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Das also ist das Land, das vor noch nicht hundert Jahren seinen Bewohnern als fette Ackerkrume diente und zum Hausgebrauch die offen zutage liegende Kohle bot! Die kleinen Ketten- und Nagelschmieden, die wenigen Gießereien paßten sich gut und leicht in die kleinen Dörfer und Städte ein. Und dennoch waren sie die ersten schüchternen Vorboten der heraufdämmernden neuen Zeit der Industrialisierung, die bald mit erzenem Finger die Erde des Gebiets aufwühlen solle, um die unermeßlichen Reichtümer, die sie in ihrem Schoße barg, zu erraffen.
Zuerst waren die nach Kohle schürfenden Gewerken selbst Bergknappen, nicht Ausbeuter der bergmännischen Arbeit. Aber schon nach der achtundvierziger Revolution fielen alle Privilegien, die sich der Bergmann von alters her gewahrt hatte. Die junge deutsche Bourgeoisie hatte eines von der großen französischen Revolution gelernt: Freiheit! Die nahm sie sich weidlich an der Ruhr. Die staatliche Aufsicht über den Bergbau wurde beseitigt, die intensive, profitgierige Erschließung der reichen Kohlenfelder konnte beginnen.
Es läßt sich heute noch an schwachen Spuren nachtasten, was das Gebiet früher war, ehe es Industriegebiet wurde. Zwischen Wohnkolonien von Bergleuten, Zechen, Hüttenwerken, engmaschigem Schienengeflecht und riesigen Stadtgebilden gibt es heute noch Bauerngehöfte und beackertes Land im Ruhrgebiet. Die Schwerindustrie an der Ruhr hat Tausende von kleinen Bauernwirtschaften gefressen. Vor dem Expansionstrieb von Kohle und Eisen mußte die Fruchtbarkeit der Erde weichen. Mit ihr fielen viele der demokratischen Rechte, die das von der französischen Revolution stark berührte Rheinland vor dem übrigen Deutschland auszeichneten. Wie fortschrittlich dieses Gebiet war, geht schon daraus hervor, daß im Rheinland die ersten Gewerbegerichte, die Vorläufer der heutigen Arbeitsgerichte, ihren Sitz hatten. Heute noch läßt sich dem rheinisch-westfälischen Kleinbürgertum ein gewisses demokratisches Rückgrat, ein patriarchalischer Bürgersinn, Zivilcourage gegen die Obrigkeit nicht absprechen. Und auch unter den Kumpels ist noch manches davon zu spüren, daß der Bergknappe einstens ein privilegierter Stand mit uralter Tradition war. Die Landwirtschaft jedenfalls wurde von der Industrie bis auf unbedeutende Reste zerstört. Sie stehen hier wie die Denkmäler einer Vergangenheit, einer Vergangenheit, die allerdings im Münsterland, ein paar Wegstunden weiter, noch Zukunft hat. Im Industriebezirk selbst aber sieht das bißchen Natur, das zwischen den Arbeitsstätten noch übriggeblieben ist, wie eine verlogene Kulisse aus. Immer ist die Luft grau, der Himmel verhangen. Es riecht nach Rauch und Ruß. Wenn man dieses Gewirr eiserner Konstruktionen, flackernder Essen, Drahtseilbahnen, Schienenstränge, Verladerampen, riesiger Kessel, elektrischer Masten, Schornsteine, Gasometer, Winderhitzer, Güterzüge, Laufkrane, Schleppkähne das erstemal sieht, so vermag man kaum zu glauben, daß der Boden unserer Mutter Erde das alles trägt, jener Erde, die auch Blumen, Bäume und Tiere hervorbringt. Diese Landschaft aus kaltem Stahl und weißglühendem Brand hat dem flüchtigen Eindruck nach nichts mehr mit Natur gemein. Wenn dieser hochpotenzierte technische Urwald zum ersten Male auf einen zudrängt, dann fragt man sich, ob hier Menschen überhaupt leben können.
Dieses übereinandergetürmte, brennende, tobende, stampfende, stinkende, eiserne Inferno also ist das Land, von dem vor hundert Jahren der Fürst von Pückler-Muskau schrieb: »Die Gegenden, durch welche mein Weg führte, gehören einer angenehmen und sanften Natur an, besonders bei Stehlen (Steele) an der Ruhr, ein Ort, für den gemacht, der sich vom Getümmel des Lebens in heitere Einsamkeit zurückzuziehen wünscht. Nicht satt sehen könnte ich mich an der saftig grünen Vegetation, den prachtvollen Eichen- und Buchenwäldern, die rechts und links die Berge krönen, zuweilen sich über die Straße hinzogen, dann wieder in die weite Ferne zurückwichen, aber überall den fruchtbarsten Boden begrenzten, braun und rot schattiert, wo er frisch geackert war.« Heute spielt sich in dieser idyllischen Gegend ein Produktionsbetrieb ab, der mit seinen unvorstellbaren Ausmaßen das Aussehen der ganzen Weltkugel mitbestimmt. Hier hat sich das technische, das politische und das wirtschaftliche Hauptquartier angesiedelt, das mit allen Produktionsstätten der Welt als bestimmender Faktor verschachtelt ist und von dem aus ganz Deutschland beherrscht wird. Jawohl, regiert und beherrscht, mit Zielbewußtsein, Unerbittlichkeit, ganz ohne Demokratie und ganz ohne humanitäres Gefasel von Staatsbürgerrechten und Kultur und Menschlichkeit. In Deutschland geschieht, was die Herren von der Kohle und vom Eisen wollen, sie bestimmen Krieg oder Frieden, sie ziehen den Hungerriemen fester und lockern ihn ein wenig, von ihnen hängt es ab, wieviel »Kultur« und »Zivilisation« in Gestalt von Eisenbahnschienen, T-Trägern für den Hausbau, friedlichen oder kriegerischen Maschinen und Maschinenerzeugnissen ins Volk kommt. Man muß mit zugebundenen Augen durchs Ruhrgebiet fahren, um noch glauben zu können, daß Deutschlands Schicksal von seinem offiziellen Staatsapparat oder gar von jenem Haus aus gelenkt wird, auf dem steht »Dem deutschen Volke«.
Es ist interessant und außerordentlich bezeichnend, daß Paul Ufermann, der gewerkschaftliche Spezialist für deutsche Wirtschaftsgeschichte, in seinem Standardwerk über den deutschen Stahltrust (Der deutsche Stahltrust, Verlagsgesellschaft des ADGB. Berlin 1927) zur historischen Fundierung seiner Unternehmung nur die Geschichte des Ruhrgebiets heranzieht; und daß die Geschichte des Ruhrgebiets ihm genügt, um daran die ganze Entwicklung Deutschlands zum modernen Industrie-Staat aufzuzeigen.
