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Im Juni 1796 starb der dreiundachtzigjährige Vater des dreiundzwanzigjährigen Sohnes.
Johann war ein sehr guter Sohn gewesen, und sehr bitter vermißte er seinen ehrwürdigen Ratgeber, so ernst und nüchtern sich die väterliche Liebe auch gegeben hatte. Das Pfarrhaus am Stephanikirchhof mußte, nach Ablauf der Witwenfrist, geräumt werden; Trinchen war durch ihre Ehe so innig beglückt, daß Bruder Johann wahrlich gegen die Eifersucht auf den Schwager zu kämpfen hatte. Die Schwerblütigkeit der Mutter nahm zu in der Witwentrauer, und sie zitterte nun um den einzigen Sohn. Der wurde ebenfalls von einem Schwall neuer Befürchtungen zu Boden gedrückt. Neue und dennoch die alten. – Die Zukunftssorge, weil er das pflichttreu aufgerichtete Gebäude der christlichen Wissenschaft langsam in sich abbröckeln fühlte; Gesundheitssorge, weil er wieder einmal glaubte, die Vorboten der Schwindsucht zu erkennen und daneben die der Erblindung. In der Dresdener Gemäldegalerie hatte er sich, durch den Gebrauch viel zu starker Augengläser eine beängstigende Sehschwäche zugezogen. Die Jugend betreibt allzugern Schwarzmalerei.
Zu alledem enttäuschte und beklemmte ihn sein altes Bremen im nordwestdeutschen Seewinkel nach der Jenenser Ungebundenheit und fieberischen Regsamkeit der Geister. In Bremen ging und kroch die kleine Welt im hergebrachten Schlendrian herrischen Selbstbewußtseins und phlegmatischer Spießbürgerei, einen Tag wie den andren. – Es war um aus der Haut zu fahren, meinte Smidt. Seinen Freund und künftigen Amtsbruder Stoltz fand er in aufregenden Richtungsstreitigkeiten befangen und für den Augenblick seinen verschiedenen Nöten wenig zugänglich; alle sonstige Stubengelehrsamkeit dünkte der jugendlichen Lebensungeduld dürres Holz, in engen Räumen aufgestapelt.
Er half sich, wie er konnte, gegen den Ingrimm und Unfrieden in seiner Brust. Hier und dort amtierte er wieder als Hülfsprediger, und gab Unterricht, um nicht verdienstlos in den beschränkteren Verhältnissen zu stehen. In der Freizeit dichtete er an seinen Hexametern und formte sie, mit dem kräftigen Pentameter verschwistert, zu Xenien und streitbaren Epigrammen: Antwortpfeile auf Schillers und Goethes spöttische Angriffe im »Neuen Musenalmanach für das Jahr 1797«. Was brauchte Schiller zu reizen und die Weser sprechen zu lassen:
»Leider von mir ist gar nichts zu sagen; auch zu dem kleinsten
Epigramme, bedenkt, geb' ich der Muse nicht Stoff. –«
Der Heimatsstolz stand mächtig wieder auf in der unfriedlichen Seele, und lockerte ihre Last; durch die dumpfige Lebenslust strich ein frischer Wind und fegte das dürre Holz und die trockne Spreu hinweg.
Nachdem Smidt vier geistreiche und merkwürdig reife Vorlesungen über die Jesuiten niedergeschrieben, wahrscheinlich auch gehalten hatte, trat er in einen größeren Freundeskreis ein, der sein Rücksehnen in die Freiheit von Jena zu stillen anfing. In Bremen schloß sich eine literarische Gesellschaft zusammen; ein wenig nach dem Vorbilde des Jenenser »Bundes der freien Männer.« Es war eine glückliche Gründung zu rechter Zeit; die besten, gelehrten Elemente fanden einander, lauter feingebildete Leute, und Smidt ward als eines der jüngsten Mitglieder erwählt. Man begann schon aufmerksam auf seine ganz außergewöhnliche Begabung und rasche Aneignung der Zeitverhältnisse zu werden. Ein kluger, heitrer Ton beherrschte die Sitzungen, und von Smidts Wesen wich der letzte Druck: er lebte wieder.
Jedoch das freundliche Geschick meinte es noch viel besser mit ihm: es sandte ihm die Liebe.
