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Was heutige Städte so selten dem spontanen Empfinden bieten, was Stadtbeschreibungen, vor allem die Theorien, oft übersehen, Prag spendet es schon dem flüchtigsten Besucher: den tiefen Atem des groß gerhythmeten Raumes. Ob man von hoher Sicht aus das Stadtgelände überschaut, ob man durch enge und winklige Gassen sich durchschiebt, ob man sich längs des Stromes und über die Brücken treiben läßt oder ob man auf weitem Platz die Körperwucht des Stadtleibs deutlicher als Gegenüber spürt –; allüberall greift dies Räumliche tief in unser Empfinden, läßt es aufschwingen, hebt es über sich selbst hinaus.
Solche Räumigkeit im eigentlichen Sinne hat nichts oder doch nur wenig mit Großräumigkeit zu tun. Wohl gönnte das mittelalterliche Prag sich Plätze von größtem Ausmaß –; wir werden noch davon zu reden haben –;, auch schafft der Strom durch Breite und Kurve viel Raum inmitten des Stadtbildes, und die aufgehende Steilwand des Hradschin mag manchen als monumentaler Raumfänger begeistern. Dies alles bleibt nur Raum als ausgedehnte Örtlichkeit oder –; schon eindringlicher –; als ausgespartes Negativ von Körpern, schafft nirgend Räumigkeit in jenem durchwaltenden Sinn, den man noch im engsten Gewinkel Prags, im Durchschnittsausmaß der Gassen und Straßen, das meist sehr eng bleibt, aufnimmt. Solche Räumigkeit haftet nicht an bestimmten Gebilden, läßt sich nicht fassen als diese oder jene Eigentümlichkeit der Topographie, der Bauten, der Grundform, Sie ist Fluidum, das all jene greifbaren Gegebenheiten durchströmt und durchatmet und, obwohl durch sie bedingt, sie doch erst schafft. Sie ist geheimnisvolle Energie, die lockt und treibt, ist Aufruf eines menschlichen Empfindens, das latent alles Vorstellen ermöglicht, zu gesteigerter Wirkungskraft. Wer hätte diese so merkwürdig gesteigerte Aktivität nicht gespürt, der je offenen Sinnes durch Prager Gassen ging!
Wir wollen versuchen, das Besondere dieser Prager Räumigkeit näher uns zu klären. Ist es das Gekurvte der Gassen, der Straßen, ist es die Buchtung, dann wieder der breite Fluß der Plätze, sind es Kirchen, die hinter Häuserzeilen trutzig, fast erschreckend aufstehen, ist es das Kleinwerk der Giebel, der Ornamente, der gigantenbesetzten Portale? Oder liegt es am Gesamt des Stadtgefüges: an der Dreiheit der Städte, deren Gegeneinander das Empfinden erregt, an der reich gegliederten Lage zu Seiten des Stromes, der Bewegung schaffend zwischen Hügeln den Bogen zieht, am Auf und Nieder des Geländes, das so vielfachen Wechsel des Lichtes über der Stadt erzeugt? Nicht dies oder jenes –; ihr merkwürdiges Zueinander ist das Bestimmende. Hier lagert nicht gewordener oder gestalteter Raum in großen abgeklärten Fügungen –; hier schafft sich Raum vor unsern Augen, hier wächst er mit jedem unserer Schritte in eine eigentümliche Spannung hinein. Nicht Raumfiguren erwarten uns hier –; ein Raumgeschehen wächst uns in Prag entgegen. Dies spannungsvolle Geschehen, das sich zu großen Atemzügen weitet, packt uns an, macht uns zu Mitspielern in leiblichem Sinn, zwingt uns zu persönlichster Stellungnahme. Wie anders ruft Prag unser persönliches Bekenntnis auf als jene Städte des Westens, die in klarer Raumruhe geborgen die unpersönliche Betrachtung gönnen.
Andere Städte! Rufen wir als geklärtestes Beispiel Paris an. Auch in Paris wird Raum erlebt, doch nicht mit solcher Eindringlichkeit wie in Prag. Er tritt hinter der ihn schaffenden Körperform fast zurück, um erst zuletzt doch wieder den Eindruck zu bestimmen. Man spürt: hier sind Räume gestaltet, sind gegeneinander ausgewogen und in ruhende Beziehungen zueinander gesetzt durch die prächtig gezogenen Achsensysteme festlicher Straßen. Diese Stadt lebt aus den formalen Entsprechungen ihrer linearen Perspektiven. Das alles trägt sein Gesetz in sich und dauert: ein Gebilde, das einmal Gestalt fand und das sie hält. Wer dort sich ergeht, der nimmt sie an wie ein Geschenk, das man bewundert, dem man sich fügt. Man liest das Bild ab, ohne doch in ein Drama gerissen zu werden, in dem man mitspielt. Man spürt voll Dank das Außersich, in das man sich hineinbilden darf und das doch ohne Zwang den einzelnen in sich beläßt. Das Geheimnis Paris und seine beglückend offene Wohligkeit haben hier ihre Gründe.
Wir finden nach Prag zurück über den Gedanken, daß hier und dort zwei grundsätzlich verschiedene Weisen der Raumbildung zu Stadtwirklichkeiten geworden sind. Raum als Lagebeziehung von Körpern faßt beide Möglichkeiten in sich. Wo dort flächige Raumbegrenzung die Figuren sichert, da springen hier in Prag vorstoßende Körpermassen gegeneinander an, schaffen zwischen sich Raumspannungen von größter Wirkung. Wo in Paris alles Körpergefüge in großen Entsprechungen sich reiht oder sondert, um in stereometrisch klaren Raumgebilden, in ihrer Schichtung oder Gliederung stets die Gesetze der Symmetrie zu deuten, darin die räumliche Gesamtfigur zu klären –; da steigern sich hier die körperlichen Gefüge aneinander und gegeneinander empor, Kontrastbeziehungen werden geschaffen, welche die Raumfigur zerhacken, ins Gleiten bringen. Assonanzen und Dissonanzen im Körperlichen werden gesucht, werden hinaufgetrieben bis zu dem einen alles überragenden Akzent, von dem aus nun in freien Rhythmen die Raumbildung zurückschlägt. Ja, Rhythmus ist hier am Werk, wo dort Symmetrie schafft. Drum wird, wer Organ für Raumgestaltung hat, hier musikalisch empfinden, wo er dort bildhaft die Empfindungen sich klärt.
Wir erinnern an das, was wir schon im einleitenden »Bild« vom Gegenüber Hradschin-Altstadt sagten. Daraus springt der Quell alles Raumlebens dieser Stadt. Der Hang des Hradschin allein vermöchte nur Raum zu stauen. Der Strom ihm zu Füßen, der Domturm darüber würde diese Raumbucht eindrucksvoll vertiefen. Aber erst das Gegenüber der Altstadt, als Aufrichtung des Gegenpols, entfacht die Spannung. Nun hebt die Bewegung an, die von hier aus vor und zurück das ganze Stadtgelände durchzieht. Die Brücke bekommt in diesem Zusammenhang die wichtige räumliche Funktion des Spannungsleiters zwischen den Polen. Daß sie zu der Grundachse Hradschin-Altstadtkern schräg steht, bringt eine neue Spannung zu der ersten. Wie mußte sie wirken, als sie noch ganz allein den Strom überquerte! Jetzt tragen die Schwesterbrücken stromauf- und -abwärts mit an dieser Aufgabe. Daß aber diese Brücken nicht parallel laufen, sondern entsprechend der Strombiegung divergieren, schafft in seiner Weise einen gewissen Ersatz für die Spannungsverwässerung durch die Wiederholung. Diese Reihe der Brücken wirkt wie eine Projektion der in der Höhe treibenden Spannung auf die Grundebene (Abb. 3).
Wie vermag diese Raumspannung nun einzudringen in den Gesamtleib des Stadtgebildes? Wo der Barock seine architektonischen Kerngewichte auf große Stadträume wirken lassen wollte, zog er herrisch die gewaltigen Achsensysteme, in denen er den Raumweg dem Auge klärte. So in Rom, in Paris, in Kassel, in vielen andern Herrscherstädten. Von dem einen Fixpunkt aus stoßen die Achsen vor, parallel oder radial. Die Stadt muß sich fügen in das System, sie wird zur Figur.
Ganz anders in Prag. Nicht rational wird die Spannung übertragen –; höchst irrationale Momente treten auf. Hinter dem Altstadtblock nimmt die Neustadt in divergierenden Plätzen den Raumdrang auf, zersplittert ihn gleichsam, läßt ihn ausbranden an den Höhen ringsum. Hinter dem Hradschin saugt der architektonische Schwerpunkt, das Kloster Strahow, die Raumbewegung in die Kurve, bewirkt Brechungen der Grundachse, die das Hin und Wider verstärken. In solchem gegen Ost und West erweiterten Kraftfeld sorgen dann körperliche Betonungen: hohe Kirchenschiffe, Türme, Kuppeln für das Weitertreiben der Bewegung, für ihre Einführung in das Detail.
Dabei entstehen dann im ganzen Stadtraum Abwandlungen des Grundthemas: das Gegenüber Hradschin-Altstadt kehrt wie Echo überall wieder. Auf dem Altstädter Ring ist es das Gegenüber: Teynkirche-Rathaus. Heute läßt der schwerverwundete Platz die ursprüngliche Raumstimmung nur mehr in Andeutungen aufklingen. Man hat ihm die Nordwestwand ausgebrochen. Seine räumlichen Gewichte wurden durch das ungestalte Hus-Denkmal unrettbar verschoben. Ursprünglich schuf auch hier das Gegenüber der körperlichen Schwerpunkte jene Bewegtheit, die an der Moldau so volltönend angeschlagen ist. Auch der Karlsplatz nahm ehedem das Thema auf: der Neustädter Rathausturm hatte sein Gegenüber in der Fronleichnamskapelle, die bis ins 18. Jahrhundert den weiten, noch nicht durch »Anlagen« entkräfteten Platz aktivierte. Um 1700 war dieses Motiv sogar noch einmal unterteilt: gegenüber der Fronleichnamskapelle entstand damals die Ignatiuskirche, ein zweites Gegenüber, das dem ursprünglichen gerade durch die Brechung eine (barocke) Steigerung brachte. Damals lebte Raum dort, wo heute trotz aller Bäume und Beete flaue Leere gähnt. Wir können die Beispiele von Abwandlungen dieses Grundthemas beliebig vermehren: Heinrichskirche-Heinrichsturm, Peterskirche-Petersturm, Altstädter Brückenturm-Wasserturm, auf der Kleinseite: Niklaskuppel-Niklasturm-Thomasturm, Czernin-Loretto, Strahow-Rochuskapelle. Ja sogar das Gegenüber des Belvedereschlosses zum Hradschin, das ursprünglich doch sicher –; Renaissanceidealen entsprechend –; symmetrisch gedacht war, in gewisser Weise den Hradschinblock zur Raumwand strecken, in andere Richtung abbiegen sollte, erliegt dem Genius loci zu ausgesprochener Kontrastwirkung.