Wir folgen im wesentlichen Ufermanns klarer und übersichtlicher historischer Darstellung. Die Großindustrie des Westens ist kaum 80 Jahre alt. Als in Frankreich, England und selbst in Belgien längst eine großkapitalistische Industrie ihre Spuren zog, war Deutschland noch ein rein agrarisches Land. Hieran trug nicht zuletzt die unselige Kleinstaaterei die Schuld. Ein halbes Dutzend Kleinstaaten hatten ihre Grenzwege mit Zollschlagbäumen abgesperrt, an welchen die transportierten Waren immer aufs neue aufgehalten und mit Zöllen belegt wurden. Mit der Gründung des Zollvereins im Jahre 1834 wurde zum erstenmal Bresche in diese unselige Staatenverfassung gelegt. Nun konnte der Warenverkehr den Weg über das ganze Land nehmen, ohne den schikanösen Zollscherereien ausgesetzt zu sein. Erst den späteren Geschlechtern ist offenbar geworden, was die Gründung des deutschen Zollvereins für den Aufstieg der deutschen Volkswirtschaft bedeutete. Die Entstehung der deutschen Eisenbahnen war das zweite große Ereignis der deutschen Wirtschaftsgeschichte, geeignet, die durch die Gründung des Zollvereins angebahnte Entwicklung zu beschleunigen. Sie war es insbesondere, die Völker und Länder aneinanderbrachte, den Raumverhältnissen und Entfernungen ihre Schranken nahm und nach und nach ein enges Band um die einzelnen deutschen Volksstämme schlang. Alle Länderstriche Deutschlands wurden durch die Eisenbahn in den Bereich der kapitalistischen Warenzirkulation gerissen. Die Ausbreitung der Städte, die Bildung von Industriegrenzen, das Zusammenwachsen in Industriereviere wurden damit begünstigt, wie ihrerseits wieder alle diese neuen Errungenschaften den Eisenbahnverkehr steigerten. Vor allem aber förderte das neue revolutionäre Verkehrsmittel durch seine eigenen Bedürfnisse die Entwicklung der Industrie. Besonders die eisenerzeugende Industrie, der Kohlenbergbau und die Eisenbahnen befruchteten einander in mannigfacher Beziehung. Für die Kohle erschlossen sich zahllose neue Absatzmöglichkeiten. Die Eisenindustrie wurde durch das Eisenbahnwesen zur Bildung von Großbetrieben geradezu gezwungen. Dem Walzen von Schienen, Blechen, Stabeisen, der Fabrikation von Radsätzen, Achsen, Federn, dem Bau von Lokomotiven und Waggons, dem allen waren Klein- und Mittelbetriebe nicht mehr gewachsen.
Der Kohlenbergbau arbeitete noch zu Anfang des vorigen Jahrhunderts äußerst primitiv, fast ohne technische Hilfsmittel. Nur der Tagebau, wo Stollen von Schluchten aus in die Berghänge betrieben wurden, oder der Schachtbetrieb in ganz geringer Tiefe wurde angewandt. Die einzige Betriebskraft, die zur Verfügung stand, war Wasser oder waren Pferde. Dampfmaschinen kamen erst später zur Verwendung. Setzte doch sogar Krupp erst 1838, also hundert Jahre, nachdem sie von James Watt erfunden worden war, seine erste Dampfmaschine in Betrieb. Es war ein Ereignis von großer Wichtigkeit, als im Jahre 1839 in der Essener Gegend nach jahrelangen Bemühungen in einer Tiefe von 26 Lachtern (ein Lachter knapp zwei Meter) ein 61 Zoll starkes Kohlenflöz erbohrt wurde. Im nächsten Frühjahr wurde mit dem Bau eines Schachtes begonnen, und schon 1841 konnte die Zeche, die den Namen »Graf Beust« erhalten hatte, den Betrieb aufnehmen. Es war Matthias Stinnes, der Urgroßvater des heutigen Stinnes, der diesen ersten Schacht niederbrachte. Erst nach diesem geglückten Versuch bemühte man sich ernstlich, den Tiefbau mit Dampfmaschinen, die man aus England beziehen mußte, zu fördern. So entstand bald eine Zeche nach der anderen.
Damit erlebte das rheinisch-westfälische Industriegebiet Mitte der fünfziger Jahre die Entwicklung zu Groß- und Massenbetrieben, wenn sich dabei auch noch nicht solche Mammutbetriebe ergaben, wie wir sie heute sehen.
Die geringe Verwendung der Steinkohle bis in die fünfziger Jahre lag nicht nur an den miserablen Transportverhältnissen der damaligen Zeit, sondern hauptsächlich daran, daß man die chemische Verwandlungsfähigkeit der schwarzen Diamanten noch nicht bemeistern gelernt hatte. Technische Erfindungen förderten die Verwendungsmöglichkeiten der Ruhrkohle. Vor allem zur Eisengewinnung wurde Kohle herangezogen. Der englische Puddelprozeß, das Entkohlen des Roheisens bei Luftzutritt und ständigem Umrühren (engl. to puddle, umrühren) fand in den dreißiger Jahren in Deutschland Eingang. Zur Erzeugung der notwendigen hohen Hitzegrade wurde damals in Deutschland noch immer Holzkohle verwendet; die Wälder an der Ruhr lichteten sich zusehends. Jenseits des Ärmelkanals war die Verkokung der Kohle schon früher im Gebrauch. Den ersten Hochofen, der mit Ruhrkoks beschickt wurde, erbaute im Jahre 1849 die Friedrich-Wilhelms-Hütte in Mülheim an der Ruhr. Andere Gesellschaften folgten mit der Errichtung ähnlicher Anlagen.
Nunmehr begann die Wanderung des Erzes zur Kohle. Das Erz stieg in das Ruhrtal hinab, um hier zusammen mit der Steinkohle die Grundbedingungen einer neuen Industrie und damit eines neuen Zeitalters zu schaffen. Je mehr die Verkehrsverhältnisse sich besserten, desto enger wurde die Verbindung zwischen Kohle und Eisen, desto üppiger wurde das Wachstum der Industrien und Techniken, die dieser Verbindung entsprangen.
Bis dahin waren die Bergwerke meistens Kleinbetriebe gewesen. In den vierziger Jahren beschäftigte ein Bergwerk acht bis zehn Bergarbeiter. Im Bereich des Oberbergamtsbezirks Dortmund gab es in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts 160 bis 180 solcher »Zechen«, mit einer durchschnittlichen Jahresförderung von 2000 bis 3000 Tonnen. Die Jahresproduktion des ganzen Oberbergamtsbezirkes betrug um die Mitte der dreißiger Jahre 200 000 bis 300 000 Tonnen. Sie war um 1850 bereits auf 1 500 000 Tonnen angewachsen, davon entfielen aber immer noch 70 Prozent der Gesamtförderung auf die Kleinbetriebe.
Die Mitte des 19. Jahrhunderts kann als Zeitenwende auch für die westdeutsche Montanindustrie betrachtet werden. Der wirtschaftliche Liberalismus, die Befreiung aus den Bindungen einer feudalen Wirtschaft befeuerte die private Unternehmerinitiative. Allenthalben entstanden neue Schwitzbuden. »Laissez faire, laissez aller!« Viele der Gesellschaften, die heute noch bestehen: Phönix, Kölnneuessen, Gutehoffnungshütte, Arenberg, Hibernia und andere entstammen der ersten Gründungsperiode des Ruhrgebiets, die in die Zeit von 1853 bis 1857 fällt.
Aber nicht nur Produktionsunternehmungen der Kohlen- und Eisenindustrie entstanden in jener Zeitperiode; die Industrieunternehmungen neuen Stils bedurften auch neuartiger Absatzorganisationen und vor allem ihren Bedürfnissen angepaßte Finanzunternehmungen. Die neue Industrie brauchte Geld, in einem Umfang und in einem Tempo, dem die vorhandenen Kreditunternehmungen durchaus nicht gewachsen waren. Der 1852 in Paris von den Brüder Péreire gegründete Crédit mobilier wurde zum Muster der damals in Deutschland entstehenden Banken: Darmstädter Bank, A. Schaffhausener Bankverein, Disconto-Gesellschaft, Berliner Handelsgesellschaft und anderer Institute dieser Art. Die mit Hilfe dieser neuen Banken gegründeten Industrieunternehmen bekamen Anlagekredite. Das moderne Geldgeschäft mit Kontokorrentgeschäft (Gewährung von verzinslichem Kredit über die Einlage der Kontoinhaber hinaus, wofür meist Sicherstellung durch Hinterlegung von Wertpapieren zu leisten war) und Wechselgeschäft (eine Art Lieferkredit durch das Diskontieren von Wechseln) kam in Gebrauch und verwob sich mit der Industrie zu jenem Interessen- und Kräftenetz, aus dem der Monopolkapitalismus entstand, der zwangsläufig zur imperialistischen Politik führen mußte. Die rheinisch-westfälische Industrie hatte sich noch vor der Reichsgründung alle Organe geschaffen, die ihr den Aufstieg zum monopolistischen Hochkapitalismus beschleunigten und erleichterten.