Bei'm Sonnenapotheker Rohde gewann die zweite der vier Töchter sein Herz ganz und gar; seine »Mine«, in der zarten Jugendanmut ihrer neunzehn Jahre. Er hat sie ihr Lebenlang über alles geliebt und sein Dasein und Denken schloß er so völlig um ihres herum, wie es Simon Dach einst von seiner »Anke von Tharau« gesungen hat. Genau wie diese ihrem Simon, war Mine Rohde unsers Großvaters »Licht und Sonn'«. – Vorläufig mußte der Brautstand noch geheim gehalten werden, aber er beschwingte den Glücklichen, der bis jetzt nur »gelebt« hatte. Nun besaß er das verstehende Herz, die kluge, lerneifrige Gefährtin für seine reichen Kenntnisse, seine hohen Pläne; die anschmiegende Besänftigerin seiner Zweifel, begnadet mit einem Herzenstakte, der seinesgleichen suchte.
Er sagte sich, daß er nun zwiefach streben, sich innerlich noch immer mehr bereichern müsse für solch eine holde Geliebte. Was konnte ihr und ihm ein halbes Trennungsjahr ausmachen, wenn er sich draußen in der weiten Welt gesunde Augen zurückholte, und daheim in Bremen die unwandelbare Treue seiner harrend wußte?
Deswegen beherzigte er Freund Stoltzens dringenden Rat und begab sich im Frühling 1797 mit zwei Gefährten auf die Reise in die Schweiz und bis nach Oberitalien hinunter. Er dehnte seine Fahrten auf fünf Monate aus. – Seine Augen gesundeten von selbst; seine Brust dehnte und kräftigte sich im Höhenwandern und der würzigen Luft der sonnigen Täler. Er entzückte sich am Grün der Matten und am schimmernden Blau der Bergseen. Seine Blicke schauten die Majestät der Gipfel in des ewigen Schnees reiner Hülle und die Grate, über Abstürzen und unermessenen Gründen ziehend. Oft wohl, wenn er in stummer Schwermut zu stehen schien und emporforschte, mag sein denkender Geist ihm den eigenen Gipfelpfad gezeigt haben, den er erstrebte; Gefahr und Verantwortung, gleich den Graten, schmal wie Messers Schneide, die dunklen Zukunftstiefen rechts und links vom tastenden Schritte. – Die elegischen Verse von jener herrlichen Reise sagen uns andeutend davon. – An jedem wundervollen Sommerabende aber dachte er, angesichts der Gletscher im Alpenglühen oder Silberglanz des Mondes, an seine ferne Geliebte und seine Schwester. –
Er genoß nicht nur; er schloß auch viele neue Freundschaften, lernte und studierte. In Basel hatte er die französische Revolution beängstigend über den Gemütern wetterleuchten sehen. Freilich hielt das Stadtoberhaupt den Kopf noch hoch und gab dem wissenseifrigen Bremer Gaste einen politischen Rat, den dieser in seinen Gedanken hin und her erwog und dann in's Fach seiner Weltklugheit legte, zu gelegener Verwendung: »wir haben uns immer ein wenig größer gemacht, als wir waren, und haben uns sehr gut dabei gestanden.« – Eingehend versenkte er sich in die Zusammensetzung des bündischen Staatskörpers und spürte den offenen und verdeckten Zöpfen des eidgenössischen Patriziats nach. Wie sehr ihn grade jenes patrizische Zopfsystem in hundert Einzelheiten an das Perrückenregiment im lieben Bremen erinnerte! Er verglich die freien Schweizer mit seinen freistädtischen Bremern und maß die heimischen Bürger und Bauern in Gedanken und Gesprächen am Volk der Alpen, das einen Wilhelm Teil aus seiner Mitte geboren hatte, und auf dem Rütli den Treuschwur wider Tyrannei und Knechtung getan und gehalten. –
Alles dies, was vor Jahrhunderten geschehen, ward ja wieder lebendig in der Gegenwart und rief zu Heldentaten auf. Damals war Geßler, der Landvogt, des Volks Unterdrücker; jetzt drohte der korsische Emporkömmling Bonaparte. Er, an dessen Fersen sich der Sieg heftete, der nur vier Lebensjahre vor Johann Smidt voraushatte. – Der war freilich kein Emporkömmling, aber nur erst ein Anfänger und bislang lediglich ein geheimer Freiwilliger der Staatskunst.
