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Die Sorgen und der Kummer werden immer vorzugsweise dafür ausgescholten, daß sie ehrlichen Leuten den Schlaf rauben; Grade als ob es nicht tausend andre Dinge gäbe, die eben die Wirkung thun. Eine zu grosse Ermüdung oder auch ihr Gegentheil, ein zu voller Magen, eine neue und ungewohnte Schlafstelle lassen einen eben so wenig die Augen zudrücken, als ein ganzer Centner von Sorgen. Eben so ist auch jede Leidenschaft eine Feindin der Ruhe; Liebe, sehnliche Erwartung, Zorn, Ehrsucht, Geiz, sie alle schütteln oft die Schlummerkörner des Morpheus von den Augen ihrer Sklaven. Am allergewissesten aber kann man auf eine schlaflose, aber darum doch angenehme Nacht rechnen, wenn das Herz voll Freude und Vergnügen ist, das noch den Reiz der Neuheit hat! Das war der Fall der Frau Direktorn: Sie konnte vor Freude nicht schlafen, ihr Mann vor Sorgen nicht, und Fiekchen nicht vor Liebe. Jene hätte für ihr Leben gern noch Stundenlang mit ihrem Manne geplaudert, aber Bruder Champagne, der nun schon verraucht war, hatte wieder der schweren Sorge um Israelchen Raum gemacht und der Herr Direktor fühlte sich gar nicht aufgelegt, in die Gefühle seines Weibes einzustimmen. Er fertigte sie also ganz kurz ab und bat sie, ihn in Ruhe zu lassen, weil er den Kopf von tausend andern Dingen voll habe. Sie gehorchte ohne Widerrede: Denn wenn es der geneigte Leser etwa noch nicht weiß, sie war seit der Standeserhöhung ihres Mannes viel geschmeidiger und nachgiebiger gegen ihn geworden. Vorher wuste sie es so nicht, was sie an ihm hatte: Aber nun leuchtete es ihr auf das deutlichste ein! Es war ihrer eignen Eitelkeit unendlich dran gelegen, ihn stets bey guter Laune zu erhalten, ihm nicht die mindeste Kränkung zu machen, um sein kostbares Leben so lang als möglich zu fristen oder vielmehr unter dem Schatten seiner Flügel so lang als möglich die grosse Dame zu spielen. Auf das erste Wort also schwieg sie still und unterhielt sich ganz allein mit sich selbst. Er desgleichen, aber mit schwerem Herzen und mit tiefen Seufzern! Das Glück des verfloßnen Tages, anstatt ihm Freude zu machen, war ihm die empfindlichste Marter. Da er der biblischen Bilder und Anspielungen noch gewohnt war, verglich er es selbst mit einem Hause, das auf den Sand gebaut ist, und das der erste Windstoß umstürzen kann. Israelchens morgendes Erwachen war ihm ein entsetzlicher Gedanke. Was sollte er mit dem unbändigen Buben anfangen? Ihm Zaum und Gebiß anlegen war unmöglich, wenigstens hielt ers dafür; Und freylich, ohne einen Lerm vor der ganzen Stadt wäre es nicht abgegangen. Ihn in Pension thun, zu wem? Und erfuhr denn die ganze Stadt nicht gleichwohl, was er für ein sauberes Früchtchen wäre? Ihn auswärts unterbringen, war wieder die Frage, wohin? Und das konnte sich überdem in die Länge ziehen, da doch für Israelchen jeder Tag genug war, einen Streich von der Art zu spielen, als der oben im * sechsten Kapitel * rühmlichst angeführte ist. Aus diesem Wirrwarr herauszufinden, hätte wohl jedem andern, deß Ehre auch nicht dabey auf dem Spiele gestanden hätte, Kopfbrechen genug verursacht. Mehr als zwey Stunden schwankte er zwischen tausenderley Entwürfen, die er wechselweis erwählte und verwarf. Bald wollte er Israelchen gar nicht für sein Kind, sondern für ein fremdes ausgeben, das ihm höchstverdorben überliefert worden und das er sich nun einmal in den Kopf gesetzt hätte zurecht zu bringen: Aber ausserdem, daß dieser Weg völlig unnatürlich war, daß die Mutter sich nimmer dazu würde verstanden haben, so wußten es ja die