Überall wird einem körperlichen Gewicht ein zweites gegenübergestellt. Die Kernspannung: Hradschin-Altstadt wird durch Abwandlung des Grundthemas gleichsam immer wieder neu angefacht, wird dem ganzen Stadtleib eingeschmolzen. Kontrastbeziehung ist es, die hier gestaltet.
Zu ihr tritt als zweites Raumformungsprinzip die Achsenspannung. Betrachten wir als bezeichnendes Beispiel den Kleinseitner Ring (Abb. 20). Die Wände des ursprünglichen, also noch nicht durch den Mittelblock verbauten Platzes laufen nicht genau parallel. Das bedeutet schon eine leise Spannung des Raumes. Über der nordwestlichen Wand fluchtet der Burgtrakt: aber wieder nicht parallel, sondern schräg zur Platzwand. Man nimmt diese Divergenz unbewußt auf, spürt die Schärfung des Raumes. Das Massiv der Niklaskirche samt Profeßhaus läuft nicht senkrecht gegen die Platzwand an, sondern wieder im schrägen Winkel. Und noch einmal wird das Achsensystem kompliziert durch den der Niklaskirche vorgebauten Häuserblock des Spätbarocks (auf mittelalterlichem Grundriß), der sowohl zur Platzwand wie zum Niklasmassiv schräg gelagert ist. Eine Häufung unregelmäßiger Achsenverspannungen also, welche das gleiche Ergebnis für die Empfindung bedingt, wie die oben besprochene Kontrastsetzung. Solche schräge Achsenverschränkung finden wir dann immer wieder auf den Plätzen, in den Straßen. Wenige Schritte vom Kleinseitner Ring zeigt der Wälsche Platz, der andere Teil des ursprünglichen mittelalterlichen Platzes, ganz ähnliche Dispositionen. Nirgends bleibt der Raum still in sich gelagert. Überall wird er gespannt, gefedert, asymmetrisch geschärft. Das Auge, das ganze Körpergefühl nimmt auf, empfängt davon sein Raumerlebnis.
Wir sind Betrachtende. Wir fragen hier nicht, was bewußt, was unbewußt hier geschaffen wurde. Wir klären uns das Gewordene. Unbewußt geschah es zum Beispiel, ja, städtebaulich betrachtet ist es sogar ein Fehler, wie der Raumzug, der vom Hradschin ausgeht, gegen den Altstadtblock anprallt, ohne Einlaß zu finden. Die Karlsbrücke stößt wie gegen eine Mauer: nur engste Gäßchen nehmen den Raum, mit ihm den Verkehrszug in das Stadtinnere auf. Das hat seine Gründe in der Entwicklung der Altstadt. Wir werden sie noch im einzelnen aufzeigen. Hier geht es uns um ihre räumlich wirksamen Folgen. Der unterm Hradschin gestaute Raum preßt sich hier wie durch enge Schächte, die er mühsam ausgraben muß, in den Stadtleib hinein, schleift die Körper aus, daß die Häuserfronten zu merkwürdiger Kurvung gedrückt werden, kaum noch zur Figur gedeihen (Abb. 90), stößt durch zu dem großen freien Platz in der Mitte. Das alles vermehrt die innere Bewegtheit des Stadtraums. Gehen wir durch solche Gassen, so empfinden wir gerade durch ihre Beengtheit, durch ihre Kurvung, durch ihr Anprallen gegen Häuserblöcke und ihr Ausweichenmüssen vor ihnen, was Raum ist, wie Raum lebt. Im Platz selbst, in den er wie nach Überwindung enger Schleusen eindringt, schlägt er dann in hohem Wogengang gleichsam gegen die tiefe Buchtung der Häuser.
Wir wollen hier diesem Raumleben in den Prager Straßen nicht noch weiter im einzelnen nachgehen, wollen nur andeuten, wie hier Straßenkurven, vor die Fluchten vorstoßende Einzelbauten, absonderliche Übereckungen die Raumbewegung immer wieder neu reizen, wie Laubengänge, Höfe und Durchgänge ihn aufplätschern lassen, wie Kirchenschiffe und Türme, die oft plötzlich aus den Straßen ragen, ihn hochstoßen, in großen Widerhalten ihn immer wieder stauen und in solchen Stauungen zurückbinden an den Ausgangspunkt hoch über der Moldau. Was geschah hier bewußt, was unbewußt? Man spürt nur: so mußte es sich gestalten.
Nur auf ein Beispiel wollen wir noch hinweisen, in dem das hier schaffende Raumgesetz ganz sicher bewußt aufgenommen worden ist: bei der Barockgestaltung der Kleinseite. An Stelle zweier kleiner Kirchen und einiger unansehnlicher Häuser ließen damals die Jesuiten inmitten des alten Ringplatzes ihr Profeßhaus und ihre Prunkkirche errichten. Das war die Bauaufgabe, die mit andern Meistern dem älteren Dientzenhofer gestellt wurde. Der jüngere hat sie zu Ende geführt, ihm fiel die städtebauliche Hauptaufgabe zu. Er hat sie in großartiger Weise gelöst: er nahm sie zum Anlaß für eine künstlerische Neugestaltung der Kleinseite, für ihre innigere Einbindung in das Gesamtsystem des Stadtraums. Die gotische Niklaskirche, die vordem hier stand, war unwirksam geblieben bezüglich solcher Raumgliederung des Ganzen. Anders die Dientzenhofersche: als der Meister dort die hohe Kuppel errichtete, schuf er für die ganze Kleinseite einen machtvollen architektonischen Schwerpunkt. Aber er wollte ja nicht die Kleinseite für sich zentrieren. Die Zeiten der Renaissance, wo derlei Ideal war, sind längst vorüber. Er wollte diesen Schwerpunkt dem Gesamtgefüge des Stadtraums untergeordnet halten und er wollte Kontraste: er stellte den Turm daneben. Die Art, wie er ihn stellte, ist entscheidend: schräg hinter die Kuppel. So kam er ans Eck des Kirchenmassivs zu stehen, in den Schnittpunkt zweier Straßenachsen, die hier in den Ringplatz einmünden. Darüber hinaus rückte dieser Turm aber das Gewicht der Kuppel einerseits in die große durchlaufende Achse Strahow-Karlsbrücke, in eine der Grundachse Hradschin-Altstadt schräg gegengespannte Achse also; andererseits riß er die Kuppel doch wieder aus solcher Zentrallage heraus in eine Richtung –; Barock! –; und zwar in die Richtung, wie sie die neuerbaute Kuppel zum Veitsdom hinauf festlegt. Eine höchst kunstvolle Einspannung des neuen Schwerpunkts also in bestehende Raumordnungen hinein; ja: eigentlich erst deren entschiedene Herausarbeitung und Betonung. Daß die neuerrichtete Achse Veitsdom –; St. Niklas in ihrem Auslauf über die Moldau hinüber auf den Wyschehrad zustößt, diesen Außenbezirk des Stadtganzen also hereinholt und mit der Kernspannung verbindet, das ist ein Wurf rhythmischer Stadtbaukunst, wie er nur dem Barock gelingen konnte. Und er wurzelt im überpersönlichen Gesetz Prags. Noch die fernsten Glieder des Ganzen werden in Raumbeziehung gebracht zu dem Kern. Wir spüren es überall, wo wir in Prag weilen, auch wo wir es uns nicht immer bewußt machen.
Damit sind wir nun wieder zu der großen Dominante der Prager Raumbildung zurückgekehrt: Hradschin. Und wir empfinden diese Rückkehr als notwendig. Denn es scheint eines der hier schaffenden Formprinzipien zu sein, daß alle Vielheit endlich doch immer wieder gesammelt wird in der zusammenbindenden Einheit, daß die gesamte Symphonie des Stadtbaues sich nun erfüllt und ausklingt in der stolzen Fuge dieser Stadtbekrönung.
Ja, die aber hat die Natur errichtet! Wir hören den Einwand und nehmen ihn gerne auf. Er führt uns weiter. Fassen wir ihn zuerst im hier gemeinten Sinn! Hier hat die Landschaft in erstaunlicher Weise vorgearbeitet: sie bot den Strom, gegen dessen Kurve der Hügel anläuft. Historische Entwicklungen haben ein Weiteres getan: der Burg auf dem Hügel gesellte sich über dem Strom, in dessen Biegung, die Bürgersiedlung. Zwei Pole entstanden, deren gegenseitige Spannung nur aufgenommen zu werden brauchte, um das zu ergeben, was wir oben als Leistung eines Schaffensprinzips anzudeuten versuchten.
Gewiß, viel war gegeben. Aber daß es aufgenommen wurde von den Städtebauern, daß es weitergeführt, abgewandelt, in den bewußten Bau übergeleitet wurde, das ist das Entscheidende. Die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Stadtgestalt und Landschaft drängt sich auf.