Der Kohlenbergbau überschritt jetzt das Tal der Ruhr und dehnte sich nach Norden und Westen bis an die Lippe und das Emscherrevier aus. Überall wurden Schächte niedergetrieben und Zechen errichtet. Dazu waren Heere von Arbeitern nötig. Man begann sie aus allen Gegenden Deutschlands und des Auslandes heranzuziehen. Der große Auftrieb in die Städte, die Massenformierung des deutschen Proletariats nahm ihren Anfang. Wurden 1850 nur 1,5 Millionen Tonnen Kohle im Ruhrgebiet gefördert, so betrug die Jahresförderung 1860 bereits 4 Millionen Tonnen und 1870 schon 12 Millionen Tonnen. Nur Großbetriebe konnten diese Mengen erzeugen; und diese Mengen wieder erzeugten weitere Großbetriebe. Die Zahl der Bergarbeiter im Ruhrgebiet wuchs von 12 000 im Jahre 1850 auf 30 000 im Jahre 1860, auf 50 000 im Jahre 1870. Ein Vergleich der Anzahl der Bergarbeiter mit der Jahresförderung ergibt, daß ein Mann 1850 im Jahr 1,250 Tonnen, 1860 im Jahr 1,3333 Tonnen und 1870 im Jahr schon 2,400 Tonnen Kohle förderte. An der Förderung des Jahres 1860 sind die Klein- und Mittelbetriebe (bis zu 50 000 Tonnen) noch mit 52 Prozent beteiligt, 1870 hingegen nur noch mit 13 Prozent, konnten 1870 schon 1,4 Millionen Tonnen als Jahresergebnis festgestellt werden. Neue Entwicklungslinien, neue Lebensformen, wohin man auch blickt.
Die langersehnte politische und wirtschaftliche Einheit des Deutschen Reiches wurde nach dem Deutsch-Französischen Krieg, der die deutsche Hegemonie über Zentraleuropa entschied, endlich im Jahre 1871 mit großem Pomp vollzogen. Nach dem Krieg ergoß sich ein gewaltiger Goldstrom über die deutschen Lande. Da schien es, als wollte die deutsche Bourgeoisie in wenigen Jahren das nachholen, worin ihr die westeuropäische um Jahrzehnte Vorsprung abgewonnen hatte. Eine beispiellose Konjunktur setzte ein, der junge Riese Kapitalismus reckte sich in Deutschland mächtig empor.
Mit der Etablierung des neuen deutschen Reiches verschwanden die letzten Reste einer vormärzlichen merkantilistischen Staatswirtschaft, die wohl für ein feudales Agrarland, nicht aber für einen bürgerlichen Industriestaat tragbar waren. So ergab sich die endgültige Versachlichung der Beziehungen zwischen den einzelnen Gliedern der Wirtschaftsgesellschaften. Gleiches Recht für alle. Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbiete es gleichermaßen den Armen wie den Reichen, unter Brückenbögen zu nächtigen, zu betteln und zu stehlen. Natürlich wurde auch auf dem Gebiet des Wirtschaftsrechts und der Verwaltung die ganze Gesetzgebung modernisiert und für das Reich vereinheitlicht. Ein einheitliches Maß-, Gewichts- und Münzsystem (durch den Übergang von der Silber- zur Goldwährung) wurde geschaffen. Die Theorien des wirtschaftspolitischen Liberalismus, die der damaligen Phase der maßgebenden und mächtigsten Produktionsform am besten angemessen schien, setzte sich vollständig durch: Freiheit der Initiative des einzelnen Wirtschaftssubjekts. Das riesige Neuland, das die moderne Technik erschloß, schien unerschöpflich. Handelsfreiheit, Freiheit des Verkehrs, der Vererbung und des Eigentums, Vertragsfreiheit, Freizügigkeit wurden als unverletzliche Menschenrechte im neuen Staat erklärt.
Das neue Aktiengesetz vom 11. Juni 1870 hob den staatlichen Konzessionszwang auf, gab die Gründung völlig frei; die Staatsaufsicht wurde beseitigt, die einzelne Unternehmerpersönlichkeit trat zurück hinter die Kapitalorganisation der Aktiengesellschaften, der Aktienbanken. Auch der Bergbau war von den letzten Fesseln des staatlichen Einspruchsrechts durch das allgemeine Berggesetz von 1865 befreit worden. Die französische Kriegsentschädigung von 5 Milliarden Franken wirkte wie warmer Regen auf ausgedörrtes Land. Der Staat wurde durch sie in die Lage versetzt, die früher aufgenommenen Schulden zurückzuzahlen, neues anlagesuchendes Kapital stand zur Verfügung. Die lähmende Periode der Kapitalknappheit in den sechziger Jahren wurde mit einem Male von einem Kapitalüberfluß sondergleichen abgelöst. An den Börsen standen die Mittel zu großen industriellen Anlagen zur Verfügung. Der Kapitalismus drang mit den Tendenzen zur Konzentration, Spekulation und Kombination in die Gewerbe vor. Die Machtgruppierung von Diplomatie, Bankkapital und Schwerindustrie, der sich bald auch die vierte Großmacht, die Presse, angliederte, begann sich zu konstituieren und das Leben des Volkes nach ihrem Wunsche zu formen. Besonders die Montan- und Schwereisenindustrie des rheinisch-westfälischen Industriegebietes nahm neues Kapital in riesigen Mengen auf. Hochöfen wurden gebaut oder vergrößert, Gasverbrauchsanlagen, Winderhitzer errichtet, Stahl- und Walzwerkanlagen vermehrten sich, Walzenstraßen wuchsen, Koksöfen, Kohlenwäschen immer modernerer Systeme entstanden. Die Schächte wurden in die Tiefe getrieben, Förderungs-, Bewetterungs-, Entwässerungsanlagen wurden notwendig. Das Kapital zu alledem stellte die Börse ausreichend zur Verfügung. 1871 wurden in der Montan- und Maschinenindustrie 48 Aktiengesellschaften mit 172 Millionen Mark Grundkapital, 1872 bereits 105 mit 300 Millionen Mark und 1873 noch 16 mit 89 Millionen Mark errichtet.
Eine beispiellose Konjunktur mit allen ihren Begleiterscheinungen war die Signatur der damaligen Zeit. Die Preise, die in den sechziger Jahren unter dem Druck scharfer Krisen niedrig gehalten waren, gingen sprunghaft in die Höhe. Der Preis für Steinkohle stieg im Jahre 1873 von 10 auf 15 Mark für die Tonne. Die Eisenpreise zogen ebenso schnell und kräftig an. Im gleichen Verhältnis stiegen die Preise der Lebensmittel und Bedarfsgegenstände, die wiederum in Lohnerhöhungen ihren Ausgleich fanden. An den Börsen tobte die Spekulation, die aus der Spannung zwischen dem Papierwert, der zwar feststeht, aber nicht greifbar ist, und dem Realwert, der zwar greifbar, aber nicht feststeht, ihre Gewinne schöpfte. Das Finanzkapital zog mit allen Fanfaren ins Industriegebiet ein.
