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An Schönwetter-Sonntagen sind die Ufer der Ruhr bei Werden und Kettwig dicht bevölkert; ganz Essen, soweit es sich das leisten kann, macht hier sein Wochenend. Hier sieht die Ruhr aber auch noch wie ein richtiger romantischer Fluß aus.
Auf dem Wasser, das an Wochentagen so still dahinfließt, macht sich heute stromauf, stromab aufgeregtes Gehabe wie der Aufruhr eines buntgefiederten Hühnerschwarms breit. Der Stausee hat die Ruhr geklärt, und die Ausläufer des Ardeygebirges, von üppigen Laubwäldern bestanden und fast dem Harz ähnlich, drängen sich dicht an sie heran. Nur die zart im Blau der Ferne verschwimmenden Konturen des Fördergerüstes von Heisingen und dünne Kohlenadern in den für den Bau der Landstraßen quergeschnittenen Hügeln erinnern daran, daß man sich im größten und wichtigsten Kohlengebiet Deutschlands befindet.
Noch vor zwanzig Minuten stand man am Gründerzeitkitschbau des Essener Hauptbahnhofs, und jetzt schon können sich die müden Lungen, die sechs Tage Industrieluft atmeten, in dem würzigen Waldozon erquicken, kann man seine Schritte über sauber gepflegte Waldpfade lenken und unter dichtem Laubdach spazieren gehen. Auch dies Recht wollte erkämpft sein, denn bis vor kurzem war der schönste Teil der Essener Stadtwaldungen mit Stacheldraht eingezäunt und den gewöhnlichen Sterblichen unzugänglich. Für die Hasenjagd der Granden der Stadtverwaltung reserviert! Gut, daß die Lokalblätter Wochenplauderer haben, die immer wieder das soziale Gewissen oder den Ehrgeiz der Stadtväter anheizen, daß sie selbst allzu krasse Ichsucht als peinlich empfinden müssen. Dank dem Zusammenwirken jener Wochenplauderer und jener Stadtväter und noch mehr dank dem erwachenden Verständnis für die Menschenrechte auch der gewöhnlichen Sterblichen (erwacht vor allem in deren eigenen Köpfen!) erfreuen wir uns jetzt an dem Spaziergang durch den herrlichen alten Wald und an prächtigen Ausblicken von schutzgeländerten Felsvorsprüngen ins Ruhrtal. Dort unten liegt Werden mit seinen alten, efeubekleideten Türmen, ihm gegenüber und etwas höher am Berghang schimmert die Edelpatina der Kupferdächer von der Krupp-Residenz Hügel. Bei ganz klarer Luft sieht man bis ins Bergische Land hinein, aus dem die Funktürme des Langenberger Senders wie feine lange Nähnadeln herausstechen.
An Wochentagen ist es hier einsam, wie im Märchenwald; dafür wimmeln heute Wald und Fluß von Menschen. Das sichelbesetzte Juggernautrad der Industrie rollt des Werktags über sie hinweg; nach der Schicht sind sie ausgepumpt und ausgepowert. Nur schlafen! Nichts, außer schlafen, wollen sie. Am Sonntag aber lebt man, und man lebt in, auf und neben dem Wasser, das zum Idol geworden ist, dessen Kult immer breitere Schichten erfaßt. Vor allem die jüngere und die jüngste Generation verbringt mit Wasserfreuden ihr sommerliches Weekend. Die Älteren sind schon froh, wenn sie pfeiferauchend auf der Steintreppe vor dem Häuschen oder zwischen den gehäkelten Deckchen auf dem roten Plüschsofa der guten Stube stillsitzen können. Schließlich ist ja die Säuberung des Schweinestalls oder die Pflege der Radieschenbeete im kümmerlichen Gärtchen auch eine Sonntagsbeschäftigung.
An den Ufern der Ruhr lagert eine buntgemischte und doch homogene Menschenmasse. Es wimmelt und krabbelt, liest und schnarcht, kreischt und lacht, döst und turnt, sonnt sich und sucht Schatten in primitiven Zelten, ißt und trinkt, küßt und zankt hier auf den Grasnarben der Ruhrwiesen im Strandbad, alle durcheinander und eng nebeneinander; dennoch stört keiner den andern. Jeder ist froh, daß es außer Fördertürmen und Pütts, außer Schreibmaschinen und Registratur, außer Küchenherd und Staublappen auch noch grüne Wiesen und saftiges Gras gibt und eine Sonnenwärme, die nicht so dörrend ist wie die dörrende Hitze der Walzenstraße oder des Thomasofens.