Aus vielen Beispielen wissen wir, wie auch im Städtebau der Mensch, der Könner, der Künstler so oft aller Naturgegebenheit sich entgegenstemmte zugunsten seines Werkes. Wir kennen antike Städte, wo in fast übermütiger Weise gegen alles landschaftlich Gegebene der Lage gearbeitet wurde. Bei der Anlage von Bergstädten zum Beispiel wurden am Hang erstaunlich hohe Terrassen künstlich errichtet, bei andern werden auf der Bergseite Straßenzüge tief in den Felsen hineingetrieben, um so die plane Ebene für die Stadtfigur zu schaffen. Doch bleiben wir bei näherliegenden Beispielen. Denken wir an Florenz. Man träumt bei Nennung der Arnostadt von inniger Verbundenheit zwischen Stadt und Landschaft. Alles scheint zu solcher Verbundenheit einzuladen: die köstliche Lage im Flußtal, der sanfte Bogen des Flusses, die terrassenförmig aufgehenden Hügel. Wurde all dies im Stadtbau angenommen? Bei klarem Blick muß man sich doch sagen, daß nirgends in Europa so konsequent gegen alles Eindringen von Naturhaftem in den Stadtleib gearbeitet wurde wie hier. Ungefühlt treibt der Fluß an der Stadt vorüber, ja durch sie hindurch: kein gestaltetes Gegenüber wird aus dem »beidseits« gewonnen, keine Ufergestaltung nimmt den Sendling aus dem Naturreich an. Abgekehrt liegen die angrenzenden Quartiere. Und auch das Schema des Straßennetzes in der Domstadt zeigt nirgends eine Einwirkung durch die Kurve des Stroms: quadratisch angelegt zwängt es sich in die Schmiegung des Flusses. Auch in den Innenausbau schmelzen nirgends die verlockenden Töne des Gewachsenen draußen herein: der Platz wird Saal, die Straße Galerie und Korridor. Ja, um auch den im Flußlauf doch notwendig gegebenen Einbruch der Natur ins Stadtbild zu leugnen, wird die Brücke (Ponte Vecchio) als Straße maskiert, mit Häusern besetzt, die die Sicht verbauen. Mittelalterliche Abschließung von der Natur wirkt in der Renaissancestadt noch nach, rührt an eine Seite des Renaissancemenschen, der das Werk, das Gemachte, die Kunst gegen die Natur setzt. Geschiedene Reiche grenzen hart aneinander. Das Natürliche liebt er außerhalb im besonders angelegten Garten. Die auf den Hügeln erbauten Villen könnten täuschen: sie haben nichts mit der »Stadt« zu tun. Man geht zu ihnen hinaus aufs Land, betrachtet von ihnen aus das Stadtgebilde. Daß hier im Städtebau der Renaissance ein merkwürdiger Widerspruch zu dem in Malerei und Plastik so beliebten »Naturalismus« des Cinquecento treibt, darf hier nur berührt werden.
Paris, das so viel Florenz in seinem Stadtbau aufgenommen und weitergeführt hat, mag in diesem Zusammenhang als Überleitung zum andern Pol einer möglichen Beziehung zwischen Stadt und Landschaft gelten. Auch hier ein Tal zwischen Hügeln. Auch hier ein Fluß, der in sanfter Kurve das Stadtgelände durchzieht. Hier noch gesteigert die stolze, ihrer selbst sichere Geometrie der großen Achsensysteme, prächtiger als in Florenz. Doch zwischen diesen Achsensystemen des Stadtbaues und der naturgegebenen Achse des Geländes, dem Fluß, spielen reiche Beziehungen. Die ausschlaggebende ist: die Grundachse des neuen Stadtleibs, die prächtige Platz- und Straßenfolge vom Louvre bis zum Arc de Triomphe, richtet sich in schmiegsamer Parallele aus nach dem Flußlauf. Aber sie fügt sich nur, um ihrerseits zu fügen. Sie korrigiert den Flußlauf gleichsam, saugt ihm Naturhaftes ab, hebt ihn, indem sie die große Entsprechung wirkungsvoll betont, wie aus dem Zusammenhang des Gewachsenen heraus, führt ihn hinüber ins Reich der Geometrien, des Bewußten, des Gebildes. Das System der Brücken und der über sie geführten Querachsen tut ein übriges. Ein reiches Ineinander von Wuchs und Bau ist in der Grundgestalt entstanden. Und wie in der Grundkonzeption dieser herrlichen Stadtgestalt ein Naturhaftes doch noch hereinwirkte in den Bau, so sickern nun auch in allen Untergliedern, in Avenuen und Plätzen und Perspektiven naturhafte Elemente herein in das stolze Gefüge der Barockstadt. Noch steht hier Stadtbau gegen Stadtwuchs. Doch das Verhältnis ist in Schwebe gebracht, die sich hält. Maßvoll auch hier bezeugt die Königin der Städte noch im Stadtbau die Nähe alles Klassischen zur Natur.
Und nun zu Prag. Auch hier ist Ausgleich erreicht zwischen Natur und Kunst, zwischen Wuchs und Bau. Hier aber nicht im Nebeneinander, sondern im Übereinander. Hier wird nicht wie in Paris ein Gleichnis der Natur in der Form versucht –; hier stößt die Form durch die Natur hindurch, überhöht sie. Das kann zunächst den Anteil des Landschaftlichen an der Gesamtanlage größer erscheinen lassen als bei dem Gegentyp Paris, und das mit Recht, darf aber den Anteil des künstlerischen Willens darüber nicht übersehen lassen. Man muß den künstlerischen Willen eben schon in dieser Aufnahme der landschaftlichen Anregung am Werk erkennen, muß begreifen, was Bewußtmachung einer latenten Möglichkeit durch die Kraft der Form bedeutet. Das hohe Raumspiel: Hradschin gegen Altstadt –; es wurde durch bewußte Stadtbaukunst hinaufgesteigert zu der Spannung, in der es heute treibt.
Aber alle bewußte Formung behält hier doch etwas Naturhaftes. Mit diesem Hinweis heben wir das Verhältnis: Architektur und Landschaft beziehungsvoll in dem umfassenderen Verhältnis von Kunst und Natur auf. Ja, dieses ganze Prager Bautum mutet im Gesamt und manchmal auch in der Einzelform so oft wie Vegetation an, frei treibend in Laune und Spiel. Es ist, als ob naturentwachsene Rhythmen ins Reich der bewußten Formung herübergehoben wären. Daß absolute Kunstform oft dagegensteht –; in mancher Schöpfung der Renaissance und des Rokokos –;, vertieft durch den Gegensatz nur den Eindruck des Naturhaften in diesem Stadtbild. Das ist ein Stoßen und Suchen im Raum, das die Gassen zu Kurven ausschleift, die Plätze buchtet und höhlt und den Stadtkörper knetet. Das ist ein Verschleifen der Beziehungen über den Strom hinüber und quer durch den Stadtblock hindurch, ein Verschränken und Gegeneinanderführen der architektonischen Kraftströme fast wie in lebendigen Organismen. Daß wirkliche Natur hereingeholt wird ins Stadtbild schon durch die Hügellage, dann noch betont durch die von den Hügeln in den Stadtleib hereinschleifenden Parks, vor allem durch den in der ganzen Stadtanlage so entschieden bejahten Stromlauf, ist nicht das Ausschlaggebende. Viel bezeichnender ist, daß sogar das Naturentglittene, der reine Bau, noch so naturhaft atmet. Alle Form schlägt hier so gern ins Vegetative aus und der Stein weiß hier noch tiefer von seiner Herkunft aus der Erde als in den naturgelösteren Städten des Westens, des Südens.
In den Gestaltungsprinzipien wirkt diese Naturverbundenheit dann weiter nach. Kontraste werden gegeben. So etwa, wie aus dem Körpermassiv des Hradschin der Turm des Veitsdoms auftreibt –; wie neben der Körpermasse der Teynkirche der Hohlraum des Teynhofes gähnt. Naturhafte Formung klingt an, wenn zu dem großen, weitgeformten Platz der Altstadt die vielen Rinnsale der engen Gassen streben. Oder wenn vom höchsten Punkt des Stadtganzen aus, vom Strahowkloster, der steil abfallende Straßenzug an mächtigen Palästen vorüber, an denen er sich bricht, über umzirkte Plätze, in denen er sich staut, durch enge Gassen hindurch, in denen er aufgischtet, zur Brücke sucht, die ihm den Stromlauf öffnet. Kraftzentren, wie der Natur entnommen, bestimmen überall das architektonische Gefüge. Und noch in der unscheinbarsten Kleinform spätgotischer Gewölbe, barocker Voluten und anspruchsloser Zufallsornamentik zittert dies Vegetative in seiner Dumpfheit nach.
Wir dürfen dies schwierige Problem einer Durchdringung von Natur und Kunst in der Form hier nur am konkreten Beispiel berühren, dürfen eine Erklärung seines Auftretens hier in Prag nur eher andeuten als behaupten. Wir deuten auf eine mögliche Erweichung der von West und Süd andrängenden Formkraft in dieser slawisch-naturhaften Atmosphäre. Wie alle ausgesprochenen »Stile« hier in Prag durch das einschießende slawische Element an Stimmung und Tradition eine besondere Färbung erhalten, so scheint auch im Ganzen der Formeinstellung eine gewisse Erweichung zu wirken, die hier wie ein »Zurück zur Natur« auftritt. Erweichung natürlich nur im Verhältnis zur absoluten Form. Den oft wilden Kraftauftrieb holt sich die Prager Gestaltung gerade aus dieser Hinneigung zum Naturhaften, aus dieser Entformung. In ihr wirkt das urtümlich Naive des Ostens.
Hier wurzelt denn auch jene räumliche Bewegtheit, die wir eingangs mit Raumgeschehen bezeichneten. Was im einzelnen als Kontrastsetzung und Achsenverspannung aufgewiesen werden konnte, ist schließlich nur Bewußtwerdung dieses »naiven Geschehens« in der Form. Indem es sich von ihr aus in unser Empfinden überträgt, schafft es an unserem Raumerlebnis.
Wir hatten den Raumcharakter betrachtet. Nun drängt der andere Pol des für alle Architektur grundlegenden Verhältnisses ins Bewußtsein: das Körperliche. Sprachen wir oben von Körperformen, dann immer in ihrer Funktion als Raumbildner. Wir folgen einem notwendigen Empfindungsablauf, wenn wir sie jetzt in unmittelbarem Sinn als Volumina betrachten. Hier muß die zweite Grundkraft der Prager Stadtbildung wurzeln: in einer Eigenart des absolut Körperlichen.