Doch dieser von dem französischen Milliardensegen befruchteten Gründerperiode wurde rasch ein Ziel gesetzt. Schon in der zweiten Hälfte des Jahres 1873 trat eine Wendung ein, und die nachfolgenden Jahre wurden von einer Krise heimgesucht, die in der Geschichte des Kapitalismus so leicht nicht ihresgleichen findet. Es war eine jener Krisen, die durch Überproduktions- und Absatzschwierigkeiten entstehen und immer wieder den Beweis dafür liefern, daß zwischen der mehr und mehr zunehmenden Vergesellschaftung des Produktionsprozesses und der privatwirtschaftlich verbleibenden Leitung, die nicht imstande ist, die Produkte auf alle Produzierenden zu verteilen, ein unauflöslicher Widerspruch klafft. Die vorher so schnell gestiegenen Preise gingen weiter unter das erträgliche Maß zurück. Steinkohle sank 1875 auf 7 bis 8 Mark die Tonne und war Ende der siebziger Jahre sogar für 4,50 bis 5 Mark zu haben. Ebenso sanken die Eisenpreise. Von 150 bis 170 Mark 1873 ging der Roheisenpreis im Jahre 1878 auf 50 bis 60 Mark für die Tonne zurück. In den fetten Jahren der Gründerzeit war die Dividendenverteilung eine sehr ergiebige gewesen, dagegen blieben in der Krisenzeit zahlreiche Werke der Montanindustrie überhaupt dividendenlos. Aber nicht so, als ob etwa nur das arbeitslose Einkommen des Aktionärs sich eine Verkürzung gefallen lassen mußte; die Arbeitslöhne machten diesen Rückgang natürlich mit. Ende der siebziger Jahre betrug der Durchschnittslohn eines Bergarbeiters im Jahr nur 683 Mark.
Aber schon das Jahr 1880 steht wieder unter dem Zeichen eines neuen Aufschwungs der Montan- und Schwereisenindustrie des Westens, die Deutschland bei der Eroberung des Weltmarkts beispielgebend vorangeht. In der Politik wird dieser neue Aufschwung durch einen Umschwung der offiziellen Wirtschaftstheorie eingeleitet. Die Wandlung, die sich unter Bismarcks Führung vollzieht, begann mit den Schutzzollgesetzen 1879. In dem im Jahre 1876 gegründeten Zentralverband deutscher Industrieller, der sich den Kampf für die Änderung der deutschen Wirtschaftspolitik nach der Richtung der Schutzzölle zum Ziel gesetzt hatte, spielten die Vertreter der westdeutschen Großindustrie die Hauptrolle. Im Produktionsprozeß machte sich damals auch die Tendenz, die Herstellung der Halb- und Fertigfabrikate an die Rohstoffbasis heranzulegen, immer mehr geltend. So wurden im Jahre 1879 auf der Hermannshütte in Hörde die ersten Chargen Stahl nach dem von den beiden Engländern Thomas und Gilchrist 1878 erfundenen Verfahren erblasen. Von da an fand die Thomasstahlproduktion im Industriegebiet in fast allen Werken schnell Eingang. Von 1880 bis 1892 stieg die Thomasstahlerzeugung von 18 000 auf 2 Millionen Tonnen. Auch die Stahlveredlung nach dem Siemens-Martin-Verfahren kam steigend in Aufnahme.
Die Eisenerzeugung auf breitester Grundlage und nach den neuesten Systemen wirkte wieder auf den Bergbau zurück, da nicht nur mehr Kohle, sondern vor allem Koks benötigt wurde. Die Zechen lernten mit der Herstellung von Koks die dabei zu gewinnenden Nebenprodukte kennen. Die heute so mächtige chemische Industrie begann zu entstehen. Fast allen Zechen gliederten sich Kokereien an. Ende der siebziger Jahre stellten dreißig Zechen insgesamt eine Million Tonnen Koks her, während die Gesamtproduktion 1890 4,5 Millionen Tonnen betrug und von siebzig Zechen geleistet wurde.
Aus diesen wenigen Zahlen ist deutlich ersichtlich, daß die Krise der siebziger Jahre der Industrie als Ganzes nicht schlecht bekommen war. Sie peitschte die Produktion zu ungeahnten Erweiterungen, die durch schnelle und umfassende Verbesserungen des Produktionsapparates ermöglicht wurden. Die deutsche Großindustrie drang auf den Weltmarkt vor. Die im Inland nicht absetzbaren Produkte strebten nach dem Ausland und suchten dort Absatzmöglichkeiten. Das Kreuzfeuer der internationalen Konkurrenz beflügelte nun wieder seinerseits die technischen Vervollkommnungen des Produktionsprozesses und die Absatzorganisation und damit den Zusammenschluß der deutschen Industrie.
Die Ruhrkohle verdrängte die englische Kohle immer mehr vom europäischen Markt. Die englische Kohle erlitt so viele Einbußen, weil es ihr an einer modernen Absatzorganisation fehlte. Dagegen war es in Deutschland bereits im Jahre 1893 nach langjährigen Versuchen und Verhandlungen zur Errichtung der Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikate AG. gekommen.
Die Entstehung und Weiterentwicklung der Kartelle und Syndikate, der Horizontal-Trusts (Zusammenschluß der Produzenten einer Warengattung, meistens eines Roh- oder Halbstoffes) und die ersten Ansätze zu Vertikaltrusts (Vertrustung vom Rohstoff bis zum Fertigprodukt), die Entstehung und Weiterentwicklung aller dieser Unternehmer-Vereinigungen wurde gefördert durch die in jener Zeit immer weiter um sich greifende auf Aktienbanken gestützte Bildung von Aktiengesellschaften. Der unabhängige, individuelle Unternehmer ist viel weniger geneigt, sich den Beschlüssen einer über ihm stehenden Körperschaft zu beugen, oder seine Selbständigkeit so weitgehend einschränken lassen, daß andere ihm vorschreiben können, wieviel er produzieren darf. So haben die Banken, die es nicht zulassen konnten, daß von ihnen finanzierte Gesellschaften eine nach der andern auf der Strecke blieben und liquidieren mußten, den wesentlichsten Anteil daran gehabt, daß die Großindustrie vom freien Konkurrenzkampf zur Kartellpolitik überging. Wer die geschichtliche Entwicklung erfassen will, darf natürlich auch das Bismarcksche Zollsystem nicht vergessen. Dadurch, daß man die freie Konkurrenz des Auslandes im Inlande unwirksam machte, wurde dem Bestreben der Industrie, den Inlandsmarkt mittels monopolistischer Organisationen ohne aufreibende Konkurrenzkämpfe glatt und reibungslos zu beherrschen, weitgehend Vorschub geleistet. Ein weiterer sehr wichtiger Faktor in jener Entwicklung, die die heutige Großindustrie mit ihren übermenschlichen Ausmaßen und Machtmitteln schuf – wie alle jene Faktoren ebensowohl selbst die andern treibend wie auch von den andern selbst getrieben –, stellt die Nivellierung des Konsums dar. Durch die allgemeine kapitalistische Entwicklung wird die Bevölkerung immer mehr proletarisiert und immer mehr zu Stadtbewohnern. Die Bedürfnisse einer vom selbstversorgenden Bauerntum entfremdeten Bevölkerung mit ziemlich gleichen Einkünften, die außerdem durch Presse, Kino, Rundfunk und ähnliche ideologische Beeinflussungen auf eine uniforme Wunsch- und Seelen-Norm gezüchtet ist, können nur durch Massenfabrikationsmethoden bestimmter Warentypen befriedigt werden. Und die Massenfabrikation wieder hat eine gewisse Größe der Betriebe, die Anwendung gleicher maschineller Fabrikationsmethoden, das Ineinandergreifen des ganzen Systems von Herstellung, Vertrieb, Reklame, geistiger Beeinflussung zur notwendigen Voraussetzung.