beyden Friseurs und der Balbier schon, daß Israelchen sein leibliches Kind war; also verworfen! Dann gerieth er wieder auf den Einfall, er wollte Israelchen Arzneyen eingeben, die ihn auf einige Wochen krank machten, um unterdes Zeit zu gewinnen, für sein Unterkommen in sorgen: Aber ausserdem, daß zwey handfeste Kerls dazu gehörten, Israelchen zum Einnehmen der Arzney zu zwingen, stand hier abermal die Mutter im Wege, und wie leicht hätte auch der Handel verrathen werden können! Also gleichfalls verworfen. Endlich fiel ihm ein Gedanke ein, der gleich auf den ersten Blick so viel empfehlendes und so wenig Schwierigkeiten hatte, daß sich der Kummer seines Herzens um ein merkliches legte. Wir erinnern uns ohne Zweifel noch der Kopfwunde, die Israelchen damals auf dem Schlachtfelde bey Rübenhausen von Gastwirth Schmidts Sohne davon trug. Huy, dachte der Herr Direktor, ließe sich nicht auf diesen Grund eine herrliche Nothlüge aufführen, die ich mir unmöglich zum Verbrechen machen kann, weil Noth kein Gebot kennt! Wenn ich nun vorgäbe, Israelchen hätte von dieser Wunde her noch einen Knaks weg? Das muß jedermann glauben, und dann fallen seine Unarten nicht auf mich, sondern auf Gevatter Wintern, der 30 Meilen von hier ist und dem es in keinem Finger wehthun kann, wenn ich ihm auch eine verpfuschte Kur schuld gebe! Die Mutter und Fiekchen müssen dann mit mir bey einer Rede bleiben, und die Wahrheit der Kur selbst bezeugen die Nähte auf Israelchens Kopfe! Dem Himmel sey Dank, der Berg ist überstiegen.
Hier richtete sich der Herr Direktor im Bette auf. Seine theure Ehehälfte, die sich eben in Gedanken mit der Frage herumschlug, ob wohl die schönen Blakers, die sie im Eßsaale gesehen hatte, auch ein Geschenk oder bloß von Heineccius gelehnt wären, fühlte sogleich die Bewegung ihres Mannes und sagte zu ihm sehr zärtlich: Liebstes Herz, schläfst du denn noch nicht?
O nein, antwortete er, ich habe noch kein Auge zugethan.
Nun das ist doch schnurricht, rief Fiekchen aus ihren Federn, so schlafen wir ja alle drey nicht!
Vat. Mädchen, bist du toll? Was ficht denn dich an, daß du nicht schlafen kannst?
Fiek. Ach Papa, ich weiß nicht, es ist mir so eng ums Herz, ich kanns selbst nicht beschreiben.
Vat. Es ist mir eben recht, daß ihr beyde noch wach seyd: Ich habe euch was vorzutragen und besonders dir, mein Schaz, aber Fiekchen muß es auch hören. Das einzige bitt ich mir aus: Unterbrich mich nicht, bis du mich ausgehört hast.
Mut. Wie du befiehlst, mein Kind: du weist ja, ich thue alles, was ich dir nur an den Augen absehen kan.
Vat. Nun es soll mich herzlich freuen. Die Sache betrift Israelchen, wie du leicht denken kannst. Wir sind nun nicht mehr in Rübenhausen, mein Schatz, sondern hier, und auf dem Fuß, wie es da gewesen ist, kann es schlechterdings nicht bleiben. Ich bin itzt nicht mehr Inspektor, sondern Direktor und da ich eine ganze grosse Schule zu regieren habe, und jedermann auf mich Achtung giebt, so muß ich auch in meinen Kindern ein gutes Beyspiel geben. Nun ist aber Israelchen einmal, wie er ist. Nenne du es meinetwegen wie du willst, genug so viel must du mit Händen greifen, daß wenn er hier einen einzigen solchen Streich spielt, als er in Rübenhausen hundert gemacht hat, so sind du und ich geschlagne Leute und ich werde vielleicht in kurzer Zeit mit Schimpf und Schande von Amt und Brod gejagt. Was meinst du, wie würde dir das gefallen? Also kurz und gut, das ist beschlossen und davon soll mich nichts auf der Welt abbringen: Israelchen muß fort, ganz fort! Wohin, weiß ich noch nicht, aber es bleibt dabey.
