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XVI.

Als seine Frau ihm gestorben war, neigte sich auch sein Leben dem Ende entgegen nach ewigen Gesetzen. Der Psalmist spricht: »Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.« – Seines war im reinen Sinne köstlich gewesen, lange bevor er die Achtzig erreicht hatte.

Hinter ihm im Dunkeln lag die Friedensstätte seiner Erdenwallfahrt, und die sanfte Stimme ihrer Hüterin redete nur noch aus seinen eigenen Gedanken zu ihm. – Der erste Absatz des Briefes an seine Kinder klang fast wie die heiße Klage eines Jünglings, dem die Braut gestorben ist; dann ging die Klage in fromme Ergebung über, und aus der Ergebung keimte der Dank für das, was mehr als fünfzig Jahre sein eigen gewesen. Im Dank lag schon der Vorsatz, das was er noch an Liebe und Lebenstrieben in sich trug, fortan den Kindern und Enkeln zu widmen für den Rest seiner Zeitlichkeit; und so gab er die vergängliche Hülle seines Glückes ruhig der Erde wieder.

Das Bewußtsein, daß er seiner Vaterstadt noch nicht entbehrlich war, heilte ihn von seiner persönlichen Trauer. Ungetrübt sahen seine alten Augen das Schaffensziel vor sich. Solange der Weserstrom hinaus ans pulsende Herz der salzen See eilte; solange bremische Kraft und Ausdauer des Stromes Bett auszutiefen, seine Ufer auseinander zu schieben oder einzudämmen vermochten, so lange mußten Schiffahrt und Welthandel ihn beleben, in Frieden mit den Schwesterrepubliken an Elbe und Trave und mit den Nachbarstaaten. Im Bunde mit Deutschlands Völkern und Fürsten. Dies Bild leuchtete ihm immer vor Augen.

Er dachte nicht entfernt daran, matt zu werden und abzudanken; allein er übte die Weisheit selbst auferlegter Beschränkung. Die vielen Reisen im Verkehrsinteresse, neuer Bahnlinien und Telegraphenanlagen halber, überließ er Jüngeren und wehrte auch die langatmigen Zollvereins-Verhandlungen von sich ab. Die erste, ausschlaggebende Behörde für alle jene Lebensfragen war und blieb er, und niemand unterfing sich, ihn von seinem Ehrenplatze hinwegdrängen zu wollen.

Noch einmal sahen seine weitblickenden Augen den Sturm fern im Osten aufsteigen. Der Krimkrieg wider die Westmächte entbrannte und drohte von neuem ganz Europa in seinen Wirbel zu reißen. Da war es, daß der alte Smidt voll jugendlicher Inbrunst hoffte, der deutsche Bund, den er vor vierzig Jahren mit über die Taufe gehalten hatte, werde sich jetzt endlich zu Taten aufraffen und das Vaterland, aus Sonderbündlerei und neidischer Zwietracht heraus, einigen und stark machen. Seine Hoffnung trog ihn völlig; er hat den ersehnten Tag deutscher Einheit nicht mehr erleben dürfen.

– – Daheim begann er im Stillen Umschau zu halten und, auf seine besondere, gründliche Art, im Hinblick auf seine Amtsnachfolge, Herzen und Nieren zu prüfen. Mit stolzer Befriedigung erkannte er, daß unter seinem mehr als dreißigjährigen Regimente eine stattliche Reihe tüchtiger Männer von Geist und Gaben herangereift war und in seinem ehrenhaften Sinne plante und Neues schuf. Schon jetzt legte Dieser und Jener kundige Hände mit an sein Werk, oder sie nahmen es ihm unvermerkt ab, wenn sie gewahrten, daß seine hohen Jahre allmählich doch der Rücksicht und Schonung bedurften.

Einen unter dem jüngsten Nachwuchs schloß er besonders ins Herz: Otto Gildemeister, Christine Smidts jüngeren Bruder, fünfundzwanzigjährig, als Frau Mine starb. Ein Vielverheißender war er, von hohem Geistesfluge, reichbegabt und schriftgewandt. Gleich nachdem er 1850 die Redaktion der Weserzeitung übernommen hatte, fielen seine glänzenden Leitartikel auf; zwei Jahre später ward er Senatssekretär, und von da an mußte er täglich bei seinem greisen Freunde vorsprechen, und die ungleichen Beiden tauschten rückhaltlos über der Welt Lauf und heimische Interessen ihre Meinung aus. Von Smidts Kindern abgesehen kannte niemand des alten Mannes innerstes Wesen so genau wie Otto Gildemeister.