Die jungen Arbeiter jauchzen und jodeln vor Vergnügen, denn keinem wird hier mit der Stoppuhr die Zeit gemessen wie beim Drehen an der Revolverbank. Eine Gruppe von Angestellten hält sich an den Händen und tanzt zwischen den Ruhenden auf schmalem Fleckchen einen Wandervogel-Hüpftanz. Tarandaradei! Auch sie sind ja so selig, einen Tag vom Kartenstechen auf der Hollerith-Maschine und von der Hetzjagd des Typenalphabets auf dem Farbband der Schreibmaschine erlöst zu sein. Gibt es überhaupt so etwas wie sechs graue, alltägliche Werktage? Heute sind sie in weiter Ferne versunken. Heute im Badetrikot ist man frei von Ruß und Staub und Schweiß. Man hat keine Eisendrahtzange in den Händen, kein Grubengezähe, das einem neue Schwielen zu den alten drückt. Heute will man die Hoffnungslosigkeit des Arbeitnehmerschicksals vergessen. Man ist zwar noch nicht soweit wie in Berlin, wo es ohne pseudomondäne Nuance nicht geht, wo Gent und Lady die unerreichbaren, dafür aber auch unauslöschbaren Ideale für jeden Schmock und jede Schmockin bleiben, selbst wenn die ihr sonntägliches Schmocktum mit noch so sauerer Wochentagsarbeit bezahlen müssen. Hier bekennt man sich auch Sonntags zu seinem Stand, alle, nicht nur die Kohlenkumpel, die die Zeichen ihres Berufes mit jeder kleinen vernarbten Wunde als blaue Tätowierung zeit ihres Lebens am Körper tragen, alle geben sie sich hier einfach, derb, unverfälscht und ohne Ambitionen.
Es herrscht eine Atmosphäre gleichgestimmter Brüderlichkeit unter diesen Menschen hier in den Strandbädern an der Ruhr, mögen sie nun jünger oder älter, Gruben- oder Fabrikarbeiter oder technische oder kaufmännische Angestellte sein. Sie alle eint die Vorstellung von der Freiheit eines Tages in Natur und erfrischendem Wasser, in primitiver derber Daseinsfreude, wie sie dem fränkischen und rheinischen Menschen so sehr liegt. Es ist die Demokratie der nackten Körper, deren Scham ein baumwollener Badeanzug deckt. Von irgendwelchen Sorgen und gar von Politik will hier draußen keiner etwas wissen. Gott sei Dank, daß man einen Tag mal nichts von dem Quatsch hört. Das Wasser, das die Lenden von Gerechten und Ungerechten, Kollektivisten und Individualisten, Verächtern und Anhängern des Eigentums umspült, wird zu einem Vorwand für die Entpolitisierung der kleinen Leute, just jener, die es sich am wenigsten leisten können, weil für sie Klassenbewußtsein der einzige Ausweg eben aus jener Hoffnungslosigkeit des Arbeitnehmerschicksals ist.
Auf dem Wasser, das nicht viel weniger dicht belebt ist als der Strand, ist es schon nicht mehr so weit her mit Brüderlichkeit. Schon die Verschiedenartigkeit der Boote betont in der klassengeordneten Gesellschaft den Klassenunterschied. Da sitzen im Kanu Männer, die mit blattigem Ruder das Wasser peitschen, und da gleiten Paddelboote so glatt vorbei, als wenn sie nicht Wasser, sondern Öl durchschnitten, gelenkt von jenen Faltbootbesitzern aus den »gehobeneren« Schichten der Werktätigen, denen das Leben überhaupt nur noch Klepperboot ist. Ihnen kreist das Dasein um das wasserdicht umspannte Holzgerippe, das tragbar ist und abgestottert werden kann. Daß sie Bootsbesitzer sind, ermöglicht ihnen die Flucht aus dem Klassenkampf. Auf dem Umweg über den Eigentumsstolz gelingt es, sich wichtig zu nehmen und seine bürgerliche Weltanschauung beizubehalten, obwohl man nichts weniger und nichts mehr ist als ein Verkäufer der Ware Arbeitskraft, also ein Proletarier. Auch das bunte wehende Fetzchen an Bug und Heck des Bootes schmeichelt dem Selbstgefühl, und warum sollte man die Flagge der Armen führen, wenn die Flagge der Bemittelten das gleiche Geld kostet und einem auch noch in der Karriere weiterhilft?
