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Smidts Briefe aus dem Winter und Frühling 1811 geben auffallend wenig Politik. Seine Schilderung der ersten Kaiseraudienz in den Tuilerien ist sehr nüchtern in ihrer Kleinmalerei des Saalgedränges und der pünktlichen Namensnennung aller Großwürdenträger des Bonaparteschen Hofstaates. Von der Erscheinung Bonapartes lediglich die genaue Beschreibung seiner Uniform; kein Vergleich mit dem, der als junger Ehemann und Werdender, dem Bremer Reisenden vor 14 Jahren zu Mailand über den Weg fuhr, kein Wort vom Eindrucke, den seine Persönlichkeit, seine Augen und kalten Mienen gemacht hatten. Einzig die schulmeisterlich lobende Bemerkung, daß er seine Antwort auf die Adresse der vereinten Hanseaten deutlich und überall vernehmbar abgelesen habe. Ebenso knapp die Erwähnung der zweiten Audienz in St. Cloud, an die jene, von Cuvier übermittelte Anekdote geknüpft wird, Smidts politische Gefährlichkeit kraft des Davoustschen Berichtes an den Kaiser betonend.
Die irdische Allmacht in Menschengestalt, die sich selbst ihre Kronen aufs Haupt gesetzt hatte, erschütterte den schlichten Bremer Bürger und standfesten Norddeutschen nach außen hin herzlich wenig. Innerlich haßte er ihn mit gutem Hasse, und der wuchs und wuchs während der, Gottlob, kurzen Zeit der Fremdherrschaft in unserem Bremen. – Er haßte den Thronräuber, aber er fürchtete ihn nicht, weil er keinen Glauben an seine Gestirne hegte. – Einmal – davon war und blieb er felsenfest überzeugt, mußte der Sternfall kommen, der Luzifersturz. Auf das Wunder des jähen Todes rechnete niemand. Durchs verängstigte Volk ging die Legende, daß der finstere Corse hieb- und schußfest sei, und die Gebildeten wußten, daß der geniale Epileptiker jene Körperzähigkeit besaß, die eiserner Wille und ununterbrochene Erfolgstrunkenheit bei den Höchstbegabten ihrer Art erzeugen können. – Smidt aber hörte niemals auf, dem deutschen Volke zu vertrauen. Er hoffte nicht nur; nein, er war dessen gewiß, daß es sich eines Tages erheben und seiner Waffen wieder Herr sein werde, geheilt und gesammelt von Zerbrochenheit und Zersplitterung. Was er in seinem kleinen Kreise wirken und voranbringen konnte, jenem seligen Ziele entgegen, bei Gott! an ihm sollte es nicht fehlen, daß er's tat! Sein Herz für den bremischen Freistaat: die enge Heimat; sein Leben für das deutsche Vaterland. –
Trotzdem die 1811er Briefe vielleicht unwichtige Blätter aus dem Buche der Weltgeschichte genannt werden mögen, habe ich doch ihren Verlauf mit besonderer Freude verfolgt und das, was meines Großvaters Sein und Wesen am klarsten wiederspiegelt, zur Zierde dieses Buches ausgewählt. Denn ich will in erster Linie den seltenen Menschen, den ganzen Mann an sich neuerstehen lassen, den Wegweiser für unser Epigonentum. Dem Politiker sein Recht werden zu lassen, dazu gehören spitzere Federn und gelehrte Köpfe, und ich muß die Weisheit der ungelehrten Frau üben, die sich auf Andeutungen beschränkt. – Das andre, wozu man keine Gelehrsamkeit nötig hat, werdet ihr mit mir erkennen: Smidts glücklichen Optimismus ohne jede Spur von Schönfärberei, sein starkes Gedächtnis für Freundschaft, seine unversiegbare Güte gegen die Geringen, Hilflosen und Alten; seinen Humor, den keine Plattheit entwürdigte, sein vollkommenes Sichfinden, aus staatsmännischer Klugheit, in die schwere Rolle des welschkaiserlichen Untertanen, ohne daß er auch nur ein Gran seiner deutschen Aufrichtigkeit dahingegeben hätte. Er verstand es, das Außergewöhnliche heiter als Alltägliches zu behandeln und aufs wirksamste auszunützen für seine heimische Politik und die nach außen in weitem Kreise gehende.