*

In uns Enkeln, die wir im schönsten Kinderlande groß wurden, erwachte schon sehr früh das Bewußtsein unseres seltenen Jugendglückes, das wohl nicht allzu oft seinesgleichen gefunden hat in der unvollkommenen Welt. Solange das alte, kinderliebe Herz noch für uns schlug und die ehrwürdige Greisengestalt, kaum gebeugt, im grauen Langrock, freundlich und gütig das Gartenparadies durchwandelte, war es am schönsten. Mit seinem buschigen Silberhaar und den markanten Zügen, den sehr blauen, durchdringenden Augen, war unser Großvater uns der irdische, liebe Gott im Jugendparadiese und Tante Mine der dazugehörige Engel mit dem Flammenschwerte, der die Sünder austrieb und verbannte und schwere Strafen für jedes ersann, das vom Baume der Erkenntnis genascht hatte. Viel solcher Erkenntnisbäume standen in Großvaters Paradiese, deren Früchte süß waren: Der Milchapfelbaum und der mit den leuchtendrosa Süßäpfeln; die braune Canehlbirne und die graue Butterbirne; die Aprikose am Spalier und der Pfirsisch bei der Hängeesche. Der Kirschen nicht einmal zu gedenken. Ob wir vor Tau und Tag räuberten: Tante Mine sah es und wußte es! Der Spatz und der Kirschvogel verrieten uns ihr und die Wespen und Hummeln, denen wir die Kost stahlen. Dann kam das schreckliche Strafgericht, meistens über unsre ganze Kopfzahl, die Gerechten nicht verschonend. Ausweisung für zwei Tage; Regenwürmer graben für Großvaters Pollhühner, Butterblumen aus dem Rasen stechen und das befohlene Hundert vorzählen, und Gott weiß, was sonst noch.

Hatten wir im Schweiße unserer kleinen Angesichter gebüßt, so schenkte der Engel mit dem rächenden Schwerte uns zuweilen ein frisches Hühnerei: »teilt es euch«; und dazu den herrlichsten »Lämmerblick«. Im Puppenlöffelchen ging es von Mund zu Mund: Göttergenuß! –

*

Vor manchem Jahre habe ich den bremischen und fremden Kindern schon aus unserem unvergeßlichen Jugendparadiese erzählt und drei Bände damit gefüllt. Noch heute könnte ich zehn damit füllen; denn der Jungbrunnen unseres Lebens quillt unerschöpflich, weil er einem starken Felsen entsprungen ist: unserem Großvater, und Liebe und Frieden grünten und blühten um ihn her im glückseligen »Damals«. –

Unter den Elternpaaren herrschte so herzliche Eintracht, daß wir Kinder den traurigen Begriff des Familienzwistes ebensowenig kannten, wie den des leiblichen Todes. Jeder trug des andren Eigenart und Unbequemlichkeit mit freundlichem Willen. In ihren freien Stunden standen die Brüder gern beisammen im Garten am Georginenbeet, nahe Großvaters Hause, rote, gehäkelte Türkenmützen mit blauen Seidentroddeln auf den Köpfen, alle buschig wie der väterliche Weißkopf; rauchend und ihr gemütliches Bremer Platt redend: Hermann ein liebenswürdiger Tyrann, Heinrich sehr belesen, feingeistig und umständlich; Gustav schweigsam und in der Stille viel großzügige Güte spendend. Die Mütter fanden sich auf der Terrasse über dem Garten zur Teestunde an schönen Tagen; jede hatte ihr grünumbautes Plätzchen, und Tänti, die bei uns im Mittelhause lebte, seit Hermann seinen Kindern die zweite Mutter gegeben hatte, wandelte im englischen Longschal und weißer Tüllhaube dazwischen hin und her, gebückt, mit liebevollen Augen; alles sehend und hörend und sich niemals ungebeten einmischend. Ihr Sonnenzimmer war der Zufluchtsort für Freud' und Leid von alt und jung; der kleine, runde Sessel, dem ihren gegenüber am Blumenfenster, der Beichtstuhl, den unverbrüchliche Verschwiegenheit, tiefstes Verstehen weihten. – Niemand strickte schneeweißere Strümpfe; niemand teilte würzigere »Plättchen« und Himbeersaft zur Erquickung aus; und neben ihr im flachen Korbe lagen ihre heiligen Bücher mit zahllosen Lesezeichen zwischen den Blättern: das Neue Testament, Goethes Gedichte und seine Gespräche mit Eckermann; Herders Cid und Klopstocks Oden. Daraus pflegte sie uns gern vorzulesen, bald einen Vers, bald ein paar ungereimte Zeilen zur Erbauung oder zur Tröstung. Wenn ich heute für mich lese:

»Füllest wieder Busch und Thal,
Still mit Nebelglanz – –«

so höre ich den Ausdruck ihrer ruhigen Stimme und fühle ihre weichrunzelige Hand warm auf meiner kinderhaften zum Liebesblick der dunklen Augen hinter der Hornbrille.

Wie das schön war, Sonntagmorgens, und eine Stunde später umringte der ganze Kinderschwarm Großvater, hängte sich an ihn, streichelte seine welken Hände und sah inbrünstig zu ihm auf. Draußen läuteten die Kirchenglocken, und es duftete vom tauigen Garten herein; – unvergeßlich ist mir diese sonntägliche Frühstimmung. Tante Mine hatte dafür gesorgt, daß all die kleinen Füße sauber abgeputzt waren; Großvater stand händereibend mitten in seiner schönen, »runden Stube« mit hehren Gipsfiguren an den roten Wänden hin, und Henrich, der hübsche Diener, brachte auf dem Teebrette Großvaters Sonntagsfreuden für uns: Knallbonbons oder frisches Obst; Rosinenbrötchen, oder gar winzige Bastkörbchen mit Smyrnafeigen. Alles schmeckte besonders aus unsres Großvaters lieber Hand.

– – Daß er »über das ganze Bremen was zu sagen hatte und jedem Bösewichte den Kopf abschlagen lassen konnte, wie Gesche Gottfrieds, der Giftmischerin –«; das wußten wir von den Dienstboten, aber an das Richtschwert in unsres lieben Großvaters Händen glaubten wir nicht. Meinem kindischen Prinzessinnenstolze schmeichelten besonders die großen, weißen Kuverts aus seinem Papierkorbe mit dem roten, gebrochenen Staatssiegel und dem: »Seiner Magnificenz« über Titel und Namen. – An den kalten Bratäpfeln in diesen vornehmen Kuverts lag mir weniger, sie schmeckten allzuscharf nach der alten Tabakstromme, ihrem Aufbewahrungsorte, dieweil sie stets im Vorrat gebraten werden mußten. –

*

Unsre geräumigen Elternhäuser fanden wir schöner, als alle andren in Bremen. Großvater hatte sie uns geschenkt. Schlicht und fest wie er selber standen sie nebeneinander; kein Erker, kein Mauerzierat, kein Mansardenausbau. Aber kostbare Treppen bargen sie in sich: durch und durch aus Mahagoniholz; die Stufen blitzblank gebohnt; herrlich zum Gleiten und Rutschen. Treppenläufer gab es noch nicht, und doch erzählt die Familienerinnerung nichts von Arm- und Beinbruch infolge der spiegelnden, goldbraunen Glätte.

Klein war unsere Kindheitswelt; der Garten, den wir nur zu den Klippschulgängen und seltenen Kindergesellschaften verließen, – der »Kuhhirte« jenseits der Weser, und, uns allen gemeinsam, die heißgeliebte Dunge mit Onkel Wilhelms und Tante Luciens landfrischen Fünfen; mit Obst und Buttermilch und wundervoller Freiheit, trotz unseres Engels mit dem Flammenschwerte auch hier und unseres Großvaters Macht zu regieren und zu richten. Ward uns einmal eine Reise angedroht, so grämten wir uns darob bis zu Tränen im schlimmsten Falle: was hatten Wangeroog und Norderney, oder gar der Harz mit uns zu tun? Die Heimkehr war jedesmal die Krönung des Ausflugs in die Fremde.