Was ist dies absolut Körperliche? Es ist der Drang der Materie aus ihrem Kern heraus in ihr Volumen, in ihre Ausdehnung. Unser Empfinden antwortet ihm mit dem Körpergefühl, das seiner Schwere sich bewußt wird. In der Architektur ist es die konkrete Füllung, der Baukörper, der Häuserblock als Entgegnung zum Raum, als Masse. Um deren durchwaltende Grundform geht es uns jetzt. Nach dem Stadtraum soll nun der Stadtkörper betrachtet werden.
Auch ihn werden wir dabei –; wie den Raum –; nie restlos aus dem raum-körperlichen Grundverhältnis lösen können. Ja gerade zum Ausgangspunkt der Körperbetrachtung wird uns die Überzeugung werden, daß einem so wirkungsmächtigen, so bewegten Raum, wie wir ihn oben kennenlernten, ein ganz besonders schwerer nachhaltiger Körper –; als Entgegnung gleichsam –; entsprechen müsse. Und der spontane Eindruck, den der Besucher Prags schon bei der ersten Wanderung erfährt, kam solcher Überlegung schon zuvor: kaum in einer andern Stadt Europas spürt man ein Kompaktes, ein Derb-Schweres der Baumassen mit solchem Nachdruck wie hier. Spürt man in dieser Kompaktheit aber zugleich ein Dumpf-Vitales, das seltsam kernig das Empfinden durchwächst. Woher rührt es? Hier formte doch reifste Gotik, hier schuf doch hoher Barock. Was für ein Hintergründiges beschwert den Formeneindruck, lastet gegen den Raum an, läßt die Steine schwerer wuchten als sonst in alten Städten?
Wir gehen wieder vom Ganzen aus: die Stadt als Körper. Da fällt das Massige, das Schwere der Kernkomplexe auf, dies Sich-Ineinander-Schieben der Fluchten und Baugefüge, das blockmäßig Gestaute der Trakte, die wie ineinander gebeult zwischen den Hügeln lasten. Die ganze Altstadt zum Beispiel erscheint wie ein einziger schwerer Block: Straßen und Gassen muten an wie mit dem Messer in ihn eingekerbt, wie in ihn hineingebohrte Schächte. Nicht Block neben Block gefügt, wie in den Städten des Südens, wo körperliche Gewichte nebeneinander gesetzt, zu Vierteln gesammelt, durch Plätze aufgelockert und in Türmen aktiviert sind. Man denkt an Genua, das in manchem diesem Prag so verwandt ist, denkt auch an Augsburg, wo Südliches schon mit Nördlichem sich mischt. Hier in Prag drängen die Stadtblöcke, schwer in ihrer ganzen Massigkeit belassen, aus der Biegung des Stromes an, pressen Türme aus sich heraus wie Fäuste und stürzen ab in die Hohlräume der Plätze.
Wie drängen sich die körperlichen Massen in dieser Altstadt zusammen! Betrachten wir den Block um die Teynkirche: der architektonische Schwerpunkt, der Kirchenleib, ist nicht umstellt von einer Reihe dagegenstoßender Blöcke und Häuser, wie es das Mittelalter sonst doch liebte, wo sie von allen Seiten gegenstoßende Raumachsen bilden –; nein: lauter schwer angelagerte Parallel- und Ringbauten ummauern ihn, die alle in der gleichen Raumrichtung treiben wie der Schwerpunkt selbst. Das Massengewicht ballt sich zusammen, steht schwer gegen den angrenzenden Platz, drückt gegen die Höhlung des Raums. Der Stich aus dem Jahre 1791 (vgl. Tafel nach Seite 368) arbeitet diese Architekturstimmung deutlich heraus. Beweis, wie stark damalige Menschen diese Eigenart empfanden, ja wie sie dies »Raum gegen Körper« dem Kontrastsystem ihrer künstlerischen Weltanschauung wirkungsvoll einbauten.
Am Gallimarkt, der heutigen Rittergasse, wird dies Schwer-Treibende der Masse dann besonders deutlich. Die Blöcke der einzelnen Baukörper treiben in einer Art geduckten Hinziehens längs der Platzflucht hin. Ein plötzlicher Aufbruch hin und wieder aus der stumpfen Massigkeit, der aber gleich wieder hineingeschliffen wird in die folgende Dehnung. Etwas Synkopisches kommt solcherweise in den Gesamtrhythmus. Das hat hier einen ganz eigenen Bautypus ausgeprägt: den des Baumassivs mit überhöhtem Ecktrakt. Historisch läßt sich dies Motiv von den Geschlechtertürmen ableiten, die besonders an Gassenkreuzungen aufragten. (An der Rittergasse steht heute der letzte Vertreter dieser früher so häufigen Gattung. Auch am Eck von Wassergasse [Vodièková] und Wenzelsplatz zeigen alte Stiche noch des 19. Jahrhunderts solchen Turmbau.) Die Prager Atmosphäre hat sie im Lauf der Zeiten ihres ursprünglichen Turmcharakters ganz entkleidet, hat sie hereingesogen in die wie unter Druck stehende Gesamtlast der lagernden Massen.
In den anderen Teilen der Stadtdreiheit –; Kleinseite samt Hradschin und Hradschin-Stadt sowie Neustadt –; leichtert sich dies Blockhafte etwas auf. Gelände- und Gründungsbedingungen spielen auflockernd herein. Der Grundton des massigen Zusammenrückens bleibt dennoch spürbar. Es spielt die Einzelblöcke als Massen gegeneinander aus, schafft mit an der Schärfung des Raumlebens, das hier freier zwischen den Körpermassen atmet.
Aber scheint hier der Stadtkörper gegenüber der Altstadt auch gelockerter, dem dumpfen Druck von dort enthoben, so spricht die Schwere nun doppelt stark im einzelnen Bau. In der Altstadt ging er im Gesamtblock fast unter. Hier steht er, einzeln oder in Quartiere gesammelt, plastischer da, muß die eigenen Gewichte tragen. Und trägt schwer. Man betrachte nur diese Barockpaläste, diese Bürgerhäuser, diese Kirchen. Die Masse obsiegt überall über die Durchgliederung des Gebäudeblocks. Der Boden scheint weit hinaufzusteigen in den Körper und von oben scheinen schwere Gewichte zu drücken. Die Einzelform hat Mühe, einzudringen in den Bauleib, sie scheint auch bei reifen Schöpfungen oft wie angeklebt, kaum eingewachsen in die Epidermis, jedenfalls von schwerem, zähfließendem Blut von innen her gespeist. Ja diese Einzelform selbst hat etwas Lastendes. Im Barockornament zeigt es sich am auffallendsten. Wo sonst in Europa die Voluten aufschwingen, die Kurven sich bäumen, da düstert hier in Prag so oft ein Gedrücktes, schwer sich Aufringendes noch im üppigsten Schwulst des Barocks. Wo sonst die Dächer betonte, klingend geformte Gegenkörper über den Grundblock fügen, da sinkt hier Haus und Dach zu schwerem Massiv zusammen. Dieser Prager Barock unterscheidet sich von den Nachbarbarocks in Dresden und Wien auf erstaunliche Weise. Man hat ihm Orgiastisches nachgerühmt, aufschäumende Überfülle. Ist das wirklich sein Wesen? Ist der Grundton nicht viel mehr ein lastender bis zur Düsterheit, aus deren dumpfem Gestautsein dann allerdings wilde Gegensätze aufbrechen in plötzlicher Formbeschwingtheit! Dies aber hat fast etwas Krampfhaftes an sich. Ja, gegensatzreich ist dieser Prager Barock. Man spürt ihm überall den Kampf gegen das Lastende der Materie an, hier wahrlich heroischer, tiefer von Seinsnot bedingt als irgendwo anders. Frei schäumende Überfülle aber ist ihm fremd. Er steht wie unter einem seltsamen Bann, den er sprengen möchte. Aber die Körper hier sind dumpf und schwer.
Aus diesem Gegensatz heraus ersteht dann eine große Plastik. Solche Wucht des Körperlichen –; mußte sie nicht zu plastischem Ausdruck drängen? Schon unmittelbar, dann aber auch bewußt als Kampf gegen die dumpfe Schwere. Muß man nicht die gesamte Plastik der Parler-Schule schon unter diesem Grundeindruck sehen: diese schweren, massigen Büsten, die noch dumpf untertönt sind und doch so kraftvoll in die Individualisierung dieses gedrungen Massigen vorstoßen (s. Abb. 7, 33, 34, 35). Ein Meister wie Adriaen de Vries konnte hier die ihm entsprechende Atmosphäre finden. Und kraftvoll wirft der hohe Barock seine Skulpturen gegen diese Welt der Schwere, der lauernden Unform. Ja, in diesen Barockmeistern, die die Brücke schmückten, die Paläste zum Klingen brachten, in den Kirchen ganze Zyklen von musikalisch durchschwungenen Figuren gegen die Körperschwere antrubeln ließen, im schönsten Gleichklang mit dem schwingenden Raum –; in diesen Bendel und Brokoff, Braun und Jäckel und Platzer und den andern, die fast alle von auswärts kamen, läutert reichste Form die urtümliche Kraft zu schönster Skulptur. Von Attiken und Altanen winkt sie herunter auf die Plätze. In den verträumten Parks grüßt sie aus höchster Form zurück in die Natur. Allüberall an den Ecken der Straßen und Gassen stehen die Heiligen. Man muß den Reiz des Gegensatzes spüren, wenn man inmitten dieses schweren Stadtleibs immer wieder von solchen Gruppen beschwingt wird, hinaufgelockt in den leichten Tanz barocker Form. Sie sollten ehedem die Bürger der abtrünnigen Stadt zurückverlocken in die sinnenstarke Gläubigkeit der Gegenreformation. Sie rufen den Vorübergehenden noch heute in ein bewegteres Empfinden.
