Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Verteidiger wendet den Kopf für einen Augenblick von seinen Papieren ab und sieht flüchtig über den Saal hin. Er sieht auf die Geschworenen hin und auf die Frau unter ihnen; er liest in aller Augen höchste Aufmerksamkeit. Vielleicht ist es auch die Teilnahme mit dem Schicksal derer, deren Wohl oder Wehe sich in dieser Stunde entscheiden soll – er weiß es nicht, aber es ist ihm, als ob er hoffen dürfte. Dann fährt er fort; er hat keine Wehleidigkeit in der Stimme und verschmäht jede Geste:
»... Eines Tages begleitete er mich in die Wohnung. Wir hatten eine schöne Abendfahrt hinter uns. Wir waren auf dem Wege zu tiefer innerer Verbundenheit gekommen, unsere Seelen standen hüllenlos voreinander. Und wir waren sehr glücklich gewesen ... Er setzte sich nieder und freute sich an meinem Heim. Und als ich dann vor ihm stand, legte er seine Arme um meine Knie und bettete seinen Kopf an meinen Schoß. Und er sprach liebe Worte. Ich glaube, ich legte meine Hände aus seinen Kopf und spielte in seinem Haar. Ich weiß nicht, was ich dabei dachte – vielleicht habe ich gar nichts gedacht und war nur sehr glücklich. Mir war, als müßte ich ausgehen in ihm, und doch stand zugleich ein seltsames Muttergefühl in mir auf – er war der große, liebe Junge, der mich brauchte und dem ich mich bei aller Demut der liebenden Frau überlegen fühlte ... und ist es dann nicht naturgewollt, wenn nach der Seelengemeinschaft die letzten Verborgenheiten fallen –?«
Der Verteidiger blättert suchend, dann liest er einzelne Sätze, löst sie aus dem Zusammenhang, stellt sie schlicht nebeneinander und läßt sie wirken, wie sie aus übervollem Herzen gekommen sind:
»Ich weiß, daß man sagt, die allmähliche Abwendung stehe unter dem Rechte der Natur. Ja, sie geschah. Sie geschah auch ganz allmählich, ich hätte sie ihm nicht nachweisen können. Die liebende Frau fühlt es, sie fühlt es gegen allen Schein. Die Anstellung in Hamburg befriedigte ihn auf einmal nicht mehr; es mußte ein Ortswechsel vorgenommen werden. Ich ließ ihn ziehen, weil ich ihn nicht halten konnte. War es Zufall, daß einige Zeit später auch eine Pflegerin gesucht wurde? Daß ich die Stelle bekam? Ich reiste ihm nach; ich fand ihn wieder, und es schien alles gut zu werden. Mein Ringen um seine Liebe rührte ihn, und ich gewann ihn mir zurück.
Und dann trat die andere Frau in sein Leben ...«
Doktor Hiller läßt die Blätter sinken. »Man bedenke«, spricht er seine eigenen Worte wieder, »daß die Zusammengehörigkeit dieser zwei Menschen nicht im Sturm sinnlicher Leidenschaft geboren wurde, sondern in langsam gereifter seelischer Gemeinschaft ihren Grund hatte, und man wird verstehen, daß für diese Frau der Gedanke an die endgültige Zerreißung des Bundes eine Ungeheuerlichkeit ist, die ihr Seelen- und Nervenleben gewaltig erschüttern und die Folgerichtigkeit ihres Handelns aufs schwerste gefährden muß. Zu dieser zermürbenden Einwirkung tritt das qualvolle Verhältnis zur Nachfolgerin. Wer, wenn seine Liebe rein und selbstlos war, soll es über sich vermögen, mild und gerecht über die zu denken, die den Sturz von der Sonnenhöhe des Glücks in die Nacht der Verlassenheit verschuldet hat? Und von wem, wenn er sich mit überlegener Kraft doch zur Duldung und Gerechtigkeit durchgerungen hat, will man dann ein nüchternes, abgeklärtes Handeln fordern?«
»... Meine stummen Bitten las er nicht in meinen Augen, mein lautes Drängen auf Klärung wies er ab ...
An jenem Schicksalsabend beendeten wir gemeinsam den Dienst; wir hatten ihn, wie immer in der letzten Zeit, unpersönlich nebeneinander getan. Ich fühlte mich am Ende meiner Kraft. Ich sagte mir, ich müsse Klarheit haben, und bedachte nicht, daß ich sie schon längst bis zum Letzten besaß. Was wollte ich denn? Ich weiß es nicht. Ich wollte mit ihm sprechen; er sollte mir sagen, einmal mit deutlichen Worten sagen, wie es um uns stünde, obgleich ich diese Worte wie ein Todesurteil fürchtete. Ich rannte vom Krankensaal in mein Zimmer, ich wollte ihm nacheilen, ihn auf menschenleerer Straße, in seinem Garten oder seinem Hause, wo auch immer ich ihn traf, zu einer Unterredung zwingen.
Das sollte mein letzter Versuch sein, meine letzte Umklammerung an das Leben. Und dann – ja dann – das wußte ich nicht, dann kam eben die große Leere.
Ich zog den Mantel über mein Schwesternkleid, ich wollte mir ein Tuch um Schultern und Kopf werfen, um die Haube zu verdecken, ich riß es hastig aus dem Kasten. Da fiel mir das Etui mit der Waffe in die Augen, das darunter lag. Ich weiß, ich könnte jetzt behaupten, daß es mir plötzlich durch den Kopf fuhr, mich zu töten. Das wäre eine glaubhafte Begründung für die Mitnahme der Waffe, und ich wäre nicht die erste meiner Leidgenossinnen, die so gedacht hat. Ich könnte behaupten, daß ich die Waffe in der bestimmten Absicht an mich nahm, sie gegen mich selbst zu richten, wenn die Antwort so lautete, wie sie eben doch kommen mußte. Ich verschmähe diese Verteidigung. Ich bleibe bei der Wahrheit; denn mein sicherster Schutz vor einer Verkennung, die ich allein fürchte, ist, wahr zu sein.