Eine Reise jedoch fanden wir über alle Beschreibung schön, meine jüngere Schwester und ich: unsere erste Dampferfahrt mit Großvater weserab nach Bremerhaven. – Es war noch ein bescheidenes Städtchen, aber es hatte sein zweites, großes Hafenbecken erhalten, und Großvater wollte es besichtigen und seinen beiden kleinen Enkelinnen erklären. Das tat er und sprach ganz allein, während er uns an der Hand führte, langsam den Kai entlang; Tante Mine und unsre Mutter waren schon weit voraus. Er zeigte uns auch die Auswanderer in ihrer fremden, slavischen Tracht; braune Weiber und Männer, drollige Kinderpüppchen im Wickel; wir hörten den schwermütigen Singsang der arbeitenden Matrosen hoch oben im Tauwerk, und der Schwindel durchfror mich. Fest heftete ich meine ängstlichen Augen an die Flaggen und Wimpel, die lustigbunt auf den Schiffstoppen und öffentlichen Gebäuden flatterten und bauschten. Alle unserm Großvater zu Ehren. Stolz schwellte abermals unsre Kinderherzen; von der salzen See herein fuhr der starke Wind, den man roch und schmeckte, und alle Leute standen still, zogen die Hüte tief vor dem einfachen, alten Manne zwischen uns, und machten freundliche Gesichter.

*

Kleine Bildchen aus Kinderland nur; aber sie sind mir die lieblichsten geblieben im vielblätterigen Buche meines langen Lebens, und wenn ich zurückschlage und sie wieder betrachte, finde ich ihre lichten Farben unverblaßt. – – Meine Mutter beugt sich über unsre Gitterbettchen und sagt uns »gute Nacht, Gott behüte dich«, ehe sie durch den dunklen Garten hinüber zu Großvater in die Sonntagsgesellschaft geht. Sie trägt ein steifes, kornblumenblaues Damastkleid, und die weißen, echten Spitzen sind mit rosa Camelien auf ihren goldblonden Scheiteln befestigt. Es sind fremde Gäste bei Großvater und Tante Mine mit zur Sonntagsgesellschaft gebeten: Graf Reinhard und der Märchendichter Jakob Grimm und noch ein vornehmes, altes Ehepaar, das einst in Wien mit den Großeltern jung gewesen ist. Meine Mutter macht ein sehr frohes Gesicht; sie freut sich auf den schönen anregenden Abend. Den alten, freundlichen Märchendichter lerne ich am andren Tage bei Großvater kennen; er erzählt uns das Märchen von Allerleirauh, und nun weiß ich plötzlich, wie Allerleirauh auf dem Balle im Königsschlosse ausgesehen hat: genau wie meine Mutter gestern im blauen Damastkleide mit den steifen rosa Blüten zu ihrem glänzenden Haare. – – – Der Glanz spinnt sich weiter und leuchtet immer heller, bis er sich in hundert und mehr Lichterchen spaltet. Die brennen auf den weitgespannten Zweigen der Riesentanne mitten in Großvaters großem Zimmer, vom Fußboden bis empor zur Decke. Das Christkind im starren Goldröckchen stößt mit der Flittergoldkrone oben an. Flittergold an jedem Aestchen; bunte Papiernetze, rote Aepfel und Zuckerwerk, wie es jetzt niemand mehr kennt und achtet, und unsre Gaben hat Großvater von Wien mitgebracht. Vorgestern ist er erst heimgekehrt, und er geht von einem weißgedeckten Kindertischchen zum andren und freut sich über unsre Freude und Wonne an seinen Weihnachtsgeschenken. Solch einfache Dinge, denen nur die Liebe Kostbarkeit verleiht. – Ihr Kinder von heute würdet gewiß über das unbeschuhte Kattunpüppchen, das schreien kann, und die winzige Laterna magica mit den fingerlangen Glasbildchen lachen: – uns haben sie unsre kühnsten Wünsche erfüllt vor fast sechzig Jahren. – – –