Ein Bootsverleiher unter der Werdener Brücke vermietet stundenweise Rudernachen, mühselig zu regierende, schwerfällig gebaute Kähne. In ihnen sitzen die Arbeiter und Kleinbürger, die für ein paar Leihgroschen die Freuden des Wassersports auf Miete genießen. Sie sind nicht so trainiert im Gebrauch der Ruder wie die schmucken, gepflegten Jungens, die eben in einem Rennvierer vorbeiflitzten: Mitglieder eines repräsentativen akademischen Regattavereins, der auf der plebejischen Ruhr alljährlich seine Kräfte mit auswärtigen Vereinen mißt, in der traditionellen Hügelregatta (am Fuß der Villa Hügel). Dabei macht Krupp auf seinem Hausboot die Honneurs wie Wilhelm einst in Kiel; an den Ufern steht dichtgedrängt das gaffende und Beifall brüllende Volk, und die stromauf liegenden Bootshäuser haben alle festlich über die Toppen geflaggt; in dreißig neutralen Farben natürlich. Denn die Herren dieser exklusiven Bootshäuser haben es nicht nötig, am Wasser Politik zu machen. Sie sind unter sich, in eigenen Strandhäusern, auf sorgfältig abgeschlossenen eigenen Grundstücken, die dichte Zäune und Hecken von den Massen auf der Grasnarbe trennen.
Das Weekend der Oberschicht im Ruhrtal vollzieht sich, trotz alles leutseligen Getues im Betrieb, in splendid isolation. Söhne von Berg- und Hüttendirektoren führen hier das Steuer, und Ingenieure handhaben die Riemen. Auch die alten Herren tragen den Dreß ihres Vereins: zweireihige blaue Jacke mit emblemeverzierten Hornknöpfen (Goldknöpfe wären viel zu vulgär!) und auf dem Kopf ein kleines Ruderkäppchen oder eine Schirmmütze wie die Lloyd-Kapitäne, auf der in Goldstickerei das Vereinswappen prangt. Die verantwortungsbewußte Würde dieser Machthaber weicht im Klubhaus einer bierseligen, stammtischbreiten Behäbigkeit. Eingedenk der elektrischen Lichtwandschrift am Essener Bahnhof: »Trinkt Essener Bier!« wird hier nur Stauder Pils verschnitten. Es versteht sich von selbst, daß auch die Brauerei-Aktionäre Klubmitglieder sind.
Zwischen den Antipoden am nivellierenden Strand und im feudalen Bootshaus steuern auch, beweglich lavierend, mit besorgten Blicken nach oben und unten – die Angst, nicht ganz hinaufzukommen, wird nur noch übertroffen von der Angst, ganz hinunterzufallen –, mehr oder weniger elegant fournierte Kielboote. Warum sollte man schließlich als kaufmännischer Abteilungsleiter im Kohlensyndikat oder als Rayonchef eines großen Warenhauses, im Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband organisiert, nicht seiner Partnerin – vielleicht ist es ein Tippfräulein aus dem Verwaltungshaus eines großen Konzerns – mit einem doppelsitzigen Boot imponieren? Vor allem, wenn es noch nicht zu einem eigenen Auto langt, mit dem man in einer halben Stunde zum Nachmittagskaffee nach Krummenweg durch den Wald fahren könnte. Das ist nämlich die zweite Möglichkeit der Sonntagserholung für »bessere« Leute im Kohlenpott.
