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Künstlicher See am Rande des Reviers

Hohensyburg. Die Tage der Kindheit tauchen auf. Wir saßen auf den harten, für Holzpuppen, aber nicht für Kinderkörper gebauten Bänken der vierten Volksschulklasse in der nördlichen Arbeitervorstadt Dortmunds und freuten uns auf das Wunder des ersten großen Schulausflugs. Kann man ermessen, was es für ein Arbeiterkind bedeutet, einen ganzen Tag aus der stickigen Enge der Stadt hinauszukommen, um die Natur einmal dort zu sehen, wo sie wirklich grün ist?

Ich war zehn Jahre alt, aber ich erinnere mich noch ganz lebhaft daran; dabei ist es lange vor dem Krieg gewesen. Wir mußten sechzig Pfennig Fahrgeld mitbringen, Mutter packte uns Stullen in eine grasgrüne Botanisiertrommel, auf der bunte Schmetterlinge spielten – ganz feine Hunde hatten Rucksäcke –, eine Bierflasche mit kaltem Kaffee baumelte an einem Bindfaden an der Hüfte, und ab ging die Post.

Wir grollten an diesem Tage nicht einmal dem Lehrer, der ein Kinderquäler war und uns gerne mit Nadeln ins Gesäß stach, wenn wir nicht aufpaßten. Zum Schulausflug war sogar er leutselig: hatte Rohrstock und Nadeln zu Hause gelassen, eine hellkarierte Hose und blankgeputzte Zugstiefel angezogen, seinen Bart gebürstet und sich eine keck flatternde Lavallière um den Hals gebunden – kurzum: ein Bonvivant von 1905. Er trieb unsere Klasse, sechzig Kinder an der Zahl, paarweise die Straßen entlang, durch das vornehme Wohnviertel am Ostwall, wo wir Arbeiterkinder aus dem Norden sonst nie hinkamen, bis zum Südbahnhof. Hier wurden wir in Vierte-Klasse-Wagen verladen, und dann zockelte der Zug über Hörde und Löttringhausen nach Wittbräucke.

Staunend erlebten wir am Fenster des Abteils die Verwandlung der Landschaft. Wie die Fördertürme, die schmutzigen Hinterhöfe, die Hochöfen, Zechenhalden, Drahtseilbahnen, Holz- und Kohlenstapelplätze, Schrottlager, der ganze Betrieb und Schmutz der Industriestadt zurückblieben und es mit einemmal weite, blumige Wiesen gab, auf denen Kühe weideten. Dann kam Laubwald an uns heran, weißgekalkte Bauernhäuser, die mitten zwischen Obstbäumen standen, rutschen vorbei. Auf einem schwarzen, fettigen Misthaufen krähte ein prächtig bunter Hahn. Und da, ein neues Wunder: wir ratterten durch einen Tunnel; blitzplötzlich war es Nacht, die die brennende Zigarre des Lehrers als einzige Leuchte durchglühte. Und diese Finsternis rauschte und brauste, viel geheimnisvoller und aufregender noch als daheim die Muschel auf dem Vertikow, die Onkel Rudolf, der Matrose, von seiner Tropenfahrt mitgebracht hatte.

Indes war es auch ebenso märchenhaft mit einem Schlag wieder hell geworden, und links und rechts hoben sich baumbestandene Hügel auf – Wittbräucke. Von hier aus begann in gelösteren Reihen der Fußmarsch nach Hohensyburg. Wir, deren Spielplätze sonst die schmalen Häuserschluchten und die schmutzigen Höfe der Industriestadt waren, tosten wie besoffen von der frischen Luft, der Sonne und der Freiheit eines Tages die Straße bergan. Unser erstes Ziel war das Kolossal-Denkmal Kaiser Wilhelm I., das auf einer Anhöhe neben den Resten der alten Syburg das Ruhrtal beherrscht. Wenn uns auch die Burgruine wesentlich stärker anlockte, so mußten wir uns doch den alten Kaiser auf seinem Riesenroß, die beiden Adler, die ihn überschwebten, die Paladine, die ihn submissest flankieren, den Baldachin, der dem Hinterteil seines Pferdes königliches Gepränge verleiht, den ganzen Konditorgreuel aus Marmor und Bronze vorerst erklären lassen. Sicherlich war das zur Entflammung unserer vaterländischen Gefühle sehr nützlich.

Der Bonvivant in der karierten Hose erzählte aus dem Heldenleben des reitenden alten Bronzeherrn mit dem Backenbart. Mein Vater hatte mir allerdings am Vorabend von ihm ein wenig anders, nämlich als von dem Kartätschenprinz des Jahres 48, gesprochen. Aber mein Vater war eben ein subversives Element, ein verruchter, vaterlandsloser Geselle, kurz gesagt: ein Sozialdemokrat. In dem Schulaufsatz, den der Ausflug als bittere Konsequenz nach sich zog, mußten wir natürlich die Version des Lehrers anwenden, wir wurden ja zu treuen Untertanen erzogen.