*

Noch ein kleines Bild, bevor ich das letzte aus dem Jugendparadiese aufschlage, mit des alten Mannes ehrwürdiger Gestalt im Vordergrunde. Eine ganz kurze Erklärung laßt mich vorausschicken, und sie geht mich selber an. Ich bin damals eben zehnjährig gewesen; ein unhübsches, unbequemes Kind zwischen den Altersgenossen; zartbesaitet, wehleidig und heftig in raschem Wechsel; das »häßliche, junge Entlein« zwischen anmutigen Täubchen, zierlichen Hühnchen und kecken Hähnchen. Immer fühlte ich mich verkannt und verstoßen; immer rief mir dieser oder jener nach: »du lügst!« und ich wollte doch nicht lügen. Meine Augen sahen nur alles doppelt und dreifach, und meine Ohren hörten zwischen den lauten Erdenstimmen fremde Flüsterstimmchen, die mich versuchten und reizten, aus den Alltagsdingen Wunderdinge zu machen, sie zu erzählen; und Reime auf Worte zu finden, die mir wohlgefielen. Meine Mutter hatte Großvater manch liebes Mal ihren Kummer um mich mißratenes Kind geklagt; – grade ihr ältestes! Großvater tröstete sie, und Tänti sprach zum Guten für mich; aber anders wurde es trotzdem nicht mit dem häßlichen Entlein. –

Ein kleines Grotensheft hatte ich schon für mich allein mit komischen Reimereien vollgeschrieben; da wagte ichs und brachte Großvater zu seinem dreiundachtzigsten Geburtstage ein selbstgemachtes Gedichtchen, von meiner heißen und schüchternen Liebe zu ihm getrieben.

Die andren hatten mich wieder einmal »verstoßen«, und ich lief nach der Schule allein und sterbensunglücklich im Garten herum, mein buntes Bögelchen mit den Fantasieblumen und Goldkringeln in der Hand. So sehr war ich verstoßen worden, wegen irgend einer Greueltat, daß niemand mir erlaubt hatte, zum Gratulieren mit ihm hinaufzugehen. Nun war es gleich Essenszeit und Großvater allein. Er sah mich von seinem Arbeitszimmer aus; trat in die Balkontür und rief mich zu sich. Es war ein milder Tag, trotz des fünften Novembers; der Himmel sonnigblau, und die Astern und Reseden blühten noch um's Georginenbeet. –

Ich lief dem ersehnten Rufe nach, stolperte über meine eigenen Füße und warf mich gegen meinen Großvater, beide Arme um seinen grauen Rock gepreßt; »O lieber Großpapa! – ich gratuliere dir auch; – ich habe dir auch ein Gedicht gemacht – ganz allein, Großpapa –!«

Er nahm mein buntes Bögelchen – – (hier liegt es wieder neben mir) las, faßte mich um die Schultern und gab mir einen Kuß. – Dann durfte ich mit ihm in sein Arbeitszimmer neben dem runden gehen. Es war die einfachste Stube, dämmerig und verräuchert; in der Mitte ein langer schlichter Tisch mit Papieren in Stapeln bedeckt, dazwischen brannte ein Talglicht den lieben, langen Tag; dabei stand der Pfeifenhalter und der Tabakskasten nebst dem Fidibusbecher. Bücher an den Wänden, und hinterm Tische ein altes, tiefeingesessenes Ledersofa. Auf dem saßen wir beide. Großvater hielt mich im Arm, und als Tante Mine zur Tür hereinguckte, um ihn zu Tisch abzuholen, machte er ihr ein Zeichen, daß sie noch einen Augenblick zurückgehen sollte. –

Als die Tür sich geschlossen hatte, hob er mein Gesicht am Kinn zu sich auf und fragte: »warum bist du vorhin nicht mit den andren Kindern gekommen und hast mir gratuliert, Kind? Sage es mir, wie es wirklich gewesen ist.«

Da drückte ich mein Gesicht gegen seinen grauen Rock und fing jämmerlich zu weinen an: »– sie haben mich verstoßen – wegen dem Gedicht, – weil sie das so dumm finden, – – Großpapa –!«

»So – so – hm –« machte er, trocknete mir die Tränen ab und redete mir liebreich zu, bis ich wieder ruhig neben ihm saß. Danach langte er sich meinen Glückwunsch vom Tisch und las ihn mir vor:

» ... es ist nun zwar schon Herbst und kalt,
Der rauhe Winter zu nahen beginnt
Doch froh, als ob es Frühling wär'
Wir all' zusammen heute sind.
Denn dein Geburtstag ist ja heute,
Und du bist fröhlich und gesund – – ...«

und dann nahm er meine dünne Kinderhand in seine und lehrte mich an meinen eigenen Fingern, wie man die Silben bei'm Dichten zählen müsse, damit sie weder hoppsten noch stecken blieben: »siehst du so: »kurz, lang; – kurz, lang; – kurz, lang! So habe ich es auch gelernt, als ich klein war. – – Ja, ich komme schon zu Tisch, Henrich; nun mußt du gehen, Kind; ja, das Licht darfst du noch putzen, und ich danke dir nochmal für das niedliche Gedieht.«

– – Ich schnäuzte die rinnende Talgkerze geschwind mit der messingnen Putzschere, und lief davon wie beschwingt. – – –

– Das ist mein einziger Unterricht im Verseschmieden gewesen und geblieben.