Mut. (weinend) Ach Gott, ach Gott, so soll ich mein Israelchen verliehren, mein einziges, liebes Kind, was ich unter dem Herzen getragen habe!
Vat. Possen, was nennst du denn verliehren. Ich will ihn ja nicht aus dem Hause stossen, nicht auf die Strasse werfen, sondern bloß bey einem auswärtigen vernünftigen Manne in die Kost thun, wo er so gut aufgehoben seyn soll wie bey uns. Es mag kosten, was es will; es soll mich nicht gereuen: Lieber will ich mir den Bissen vom Munde abdarben! Aber dabey bleibts: Fort muß er und das bald! Sage mir ums Himmels willen, mein Kind, getraust du dich wohl, ihn hier in eine vernünftige Gesellschaft mitzunehmen, ohne daß du befürchten mußt, er prostituirt sich und dich aufs alleräusserste? Denke nur gleich an gestern Abend; Wenn nun das Paruckenmachervolk, ob ich ihm gleich das Maul mit Geld gestopft habe, doch in der Stadt herumläuft und erzählt, daß wir alle beyde nicht imstande sind, einen Buben von noch nicht 9 Jahren zu bändigen – Ich zittre, wenn ich dran denke. Kurz, es bleibt beym Alten! Weil sich das aber nicht so geschwind thun läßt, und Israelchen sicher unter der Zeit eine Menge dumme Streiche machen wird, weist du was, womit wir sie bemänteln wollen? Wir wollen den Leuten weiß machen, das käme von dem Schlage her, den ihm Schmidts Christöffel gegeben hat, und der Gevatter Winter hätte ihn schlecht kurirt.
Mut. Ach liebes Herz, das ist gewiß kein blosses Vorgeben! Es ist sicherlich ein Versehen vorgegangen, es mag seyn welches es will: Denn wie wär es sonst möglich, daß Israelchen seit der Zeit viel eigensinniger und wunderlicher geworden ist, als vorher?
Vat. Nun desto besser, wenn du es selbst glaubst: Desto leichter wirst dus andern glauben machen. Also heut noch machen wir den Anfang und erzählen die Geschichte von Israelchens Unglück! Hörst du, Fiekchen? Du mußt auch deine Rolle mit spielen.
Fiek. Wenns Mama erlauben will! Denn sonst möcht es heraus kommen, als wollt ich mich über Israelchen lustig machen.
Mut. Nein, nein, thu es immer, du sagst ja nichts als die reine Wahrheit. Der gottlose Winter hat wahrhaftig ein Unglück in Israelchens armem Kopfe angerichtet und ich hab ihm so schweres Geld bezahlen müssen, es ist unverantwortlich!
Fiek. Aergern Sie sich nur nicht, liebe Mama! Und wissen Sie was? Wenn Sie mir einmal folgen wollen, so lassen Sie uns aufstehn. Schlafen können wir doch nicht und die Morgendämmerung ist schon da. Wir wollen das ganze Haus durchstören und zusehen, was der heilige Christ beschert hat.
Das war ein Vorschlag, den Fiekchen nicht zweymal zu thun brauchte. Die Frau Direktorn stand sogleich auf, zog sich an und fort gieng es, von Zimmer zu Zimmer, von Meubel zu Meubel, Trepp auf Trepp ab. Wohl bekomme ihnen denn die Motion der Füsse als vornehmlich der Zunge, die sie sich dabey machten! Er, der Herr Direktor schlief, nachdem er das Weibsvolk losgeworden war, gegen Morgen noch ein wenig ein; Da es ihm aber beym Erwachen einfiel, daß die Lehrer des Gymnasiums in Corpore grosse Tour bey ihm machen wollten, stand er geschwind auf und fuhr bey guter Zeit in seinen schwarzsamtenen Rock. Ja die scandalöse Chronik will sogar versichern, er habe eine ganze Weile vor dem Spiegel die verschiednen Mienen der Gravität, des gnädigen Wohlwollens, des drohenden Ernstes u. s. f. probirt, die er den Lehrern zeigen wollte: Doch ich lasse das unentschieden und erzähle bloß die Geschichte der Cour selbst.
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