Nach der Belehrung am Denkmal kam die Besichtigung der spärlichen Reste der Burg, die schon dem Sachsenherzog Wittekind als Bollwerk gegen Karl den Großen gedient hatte. Heute dient sie bloß noch Lokalpoeten als Vorwand für vaterländische Gedichte und als Wirtshausschild für den Ausflugsnepp.

Die Naturanlagen auf der historischen Anhöhe sind gepflegt wie ein Park, die Kieswege werden geharkt, Bäume und Sträucher stehen in Reih und Glied. Vom sorgfältig betonierten, mit einem Geländer umzogenen Hügelplateau aus überblickt man das Ruhrtal und den Zusammenfluß von Ruhr und Lenne.

Als wir noch Kinder waren, floß die Ruhr in lieblichen Windungen – ein gemächlicher, friedlicher Fluß – unten vorbei. Man kam auf Serpentinenwegen den Berg hinunter an das Ufer und wurde in einer Fähre übergesetzt. Dort drüben stand ein einsames Wirtshaus, hinter dem sich, so weit der Blick reichte, Wiesen und Weideland ausdehnte.

So sah es hier aus, als wir Arbeiterkinder einmal Anschauungsunterricht in Heimatkunde genossen.

Seitdem ist viel Wasser die Ruhr heruntergeflossen, und viel Wasser ist jetzt an der gleichen Stelle, die wir damals in der Fähre überquerten, gestaut worden. Wo zu jener Zeit hinter dem kleinen Wirtshaus die Wiesen waren, schimmert heute die langgestreckte Wasserfläche eines künstlichen Sees. Das riesige Staubecken – das erste von acht anderen, die am Flußablauf der Ruhr zwischen Hagen bis zum Rhein angelegt werden sollen –, der Hengsteysee, umfaßt ein Areal von 1,6 Quadratkilometern und hat einen Fassungsraum von 2,8 Millionen Kubikmetern Wasser. Auch der zweite dieser künstlichen Seen, der Harkortsee, ist jetzt schon im Bau.

Nur das alte, kleine Wirtshaus aus meinen Kindheitserinnerungen fand ich nach 25 Jahren wieder. Es steht jetzt auf einer Insel neben einem ganzen Komplex moderner Gaststätten, und wo früher die Fähre anlegte und man ein bescheidenes Glas Milch für 10 Pfennige trank, dort findet heute ein luxuriöser Restaurant- und Ausflugsbetrieb statt. Es existiert sogar der kühne Plan eines Architekten, auf der Insel ein Riesenhotel zu errichten, das, der Gestalt der Insel angepaßt, Schiffsform haben und Hunderten von zahlungskräftigen Gästen fashionable Erholung und Unterhaltung bieten würde. Trotzdem dieses Projekt mit Geldern der öffentlichen Hand ausgeführt werden soll, kann man sich leicht ausrechnen, daß seine Nutznießer nicht die Kumpel sein werden.

Doch halt, nicht nur mit dem alten Wirtshaus am See habe ich nach einem Vierteljahrhundert Wiedersehen gefeiert, auch der alte Kaiser Wilhelm reitet inmitten seines Prunkes aus regenbeständigem Zuckerguß noch immer oben auf der Bergeskuppe und überblickt die republikanische Situation Deutschlands. Kurz vor meinem Besuch hatte der Sturm einen der Adler weggerissen; leider war der Sturm nicht stark genug gewesen, das Ganze wegzuwehen. So wird der Hügel, der die planvolle Anlage des Hengsteysees beherrscht, noch weiter von servilem Kitsch aus der üblen Gründerzeit geschändet werden, wie so viele andere Hügel im schönen Deutschland.

Der künstliche See am Rande des Industriereviers ist in der Tat ein imponierendes Ergebnis technischen Zielbewußtseins und Unternehmungsgeistes. Der großzügig konzipierte Plan der acht Staubecken geht dahin, die Kraft- und Wasserversorgung des Ruhrgebiets für industrielle und Gebrauchszwecke zu regeln. Vier Millionen Menschen sind mit ihrem Trinkwasser auf die Ruhr angewiesen und sollen von der Laune der Elemente, von Dürre und Frost unabhängig gemacht werden. Die Ruhrwasserversorgung leistet allein ein Viertel der gesamten Wasserversorgung Deutschlands. Überdies gehört der aus Wasserkraft erzeugten elektrischen Energie die Zukunft! Die großen Wasserflächen werden außerdem das Klima verbessern und mit Strandanlagen, Badegelegenheiten und gepflegten Ufern für die Erholung der zerarbeiteten Menschen nützlich sein.