*

– – – – Ein halbes Jahr nach diesem unvergessenen Tage hatten wir unseren Großvater verloren. Am 7ten Mai 1857 schlief er, nach wenigen, schmerzlosen Krankheitstagen, ruhig hinüber, regen Geistes, bedacht für sein Bremen bis zur letzten Stunde.

*

Wir Kinder alle fanden uns zusammen und durchirrten, zu zweien oder dreien, im Zuge den Garten voll Frühlingsblühen, eines heiligen Glückes beraubt. Wir gelobten uns Treue fürs ganze Leben und wußten nicht, wie lang und ernst das Leben ist. Feierlich klangen die Domglocken dazu. – – – –

*

Am 11ten Mai ward sein sterbliches Teil zum Herdentorskirchhof hinausgetragen, der nun schon längst aus dem Stadtbilde verschwunden ist. Wir kleinen Senatorsmädchen in unsren dunkelschottischen Sonntagskleidern standen am offenen Fenster des Eckhauses, das an der Contrescarpe Hillmanns Hotel schräg gegenüber liegt, und verbissen das Weinen. Stumm blickten wir auf das Trauergeleit des Entschlafenen nieder, der uns so ganz zu eigen gehört hatte. Ach, wie traurig die Welt ohne Großvater; in unserm spannenlangen Leben waren wir noch niemals so tiefbetrübt gewesen.

Unten war alles schwarz von Menschheit. Langsam folgte der endlose Zug dem Sarge auf den Schultern umflorter Männer. Keinen Orden und kein Ehrenzeichen trug man ihm auf sammetnem Kissen nach; schweigend staute und teilte sich die Menge in selbstgewollter Ordnung ohne Drängen, so wie der alte Bürgermeister es geliebt hatte. Sein ganzes Bremer Volk erwies ihm die letzte Ehre; hoch und gering. Schluchzen und Flüstern ging durch die Scharen der Bürger, die ihren treuen Vater verloren hatten. – Drüben, auf Hillmanns großem Balkon, hielten die Musikanten zwischen den Taxus- und Lebensbäumen mit Blasen inne und senkten ihre Instrumente, als der Sarg vorüber kam; und dann setzten sie stockend wieder an zu zitternden Tönen. – –

Draußen auf dem Kirchhof gähnte keine finstere Gruft. Großvaters Lieblinge füllten sie ganz und gar: seine Frühlingsblumen: späte Veilchen, frühe Maiglöckchen und Vergißmeinnicht. Niemand konnte sagen, woher sie kamen; auch der Totengräber nicht. Die Herrendiener mußten sie ausschaufeln, und dann deckten sie den Sarg damit zu, daß es unter den Kränzen noch einen lichten, lebenden Hügel gab und die Erde ihm, der darunter schlummerte, leicht war.

*

Der große Garten wurde unter die Söhne geteilt; jedes Haus erhielt sein langes Stück für sich, und Johann, der mit seiner Frau von Louisville nach Bremen zurückkam, ward im alten Großvaterhause heimisch, bis der Schwamm das Gemäuer unterwühlte und ein neuer Bau im Zeitgeschmack die ländliche Einfachheit notgedrungen in die Flucht schlug. Nur der schlichte Anbau blieb und steht noch heute in seinem Efeumantel. Damals wurde er Tante Minens Reich.