Das Ruhrgebiet wurde außer durch die für alle deutschen Industriezentren gültigen Entwicklungstendenzen auch noch durch besondere Umstände vorwärtsgestoßen. Mit dem Beginn des allgemeinen Rüstungstaumels um die Jahrhundertwende flossen enorme Staatssubventionen in seine Industrien. Die Dichte des Bahnnetzes, das nicht diesen Industrien allein diente, sondern das auch aus strategischen und militärischen Gründen gerade hier entstand, war ein weiteres Motiv, das Schwergewicht der deutschen Wirtschaft hierher zu verlegen.
So wurde das Ruhrgebiet zur »Stätte der Arbeit«, zum »Herzen der deutschen Wirtschaft«, zum »beredten Zeugen deutschen Fleißes und deutscher Tüchtigkeit«, wie es so und so ähnlich in den tönenden offiziellen Phrasen immer angehimmelt wird. Die Industrie hat zwar die fruchtbar-liebliche Natur der Landschaft nicht radikal auszulöschen vermocht, aber sie hat wüst drauflos gewirtschaftet und in hemmungsloser Profitsucht alles vernichtet, verschandelt oder verdorben, was irgend ihr im Weg stand. Jede organische Gestaltung fehlte, keine Aufsichtsbehörde überschaute, von weiteren Gesichtspunkten geleitet, das Land, in dem nicht-nur produziert, in dem auch gelebt werden muß.
Wie ein unersättlicher Moloch schlang Bergbau und Hüttenindustrie alles in sich hinein, was der Mensch zum Atmen braucht, was Frische, was Leben gibt. Viel kostbares Land, das der Gesundheit, der Siedlung hätte dienen müssen, wurde gedankenlos verwüstet. Der größte Teil des Waldes verschwand; und selbst der Staat, der die naheliegende Pflicht gehabt hätte, seinen Bürgern die Erde bewohnbar zu erhalten, beteiligte sich gleich den privaten Waldbesitzern an der Verschacherung der grünen Kraftquelle. Erst nach der Staatsumwälzung begannen für den Ausbau des Ruhrgebiets noch andere Beweggründe als rein profitwirtschaftliche maßgebend zu werden. Wenn noch vor dreißig Jahren eine planmäßige Bewirtschaftung des Forstes eingesetzt hätte, so wie sie jetzt der Ruhrsiedlungs-Verband betreibt, wäre es nicht zu so traurigen Ergebnissen gekommen, wie sie die amtlichen Statistiken heute ausweisen müssen. Auf einen Einwohner Preußens (mit Berlin) entfällt 51 mal soviel Waldfläche als auf einen Bewohner des westlichen Industriegebietes. Eine andere Zahlenrelation, die auch mit erschreckender Klarheit zeigt, wie es um den Atemraum und die Freistunden der Ruhrmenschen bestellt ist, ist die statistische Feststellung, daß auf eine Wohnungseinheit in Preußen 74 mal soviel Wald kommt, wie in der Industriezone.
Dabei muß man bedenken, daß die Gefährdung der noch nicht abgeholzten Wälder durch die Begleiterscheinungen der Industrie hier unvergleichlich größer ist, als im ganzen übrigen Deutschland. Durch den Bergbau, der Gebietsverlagerungen hervorruft, die den Stand des Grundwassers verschieben, ihn sinken und steigen lassen, entstehen urzeitlich anmutende Sumpfwälder, oder ganze Strecken, wo vertrocknete Bäume ihre dürren Äste klagend in die Luft strecken. Der Boden ist vermatscht und knochentrocken; oder die Abgase und die Rauchentwicklung der Werke nehmen den Pflanzen das Leben.
Die trotz alledem verbliebenen, spärlichen Waldbestände haben nicht nur durch die Raffgier der Besitzenden schwer gelitten, sondern auch in jüngster Zeit durch die Not der Bevölkerung, die während der Ruhrbesetzung Holz machen ging, weil es dort, wo man auf ihr sitzt, keine Kohle gab. Sie bekamen aber auch noch den Militarismus horizontblauer Couleur zu fühlen: Die schönsten Waldbestände der Haardt wurden bei Recklinghausen abgeholzt, um große Schießplätze für die Franzosen freizulegen.
Wenn der Ruhrsiedlungsverband nicht wäre, der helfend eingreift und für Aufforstung der verrotteten Waldgelände mit rauchharten Pflanzen sorgt, dann wäre wohl bald auch der letzte Baum im deutschen Wald an der Ruhr eine jener weißen Baumleichen, wie man sie hier erschreckend viel zu sehen bekommt. Die Industrie kümmert sich den Teufel um das natürliche Kräftereservoir jener Menschen, die sie in höllischem Dunkel, höllischer Glut und höllischem Lärm arbeiten läßt.
Langsam und sehr allmählich wird die Industriewüste wieder eine Landschaft; in neuerer Zeit erst, wo man – fast zu spät – den Profiteuren die Möglichkeit genommen hat, Naturdenkmäler zu zerstören oder sich mit ihren schmutzigen, stinkenden, rußenden Betrieben hinzusiedelen, wo es ihnen eben paßt. Planmäßig gliedert man endlich Industriegelände, Siedlungsgebiet und Grünflächen, die organisch miteinander verbunden werden.
Hinter Recklinghausen nach der Lippe zu dehnt sich heute noch freies Vorgelände. Der Bergbau, der unaufhaltsam darauf zu seinen nördlichen Vormarsch hält, läßt dafür nichts Besseres als die Riesenheere arbeitsloser Kumpel im alten südlichen Revier hinter sich. Weite freie Heide gibt es auch noch am Oberlauf der Lippe, ein abgelegenes und kostspielig zu erreichendes Weekendziel. Bei Dülmen, wenige Bahnstationen vom Gebiet des Staatsbergbaus entfernt, galoppieren heute noch auf freier Wildbahn und freier Weide die Wildrosse des Herzogs von Croy mit wehenden Mähnen und flatternden Schweifen, ohne Stall und ohne menschliche Hege, wie die Mustangs der Prärie unserer Indianerbücher. Es sind die letzten Wildpferde Deutschlands.
Vor wenig mehr als hundert Jahren gab es auch noch Wildpferde im Emscherbruch, und die Emscher war noch vor vierzig Jahren ein fischreicher Fluß, der viele Fischer ernährte. Heute sammelt die Emscher die Industrieabwässer des Reviers. Pechschwarz ist ihr Wasser, eine stinkende Kloake, die von einer staatlich privilegierten Genossenschaft bewirtschaftet wird. Das Emscherbett wurde betoniert, ihr Lauf reguliert, Kläranlagen wurden gebaut, um das Land vor Hochwasserschäden zu bewahren und seine Bewohner vor Krankheiten.
Dafür gewinnt die Anlage der Emschergenossenschaft bei Essen durch die Klärung des verschmutzten Emscherwassers jährlich eine viertel Million Tonnen Schlamm, der getrocknet, gemahlen und dann in einer Kraftstation verbrannt wird, wo er 100 Millionen Kilowattstunden Strom im Jahr erzeugt.