Man besinnt sich auf historische Begründung dieser Blockschwere im Prager Stadtkörper. Man denkt daran, daß der heutige Stadtleib –; im Stadtinnern zumindest –; vom Barock errichtet ist. Aber errichtet über dem Grundriß einer mittelalterlichen Stadt. Besitzverhältnisse wirken über Jahrhunderte hinüber. Der Bann einmal gezogener Straßen ist schwer zu brechen. Wir spüren das noch im heutigen Städtebau. Auch sucht sowohl Altar wie Herd immer wieder die einmal gegebene Stätte. Das barocke Prag steht –; gleichsam wörtlich –; auf dem Grundriß des Mittelalters. Das hatte die Baustellen entsprechend der damaligen engen Bauweise sparsam verteilt. Noch Karls IV. Parzellierung der Neustadt weist diese Kleinräumigkeit der Einzelanwesen auf. Der Barock baute voluminöser. Seine Häuser drängen über die Ausmaße des Mittelalters hinaus. Das mußte notwendig ein Gedränge ergeben auf dem kleinen Grundstück, ein Gedränge über dem engen Grundriß. Viel von dem Eindruck des Massigen im heute gegebenen Stadtbild mag auf diese Überschichtung des mittelalterlichen Prag durch eine barocke Großstadt zurückzuführen sein. Den Charakter selbst erklärt es nicht. Der war schon im Mittelalter gegeben.
Das können wir aus den erhaltenen Einzelbauten jener Frühzeit schließen. Was in der romanischen Zeit allgemeiner Stil war –; besonders da er teils mit verspäteten Erzeugnissen nach Prag kam, die das Schwere noch doppelt stark trugen –;, das blieb in der gotischen Zeit nun schon als Sonderheit am Prager Boden haften. Die Türme von St. Ägidien (Dominikanergasse-Husgasse), der jetzt abgebrochenen Bethlehems-Kapelle und der als Torso noch stehenden ehemaligen Johanniterkirche auf der Kleinseite pfählen der Masse zwar den Vertikalzug der Gotik ein –; in herbgeschnittenen Formen der Strebepfeiler nach Art westdeutscher Frühgotik –;, kommen damit aber gegen den zugrunde liegenden Zug der Schwere nicht auf. Sogar in der zarten Frühgotik des Agnesklosters verspürt man noch den dumpf rückholenden Unterton der Masse. Die Parlersche Gotik unter Karl IV. weiß sich kaum genug zu tun in Zerklüftung des Bauleibs, im freispielenden Ornament, das aus der Masse herausschießt und sich wieder in sie hineinfrißt, in künstlicher Wölbung, weiß es aber doch nicht zu hindern, daß über die leise Traurigkeit, die gerade in die gerecktesten Formen –; der Fenstermaßwerke beim Veitsdom zum Beispiel –; eindringt, der Gesamtleib dieser Architektur doch wieder ins Schwere zurückbricht, sobald man ihn nur als Gesamtvolumen betrachtet. Die Strebebögen springen den Chorleib in stumpferem Winkel an als noch in Köln. Die Profile senken sich zu schwer rollendem Querschnitt. Der Zeittrieb zur »Halle«, zum breitschultrigen Kirchenleib also, der fest an die Türme anschließt, scheint dieser atmosphärischen Nötigung zur Schwere auch hier wieder vorzuarbeiten. Die Renaissance wirkt zunächst –; im Fremdgut des Belvedere –; wie ein Überfall auf die lokale Stimmung: dieser Schloßbau schwingt in leichten Rhythmen über alle Schwere hinweg, stellt in freier Plastik dem übrigen Stadtganzen sich entgegen. Wo Renaissanceformung aber bodenständig wird, ins heimische Schaffen einsickert, da sinkt sie doch wieder zurück ins breite Lasten: die schönen Arkadenhöfe der Altstadt zum Beispiel sind von hinten bedrängt durch Häusermassen, die Portale bevorzugen den Rustikaquader, der die Formschwere aus der Erde herausholt. Vom Barock haben wir schon oben gesprochen. Mit historischen Bedingungen ist diese Eigenart des Prager Bautums nicht erklärt.
Treibt hier die Landschaft wieder ins bewußte Schaffen herein? Diese Landschaft um Prag, deren Eintönigkeit wächst, je mehr die Moldau der Stadt sich nähert. Als ob sie unter einem dumpfen Bannkreis sich bücken müßten, so pressen die Hügel, am Oberlauf des Stromes noch so froh bewegt, hier zu gedrückten Plateaus sich zusammen, schieben in schweren Kurven sich vorwärts. Diluvialzeiten haben jäh abfallende Hänge in sie eingerissen, die in oft steilen Brüchen von der monotonen Dehnung der Höhenrücken abfallen. Der Strom hat sich hier eine tiefe Mulde gegraben. In dumpfen Kurven begleiten ihn die Konturen der Hänge. Es lastet von großer Erdschwere in diesem Prager Umland. Es treibt mit dem Fluß herein in die Stadt, breitet jenen Schleier von Melancholie über das Stadtbild, der hier so bestimmend wird. Der Charakter der Architekturkörper scheint wie eine durch den Boden bedingte Antwort auf diese Landschaft. Man spürt Entsprechungen, ohne doch den Sonderstil unmittelbar davon ableiten zu wollen. Der gründet tiefer, als Geschichte oder Landschaft reichen. Blutmäßiges steigt aus der Erde in die Form hinauf, übt seine Wirkung und entzieht sich doch dem bewußten Fragen.
Dies aber mag eingesehen werden: auch in der Eigenheit der Körperformen hier in Prag spricht wieder etwas Naturhaftes. Mit andern Kräften vielleicht, als es das Räumliche uns zu bestimmen schien –; im Wesen doch ein Gleiches. Verwachsen mit der Erde –; so dünkt einen hier jeder Stein, jeder Bau, jeder Block. Durchtränkt mit ihrer Kraft, doch auch bedroht von ihrer Dumpfheit. In dieser Naturhaftigkeit als dem geheimsten, am unbewußtesten schaffenden Formprinzip in der Prager Stadtbildung durchwachsen sich also die beiden Elemente des architektonischen Grundverhältnisses am tiefsten zur Einheit. Gerade in ihr aber auch schärfen sie sich wieder zur deutlich sichtbaren gegenseitigen Spannung. Das Wuchshafte des Raumes –; es stoße gegen das Wuchshafte des Körperlichen vor. Wie Kraft und Gegenkraft des Wuchses selbst mutet dies Widerspiel an. Und wie sie hinaufdrängen in die bewußte Formung, da stehen sie sich wieder hart gegenüber. Ihre polare Stellung wird wieder wirksam: das Körperliche scheint in einem andern Grundverhältnis zur Welt zu ruhen als das Räumliche. Das Körperliche dumpft in das Substanzhafte zurück –; das Räumliche stellt sich als scharfe Formkraft dagegen. Der Urkonflikt aller Formung bekommt hier eine merkwürdige Aktualität, dringt herauf bis in das Formungsergebnis. Hier, in der Gegenstellung von Körper und Raum, erreicht das für Prag so bezeichnende Motiv des Kontrastes seine tiefste Schwingung.
Wir betonten es schon: was wir oben an eigentümlicher Prager Raumhaftigkeit, an eigentümlicher Prager Körperhaftigkeit aufzudecken versuchten, hat nichts mit »Zeit« und ihren ausdruckhaften Äußerungen, den »Stilen« zu tun. Es sind durchgehende grundtümliche Formweisen, wenn man so sagen will: Schemata oder Kategorien der Formung, in die alle Sonderformen der Zeit, des Stils, der Beeinflussungen usw. notwendig eingehen, sich einschmelzen müssen. Dieser Raumtypus und dieser Körpertypus sind die beiden Kernkräfte, durchwaltend von der Wurzel bis zur obersten Schicht. Nur selten in geschichtshaltigen Städten lassen sie sich so deutlich herausschälen, haben sie so eigenwillig, so beharrlich alle neu auftreibende Form bestimmt.
Klarerer Aufzeigung zuliebe hatten wir sie, diese beiden Elemente der architektonischen Gestaltung, getrennt betrachtet. Ihre Zusammenschau läßt den Stadttypus erkennen, dem Prag zugehört, ja: der in Prag zu stärkster Ausprägung gelangt. Wir wollen ihn wieder an seinem Gegentypus profilieren: an Paris.
Die Place de la Concorde in Paris ist das Herz einer räumlichen Abfolge, die in der Madeleine-Kirche einerseits, in der Chambre des Députés anderseits ihre Zielpunkte hat. Zwischen den beiden Säulenfassaden dieser Monumentalbauten ist die großartige Flucht von Straße, Platz und Brücke eingespannt. Das Körpergefühl des Schreitenden gleitet von den Stufen der Chambre des Députés nieder, weitet sich am Seineufer in die Sicht der breithingelagerten Stadt, wird von der Brücke zusammengehalten zu körperlicher Bindung –; im Gegensatz zu seelischer Entspannung hinaus in die Fernsicht stromaufwärts und -abwärts –; wird drüben vom weitumarmenden Platz gesammelt, vom Obelisken in der Platzmitte geweckt und bejaht, dann ganz zusammengenommen von den Eckpalästen der Rue Royale und so hineingezwungen in die streng perspektivisch fluchtende Straße hin zu der Halt gebietenden St. Madeleine, in deren hohen Säulenstellungen der Straßendrang ausschwingt. Ein so gewiesener Gang erfüllt mit seltenem Harmoniegefühl. Überall, bei jedem Schritt, fühlt sich der Mensch hier gehalten. Er weitet sich im Platz und spürt doch sein Maß, erhöht sich in der Säule und empfindet doch das Grundmaß seiner Körperlichkeit, strafft sich in der geklärten Straßenflucht zu sich selbst und spürt doch immer vor sich sein Ziel. Immer ist es der point de vue, der überall in diesem klassischen Stadtbild die Sichten beherrscht, mittels klarer in der Symmetrie sich erfüllender Leitlinien für das Auge werden die Räume gestaltet. Jeder Flucht ist ihr klares, rein linear zu bewältigendes Ziel gewiesen –; Säulen, Türme, Paläste, noch die Bäume im Park! –; Nirgends treibt dem Körpergefühl des Schreitenden ein anderes als sein eigenes Maß entgegen, wohl gesteigert ins Monumentale, aber immer noch ablesbar an klar vermittelnden optischen Maßstäben, immer rückführbar durch klare Proportion auf menschliches Grundmaß, auf Entsprechung zur menschlichen Gestalt. Der Mensch fühlt sich frei in der selbsterwählten Bindung. Klassik im tiefsten Sinn: der Mensch das Maß aller Dinge.