Was sie ihrem greisen Vater gewesen war, ahnten wir dummen Kinder kaum von fern, als er, – ihr ganz besonders –, starb. An ihrer weichmütigen Unruhe im vereinsamten Hause merkten es die Nachdenklichen unter uns, und nahmen sich ernstlich vor, sie nicht mehr zu ärgern. Denn ihnen dämmerte nach und nach der Urgrund ihrer spürenden Ueberwachung unseres kindischen Treibens und Sündigens. Großvater hatte sein Lebenlang immer an andre gedacht und selten an sich –, und nun wollte seine Tochter einzig für ihn sorgen und denken, zum Dank, solange er bei ihr blieb, nach Gottes Beschluß. Wenn die Geschwister ihr mit Sorgen und Kümmernissen gekommen waren, hatte sie stets gesagt: »ich bitte euch; – quält Vater nicht damit,« und uns Kindern, wenn wir's allzubunt trieben: »lärmt nicht; Großpapa kann das nicht haben,« oder: »Großpapas Blumen sind nicht für euch da und die Sauerkirschen erst recht nicht. Wartet nur; das will ich euch schon eintrichtern!« – und sanft trichterte sie nicht, wie wir Smidtskinder alle noch wissen, so alt wir geworden sind!

*

Als im Spätherbst 1857 unser frisch umgegrabener Senatorsgarten bar und bloß unter dem blaßblauen Himmel lag und der Gärtner die Linien der abgepflöckten Beete und die Riesenbohne des zukünftigen Grasplatzes mit dem Harkenstiele nachzog, standen die Eltern am Kleeblattbeet vor dem Hause und ich führte mein kleines Brüderchen spazieren. Da sah ich, wie meine Mutter einen alten Brief in Großvaters enger Schrift meinem Vater vorlas und ihn wieder in die Tasche steckte; – mit einem so schmerzlichen Gesichte; – »komm, komm, Hannchen,« sagte Vater, hakte sie ein und sie gingen anders herum durch den kahlen Garten. Nun spielten wir zwei Kinder »Begegnen« mit ihnen. –

Später habe ich von meiner Mutter den Brief geerbt, und sein Schluß steht als Motto des vierten Teiles in diesem Buche. – –

Wir Kinder waren ob der trennenden Hecken und Pforten sehr unglücklich und konnten die Tuffsteingrotte mit dem mageren Springbrünnchen nicht ausstehen. Zwar wurden die Pforten nach vierundzwanzig Stunden wieder ausgehoben und entfernt; ein Ganzes schien es von neuem zu sein, und dennoch: unser seliges Jugendparadies lag mit Großvater im Grabe. Zwei haben seine persönliche Erbschaft für uns Enkel und Urenkel verwaltet: Tänti und Tante Mine.

Unser Tänti ist 1877, zweiundneunzigjährig, ihrem alten Freunde und Vetter gefolgt und Tante Mine im vergangenen Winter. Noch zwei Jahre und sie hätte ihre Hundert erreicht gehabt. Nun steht das Anbauhäuschen im Efeumantel, mit Großvaters Bildnis in die Wand gefügt, leer und verschlossen. Lange wußte man nicht, was aus ihm werden würde. Nun soll ich in den schönen, teuren Räumen für meinen Lebensabend heimisch werden. Neben dankbarer Freude steht in meinem Herzen der Vorsatz, dies Heiligtum unserer Familie treulich zu verwalten, solange es mir noch beschieden ist. –

Möchte noch lange zurückleuchten, was einst leuchtend niedergesunken ist. –

Mit unserer lieben Alten ist uns die ganze alte Zeit tot. – Ich habe versucht, sie für die Gegenwärtigen und Künftigen noch einmal zu erwecken und mit ihr den »alten Smidt«, der für uns Bremer in ihrem Mittelpunkte stand.

– Und nun trete ich zurück. Das letzte Wort soll noch einmal Otto Gildemeister sprechen; denn treuer, wärmer als er könnte niemand dies segensreiche und reich gesegnete Bürgerleben unseres Großvaters zum Buchschluß zusammenfassen. –

... »Daß wir auf den neuen Boden übertreten konnten, in rüstiger Gesundheit und Kraft, nicht als verkümmerte Reliquien, sondern als lebendige Glieder am Leibe unseres Volkes, daß Lübeck, Bremen und Hamburg auch in der Städtekrone des Reichs als glänzende Edelsteine leuchten, heller als die meisten Fürstensitze, das wäre doch wohl nicht geschehen, wenn am Steuer des gebrechlichen Schiffs, in den Stürmen und in dem bösen Fahrwasser der Napoleonischen Periode und der Restaurationszeit, ein minder trefflicher Pilot gestanden hätte, minder scharfen Blicks, minder fester Hand und minder treuen Herzens, ... wer will ausrechnen, was, über unser Weichbild hinaus, was für Deutschland dieses Mannes Wirksamkeit werth gewesen ist? Das läßt sich nicht mit der Elle messen und nicht mit der Wage wägen. – ...