Er schwelgte in der südlichen Schönheit Oberitaliens, wo der beginnende Herbst noch heiße Sommerpracht über die Landschaft rings um himmelsfarbene Seen ausschüttete, und dabei häufte sich der Denkstoff in seinem regen Geiste unheimlich und drängte vorwärts zur Verarbeitung. –
Als er dann, gegen den Reiseschluß hin, in Mailand eben auf dem Wege zur Gemäldesammlung der Brera war, kreuzte ein jugendliches und auffallendes Paar seine Straße. – Der Mann war klein von Gestalt und großköpfig mit klassischen, bräunlichbleichen Zügen unter verwirrten, dunklen Haaren von stumpfer Färbung. In seinen kalten, hellen Augen brannte doch ein düstres Feuer verhalten; er verkniff die schmalen Lippen hochmütig. Hochmütig grüßte er auch einen Vorübergehenden. Seine Begleiterin überragte ihn; sie reckte sich auf und musterte die Umwelt aus großen, flammenden Augen. Kaum waren die beiden vorbei, so erfuhr Smidt, daß er den Korsen, Napoleon Bonaparte und seine junge Gemahlin, Josephine Beauharnais, gesehen hatte. –
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Anfang September hielt er in Zürich – wieder auf Freund Stoltzens Anregung, – sein Prüfungsgespräch und darauf seine Probepredigt über Vers 36 im 8ten Kapitel des Johannisevangeliums: »So euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei.« Auf seine »fürtrefflichen Kenntnisse«, seine anziehende und »höchst faßliche« Vortragsart hin, ward er dann zum Prediger bestätigt und eingesegnet. Seltsam genug: trotz erworbenen Titels und der Amtsberechtigung hatte der Aufenthalt in Zwingli's reformatorischem Arbeitsfelde vor mehr als zweihundert Jahren, seine Abkehr vom geistlichen Stande aus schwankenden Empfindungen zur Tatsache gemacht.
Wohl kehrte er als »Herr Prediger Smidt« nach Bremen zurück, aber er war entschlossen, keinen Gebrauch von seiner jungen Würde zu machen. Trotz der kärglichen Besoldung von hundert Talern Gold jährlich und des geringen Besuchs der niedergehenden Lehranstalt nahm er beglückt die Professur der Philosophie am Gymnasium illustris an. Er hatte seinen Schülern nicht mehr wie drei Stunden wöchentlich zu lesen, und vor ihm lag ein Ueberfluß an Freizeit, um darin größeren Zielen entgegen zu streben. »Für mein Bremen und mein Vaterland.« – Vom Anfang bis zum Ende seiner Laufbahn war und blieb es seine Besonderheit, daß die politischen Fäden, die sein nimmermüder Geist anspann, weiterzwirnte und zum Fangnetz für fernerliegende Machenschaften webte, die seinem Heimatsstaate nützlich sein konnten, stets von diesem ausgingen und zu ihm zurückleiteten.
Diese Besonderheit war es eben, die ihn schon im ersten Mannesalter zum Schicksalsträger des bremischen Freistaates stempelte, über eine beträchtliche Anzahl älterer und erfahrerner Kollegen hinweg.
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Vor der Hand lebte er mit Eifer seinen Schülern. Aus dem Reichtum seiner »Wissenschaft der Wissenschaften« lehrte er sie vor allen Dingen die Quellen der Wahrheit zu finden und aus ihnen Kraft und Weisheit zu schöpfen. Gar mancher hat sein edles Lehrerwort mit in's harte Leben jener Zeiten hinausgetragen aus der Schulenge:
»Niemals will ich euch verhehlen, was ich im weiten Gebiet unserer herrlichen Wissenschaft errungen habe. Kein Ansehen der Vorzeit oder der Lehrer wird mich je abhalten, der Wahrheit nachzuforschen und sie euch mitzuteilen. Denn nichts erachte ich für schimpflicher und des Wahrheitsfreundes unwürdiger, als den Schwur auf die Worte des Meisters.«
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«Selbständig denken, wie dein Großvater, Kind; kein Nachbeten und kein Nachtreten, mutig bei der Stange bleiben,« – – das hat Großvaters zweiter Sohn, mein lieber Vater, mir öfters vorgehalten, in den Anfängen meiner schriftstellerischen Laufbahn, wenn michs einmal gelüstete, um des Ruhmes oder des Mammons willen, aus meiner eignen Haut in eine fremde zu fahren. Dann las er mir wohl den schönen Satz von der Wahrheit vor, der in seiner zierlichen Prentelschrift eins seiner vielen Notizbüchelchen einleitete, und auch noch etwas andres, das ich mir abschrieb, wie jenes auch. Das waren Aphorismen, die Großvater ausgangs 1797 gedichtet hatte, als, beim Regierungsantritt Friedrich Wilhelms des Dritten in Preußen, das Ringen zwischen Licht und Dunkelheit der Religionsanschauungen chaotisch geworden war und des neuen Königs Duldungserlaß und Aufheben der geistlichen Prüfungskommission die Herzen unzähliger Theologen höher schlagen machte.