Als Prager Beispiel sei der Gang vom Altstädter Brückenplatz hinüber zur Kleinseite bis hinauf zum Veitsdom gewählt. Vom Brückenplatz –; auch nach der Stromseite ganz abgeschlossen durch Parlers Brückenturm –; drängt es einen hinaus auf die Karlsbrücke. Noch hat man den eben durchschrittenen Brückentorturm im Nacken, im Körpergefühl, da zieht schon von drüben der andere Brückenturm, über ihm der Niklasturm, über ihm auf dem Hradschin der Veitsturm. Das ist kein allmähliches Geführtwerden entlang optischer Leitlinien –; die Empfindung wild geballt, wird in die sich steigernden Körpermassen hinaufgehoben, sie taumelt, überstürzt sich. Das gleiche angesichts der einzelnen Stationen. Die Statuen zu Seiten der Brücke begleiten nicht, sie zwingen sich auf: man wird der Reihe nach in eine jede von ihnen verwandelt. Man schreitet nicht, sondern schwingt von Körper zu Körper, den eigenen nur in der Vermittlung durch jene spürend: empfindet plötzlich, was Plastik bedeutet. Versinkt im Brückenturm drüben, wird wieder aufgerufen vom mächtigeren Niklasturm und seiner Schwesterkuppel, wird durch die enge Gasse hingezogen bis zum Turm, beherrscht in seinem Trutzgefühl den Platz zu seinen Füßen. Wird um den Kirchenbau herumgetrieben und wieder gesammelt vom Platz vor der schwingenden Westfassade. Die Pestsäule schräg davor will eine ruhende Mitte sichern. Doch der Platzraum läßt nicht verweilen, drängt weiter zu neuer Ausschau. Da ruft von der Höhe der Turm von St. Veit. Man muß folgen, Gassen hinauf ihm entgegen, um endlich allen Drang der durchlebten Körperwelten dieses Weges in ihm zu stauen und in der Rückschau, die sein Altan bietet, sie aufklingen zu lassen im Rhythmus ihrer Folge.
Und so erst löst man sich wieder langsam vom zwingenden Außen zur eigenen Gestalt. Man spürte nicht sich selbst auf diesem Weg, war Raum und Körper drin-draußen, war Welt, und spürte ihre größeren Maße. Nie, an keiner Stelle, genügte der Augenblick selbst, nie durfte man verweilen vor einem sicheren Gegenüber. Immer mußte die ganze Folge, zurück und vor, im Bewußtsein schwingen, um ein Gefühl der Ganzheit im Empfinden zu lösen. Das einzelne Monument gestaltete kein Selbsterlebnis, es trieb weiter. Erst im abrollenden Ganzen empfindet man die Gestaltung durch das Werk.
Auch solchem Empfindungsablauf liegt eine Gestaltung mittels der Perspektive zugrunde. Hier aber handelt es sich nicht –; wie in Paris –; um eine lineare, die den Kontur der Massen als klare Leitlinie für Auge und Körper sprechen läßt, sondern um eine rhythmische, die die Massen selbst als sich gegenseitig ausbalancierende Gewichte gestaltet, das Körpergefühl des Schreitenden umsetzt in Massengefühl des Durchschrittenen. Grob gesehen: dort schreitet man durch Straßen –; hier schwingt man in den Massen. Dort führt die Begrenzung der Massen –; hier ist die Masse selbst das empfindungserregende Moment. Beide Male handelt es sich um Gestaltung des Raumes. Im ersten Fall wird er fühlbar gemacht durch seine Begrenzung: das Körpergefühl des Schreitenden wird dem Körperdasein draußen gegenübergestellt, wird durch diese Gegenüberstellung in sich selbst zurückgeworfen, in sich selbst erhöht und durch die Leerformen dazwischen vorgetrieben zum ebenfalls außerhalb empfundenen Ziel. Im zweiten Fall wird der Raum fühlbar gemacht durch die ihn ausfüllenden Massen selbst: das Körpergefühl des Schreitenden wird verwandelt in das Gefühl dieser Masse und so zum Nacherleben der Massen –; das ist: zur Raumgestaltung in sich selbst getrieben. Zwei polare Grundformen der Raumgestaltung, der Stadtgestaltung stehen sich gegenüber.
Bedarf es noch der Erwähnung, daß zur Erklärung solcher typischen Eigenart die bloße Nennung von »Stilen« nicht ausreicht? Hier waltet eine formende Grundkraft, an der sich Stile erst entscheiden müssen. Der romanische Stil (St. Georg etwa als einziger in eindrucksvoller Ganzheit erhaltener Vertreter des romanischen Prag) drückt hier das Verhältnis zugunsten des Schwer-ziehenden, Kompakten auf die Seite des Körperlichen. Die reifere und die späte Gotik reißt es durch Schärfung der Gesamtform, durch Verlebendigung, Abstufung und Unterteilung der Räume, durch Betonung der Senkrechten ins Raumlebendige und Formstraffe herüber, trotz all ihrer für Prag so bezeichnenden Sonderprägung ins Massige hinein. Der Barock arbeitet im gleichen Sinn weiter –; wie hat er die Kleinseite räumlich durchgegliedert! –; und findet kein Genug in Bereicherung und Durchgeistigung der Form als Gegensatz zur tauben Substanz. Der Klassizismus schiebt dann wieder zurück in die Schwebe, die hier so bezeichnend ist: er holt hier in Prag in groß gemeinten Formen doch wieder die alte Schwere herein in den Formcharakter des Ganzen: die Häuserblöcke sammeln sich wieder, die Fassaden werden still und schwer, die große Waagrechte legt sich wieder breit über den Aufschwung des vorhergegangenen Jahrhunderts. Am bezeichnendsten ist hier wieder die Umformung des Hradschin. Als Maria Theresia die Burgtrakte westwärts weiterführen ließ, als glatte Wände die ehedem reich gestaffelten Fluchten der Paläste und Häuser dort oben erlahmen ließen zur ausdruckslosen Kulisse und die strenge Horizontale drückend sich auf die Silhouette legte, da wirkte der Wille des Klassizismus zur Raumberuhigung: die Spannung Hradschin-Altstadt, dem klassizistischen Empfinden zu laut, sollte aufgehoben werden in der in sich erfüllten Stille einer auf solche Weise neugeschaffenen Raumbucht. Es ist nicht gelungen: Brückenturm, Niklaskuppel, Veitsturm, über der Moldau der ganze Altstadtblock stürmen dagegen an. Die ursprüngliche Polarität sprengt diese klassizistische Dämpfung doch wieder auf, bleibt Prägerin dieses bewegten Stadtraumes. Das für die Prager Stadtbildung Eigentümliche setzt sich doch wieder durch: die »Atmosphäre« obsiegt.
Alles Wesentliche wurde hier von Meistern, die von auswärts zugezogen waren, erbaut. Aber sie alle wurden von dieser Atmosphäre ergriffen, schufen nach ihrem Gesetz. So deutsch uns das Gesamtgefüge dieser Stadt auch anmutet –; ihr plötzliches Abdumpfen ins Düstere, oft Melancholische ist Durchtränkung mit bodenständigem Geist. Deutsche waren es, die zweimal hier die Gesamterscheinung bestimmten: im Mittelalter der geniale Peter Parler, der Schwabe, im Barock der jüngere Dientzenhofer, der Franke. Wer aber könnte übersehen, daß auch ihre eigensten Schöpfungen, vor allem die Art, wie sie dem Gesamt sie einfügten, merklich sich unterscheiden von der Art ihrer Heimat? Hier in Prag mischte sich Deutsches unmittelbarer mit Französischem und Italienischem als in Deutschland selbst, wo bodenständig deutsche Kräfte anders zurückhielten als hier. Entsprechungen bieten die andern böhmischen Künste, am deutlichsten vielleicht die mittelalterliche Buchmalerei. Vor allem aber: hier nimmt eine eigenartige Fremdstimmung das deutsche Schaffen auf, wandelt es merklich und läßt einen Sondercharakter gedeihen. Daß es den andern Ausländern hier ähnlich ging, beweisen die Bauten der Franzosen (Matthias von Arras, Mathey), der Italiener (die Luragos, Scamozzi, Orsiny) und vieler anderer. Einheimische Meister fügen sich bruchlos ein. Sie alle schaffen nach dem tieferen Gesetz des Prager Bodens.
Erst jetzt, nach Betrachtung von Grundkräften und Typus, ist der Augenblick zu historischer Besinnung gekommen. Wie lagern sich über jenen die Zeitschichten auf, wie legen sich an sie die Zonen an? Das Neben- und Nacheinander drängt in die Betrachtung. Doch nicht um in historischer Periodisierung zu erstarren, sondern um nach einiger Bewußtmachung historischer Bedingtheit doch wieder zurückzumünden in den spontanen Eindruck der Gestalt. Denn nur damit werden wir dem, in einer jeden Stadtgestalt gegebenen, künstlerischen Phänomen gerecht: ist doch in ihm allein unter allen künstlerischen Gegebenheiten ein Gleichnis jener mystischen Anschauung verwirklicht, der alle Folge und alle Zeit in einem Nu sich zusammenspinnt, in den schöpferischen Augenblick, aus dem alles treibt, in den alles mündet, den die mystische Schau in begnadeten Momenten erlebt. Die gewordene Stadtgestalt ist Einswerdung der Zeiten in der großen formgewordenen Realität, ist Sammlung jahrhundertelangen Geschehens in den Moment ihres Soseins. Man wird einwenden, daß jedes große Kunstwerk Formung lang ausgelebter Erfahrung sei. Gewiß! Doch alles Früher ist eingeschmolzen in die Äußerung des Vollenders. Im Stadtkunstwerk steht Früheres noch leibhaft da, drängt unter dem Neueren hervor, wirkt auf ganz Altes zurück, verändert je nach Sicht seine Beziehung zum andern, ja sich selbst, und mündet endlich doch in das Gesetz des Ganzen. Zauber alter, bis heute lebendiger Städte –; er rinnt aus dem Geheimnis der in den Augenblick der Betrachtung heraufgesogenen Zeit.
