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Ein und dreyssigstes Kapitel.

Gleichwohl hatte das Schicksal noch kein Erbarmen mit unserm itzt wirklich bejammernswürdigen Helden! Vielmehr gieng es immer tiefer und tiefer in die Patsche des Schimpfs und der Schande hinein. Acht Tage nach dieser Geschichte hatte sich der Herr Direktor von ohngefehr ans Fenster gestellt, um ein Maulvoll frische Luft zu schöpfen, als plötzlich ein halber Wagen auf sein Haus zurollte. Es ist gewöhnlich der Fehler der Gelehrten, nicht gut in die Ferne zu sehen; Spitzbart konnte also nicht erkennen, was für ein ihm sehr wohlbekanntes Herrchen in dem Wagen saß. Aber die Frau Direktorn sowohl als Fiekchen waren beyde immer nicht weit vom Fenster, wenn sie einen Wagen rasseln hörten, und diese brachen zu gleicher Zeit in ein gellendes Geschrei aus: Herr Gott, Israelchen kömmt! Ein Glück war es, daß an der Seite des Fensters ein Stuhl stand, auf den der Herr Direktor sinken konnte: Sonst würde er lang auf die Diele gestürzt seyn, so ein zentnerschwerer Schreck überfiel ihn! Fiekchen eilte ihrem Vater sogleich zu Hülfe, hielt ihm ihren Flacon unter die Nase, rieb ihm die Schläfe und brachte ihn bald wieder zum Besinnen: Die Mutter aber hatte nicht Zeit, sich itzt nach ihrem Manne umzusehen, sondern rannte in vollem Fluge die Treppe herunter, ihr theures Israelchen in Empfang zu nehmen. Er kam denn von dem Orte, wo wir ihn zuletzt gelassen haben, begleitet von dem Informator des Predigers Pfeil, der gleich nach den ersten Begrüssungen dem Herrn Direktor einen Brief überreichte. Hätte ihm sein ahndender Genius nicht vorhin schon die Ursach von Israelchens Ankunft gesagt, so konnte sie ihn dieser Brief lehren. Zitternd und bebend ergriff er ihn, ließ ihn fallen, hob ihn auf und las mit dickem Angstschweiße vor der Stirne wie folget:

»Ich schicke Ihnen hier Ihren Sohn zurück, mit herzlichem Bedauern, daß ich nicht im Stande hin, ihn länger bey mir zu behalten. So gern ich Ihr väterliches Herz schonen wollte, so kan ich es Ihnen doch nicht verschweigen, daß meine geringen Kenntnisse und Erfahrungen nicht hinreichen, ihn zu bilden. Noch ist mir kein Kind von der Art vorgekommen, bey welchem beydes, Güte sowohl als Strenge, vergeblich gewesen wäre. Es kan seyn, daß die Schuld davon mehr in meiner Ungeschicklichkeit, als in seiner Verdorbenheit liegt: Um desto eher aber muß ich ihn an Sie zurückliefern, damit Sie ihn zu einem grössern Meister in der Erziehungskunst bringen als ich bin. Mein Informator wird Ihnen eine kleine Rechnung zustellen, die Sie die Güte haben werden, zu berichtigen. Uebrigens verharre ich etc.«

War der Brief erbaulich, so war es die Rechnung noch mehr. Sie verdient es, daß Sie ebenfalls wörtlich mitgeheilt werde:

Specifikation
des Schadens, den der Sohn des Herrn Direktors Spitzbart vorsetzlich und erweislich in meinem Hause angerichtet:

Den 11ten einen grossen gegossenen Spiegel in der Visitenstube entzweygeschlagen

20 Thl.

Den 13ten den Resonanzboden in einem ganz neuen Klaviere mit einem Federmesser durchschnitten. Die Reparatur kostet

  4  —

Den 15ten einer Ziege, die meine Kinder zahm gemacht hatten, heimlich eine Nadel in die Schläfe gestochen, daß sie daran krepiren müssen. Sie kostete uns

  2  —

Den 17ten meiner Frau ein seidenes Kleid mit Dinte begossen, daß es nicht mehr getragen werden kan. Meine Frau verlangt bloß Zuschuß zu einem neuen

10  —

Den 18ten mir eine Perücke von der Studirstube gestohlen und auf den Abtritt getragen. Sie kostete mich

  3  —

An anderweitigem Schaden im Garten an Blumen etc. im Hause an Meubeln etc. rechne ich bloß in Pausch und Bogen

  6  —

Summa  

45 Thl.

Fiekchen versuchte mehr als einmal, ihrem Vater dieses verwünschte Blatt wegzunehmen, weil sie sah, wie es ihn im Innersten seiner Seele erschütterte: Aber er stieß sie von sich, und nachdem er es ganz gelesen, rief er Israelchen. Du Range, sagte er mit zusammengebißnen Zähnen, hast du das alles gethan, was hier steht? Israelchen fands nicht für gut, diese kitzliche Frage zu beantworten und kehrte sich wieder um zu seiner Mutter. Der Herr Direktor aber holte ihn mit zwey Schritten ein, schmetterte ihn mit einem Schlage zu Boden, trat ihn mit Füssen und rief mit der Wuth eines Besessenen: Du Teufelskind! Du Satan! Die Weibsleute stürzten mit Mordgeschrey herbey und wollten Einhalt thun: Er schleuderte eine dahin, die andre dorthin, und fuhr fort nach Israelchen zu treten und auszurufen: Verflucht seyst du Bube! Verflucht seyst du, Weib! Du hast ihn verzogen, du – Indem packte ihn der fremde Informator, der bis itzt in stummem Erstaunen zugesehen hatte, nun aber Mord und Todtschlag befürchten muste, von hinten um den Leib und trug ihn halb, halb schleppte er ihn ins Nebenzimmer, wo sich bald solche heftige Zufälle bey ihm äusserten, daß schleunig nach dem Arzte geschickt werden muste. Der Arzt kam und der Informator, der wohl einsah, daß er doch itzt seine eingerichtete Rechnung nicht bezahlt bekommen würde, empfahl sich bis auf baldiges Wiedersehen.