Hier sind die Aphorismen, die ich abschriftlich bewahrt habe, und wieder passen sie auch noch für das Heute:
»Nur in der Finsterniß leuchtet das Licht, und ohne dieselbe
Wäre kein Gegenstand da für die durchdringende Kraft.
Mit chaotischem Dunkel wird auch die späteste Nachwelt
Kämpfen, eben wie wir; Ruhe findet sie nicht.
Ob sie
glücklicher sei, heißt: ob ein kräftigers ›Werde‹!
Sie dem Lichte vielleicht zuzurufen vermag.
Sind wir darum ein Opfer, weil wir die künftige Ordnung
Sehen im Geiste voraus? – Wäre denn Blindheit ein Glück?
Schön ists, im Lichte zu wandeln; doch herrlicher, selber den Funken
Unter Mühen und Noth holen vom Himmel herab.
Hast du dir höheren Sinn für Wahrheit auf Erden gebildet,
Schafft sich die höhere Kraft sicher die höhere Welt.
Ist dirs auf Erden zu enge, bedrängt dich das stete Gewühle,
In idealischer Welt suche die Freistatt dir auf!
Ist das Gezanke der Fürsten, das Toben der Menge dir widrig,
Rufe den friedlichen Freund; mache das Haus dir zur Welt.
Leben soll Friederich Wilhelm! doch leben sollt' er noch höher,
Spräch' für die Zukunft er auch noch das vernünftige Wort:
»Was ihr glaubet,
das darf ein König nicht geben, nicht nehmen;
Jeder bete zu Gott, wie er's am besten versteht!«
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Um die nämliche Zeit schrieb er an seinen Studien- und Bundesfreund von Jena her, den Franzosen Perret, jetzt Bonapartes Sekretär in Rastatt, einen denkwürdigen Brief über den schweren Ernst der Zeitlage, und auch dieses Schriftstück kannte ich schon in jungen Jahren durch meinen Vater. Ich gebe hier nur den für des Schreibenden Eigenart wichtigen Teil in kurzer Zusammenfassung.
Smidt bat Perret, als seinen Freund, republikanischen Mitbürger und Weltbürger, er möge der Bündnisfreudigkeit ihrer Jenenser Studienzeit gedenken und bei Bonaparte auch für die Freiheit der Hansestädte und ihren, grade durch die Freiheit begründeten, Handelsflor nach Kräften wirken. Frankreich ziehe gleichfalls Nutzen daraus, durch die Ausfuhr französischer Erzeugnisse auf bremischen Schiffen. – »Vergiß es also nicht, Lieber, und nimm dich dieser Sache an, so sehr es deine Lage erlaubt. Wundre dich nicht darüber, daß ich dich darum bitte. Das ›nil volentibus arduum‹ »Kein Weg ist den Wollenden zu steil.« steht so gut in deinem Herzen, wie in dem meinigen. Daß die Republik nicht unterdrückt werde, kann dir nicht mehr am Herzen liegen, als mir die Freiheit meiner Vaterstadt, und du kannst gewiß so wenig wie ich Denjenigen schätzen, der, – bei einer Aufforderung, für Menschenwohl thätig zu sein, – erst die Köpfe zu zählen versucht und sich fragt, ob es auch der Mühe wohl werth sei.« –
Smidts große Vaterlandsliebe, vereint mit vorsichtiger und doch entschiedener Aussprache seiner Friedenspolitik liegt in diesem Briefe vereint und beweist, wie vollbewußt er schon damals seinen sicheren Fuß von Stufe zu Stufe setzte, hinauf zur hohen Warte, um von dort über das Wohl und Wehe seines teuren Heimatstaates zu wachen.
Für den Besitz des Rechtes sich in der bremischen Politik zu betätigen, verzichtete er auch auf die ihm zuständige Steuerfreiheit seines geringen Vermögens, das er durch zahlreiche Vortragscyclen und schriftstellerische Arbeiten zu mehren strebte. Besser doch seinen gesetzlichen »Schoß« zu entrichten und, frei von Gunst und Gnaden, sein Wort reden zu dürfen.
Die Bürgerschaft fing an ihn in ihre Kirchspielsversammlungen zu ziehen, und mit beharrlicher Sicherheit rückte er aus der Enge vorwärts in's breite Gelände öffentlicher und einflußreicher Wirksamkeit. – Der Senat wurde aufmerksam auf ihn. –
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Am ersten Januar 1798 führte er seine geliebte Mine heim.
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