Vor allem spricht der Gatte und Vater in herzbewegenden Tönen aus diesen Briefen. Das unbegrenzte und unerschütterliche Vertrauen zu seiner »süßen Mine«, deren Kräfte und Gedanken sich teilen mußten für die große Sache des Vaterlandes, des fernen Gatten heimische Verwaltungsarbeiten und die Sorge um Haus, Garten und Verwandtschaft. So ganz nahm das alles sie hin, daß sie wahrlich oft nicht wußte, wie sie seine Erziehungswünsche an ihren fünf Kindern erfüllen könne. – Oft hat mein Vater mir, sechzig Jahre später, gesagt, als mein eigner Mann gegen den dritten Napoleon im Felde stand und ich an meinen ersten, kleinen Erziehungsversuchen tiftelte: »Mutter liebe haben wir allezeit in Hülle und Fülle gehabt, aber erziehen mußten wir Kinder uns selbst untereinander. Dazu hatte Mutter keine Zeit; immer verlangte Vater, daß sie ganz und gar für ihn dasein sollte. –
Von seinem Umgang mit der kleinen Schar, seinem Kindsein mit ihnen, reden seine meisten Briefe an Frau Mine oder an die Kinder selbst. Wie hat mich schon in frühen Jugendtagen der Hamburger Schaukelpferdbrief vom März 1808 entzückt; wie emsig habe ich Geographie gelernt, wenn mein Vater uns, Sonntagabends, die erste Reise nach Paris vorlas mit Ohm Vollmers neben Großvater in der vierspännigen Kutsche und Gohle, dem Diener, auf dem Bock. Solch eine wundervolle, bedächtige Wagenreise, erfüllt von Naturbeobachtungen, Volksstudien, Abenteuern und Freundschaftsbesuchen, nebst netten Wirten, die gebratenen Puter auftrugen und Champagner kredenzten! – Die Hauptsache aber war der Ton, der die Musik macht, wie das Sprichwort sagt. Der traf mitten in unsere kleinen Herzen hinein: die warme Liebe, die Kinderfreude des echten Kinderfreundes; das unmerkbare Erziehen und Lehren. – Ein ganz einziger Großvater war er, so wie er ein einziger Vater gewesen sein muß. – – –
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Wohin gerate ich? Zwanzig Meilen voraus im Fluge! – –
Noch war Smidt erst ein jugendfrischer Dreißiger, heimgekehrt aus Paris von seiner ersten, diplomatischen Sendung. Paris: das unsern unfrei gewordenen Bremern jetzt auch die Haupt- und Kaiserstadt des eroberten Weltreiches und der Brennpunkt aller Interessen sein sollte. –
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Im Juli 1811, als die neue französische Verfassung eben anfing zur widerwärtigen Gewohnheit zu werden, belehnte der Kaiser seine gute Stadt Bremen mit ihrem frisch geschaffenen Wappen. Der angestammte, silberne Schlüssel war zum eisernen geworden, das purpurne Feld zum goldenen. Aus der Mauerkrone wuchs der Kaiseraar empor; goldne Bienen flügelten auf rotem Grunde. Allein die gute Stadt Bremen wußte das prunkvolle Wahrzeichen ihrer Unfreiheit nicht zu schätzen, und die französischen Adler, die überall aufgerichtet wurden, wo die welschen Behörden im Regiment saßen, waren den gedemütigten Patriziern, den steifnackigen Plebejern nichts als gemeines Raubzeug; das erweiterte Aussaugungssystem durch Steuern ohne Maß und Erpressungen ohne Scham brachte heimlichen Ingrimm und leidenschaftliche Traurigkeit. Die Feste an des Kaisers Glücks- und Ehrentagen wurden mit geballter Hand in der Tasche gefeiert, wenn auch äußerlich hie und da die Lust einmal überzuschäumen schien, weil eben die Menschheit menschlicher Schwäche niemals fremd bleibt. –
Ungeachtet seines Hin- und Hergrübelns und Schwankens während der Pariser Deputiertenperiode, verschmähte Smidt schließlich sich, wie so manche, andre Bremer um eines der höheren und verantwortlichen Aemter in französischen zu bemühen. Außerdem waren dieselben in seiner monatelangen Abwesenheit bereits vorweggenommen. Nun er mit eigenen Augen sah, wie alles in der Heimat stand und lief, war er zur unauffälligen Stellung des Notars entschlossen, die ihm sein anständiges Brot versprach und die Zeit dazu, mit wachen Blicken um sich zu schauen zum Besten Bremens. Er überließ Wichelhausen neidlos den Maire, Gondela den Vizepräsidenten des Tribunals erster Instanz, Pavenstedt den Präfekturrat bei'm Grafen Arberg und Syndikus Gröning den Sitz im gesetzgebenden Körper zu Paris. – Die Mehrzahl der Senatsglieder hatte sich aus dem öffentlichen Leben gänzlich zurückgezogen und hauste so gut oder so karg, wie es die unglücklichen Verhältnisse bedingten.
Smidt machte, sofort nach seiner Rückkehr, seine Bewerbungseingabe für das Notariat an den Staatsrat Faure in Hamburg und berief sich dabei auf das hohe Glück, das ihm seiner Mitbürger Liebe und Vertrauen durch zehn Dienstjahre geschenkt habe. In Paris hatte er sich – das fügte er hinzu – bereits eingehend über die Notariatsgeschäfte unterrichtet. Jedoch die erhoffte Anstellung verschob sich bis zum Septemberschluß 1811, und in seiner großen Arbeitsunruhe war er sehr dankbar dafür, daß Freund Wichelhausen, der jetzige Maire, ihn inzwischen die Geschäfte eines Municipalrats wahrnehmen ließ.