Über den Hengsteysee kreuzen schon jetzt im Sommer zahllose Segelboote und Kanus. Gebräunte Körper sonnen sich an seinen Ufern, Kinder spielen im Sand, viele Sportvereine haben hier ihre Trainingsquartiere aufgeschlagen und rüsten für ihre Wettkämpfe. Ein Versäumnis der Natur ist nachgeholt. Hier gab es keine größeren Wasserflächen. Nun gut – man baut sich welche.

Der Ruhrverband, der die Gebrauchswasserwirtschaft regelt (die Emschergenossenschaft hingegen sorgt für den Abfluß der Abwässer), folgt in seiner Arbeit gemeinnützigen Gesichtspunkten und läßt sich nicht allein vom Profitstreben leiten. Eine weitsichtige Organisation, die über die Privatwirtschaft nicht die gemeinwirtschaftlichen Ziele vergißt, stößt in gemeinsamer Arbeit mit dem Siedlungsverband für den Ruhrkohlenbezirk in der gleichen Richtung vor. Gerade im Ruhrgebiet ist die Arbeit dieser weitschauenden regionalen, überkommunalen und staatlichen Verbände eminent wichtig, ja unentbehrlich. Die vielen kleinen Kommunalwesen, die nicht mehr überblicken können und wollen, als von ihrem Kirchturm aus zu sehen ist, sind den riesigen Aufgaben, die ein so hoch industrialisiertes Gebiet stellt, in keiner Weise gewachsen. Diesen Verbänden allein ist es zu danken, wenn sich heute im Bezirk Ansätze zu einer einheitlichen, vernünftigen, den wirklichen Verhältnissen entsprechenden Organisation des Ganzen zeigen. Daß es gelungen ist, den Hengsteysee zu schaffen, kann einem für die Zukunft Hoffnung machen. Man steht auf der Brücke, die kühn den See überspannt. Die Ruhr, die, nachdem sie die Lenne in sich aufgenommen hat, trüb und schmutziggelb aussieht, setzt im Staubecken an Filtern die von den Industrie-Abwässern eingeschleppte Verschmutzung ab und ist im Seebecken selbst schon hell und klar. Von der Brücke aus erblickt man auch, wo sich das Staubecken wieder zum Ruhrauslauf verengt, ein seltsames Bauwerk, das an einen Komplex ägyptischer Tempel erinnert; es enthält die riesigen Sperrwalzen, die das Wasser stauen. Die Schleuse liegt am Fuß eines Berges. Vier dicke Betonrohre kriechen zu einem Gipfel empor. Eine Turbinenpumpe preßt das Wasser des Sees in der Nacht mit billigem elektrischem Stromüberschuß aus dem Kölner Braunkohlenrevier durch das eine Paar der Rohre in einen Wasserspeicher hinauf, der oben am Berg in den Felsen gesprengt ist; und aus dem fällt es bei Tag durch das zweite Paar wieder herunter in eine Turbine, die die Kraft seines Falles in den Stunden der hohen Strombeanspruchung durch die Ruhrindustrie zu elektrischer Kraft umformt. Das Rheinisch-Westfälische-Elektrizitätswerk ist's, das diesen Strom in das Revier und weit über Land bis zu den Bauern ins Münsterland und bis zu den Winzern an die Mosel schickt. Das Problem einer direkten Zufahrtsstraße für den Auto- und Autobusverkehr war am Hengsteysee besonders schwer zu lösen. Eines seiner Ufer (das alte Ufer der Ruhr) ist ein Steilufer, man hätte schwierige Niveauveränderungen vornehmen müssen, um dieses Hemmnis zu überwinden. Die alte Straße hat dieses Hügelmassiv mit seinem Steilufer in weitem Bogen umgangen. So kostete es großen Zeitaufwand, um von dieser Seite an den See direkt heranzukommen. Der Ruhrsiedlungsverband ist der Situation mit einem ganz einzigartigen Straßenbau Herr geworden. Die Chaussee, die in Serpentinen an der Hohensyburg vorbei ins Tal führt, macht kurz vor der Brücke, die beide Seeufer verbindet, eine enge Schraubenwindung; diese kühne Straßenschleife wird von einem viaduktartigen Bau getragen, der im Einschnitt zwischen zwei Hügeln liegt. Die Straße, die über den Viadukt läuft, krümmt sich unter den Schenkeln des gemauerten Bogens unter sich selbst durch, überwindet so die Steile des Ufers und mündet auf die Brücke, die über den See führt.

Zweieinhalb Gehstunden von Dortmund zeigt der Hengsteysee eine besonders geglückte Mischung von Naturidylle und moderner Technik. Ein durchaus akzeptables Vorbild für die Gestaltung eines Industrielandes der Zukunft; einer Zukunft, die planmäßiger und menschenfreundlicher technisieren und rationalisieren wird als die kapitalistische Gesellschaft.


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