkte ihr, ihm in ein kleines nahgelegenes Zimmer zu folgen.

»Es ist mir ordentlich, als könntet Ihr mit Eurem Eifer das Ding durchsetzen,« sagte er jetzt zu ihr; »aber Ihr müßt nicht geradezu an den König gehen. Wendet Euch an den Herzog – an Mac Callummore – er ist Schottlands Freund. Das hohe Volk dort kann ihn freilich nicht sonderlich leiden; aber sie fürchten ihn, und das ist ebenso gut für Euch. Wißt Ihr Niemanden, der Euch einen Brief an ihn mitgeben kann?«

»Der Herzog von Argyle?« sagte Jeanie sich besinnend; »wie war er denn mit jenem Argyle verwandt, der zu meines Vaters Zeiten litt, während der Verfolgung?«

»Er ist sein Sohn oder Enkel, glaube ich. Aber was hilft das?«

»Gott sei Dank!« rief Jeanie, indem sie fromm die Hände faltete.

»Ihr Leute habt immer Gott für etwas zu danken,« sagte der Schelm. »Aber höre einmal, Mädchen, ich will Dir ein Geheimniß anvertrauen. Du triffst vielleicht wilde Gesellen an, auf der Grenze oder mitten im Lande, ehe Du nach London kommst. Aber auch der Aergste darunter thut keinem Bekannten von Vater Rat etwas zu Leide. Sie wissen, daß ich ihnen noch zu Gutem oder Bösem verhelfen kann, obgleich ich mein öffentliches Gewerbe aufgegeben, und sie kennen meinen Paß so gut wie das Siegel irgend eines Friedensrichters im Lande.« – Er kritzelte hastig einige Zeilen auf ein beschmutztes Stück Papier, hielt es ihr hin und sagte, als sie davor zurücktrat: »Nun, zum Teufel, es wird Euch ja nicht beißen, Liebchen. Wenn es auch nicht hilft, so schadet es doch nicht. Zeigt es nur vor, wenn Ihr mit den Dienern des heiligen Niklas Händel bekommt.«

»Ach!« sagte sie, »ich verstehe nicht, was Ihr meint.«

»Ich meine, wenn Euch Diebe begegnen, meine Kostbare – das ist ein Wort aus der Bibel, wenn es doch nothwendig eins sein muß – auch der Verwegenste unter ihnen kennt den Strich meines Gänsekiels. Und nun lebt wohl, und haltet Euch an Argyle; wenn irgend Einer etwas thun kann, so ist er es.«

Nach einem ängstlichen Blick auf die schwärzlichen Mauern und vergitterten Fenster des alterthümlichen Kerkers, und einem minder schmerzlichen auf das gastfreundliche Haus der Frau Sattelbaum, ließ Jeanie diese Straße, und bald auch die Stadt selbst hinter sich. Sie erreichte die St. Leonards-Felsen, ohne Jemand zu begegnen, den sie kannte, und dies schien ihr bei ihrem gegenwärtigen Gemüthszustande eine große Wohlthat. »Ich muß Alles vermeiden,« dachte sie, »was mein Herz erweichen kann. Es ist ohnedies weich und schwach genug für das, was ich zu thun habe. Ich will so standhaft denken und handeln, als möglich, und so wenig als möglich sprechen.«

Eine alte Dienerin, oder vielmehr Schutzbefohlene ihres Vaters lebte in einem niedrigen Hüttchen nahe bei Deans Hause. Sie berief diese treue Alte zu sich, sagte ihr, daß sie eine Reise vorhabe, und trug ihr die Sorge für die Haushaltung während ihrer Abwesenheit auf. Mit bewundernswürdiger Fassung schrieb sie ihr genau bis auf das Kleinste vor, was sie zu thun habe, besonders das zur Pflege ihres Vaters Erforderliche. Vermuthlich werde er bald nach St. Leonard's zurückkommen, sagte sie, und es müsse Alles in gehöriger Ordnung für ihn sein. Er habe so schon Kummer und Herzeleid genug, ohne daß man ihn noch mit solchen Dingen zu ärgern brauche.