Dazu kam im August Cuvier nach Bremen zur Besichtigung des Schulwesens, und war so hochbefriedigt davon, daß er Smidt in seinem Scholarchenamte ließ und ihn damit betraute, auch die Interessen der geplanten Bremer Universität (die niemals gegründet ward) im Auge zu behalten. – Und so gab es Arbeit übergenug für Smidt neben dem Notariat. –
Diese seine Tätigkeit bot ihm keinerlei Anlässe sich hervorzutun, und das Amt des Scholarchen war von je und je seine Liebe gewesen. Aber seine scharfen Augen, sein heller Verstand gingen über die Alltagspflichten hinaus. Da und dort fand sich eine vertrauliche Aufgabe für seinen Takt und seine Diplomatie, wenn es galt an hoher Stelle Abhilfe gegen die Uebergriffe der Unterbeamten, die Gewalttaten des Militärs zu erreichen. Er verstand sich auch dazu, seine Vaterstadt auf großen Staatsfesten zur Verherrlichung des Kaisers zu vertreten, und wußte das in einer Weise zu tun, die seiner persönlichen Liebenswürdigkeit und Gewandtheit Freunde warb und dennoch so deutsch und aufrecht blieb, daß keiner ihn mit kriechendem Menschengewürm verwechseln konnte. Davon gab es, zur Schande Deutschlands, auch in Bremen eine ganze Anzahl unter den Mundpatrioten. –
Daß der aufrechte Mann, trotz seiner feinen Klugheit, bei den Mächtigen, namentlich bei Davoust, dauernd im Geruch der Verdächtigkeit stand; – ein Wunder war es nicht. Mehrfach hat Smidt ausgesprochen, daß jene Mißliebigkeit zu seinen höchsten Ehren gehört habe. Er war viel zu einsichtig, um irgend etwas anzetteln zu wollen, das auch nur flüchtig an Verschwörung hinstreifte; kaum daß er im vertrautesten Kreise sich über seine Erhebungshoffnungen aussprach oder an Gleichgesinnte, außerhalb Bremens, einen Brief in Geheimschrift abgehen ließ. Nur seine Mine wußte und kannte alles, was in seinem Herzen war, bis aufs Tittelchen über dem I.
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So schlichen die Knechtschaftsmonate dahin, und aus 1811 ward 1812. – Von Krieg und Frieden erfuhren die französisch gewordenen Städte im deutschen Nordwesten nur soviel, wie im Belieben des Kaisers und seiner Censoren lag; der Bücherrichter. Der russische Feldzug begann. Verkürzte und gefälschte Kriegsberichte standen in den Zeitungen, deren erste Spalte stets französisch und die zweite deutsch gedruckt wurde. Die Polizei erließ strenges Verbot: über Politik durfte, bei Kerkerstrafe, weder öffentlich noch unter Dach und Fach geredet werden. Die Spionage blühte als üppiges Giftpflanzenbeet. – Ende Februar hatte Preußen ein neues Bündnis mit Frankreich schließen müssen, und als der Sommer gekommen war, gingen die ersten, scheuen Andeutungen durch Länder und Städte, daß die Sonne von Austerlitz zu verblassen beginne und zum Niedergang sinke.
»Der Kaiser erfreut sich des trefflichsten Wohlseins; die Armee ist von unvergleichlicher Tapferkeit«, so lautete zwar noch immer der Kehrreim aller offiziellen Nachrichten, aber das »Lüge! Lüge!« ward schon heimlich von Ohr zu Ohr geflüstert und diese oder jene unvorsichtige Stimme rief es wohl gar kecklich in die Welt hinaus, ohne daß die Bedächtigen ihr trauen mochten.
Dann hieß es urplötzlich, als der erste Herbstwind durch die bunten Bäume pfiff: »Moskau brennt!« Durch ganz Deutschland bebte der Schreck, die hoffende Aufregung, der Schmerz um Söhne und Brüder da draußen in »der großen Steppe«; und der Wintergraus vor der Tür! Schaurige Einzelheiten, undenkbare Verlustziffern fanden sich, spielerischen und prahlerischen Tones, in die »Bulletins« eingeflochten, und als der Schrei des Grausens, ob des furchtbaren Beresinaüberganges am 26. und 27. November zur Adventszeit über alle Christfreude hinweghallte, stand abermals am Schlusse des tragischsten aller Berichte: »Die Gesundheit des Kaisers ist niemals besser gewesen.« – – – – – – – –
Da sank endlich die Sonne von Austerlitz tief und tiefer hinter den Sichtkreis, und die schweigende Nacht der Ungewißheit legte sich auf die Welt. Aber in dieser schweigenden Finsternis begannen die gelähmten Glieder der gefesselten Kaisersklaven sich zu recken und zu straffen, und die gebundenen Hände streiften allmählich die schnürenden Stricke von sich und tasteten nach dem Schwerte im Winkel.
– – Und als sie's hervorgeholt und blankgerieben hatten von Rost und Staub und seine Scharten ausgeschliffen zu schneidender Schärfe, da brach der blutrote, neue Morgen an. Eine andre Sonne stieg herauf: Die Befreiung tagte. –
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