Andere wasserwirtschaftliche Verbände des rheinisch-westfälischen Industriegebietes sorgen für das Verbraucherwasser, das viereinhalb Millionen Menschen zum Leben brauchen. Talsperren und Stauseen entstanden im Oberlauf der Ruhr, ohne die der Fluß bei der hohen Beanspruchung durch Industrie und Bevölkerung versagen würde. Hundert Wasserwerke der verschiedenen Kommunen stehen an seinen Ufern und lassen ununterbrochen ihre saugenden Röhren arbeiten. Ohne die Wasserbewirtschaftung der Emscher, Ruhr und Lippe, dieser Flüsse im Dienste der Industrie mit dem rationierten Wasser, würden heute noch, wie in den neunziger Jahren, Malaria, Typhus und Rote Ruhr unter den an den Ufern dieser Flüsse zusammengedrängten Menschenmassen wüten.
Die Grenze des Gebiets bildet die Ruhr, die von waldigen Hügeln eingesäumt ist. Obgleich sie dem Gebiet den Namen gegeben hat, ist sie längst nicht so sehr Industriefluß geworden wie die Emscher. Die Ruhr schafft das reine Wasser herbei, das die Emscher als trübe Brühe auf ihrem künstlichen Weg mitten durch das Gewirr der Städte, Fabriken und Zechen wieder wegschaffen muß.
Leider gibt es an dieser komplizierten Wasserversorgungsanlage dauernd Reparaturen, denn auch den betonierten Wasserläufen bleibt die Not der Bergschäden nicht erspart, die jedes Bauwerk im Bergbaugebiet bedroht. Diese Bergschäden dankt man hauptsächlich dem gewissenlosen Verfahren der Bergbau-Konquistadoren aus der Gründerzeit. (Ob diese Art Leute heute, trotz der bestehenden strengen Vorschriften, viel gewissenhafter sind, bleibe noch dahingestellt.) Sie ließen ihre Maulwurfsgänge unter der Erde, wenn sie ihnen zu nichts mehr nütze wären, in einer derart leichtfertigen Weise zuschütten, als ob nie wieder ein Mensch auf der von ihnen unterwühlten Erde wohnen sollte. Immer wieder entstehen in den Straßen der Städte oder im freien Wiesengelände sogenannte Tagbrüche, Erdeinstürze, die aussehen wie die Sprengtrichter von Granaten, und deren plötzlich wegsackendes Erdreich manchmal sogar Menschen und Fahrzeuge mit in die Tiefe nimmt. Dann erfährt man, daß hier früher ein Schacht war, und kann feststellen, wie sträflich nachlässig er zugeschüttet wurde. Statt ihn von der Sohle an aufzufüllen, hat man in geringem Abstand vom Schachtmaul eine Bühne aus Rosten und Balken gebaut und darauf soviel Erde und Steine gekippt, bis man das Loch nivelliert hatte. Wenn dann die Balken im Laufe der Zeit wegfaulen, rutscht natürlich die Verfüllmasse ab; und es trifft sich noch günstig, wenn nur ein Tagbruch entsteht und nicht wieder ein halb Dutzend Wohnhäuser in lebensgefährliche Ruinen sich verwandeln.
Natürlich ist man nicht nur mit Schächten, sondern auch mit Stollen so fahrlässig umgegangen; und so gehören Verlagerungen und Verrutschungen des Geländes zu gewohnten Erscheinungen im Industriegebiet. Die Städte müssen in Ordnung bringen, was der Bergbau versiebt hat.
Aber auch hoch über der Erde sind die Wahrzeichen des Bergbaus die Beherrscher des Reviers. Der Reisende sieht schon vom Zuge aus die stählernen Skelette der Fördertürme in den rauchigen Himmel ragen, sieht das schwirrende Drehen ihrer Räder, zwischen deren Speichen das Sonnenlicht flirrt. Dazu wird ihn – des Tags und auch des Nachts – das Dröhnen der fallenden Riesenhämmer aus den Preßwerken, die mit ihrem Gewicht von ein paar tausend Tonnen heruntersausen, um einen Schiffsanker oder eine Schiffswelle zu schmieden, begrüßen, und er wird sich mit einigem Schauer erzählen lassen, daß diese Ungetüme so präzis fügsame Diener sind, daß man ihre Wucht auf den Millimeter genau lenken und den Riesenhammer auf eine Uhr heruntersausen lassen kann, die er gehorsam unbeschädigt läßt, wenn der Maschinist das gigantische Werkzeug vorher richtig eingestellt hat.
Beinahe beängstigend werden auf den Ankommenden die alles überragenden Schornsteine wirken, die aus schwindelnder Höhe auf die ungefügen Kolosse der Hochöfen herabsehen, die sie umdrängen; und die Schlackenhalden in der Nähe der Zechen und Hütten wird er mit einem eklen Beulenausschlag vergleichen. Unvergeßlich aber werden ihm die lohenden Feuer bleiben, die wie aus Höllenrachen haushoch in die Luft schlagen oder mit rauchrotem Glast schwarze Mammut-Silhouetten umschwelen.
Hoch über dem Gelände tanzen auf dicken Drahttauen die hängenden Gesteinswagen der Seilbahnen, und auf unentwirrbarem Schienengeflecht winden sich kreuz und quer die Eisenbahnen durchs Revier. Auf hohen Dämmen überschneiden sie die Straßen, und der Wagen- und der Fußgängerstrom muß sich durch den Engpaß einer aus Beton oder Stein gemauerten Dammunterführung durchwinden. Da und dort aber kreuzen Eisenbahnschienen sogar auf Straßenniveau die Hauptverkehrsadern, und ihre Schranken sperren oft Straßenbahnen, Autobussen und ganzen Völkerwanderungen hastender Menschen den Übergang.
40 000 Güterwagen beansprucht die Industrie in normalen Zeiten an einem Tag. Das will rangiert sein! Außerdem schafft eine ganze Flottille von Schleppkähnen in den Stadt- und Fabrikhöfen des Rhein-Herne-Kanals die Warenproduktion des Gebietes fort. Groß-Kokereien und Hüttenwerke schieben sich bis dicht an die künstlichen Wasserstraßen heran. Das spart Fracht und erleichtert An- und Abfuhr der Güter. Zu Wasser und zu Land drängt sich hier auf kleinem Raum ein turbulenter Verkehr zusammen.
Zahllose Krane, Schwebebrücken, Hochbunker, Gasometer arbeiten im Industrierevier. Die Gittermasten der Hochspannungsleitungen, die Türme der Stromverteiler, Wasserspeicher und Kühltürme ragen in die Luft. Im Verein mit den überlebensgroßen, scharf und doch zierlich gegliederten Zweckbauten der Zechen, Kokereien und Hüttenwerke ergibt das ein Bild, das in seiner gigantischen Präzision wohl auch Ästheten Freude machen kann.
Vor so manchen kleinen Besonderheiten der Industrielandschaft jedoch bleibt diesen Ästheten nichts anderes übrig, als die Nase zu rümpfen. So sind zum Beispiel brennende Schlackenhalden nichts für schönheitslüsterne Besucher. Man darf sich nicht etwa hellbrennende künstliche Gebirge darunter vorstellen; eher erinnern diese Abraumplätze der Zechen und Hütten mit ihren äußerlich erkalteten, vulkanischen Geschwüren und Schrunden an eine Mondlandschaft. Unter ihrer Oberfläche glüht und brodelt es, während auf der erstarrten Erdrinde schon längst wieder rauhes spärliches Gras wächst, das die Ziegen, auch Bergmannskühe genannt, abknabbern. Die Kohlenreste in dem weggekippten Stein- und Schlackenmaterial sind irgendwie in Brand geraten, und das Geröll glüht und schwelt unaufhaltsam weiter. Da hilft kein Löschen und kein Isolieren; durch Einschnitte kommt nur noch mehr Luft an die Glut und macht sie noch ungestümer.