Wie dem auch sei, die liebevolle Verehrung, welche Smidt im Leben und über das Grab hinaus bei seinen Mitbürgern gefunden hat, ist nicht das Facit einer bloßen Berechnung; sie ist nicht einmal vorzugsweise die Frucht der Dankbarkeit, sondern sie ist erwachsen an dem Wesen und der Trefflichkeit des Mannes. Die Menschen vergessen leicht die empfangene Wohlthat, sie verehren nicht die bloße Geistesschärfe und Geschicklichkeit; sie errichten nicht freiwillig der herzlosen Klugheit marmorne Standbilder. Und namentlich widmen die Menschen ihr nicht, wenn sie selbst erloschen, todt und begraben ist, eine Säcularfeier. Solches Gedächtniß wird nur dem Guten und Gerechten zu Theil. Freilich, um die Aufmerksamkeit zu fesseln, die Bewunderung zu entzünden, bedarf es seltener und glänzender Geistesgaben und großer Erfolge; aber nur das lautere Gemüth und das warme Herz erwirbt jene edlere Popularität, die den Tod überlebt. Nur von dem Gerechten sagt die Schrift, daß sein Andenken im Segen bleibe, und nur dem guten Bürger reichte einst Rom den Eichenkranz.

In solchen ehren wir unsre eignen Ideale. Und so ehren wir heute nicht den gewandten Staatsmann, den kundigen Piloten, den weisen Hafengründer – alles das ist nur das Piedestal für die Statue, – sondern wir ehren den guten Bürger, die nimmer ermüdende, nimmer verzagende Liebe seines Herzens zu dem Gemeinwesen; die volle, leidenschaftliche Hingabe an ein Allgemeines, Ueberpersönliches, die eine Tugend, von welcher wir wissen, auch wenn wir sie nicht üben, sie ist das Beste auf Erden! Das Beste in Kunst und Wissenschaft, im hülfreichen Streben der Menschenliebe, im Dienste der Kultur, und wahrlich, vor allem auch im Staate, in der Politik. Zu leben, nicht für sich, sondern für ein Höheres, das Ich Ueberragendes, das ist das Ideal, das Heil der Staaten und Völker; selten verwirklicht, aber nie genug zu preisen, wenn es einmal als lebendiges Beispiel zu uns tritt. In reiner Vollkommenheit es darzustellen, wird keinem gelingen: Gebrechen und Mängel haften dem Besten an. Aber von ihnen brauchen wir nicht zu reden: daß sie machtlos sind, das Bild des Gefeierten dauernd zu trüben, das ist hoher Ruhm.

Sechzig Jahre lang stand dieser Mann, in oft höchst schwierigen, ja verzweifelten Zeitläufen, an hervorragender Stelle, den Blicken aller ausgesetzt, von der Eifersucht und der Verkleinerungssucht bewacht; aber nicht Eifersucht, nicht Verkleinerungssucht konnten dem Lobe widersprechen; daß in den sechzig Jahren kein Tag gewesen, wo dieser Mann mehr an sich und sein Wohl gedacht hätte, als an das gemeine Beste; kein Tag, der nicht uneigennützigem Bürgerdienste geweiht war. – Wo sind heute die Dissonanzen, die im irdischen Dasein ihm nicht erspart bleiben konnten? Wer gedenkt heute der Schwächen und Einseitigkeiten, die dem Lebenden als unsres Fleisches Erbteil mitgegeben waren? Vor unserm Auge steht das verklärte Bild, wie die Kunst es geschaffen, die wohlverdiente Bürgerkrone in der Hand, entrückt den zufälligen Mängeln der Zeitlichkeit. Vor unserm Ohre lösen sich die vergänglichen Dissonanzen und dem Gedächtnisse des Gerechten ertönt auch heute wieder jener uralte Accord, den vor zwei Jahrtausenden der Dichter zum Ruhme echter Bürgergröße anstimmte; der Hymnus, an welchem die Jahrhunderte nichts verändern, der Preis des wahren Patrioten, ausharrend und treu, derselbe in Glück und Unglück: »rechtschaffenen Wandels, rein von Frevel, – – integer vitae, scelerisque purus!«

Ende.

Bremen 1913.
Bernhardine Schulze-Smidt.


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