Das ist es, was in Prag jene merkwürdige Durchschütterung der architektonischen Atmosphäre bewirkt. Wir kennen alte Städte, in denen sie fehlt. Dort hat eine Zeit maß- und formgebend die Gestalt bestimmt. Etwa –; um nur deutsche Städte zu nennen –; das Mittelalter wie in Nürnberg oder das Barock wie in Dresden. Dann heben sich die oberen und auch etwa die bruchstückhaft noch vorhandenen unteren Schichten mehr oder weniger beziehungslos ab von der Kernzeit. Wie anders in Prag, wo ein Jahrtausend fast gleichmäßig baute, wo Jahrhunderte übereinander, untereinander lagern, sich dicht ineinander verzahnen, die wichtigsten Lebensadern ineinander verflechten, wo Kellergewölbe und Türme aus gotischen Zeiten die reiche Barockpracht des Häuserleibs zwischen sich tragen, wo aus dem Grundriß des großen Karl noch der Klassizismus sich Wirkungen erbeutete. Durchdringungen, von einfachster zwecklicher Notwendigkeit und höchster künstlerischer Überlegung gleicherweise eingegeben, ziehen den vielschichtigen Stadtleib zur Einheit zusammen, ohne doch diese Vielschichtigkeit für unser aufnehmendes Bewußtsein ganz zu löschen. Im Gegenteil: das Gegeneinander von Einheit und Vielheit erzeugt ja den bewegten Klang, den wir im Prager Stadtgehäuse allüberall vernehmen. Jenen Klang, der durchspielt bis in die kleinste Einzelform, den wir in der Volute des Prager Barocks noch verspüren, die so viel Erinnerung an gotischen Elan in sich verwindet, den wir in der Kraft romanischen Mauerwerks schon vernehmen, das mächtig, Jahrhunderte auf sich zu laden, in großer Ruhe wartet. Die monumentalste Durchdringung dieser Art zeigt der Hradschin, auf ihm wieder die Burg. Wie hier der Vordergrundeindruck, die Bauteile des Klassizismus im Südwesten, trotz all seiner Leere doch noch durchpulst bleibt vom Tiefenleben des Kerns, von dem schönen Mitteltrakt, der auf der Schwebe später Gotik und erster Renaissance sich wiegt, das schafft ein Hin und Wider, ein Sich-verschränken der Anschauung zu dramatischer Einheit, wie sie in jedem Stein dieser seltsamen Stadt sich rührt. Im Gesamtmassiv dieser Burg treten dann aber auch die der Vordersicht entzogenen gotischen Unterschichten, zumindest als bauliche Wirkungskraft der Anlage, noch in die Anschauung. Ja, es ist, als dränge die Wucht des Ganzen sogar noch die romanischen Gewölbe der Untergeschosse ins aufnehmende Empfinden. Mit stilistischer Abstempelung ist solchem Eindruck gegenüber nur wenig getan. Man begreift hier jeden Einzeleindruck auf der Folie seiner Unterschicht, im Schatten seiner Überschicht. So wird er in eine neue berückende Dimensionalität gefaßt, entfremdet und doch wieder geheimnisvoll angenähert.
Die Zonung wirkt im Nebeneinander, was die Schichtung im Übereinander auftrieb. Man spürt das Nebeneinander ältester und neuerer Teile, ohne es sich bewußt zu machen. Man spürt in der Altstadt die Nachbarschaft der im Grundriß um gut zwei Jahrhunderte jüngeren Neustadt, fühlt das Gegensätzliche drüben hereinwirken in das Einheitliche der Zonung hier, spürt Gleiches im Kleinen zwischen gotischer Fassade und barocker Nachbarfassade weben, wechselt hierhin und dorthin im Empfinden und mischt doch wieder. Eine eigentümliche Plastik des Aufnehmens entsteht.
Steigen wir nun ins Tatsächliche, bestimmen wir Schichten und Zonen! Das leichter Ablesbare zuerst: die Zonen. Sie fügen sich in Entsprechung zu bestimmten Schichten außen an, verschränken sich –; alten Stadtrechten und Stadtgebräuchen folgend –; weniger untereinander. Wir dringen von außen ins Innere vor. (Unter Hinweis auf unseren Plan A dürfen wir uns hier kurz fassen.)
Was unser Jahrhundert, was das 19. dem Stadtleib an Erweiterungen angefügt haben, löst sich schon nach einer flüchtigen Betrachtung deutlich vom Kern: Industrie- und Arbeiterviertel in ihrer Trostlosigkeit, die sich zwischen den Hügeln einklemmen, ins Weite hinausgestreckt haben –; »Villenviertel«, die die Höhen besetzen –;, Mietsblockquartiere in ihrer Charakterlosigkeit, die sich vor heute verschwundenen Toren breitmachen. Zum Teil haben sie die Grenzen des alten Weichbilds verwischt, haben sich dort hineingedrängt. In der Hauptsache blieb eine deutliche Zonenscheide erhalten.
Überschreiten wir sie, so durchmessen wir gleich ein halbes Jahrtausend auf einmal: seit Karls Neustadtgründung im Jahre 1348 bis zum 19. Jahrhundert hat sich die Stadt, genauer gesprochen: haben sich die Städte nicht erweitert. Das von jenem großen Städtegründer ausgemessene Gelände reichte aus für den Rest des Mittelalters, für die Renaissancezeit und für die große Bautätigkeit des Barocks. Nur die innere Dichtigkeit der Verbauung nahm zu, ein Hinausgreifen war nicht notwendig.
Innerhalb des mittelalterlichen Mauerrings stoßen wir dann auf deutlich sichtbare Zonenscheiben. Am Graben und auch am Aujezd (unterm Laurenziberg) zum Beispiel überschreiten wir wieder die Grenzen eines ganzen Jahrhunderts. Und aus der um 1250 gegründeten Gallistadt und der etwa gleichaltrigen Kleinseite treten wir dann in den eigentlichen Kern. Wie der sich noch weiter zont, werden wir im Kapitel »Wuchs und Aufbau« betrachten.
Die Tiefenverschränkung der Zeiten ist viel verschlungener. Die obersten Schichten sind am leichtesten abzuheben. Was die Moderne an mehr oder weniger zeitbewußten, was die Jahrhundertwende an sezessionistischen Bauten (»Repräsentationshaus« am Pulverturm zum Beispiel) aufgeschichtet haben, ist unschwer zu erkennen. Auch die Stilwiederholung des 19. Jahrhunderts läßt sich in ihrer umgekehrten Reihenfolge leicht herausnehmen (die Theater und Museen, die Kunst- und viele Schulgebäude, das Mietshauselend der Vorstädte und die »Regulierungen«). Erst bei Empire und Klassizismus stoßen wir an eine kraftvolle, selbstbewußte Schicht an, die sich dem eigentlichen Stadtleib wirklich aufprägte. Da stehen Zollamt und Landestheater (Ständetheater), der Stadtteil Karolinenthal (Karlin); schon mit ausgehendem Barock mischen sich die seitlichen Burgtrakte und viele ruhige Bürgerhäuser. Auf dieser Schwebe aus unruhigen Zeiten heraus zum ruhigen Klassizismus hat Daniel Huber sein Prag gesehen (1769), fast schon zu »orthographisch« für Prags eigentliches Wesen. Rekonstruieren wir uns den Stadtleib dieser Schicht, so treffen wir auf den getragenen Ton bewußter Schwere und kühler Form. Er tönt mit in der Symphonie Prag. Seltsam berührt die Besinnung, daß gerade unter diesem so gehaltenen Stadtbild die unruhige Romantik lebte, daß gerade damals die Begeisterung für Alt-Prag erwachte. (Rubriziert wurde sie erst später, als unter der fortschreitenden Verwilderung des Bauens der Gegensatz Alt-Neu schon peinlich fühlbar wurde.) Sie erwachte in der Freude am Ausschnitt, am Motiv. Und manchmal klingt in der Herrichtung des Bildes schon etwas Bitterkeit ob des Verlorenen auf (zum Beispiel bei Morstadt; s. Abb. im Text).
Graben wir tiefer, so sinkt die Waagrechte, die auf dieser Schicht das Stadtbild bestimmte, in sich zusammen: der große Aufschwung des Barock treibt auf, Türme und Kuppeln drängen plötzlich ganz anders empor, die Form wird ausladend und wild, die Panoramen schwingen. Diese Zeit hat das Panorama erkannt. Um 1700 schafft van Ouden-Allen seine großen Prospekte, vorher »malt« Wenzel Hollar seinen Stich von Prag. Entdecker der Panoramen aber (für Prag) ist Sadeler, aus dessen Werk, das den Barock vorausahnt, wir Ausschnitte bringen. Das ist nicht bewußt aufgesuchtes Motiv wie in der Romantik, das ist volle Freude am Eigenen und Stolz darauf. Es ist reiches Dasein im Bild, wie in der Wirklichkeit.
Das Bewegte der Einzelformen, dies Schwingende des Gesamts –; es gleicht das Voluminöse des darunter treibenden Körperlichen aus –;, pulst ihm die strotzende Kraft ein, die uns auf dieser Bildschicht entzückt. Aber diese Schicht reicht tief hinunter in den Wuchs dieser Stadt. Ja, sie hat eine dünne Renaissanceschicht, die unter ihr liegt, ganz aufgesogen, hat sich mit der tieferen Schicht des Mittelalters ganz verschmolzen. Es ist nicht nur der Grundriß, den sie mit der Schicht des Mittelalters teilt. Nein, gleiches Blut treibt in dieser und ihr. Selten spürt man das Ineinander des gotischen und barocken Formens so stark wie in Prag. Die Menschen, die damals lebten und bauten, hatten selbst es stark empfunden: sie schichteten ihre Welt unmittelbar auf die mittelalterliche auf, oft herrisch ändernd, wo sie es brauchten –; der Lebende hat recht! –;, es doch immer bestehen lassend in seiner Würde, wo sie noch ähnlich fühlten, wo nicht ein neuer Zweck anderes erheischte.