So hat in Oberhausen-Alstaden eine Halde lange Jahre Schwefelgase entwickelt und den ganzen Stadtteil verpestet, und im Norden der Stadt Essen brennt ununterbrochen seit 1914 eine alte Kruppsche Halde, die dem Eisenbahn-Fiskus schon viel Kummer gemacht hat, weil die unterirdische Glut dieses Gebirges unaufhörlich weiter bohrt und sich immer wieder in die in ihrer Nähe aus Schlacke und Berggestein aufgeschütteten Bahndämme frißt. Da schwelen die Holzschwellen des Bahnkörpers weg, als ob sie Zunder wären, und auch den Telegraphenstangen, die längs der Bahnlinie Posten stehen, nagt das tückische Feuer ihren Halt bis zur Erdoberfläche weg, daß sie eines guten Tages umkippen wie geknickte Schiffsmasten in schwerem Sturm. Es kann noch ein Menschenalter dauern, bis das Feuer Ruhe gibt.
Als Kinder saßen wir oft in der Abenddämmerung auf einem Hügel hinter dem großen Dortmunder Volkspark, dem Kaiser-Wilhelm-Hain, und warteten, bis hoch über einem Viadukt auf der Kuppe der Schlackenhalde des Hörder Vereins unsere Flammenrosse heranjagten. Bald kamen sie, in kurzen Pausen eines nach dem andern. Eine kleine Werklokomotive prustete heran, machte jäh halt, wenn sie die steil abfallende Haldenwand erreicht hatte, und stürzte mit einem Ruck und donnerndem Gepolter einen tonnenschweren rotglühenden Thomasschlackenblock auf den blühenden Wiesengrund am Fuß der Halde.
So leichtfertig setzte man damals die Abraumhalden in Brand. Heute allerdings kippt man schon deshalb glühende Thomasschlacke nicht mehr verächtlich auf frisches Weideland, weil diese Rückstände des im Thomasofen zu Stahl geblasenen Eisens vermahlen werden und als landwirtschaftliches Düngemehl schönes Geld bringen. Der übrige Abraum, der früher auf die Halden kam, wird heute fast durchweg zum sogenannten Bergeversatz benützt, das heißt, man füllt die abgebauten Stollen mit ihr. Nur ältere Zechen, von denen manche schon Jahrzehnte tot sind, erhalten sich heute noch mit ihren scheußlichen Schutthalden ein unangenehmes Andenken oft mitten in den Straßen eines Ortes. Bis man sich eines Tages dann doch entschließen muß, das widerliche Geröll mit Riesenbaggern abzutragen, einfach weil die unaufhaltsam wachsenden Städte den Platz brauchen.
Platz zu schaffen ist überhaupt die Generalfrage für die kleinen wie für die großen Ruhrstädte, die so rapid wachsen, daß sich ihre Grenzen bald ganz verwischt haben werden. Andererseits gibt es das, was man eigentlich und allgemein »Großstadt« nennt, kaum im Bezirk. Dortmund, Essen, Bochum, Gelsenkirchen, Buer, Recklinghausen, Duisburg, Hamborn, Mülheim, das sind keine organisch auf sich bezogenen in sich abgeschlossenen Städtewesen, keine regelrechten Kommunen, die sichtbare Grenzen aufzuweisen hätten. Das alles sind vielmehr künstlich eingezirkelte Verwaltungszentren des Gesamtindustriegebietes, untereinander verbunden, ineinander übergehend durch viele Bahnlinien, durch die wirtschaftlichen Zusammenhänge der Werke, durch unzählige Straßenbahnverbindungen, durch endlose Straßendörfer, durch industrielle Vororte. Man kann von Dortmund bis Duisburg mit der Straßenbahn fahren, man kann die gleiche Strecke zu Fuß gehen, ohne je den Eindruck zu haben, daß man menschliche Wohnstätten hinter sich ließe und ins Freie käme.
Zwar haben manche der Städte im Ruhrgebiet geschichtliche Tradition, wie Dortmund oder Essen. In ihren Mittelpunkten finden sich sogar noch hin und wieder uralte Stadtteile und Erinnerungsstätten, dennoch ist das alles mit der Zeit völlig bedeutungslos geworden und liegt abseits vom wirklichen Leben dieser Städte, ist im Grunde eine Fiktion ähnlicher Art wie die Stadtgrenze, die auf dem Papier steht und die es nicht gibt in Wirklichkeit. Die Stadtstraßen gehen in Vororte über, die sich in regelrechten Dörfern fortsetzen, um, ohne daß man es recht gewahr wird, wieder in neue Dörfer, Vororte, Städte überzugehen. Wie es im ganzen Industriegebiet kein planmäßiges Wachstum der Industrie gab, so gab es auch kein planmäßiges Wachstum der Städte.
Wenn eine Zeche abgeteuft wurde, dann wuchsen die Kolonien der Bergarbeiter primitiv und dörflich darum herum. Mit der Zeit kamen dann ein paar Verwaltungsgebäude dazu, eine Polizeiwache, ein Rathaus und – recht viele Kirchen. Man fragte nicht, ob die Straße zweckmäßig für den Verkehr war. Sie war zweckmäßig für die Zeche. Man fragte nicht, ob die Häuser einer späteren Entwicklung im Wege stehen würden, sie entsprachen den Bedürfnissen der Zeche als Arbeiterunterkunft.
Vieles, was man im Ruhrbezirk zu sehen bekommt, ist ein schreiender Beweis für die absolute Gleichgültigkeit kapitalistischer Profitgier gegenüber allem, was nicht mit dem Arbeitsprozeß und der Profitrate zusammenhängt. Vor allem anderen brauchte man Arbeitskraft. Unzählige Arbeiterfamilien, besonders solche, die als Weber und Heimarbeiter in Schlesien, als Landarbeiter oder Zwergbauern in Ostpreußen und Polen gewohnt hatten, betrachteten die Behausungen im Ruhrgebiet sogar noch als Verbesserung. Die Unternehmer wußten diesem Faktor Rechnung zu tragen. So wurden Cafés halbe Kneipen, das Varieté zum Tingeltangel, Verkehrsstraßen zu einem Sammelsurium von Mauernischen, holprigen Wegen und Gäßchen.
Nirgendwo in Deutschland hat sich sonst noch ein derartiges Chaos an kulturwidrigen Unzuträglichkeiten für das menschliche Individuum (nicht für den Güterverkehr!) entwickelt, wie im Industriegebiet. Schlechte Straßen, Berg- und Talbahn für die Elektrische, Holpersteige zu Fabriken und Zechen, schlechteste Kanalisation, mangelhafteste Elektrifizierung, tausend technische Rückständigkeiten im industriellen Herzen Europas! In vielen ländlichen Gebieten sind die Probleme der Zivilisation und Hygiene besser gelöst als hier.
Neuzeitliche Siedlungen wechseln mit uralten Baracken, Gasbeleuchtung neben Petroleumfunzel, Riesenkaufhäuser in den Zentren, elendste Kramläden in den Vororten und Straßendörfern, riesige Mietskasernen und primitivste Dorfhäuschen, alles bunt durcheinander. Neben den Palästen, in denen die Schwerindustrie hier Tagungen hält, völlig unzureichende alte Rathäuser. Neben technisch mustergültigen Betrieben die übelsten Bruchbuden. Mitten in den sogenannten Großstädten liegen die Zechen und Werke. Über Mietskasernen und Rathäuser sieht man die Fördertürme und Fabrikschornsteine aufragen. Zwangsläufig blüht ländliche Primitivität im Angesicht der Riesenkonstruktionen modernster Hochofenanlagen. Das ist ungefähr der Charakter des allergrößten Teiles jenes riesigen Wohnbezirkes, der sich um die Kristallisationspunkte der sechs großen Städte Dortmund, Bochum, Gelsenkirchen, Essen, Mülheim, Duisburg als Dutzende von Mittel- und Kleinstädten herumlagert.