Ich rufe keine fernen Götter als Zeugen an; ich erkläre schlicht, daß ich die Waffe ohne jede Absicht an mich nahm, da ich überhaupt nicht imstande war, klar zu denken und etwas zu überlegen. Ich nahm instinktiv, was sich mir bot, vielleicht in dem ganz dunklen Gefühl, daß in Verzweiflungsstunden eine Waffe dem gequälten Menschen ein gewisser Trost und Rückhalt ist. Wäre mir das Kästchen nicht in die Augen gefallen, ich hätte nie daran gedacht, die Waffe an mich zu nehmen.
Ich eilte die Treppe hinab, aus dem Hause – und traf niemand. Es war mir lieb, obgleich ich eine Begegnung nicht zu scheuen gebraucht hätte, da mein Gewissen unbeschwert war. Ich traf mit Hermann Eggebrecht zusammen, als er durch den Garten nach seinem Hause schritt. Ich will keinen Stein auf ihn werfen, der nun tot ist ... Vielleicht las ich nur in der Angst meiner Seele auf seinem Gesicht eine Drohung, die nie beabsichtigt gewesen ist, hörte aus seinen Worten Haß, der nur in meiner wirren Phantasie vorhanden war. Plötzlich fühlte ich die Waffe in der Tasche des Mantels ... Warum hat sie sich nicht entladen, während ich sie trug, warum hat sie mich nicht getötet? Ich riß sie hoch: ein Sinnbild noch immer vorhandener Kraft, ein Zeichen dafür, daß ich nicht schutzlos und verlassen war! Nicht im entferntesten kam mir der Gedanke, sie zu gebrauchen; denn wie hätte ich die Hand gegen einen Menschen erheben können – ich, die ihr Leben mit Überzeugung dem Dienst der Helferin geweiht hatte!
Wahrscheinlich hat er glauben müssen, daß ich ihn bedrohe; er schlug abwehrend nach meinem Arm. Da geschah es.
Ich sah ihn stürzen. Ich mußte getroffen haben. Oh, was habe ich geschrieben? Ich? Nein, ich habe ja nicht geschossen! Meine Hand hat den kleinen Bügel, der den Tod schleudert, nicht berührt. Es kann aller Schein gegen mich zeugen: ich habe es nicht getan! Unsinnig vor Angst und Grauen stand ich, dann schleuderte ich die entsetzliche Waffe in weitem Bogen von mir.
In diesem Augenblick glaubte ich noch nicht daran, daß er tot sei. Ich rannte verzweifelt zurück, unfähig zu denken, daß man ihm vielleicht Hilfe bringen müsse. Niemand sah mich kommen, wie mich niemand hatte gehen sehen.
Ich fiel auf mein Bett und lag wie betäubt. Ich habe bittere Tränen geweint, die niemand sah. In ungezählten Nächten ohne Schlaf habe ich mit mir gerungen. Ich bin ehrlich mit mir verfahren; ich habe mich nicht schonen wollen, nicht beschönigen, was ich tat. Ich konnte keine Schuld finden, die der Schwere des Geschehenen entsprach. Was werden meine Richter sagen ...«
Doktor Hiller legt die Blätter aus der Hand. Er macht eine Pause. Die Stille im Saal dauert an.
»Wenn die verlassene Frau«, spricht er jetzt wieder seine eigenen Worte, »die sich verraten dünkt, nach der Waffe greift, so werden das viele verstehen, aber sie werden es doch nicht billigen. Das Gesetz entschuldigt sie nicht; es trifft sie mit seiner Strenge, und das von Rechts wegen. Denn ein Menschenleben ist immer heilig und unverletzlich, selbst wenn es schuldhaft wäre. Aber unser Fall steht nicht unter diesem Gesichtspunkt. Magdalene Fromann hat die Waffe nicht geführt: ein Mißverstehen, ein Zufall, eine Fügung, ein Verhängnis – nennen Sie es, je nach Weltanschauung und religiösem Empfinden, wie sie wollen – hat das getan. Wenn sie strafbar sein könnte, wäre sie es nur insoweit, als sie diesem Verhängnis unbewußt den Arm lieh. Aber sie ist auch darin nicht schuldig: wer fordert vom Fiebernden ein klares Handeln, wer vom Beraubten die großmütige Geste der Entsagung? Niemand kann es fordern; man wird es auch von Magdalene Fromann nicht tun. Unter den Geschworenen, die über sie zu Gericht sitzen werden, ist eine Frau ... Seien Sie ihr alle gerechte Richter!«
Doktor Hiller kommt zum Schluß; er bittet um Freispruch in der Frage nach der Tötung Doktor Eggebrechts durch die Angeklagte; soweit eine andere Verfehlung in Betracht kommt, fordert er Zuerkennung ausgeschalteter freier Willensbestimmung und wiederum Freisprechung.
Der Verteidiger setzt sich. Das Publikum, ergriffen oder wohlerzogen, vielleicht auch beides, verharrt schweigend. Nur ein verhaltenes Räuspern, ein leises Rauschen von Kleidern, ein kaum merkliches Gleiten der Füße als notwendige Auslösung nach langer Bewegungslosigkeit ist für Augenblicke zu hören. Dann Stille der Erwartung.
Der Vorsitzende spricht ein paar Worte der Belehrung an die Geschworenen.
Die Geschworenen verlassen den Saal.