Und mit emsiger Geschäftigkeit arbeitete sie mit Marie Hettly, um alle nöthigen Einrichtungen zu treffen. Erst tief in der Nacht wurden sie damit fertig. Nachdem Jeanie einige Speise zu sich genommen, die erste, welche sie heute genoß, fragte die Alte, ob sie nicht bei ihr bleiben solle. »Ihr habt heute einen traurigen Tag gehabt,« sagte sie, »und Furcht und Sorge sind schlechte Gesellschafter.«

»Freilich sind sie das,« erwiederte Jeanie; »aber ich muß ihre Gegenwart ertragen lernen; und es ist besser hier im Hause damit anzufangen, als draußen im freien Felde.«

Demzufolge entließ sie Marie Hettly und machte noch einige Vorbereitungen zu ihrer Reise. Ihre einfache Erziehung und Lebensweise machten diese Zurüstungen sehr kurz und leicht. Ihr großes schottisches Tuch diente ihr statt des Mantels und Schleiers; ein Bündelchen enthielt das nothwendigste Leinenzeug. Auch ihre saubern Schuhe und schneeweißen Zwirnstrümpfe packte sie mit ein, um sie bei besondern feierlichen Veranlassungen zu gebrauchen; denn barfuß, nach ihrer ländlichen Sitte, gedachte sie ihre Pilgerschaft zu vollbringen. Sie wußte nicht, daß die englische Behaglichkeit mit dem Barfußgehen den Begriff des äußersten Elendes verbindet.

Aus einem Eichenschrank, in welchem ihr Vater nebst seinen Rechnungsbüchern verschiedene alte Bücher und Schriften aufbewahrte, suchte sie unter Bruchstücken geschriebener Predigten, Empfangscheinen, Reden sterbender Glaubensdulder und dergleichen mehr, einige Papiere hervor, die sie bei ihrem Vorhaben benutzen zu können glaubte. Allein die größte Schwierigkeit blieb noch zu beseitigen, und ihr fiel dieselbe erst in diesem Augenblick ein. Es war der gänzliche Mangel an Geld, ohne welches eine so weite Reise sich nicht unternehmen ließ.

David Deans war ein wohlhabender Mann, allein sein Reichthum bestand, gleich dem der Erzväter, in seiner Heerde. Einige kleine Geldsummen hatte er freilich in der Nachbarschaft ausgeliehen. Von den Schuldnern war aber nichts zu erlangen, am wenigsten ohne ihres Vaters Mitwissen. Und Jeanie fühlte nur zu gut, sie dürfe nicht um ihres Vaters Erlaubniß nachsuchen, ohne sich ein strenges Verbot ihrer Pilgerschaft zuzuziehen.

Jeanie dachte auch an Frau Sattelbaum; doch zur Stadt mochte sie nicht gern zurückkehren, auch sprach ihr inneres Gefühl dagegen, sich bei dieser Veranlassung an sie zu wenden. Mit dankbarem Herzen erkannte sie ihre Gutmüthigkeit und liebevolle Theilnahme; aber sie fühlte zugleich, daß sie eine Frau von ganz gewöhnlicher und weltlicher Denkungsart sei, unfähig ein Unternehmen, wie das ihrige, aus einem kühn schwärmerischen Gesichtspunkte anzusehen. Und es gegen sie vertheidigen, oder von ihrer Ueberzeugung die Mittel zur Ausführung erwarten zu müssen, wäre Galle und Wermuth für sie gewesen.

Butler, dessen Beistandes sie sich hätte versichert halten können, war noch viel ärmer als sie. Unter diesen Umständen faßte sie einen seltsamen Entschluß zur Ueberwindung dieser Schwierigkeit, dessen Ausführung den Gegenstand des nächsten Kapitels bilden wird.


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