Jedem unvoreingenommenen, ja selbst jeden unvoreingenommenen bürgerlichen Betrachter wird es sich aufdrängen, daß es wirklich höchste Zeit ist, Plan und Form in dieses Riesenlabyrinth zu bringen; selbst auf die Gefahr hin, daß, gottbehüte, einige der vielfältig gegeneinanderstehenden staatlichen, provinziellen, kommunalen, wirtschaftlichen oder gar Unternehmer-Interessen dabei verletzt werden müßten.
Auch verwaltungstechnisch ist das Ruhrgebiet ein seltsames Konglomerat. Drei Regierungsbezirke, Regierungsbezirk Düsseldorf, Arnsberg, Münster, »ordnen« die Belange dieses zusammenhängenden Industrieviertels. Davon gehört der Regierungsbezirk Düsseldorf zur Provinz Rheinland, die anderen beiden zur Provinz Westfalen. Und nun gar erst die Wahlkreise! Wäre das Ruhrgebiet für die Reichs- und Landtagswahlen ein einheitlicher Wahlkreis, so würde das gar zu klar die Stimmung und politische Orientierung des Reviers zeigen. Darum werden mit den Wahlkreisen Westfalen-Nord, Westfalen-Süd, Düsseldorf-Ost, Düsseldorf-West die einzelnen Teile des Industriegebietes mit weiten ländlichen Strecken zusammengekoppelt. Das beste Mittel, die politische Bedeutung des Ruhrbezirks zu verwaschen. Auch die Städteverwaltung läßt an Undurchsichtigkeit nicht zu wünschen übrig. Neben der Magistratsverfassung gibt es hier noch in der Rheinprovinz die Rheinische Städteordnung, die kein Zweikammersystem kennt. Langsam verschwinden die Kreistage durch die Auflösung der Landkreise (die zum Teil noch ausschließlich dörfliche Gemeinden umfassen) und durch die Übernahme der kleinen Gemeinden in die Groß- und Mittelstädte. Das amerikanische Wachstum der Städte nimmt den Kleinen immer mehr die Puste weg. Sie sind froh, am Busen der Großen zur Ruhe zu kommen. So verändert sich fortwährend die Landkarte; auch große Städte schließen sich zusammen, wie Duisburg mit Hamborn, Mülheim mit Oberhausen, Gelsenkirchen mit Buer. Die Stadt aus den Städten wird übrigbleiben, die künftige, reichsunmittelbare Ruhrstadt, in der es keine Verwaltungskabalen in aufgeblähten, durch die Entwicklung längst überholten Amtsapparaten mehr geben wird. Von einer Zentrale aus wird man die verwaltungs- und bautechnischen Dinge besser leiten, besser den widerstrebenden Interessen gerechten Ausgleich schaffen können. Dann wird wohl endlich auch aus dem Generalverkehrsplan Wahrheit werden, der die heute noch geradezu unerträglichen Verkehrskalamitäten des Bezirks aus der Welt schaffen soll.
Vorläufig rivalisieren die Viertel- und Halb-Millionen-Städte noch kräftig mit- und gegeneinander und versuchen, mit Repräsentations- und Prestigebauten eine die andere in die Schatten zu stellen. Wenn zum Beispiel, dort wo die Großstadt Bochum an die Mittelstadt Wattenscheid grenzt, die Bochumer ihr Schlachthaus hinbauen, dann müssen die Wattenscheider auch noch ihr Wattenscheider Schlachthaus auf »eigenem Gebiet« errichten – ein paar hundert Meter nur vom Bochumer Schlachthaus entfernt.
Nun, nicht alle »Großtaten« sind nach Schildbürger-Art! Aber die Angst, daß man vom Leistungsfähigeren verschluckt wird, wenn man sich nicht anstrengt, steht doch überall als treibender Motor dahinter. So wird städtischerseits viel Geld in Hochhäuser, Riesenkinos, Stadthotels, Bierlokale, Spezialschulen und dergleichen mehr hineingesteckt. Daß dabei auch viel Gutes entsteht, muß betont werden. Breite, baumbestandene Alleen sprengen langsam die Enge der großen Städte. Man betreibt Grünflächenpflege und Siedlungsbau, renoviert die alten Schlösser und Wasserburgen, schafft, weitab vom Gichtgas der Hochöfen, das die Luft mit chemischen Bestandteilen schwängert, Ausflugsziele und Sportplätze für die Massen.
Gelsenkirchen ist so etwas wie ein Ghetto des Proletariats, mit seinen trostlosen, uniformen Fabrikstraßen zwischen Zechen und Hütten. Diese Stadt hat überhaupt keinen Wald. Der letzte Waldbaum ist längst im Zechensumpf ertrunken. Dennoch versucht sich auch diese Stadt jetzt in neuer Baugesinnung. Wie ein protziger Parvenü schaut das Hans-Sachs-Hochhaus (american-style Building) auf Schmutz und elende Arbeiterhäuser zu seinen Füßen herab. Ob man in Gelsenkirchen in absehbarer Zeit mit Wohnbauten im Grünen beginnen wird? Da man sich in Buer vereinigt hat, das sich gern als die Großstadt im Grünen bezeichnen hört, wird man vielleicht sogar in diese Richtung ehrgeizig.
Der Stadtteil Buer ist weit und flächig angelegt mit den freundlichsten Bergarbeiter-Heimstätten im Revier, die dem staatlichen Bergbau gehören. Hier kommen 287 qm Waldfläche auf den Einwohner – das günstigste Verhältnis des ganzen Reviers. Wie günstig das ist, zeigt ein Vergleich mit Hörde (heute ein Stadtteil Dortmunds), das seiner großenteils erwerbslosen Bevölkerung nur 3,3 qm Wald pro Kopf zu bieten hat. Buer ist allerdings auch eine der jüngsten Städte des Reviers, ein nördlicher Vorposten und noch recht bäuerlich. Hier hat man nicht mehr so vandalisch mit den Gaben der Natur gehaust.
Auch Bottrop zeigt ein aufgelockertes, weitläufiges Stadtbild; die Arbeiter nennen es Klein-Amerika.
Jedenfalls sind heute für das gesamte Leben des Reviers die Städte, ob groß oder klein, ob alt oder neu, die bestimmende und treibende Kraft; sie zwingen und gestalten. Es bleibt nur übrig, sie nun auch für die arbeitenden Menschen richtig und vernünftig einzurichten. Damit wäre immerhin schon einiges für einen menschenwürdigen Lebensstandard der Ruhrbevölkerung geschehen.
An hervorragenden Architekten herrscht kein Mangel im Revier; man müßte sie nur vor Aufgaben stellen, die weniger der jeweils eigenen Kirchturmspitze und mehr der ganzen Organisation zugute kommen. Auch im Ruhrbezirk sind ja die Architekten die Vorposten jener Kunstauffassung, die der ökonomischen und sozialen Umformung unserer Zeit am nächsten ist. Ihre Schöpfungen wirken vielfach wie Wegweiser in die Zukunft. An ihnen läßt sich auch schon heute in all dem Wirrwarr die neue Stadtgestaltung erahnen, die gerade für die schwerarbeitende Bevölkerung des Industriebezirks besonders wichtig wäre, um die gesundheitliche Gefährdung durch den Beruf auszugleichen und die werktätigen Massen vor der Verelendung zu retten.