Nicht jeder entblößt gerne seinen Körper und trägt Sportdreß. So weit sind wir denn doch noch nicht. Dazu gibt es vor allem im Ruhrgebiet noch zu breite Schichten – sie rekrutieren sich stark aus dem wohlhabenden Bürgertum –, die unter dem Einfluß der katholischen Kirche oder wenigstens unter dem Einfluß der katholischen Moral stehen. Die Kirche zieht es vor, die Menschen blaß, kränklich und muckerisch zu sehen, statt daß sie in so gottlosen Posen nackt nebeneinanderliegen und mit prallen Schenkeln die böse Fleischeslust ineinander wecken. Derlei Anfechtungen werden besser verhüllt (mit modischen Kleidern) und darum Gott (und den Geschäftsleuten) wohlgefälliger.
Wenn man im Auto die Ruhr auf der alten Werdener Steinbrücke überquert, so hat man sich eintausendzweihundert Jahre zurückversetzt zu fühlen, so ziemt sich das für Deutsche, die Interesse für historische Heimatkunde haben. Damals wuchs der Urwald am Ufer der Ruhr, so dicht und undurchdringlich, daß der Friesenbischof Ludger, der gekommen war, die Heiden in diesem Urwald zu bekehren und eine kirchliche Siedlung zur Erschließung und ökonomischen Erfassung des Landes zu gründen, seinen himmlischen Vorgesetzten im Gebet um Beistand angehen mußte. Der Beistand kam in Gestalt eines Orkans, der den Urwald rodete und den Boden zur Errichtung von Werden bereitete, das dann auch durch Jahrhunderte Bischofssitz blieb. Die Abteigebäude des Benediktinerklosters, das mit dem Bischofssitz entstanden war, wurden vom Jahre 1811 bis 1928 als Strafanstalt benützt, in der es den Gefangenen nicht allzu wohl erging, wie die Meutereien im Werdener Zuchthaus während der Nachkriegszeit bewiesen haben. Heute steht die Abtei leer und zum Verkauf. Neben ihr ragen die ehrwürdig grünen Kupferdächer von den Turmstümpfen der alten romanischen Abteikirche in die Luft, und unter dem Hochaltar dieser Kirche ruhen die Gebeine des heiligen Ludgers, des Begründers dieser Niederlassung der frommen Brüder von St. Benedikt.
»In der Bibliothek des Klosters«, so schnurrt der Küster, der dich herumführt los, »ward bis zum Dreißigjährigen Krieg die erste germanische Bibelübersetzung des Bischofs Ulfilas, der weltberühmte Codex argenteus, aufbewahrt, der in den Kriegswirren nach Prag geschafft, dann von den Schweden gestohlen wurde und jetzt die Zierde der Universitätsbibliothek in Upsala bildet.«
Was bleibt dir dann anderes übrig, als den Feinden der deutschen Größe zu grollen, die es verschuldet haben, daß Werden um ein Lockmittel für den Fremdenverkehr ärmer geworden ist?
Aber der Küster tröstet dich, indem er dir ins Gedächtnis zurückruft, daß noch ein anderes literarisches Kulturdenkmal aus dem neunten Jahrhundert mit der Werdener Abtei in Beziehung gebracht wird; nämlich der »Heliand«, jenes noch sehr heidnisch-heldenhafte Germanen-Epos von Christi Leben und Sterben in alliterierenden Versen.
Verhältnismäßig ungerührt von der Kunde aus großer Vergangenheit zockelt die Karawane der Besucher weiter, betrachtet neugierig das klassische Portal des ehemaligen Abtei-Zuchthauses, ohne auch nur mit einem Gedanken zu streifen, welche Menschenquälereien es unter dem Schutz der Paragraphen und Gesetze vor der Umwelt verbarg, und verteilt sich in den engen winkligen Gäßchen von Werden, die auch in Rothenburg ob der Tauber die Stileinheit nicht stören würde.
Im Freien aber, zu Füßen der Kirche auf dem Werdener Markt, drehen sich Karussells; es ist Kirmes. Die Textilarbeiterinnen der Werdener Tuchfabriken sitzen – sonst am Schiffchen – heute in der Schiffschaukel und kreischen. Von der Heiligkeit und uralten Tradition des Ortes ist kein Hauch mehr zu spüren. Türkischer Honig und das Glücksrad regieren die Stunde. Auf den Ruhrwiesen schlendern die Pärchen und verzehren den an den Buden erstandenen geräucherten Schellfisch.