Nun ward das Haus des Herrn Direktors ein Haus des Elends und der Klagen. Er verfiel in ein überaus heftiges Gallenfieber, das seinem Leben mehr als einmal den letzten Stoß zu geben drohte. Die Frau Direktorn wollte sich schier alle Haare aus dem Kopfe raufen und heulte und schrie dem armen Kranken die Ohren so voll, daß der Arzt ihr gradehin erklärte, sie müste entweder das Zimmer meiden oder ruhig seyn. Ganz andrer und edlerer Natur war der Schmerz, den Fiekchen über ihres Vaters Krankheit fühlte. Was bey der Mutter der gröste Kummer war, wie und wovon sie leben sollte, im Fall der theure Ehegemahl mit Tode abgienge, war bey der Tochter grade der geringste. Sie dachte bloß ans Gegenwärtige und, ohne sich bey unnützen Thränen und Klagen aufzuhalten, lief und rannte sie Tag und Nacht und vergaß Essen und Trinken und Schlaf, um ihrem geliebten Vater Hülfe zu verschaffen.

Die Stadt Arlesheim nahm sich denn bey diesem Vorfalle grade so, wie es die menschliche Natur unter allen Zonen mit sich bringt. Das Unglück eines Thoren, wenn es das Herz bloß streift, erregt Hohngelächter und Schadenfreude: Durchbohrt es aber das Herz, dann wird, wenigstens bey bessern Seelen, das Lachen durch das Mitleiden und durch theilnehmenden Schmerz erstickt. Vorhin hieß es in der ganzen Stadt: O des Thoren! Des feinen Reformators in der Erziehung! Nicht mehr Spitzbart, Dummbart soll hinfüro sein Name genennet werden! Nun aber hieß es: Der arme Mann! Er ist doch wirklich zu beklagen! Solch ein Hauskreuz ist unerhört! Eine Menge Familien schickte Tag vor Tag zu ihm und ließ sich sehr angelegentlich nach seinem Befinden erkundigen. Auch Heineccius fühlte seinen Zorn allmählich in Mitleid schmelzen und sandte ebenfalls seinen Gehasi aus, um seinem ehemaligen Freunde seine Theilnehmung versichern zu lassen. Fiekchen, die sehr wohl wuste, auf welchen Fuß ihr Vater zuletzt mit Heineccius gestanden und die natürlich jenem mehr Recht gab als diesem, konnte sich nicht enthalten, ein Wort davon fliegen zu lassen. Sie gab dem Bedienten zur Antwort, ihr Vater wäre so schlecht, daß diejenigen, die seinen Tod wünschten und beförderten, sehr bald ihren Wunsch erreichen würden. Dis Wort erregte bey Heineccius sehr ernsthafte Reflexionen! Der Beförderer von dem Tode eines Menschen zu sein, schien ihm ein abscheulicher Gedanke, und doch sagte ihm sein pochendes Herz, er könne gar leicht durch die Zurücknahme seiner Freundschaft den ersten Grund dazu gelegt haben. Dis folterte ihn und um der Qual los zu seyn, beschloß er, den Herrn Direktor persönlich zu besuchen und sich mit ihm gründlich auszusöhnen. Er kam; Die Aussöhnung geschah, mehr mit Thränen und Händedrücken, als mit Worten, und der Herr Direktor that diesen Tag einen sehr grossen Schritt, dem Tode zu entlaufen. Bey einem zweyten Besuche, als Heineccius den Patienten schon ungleich leidlicher fand, wagte er es, die Rede auf Israelchen zu bringen. Es thut mir unendlich leid, sagte er, daß meine gute Absicht, Ihren Sohn unterzubringen, einen ganz andern Ausgang genommen hat, als ich irgend denken konnte. Indeß biet ich Ihnen zum zweyten male, und ich hoffe mit besserem Erfolge, meine Dienste an! Ueberlassen Sie mir Ihren Sohn und fragen Sie nun weiter nicht nach, wo ich ihn hingethan habe und was aus ihm geworden ist. Genug, sobald Sie wieder völlig hergestellt sind, will ich Ihnen davon aufs genaueste Red und Antwort geben!

Der arme Kranke war das hochzufrieden und Israelchen ward noch denselben Tag an Heineccius ausgeliefert. Dieser hatte sehr richtig bey sich auskalkulirt, daß wenn Israelchen noch auf irgend eine Art zurecht gebracht werden könnte, so wäre die Soldatische Zucht das einzige Mittel. Er ließ also einen abgedankten blessirten Feldwebel kommen, der in Arlesheim wohnte und sich mit Informationen ernährte: Einen wackern, gescheuten Mann, der ganz dazu gemacht war, eine solche kleine wilde Bestie zu zähmen. Er übernahm dis Geschäft für ein sehr geringes monatliches Douceux und schon in den ersten 24 Stunden war Israelchen so mürbe gemacht, daß er wie ein Jagdhund aufs Wort paßte.

Doch wir kehren vom Sohne wieder zum Vater zurück, der durch Hülfe seiner Natur und seines Arztes nach zwey vollen Monathen, sein Fieber los ward. Indeß verwarnte ihn der Arzt beym Abschiede ernstlich und nachdrücklich, sich ja vor neuem Aerger zu hüten: Sonst wäre der Rückfall der Krankheit und vielleicht gar der Tod unvermeidlich.


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