Indem wir die Schicht des Klassizismus abhoben, hatten wir nicht nur die Schicht des Barock, haben in ihr zugleich schon große Inseln der Gotikschicht aufgedeckt. Vor allem den Hradschin! Unter der Waagrechten des späten 18. Jahrhunderts drängt dort mit einem Schlage das Vertikalmotiv in vielen Abwandlungen auf. Hoch ragt St. Veit hinter niederen Vorbauten. Den Wladislaw-Bau schärfen zwei südwärts vorstoßende Trakte in die Senkrechte. Nordwärts schließen sich der alte Rosenberg-Palast, dann der Lobkowitz-Palast an, sie beide von kräftigen Fronttürmen geschient. (Die des Rosenberg-Palastes stecken wohl noch in den Erkerbauten des heute dort stehenden theresianischen Umbaus.) Um 1600 steht dort noch der »Weiße Turm«, der dem Veitsturm Echo gab (seine Fundamente sind im Quertrakt zwischen dem 2. und 3. Burghof verbaut). In Karls IV. Tagen soll er mit goldenem Dach heruntergegrüßt haben zur Moldau. Dies Vor- und Übereinander der Türme dort oben auf dem Hradschin riß nicht nur in die Höhe, es riß auch in die räumliche Tiefe. Die Gotik war ein plastischer Stil! Wie stark spürt man es hier, wenn man das damalige Bild vergleicht mit dem Anblick seit Maria Theresia, der so flach, so wandartig wirkt! Ja, gegen solche Tiefenkraft konnte sogar die Renaissance keine Breitenentwicklung wagen –; sie mußte ihr Belvedereschloß in die Tiefenflucht stellen (was sie dann allerdings wieder für ihr Ideal auszubeuten wußte).
Und graben wir nun auf der ganzen Linie bis zur mittelalterlichen Schicht hinunter, so ist es, als ob sich der Meeresspiegel senkte, so daß Inseln wie Berge hervortreten. Die Häuser werden niedrig im ganzen Stadtgelände, schwinden in großen Partien überhaupt weg: scharf, hochragend wachsen die spitzen Türme. Wer heute durch Prag geht, mag glauben, an manchen Punkten der im Umbau befindlichen Stadt gleichsam eine Spiegelung dieser historischen Tiefenlotung wahrzunehmen: wenn er hinter Häuserblöcken, die im Abbruch sinken, plötzlich Türme, Kirchenschiffe aufstehen sieht, die unter der Hochstadt des 19./20. Jahrhunderts schon kaum mehr wirkten. Nur für ein Kurzes dürfen sie heute noch einmal die alte Wirkung üben, es sei denn, daß dieser Entwicklung Einhalt geboten wird. Die Plätze werden nun weit, das ursprüngliche System über den Strom hinüber hebt sich heraus. Das scharf geschnittene gotische Prag, das Prag der Türme und der großen Plätze liegt vor uns. Nicht wie es der Zeichner im 15. Jahrhundert noch bildete –; mehr den mittelalterlichen Begriff »Stadt« als die Wirklichkeit »Prag« bietend (vgl. Tafel vor S. 1), nein: die Aufgipfelung des Hradschin wird drüben aufgenommen vom Teyn, von Maria Schnee, vom Karlshof. Und dazwischen und darüber tragen Strahow und St. Maria (der Johanniter) an der Brücke, drüben St. Clemens an der Brücke. St. Ägidien, St. Barbara, St. Valentin und St. Peter, St. Heinrich und St. Stephan, St. Cosmas und Damian und viele andere noch romanische Kirchen und Kapellen bis hinauf zum Wyschehrad den Rhythmus weiter. Fundament war die eng gebaute Masse der Häuser, noch vielfach aus Lehm und Holz, dazwischen aber schon das Steinhaus mit der üblichen Dreifensterfront. Nicht engbrüstig, aber schmal war das damalige Stadtbild. Die architektonischen Akzente waren wie an einem Band gereiht vom Strahowkloster bis zum Karlshof hinüber. Nur an der Moldau faltete es sich nordwärts auseinander.
Heben wir nun noch diese gotische Schicht ab, so bleibt das romanische Prag. Es scheint fast zu verströmen. Türme fallen, niedrigere bleiben. Häuser schrumpfen zu Hütten zusammen, aus denen einige Adelshöfe aufragen. Ein »Jaroschhof« ist im Erdgeschoß erhalten. Der festigende Mauergürtel sinkt. Flecken stehen nebeneinander. Doch der gestaltete Berg, der Hradschin mit seinen sich gegenseitig auswägenden Basiliken, der alten von St. Veit und der von St. Georg, zwingt sie doch zur Einheit zusammen. Prächtig steht der Palas am Burgabhang. Im Herzen der Unterburg zu seinen Füßen ein kleines Rundkirchlein zum hl. Wenzel, Hütten drum herum. Von der Höhe grüßt die Basilika des Stiftes Strahow. Drüben überm Strom der Markt mit Herzogshof, Kirche und Spital am großen Platz, zwischen Lehmhäusern kleinere Kirchen. Vom Markt flußabwärts das Petersviertel mit dem Kirchlein der Deutschen. Flußaufwärts zerstreut einige Kirchenbezirke: der Opatowitzhof, nahebei der »Judengarten« mit einigen Hütten, der Zderazhügel mit seiner Basilika, darüber St. Johann an der Walstatt. Auf dem Wyschehrad weit vor der Marktsiedlung die große Basilika St. Peter und Paul, daneben die kleinen Rundkirchen zum hl. Johannes und zum hl. Martin und der Palast des Wratislaw. 36 Gotteshäuser sind nachweisbar im romanischen Prag.
Heben wir auch diese Schicht noch ab, so sind wir am Wurzelwerk der Siedlung: Wenzelsburg und Moldaumarkt stehen sich fast nackt gegenüber. Es ist der Ausgangspunkt der ganzen Stadtentwicklung, von dem wir nun nach dieser gegenläufigen historischen Betrachtung in normalem Aufstieg den Wuchs verfolgen wollen.
Man möchte sagen: hier mußte eine Stadt entstehen. Hier ist die Mitte des Landes, das –; gebirgsumwehrt –; von allen Seiten her seine Energien anschiebt. Hier kreuzen über den Strom die großen Handelsstraßen, die diagonal das Land durchziehen. Hier festigen Hügel das Gelände, das der Strom, Hauptader des Landes, bestimmt.
Die Art des Zueinanders von Strom und Hügel bestimmt die besondere städtebauliche Situation.
Der Strom wird von seinem geraden Süd-Nordlauf abgedrängt durch eine nordher gegenstehende Hügelgruppe, um die er eine große Schleife zieht. Kurz vor der ersten Kurve staut er sich, gleich hinter dieser Kurve drängt er wieder breit aus. Hier und dort haben sich in der Verbreiterung größere und kleinere Inseln gebildet.
Am rechten Stromufer markiert je ein Hügel den Kurvenbeginn und das Kurvenende –; der aufwärts gelegene schroff gegen die Tiefe anspringend (Wyschehrad), der abwärts gelegene etwas landeinwärts in flauerer Erhebung (Veitsberg). Am linken Stromufer streichen Hügelkämme begleitend hin. Unmittelbar vor der Kurve senden sie einen steileren Vorsprung aus, der gegen den Strom anspringt (Hradschin).
Zum kriegerischen Stützpunkt reizten die Hügel, vor allem der steil vorspringende am linken Ufer, der den Strom flußauf- und -abwärts beherrscht. Zur Marktsiedlung lockten zwei Furten, die unmittelbar vor und kurz hinter der Kurve den Strom überquerten und die großen Ost-West-Handelsstraßen ansaugten.
Beide Möglichkeiten waren früh ergriffen worden: dorthin verlegten die Pøemysliden ihre neue Burg Prag, die ihnen zur politischen auch die wirtschaftliche Herrschaft über ihr Fürstentum sicherte, –; hier in der Stromkurve gegenüber Burg und Hügelmassiv, das gegen die andere Seite sicherte, hatte sich vielleicht schon vor dem Burgbau ein Marktflecken angenistet, der die Vorteile der Überfahrtsstelle nutzte.
Das Gegenüber scheint früh wirksam geworden zu sein: die Besiedlung des rechten Ufers rückt an der oberen, der Burg näher gelegenen Furt (an der Stelle der heutigen Mánesbrücke) zusammen. Es war die Stelle, an der sich die alten Handelswege vor Überquerung des Stromes trafen. Die eine kam von Osten, von Schlesien, Polen und Mähren. Kam über die heutige Hiberner- und Zeltnergasse. Die andere zog südher –; von Wien –; über Wyschehrad und Karlsplatz ein. Die dritte verband flußabwärts die Furten. Die Stelle ihres Zusammenstoßes –; nicht unmittelbar am Ufer –; bezeichnete wenig später das Kirchlein zu St. Valentin. Die Gabelung dieser Straßen gibt das Skelett für die älteste Stadtbildung. Es läßt sich aus dem heutigen Grundriß der Altstadt noch herauslesen. (Siehe Plan B.) Zwischen Straßenknotenpunkt und Strom lag Schwemmgelände. Es scheint zu einem Stapel- und Marktplatz genutzt gewesen. Um diesen Kern schließt sich die älteste Siedlung in der althergebrachten Ovalform: deren eine Kurve bildete das Stromknie, die andere der heute noch erkennbare Zug Plattnergasse –; Kleiner Ring –; Ziegengasse.
Drüben auf dem Burgberg wuchs Befestigung und Heiligtum. Um sie herum die Hütten der Gewerke und Dienstmannen. Auch unterhalb der Burg nistete sich Volk an. Ein kleiner Flecken entstand. Die Furt wurde zur ständigen Überfahrt. Im 11. Jahrhundert soll dort schon eine hölzerne Brücke gestanden haben. Auch drüben schuf das Netz der großen Handelsstraßen das Skelett für die spätere Stadtbildung. Eine führt nördlich am Burgberg vorüber durch den Bruska-Hohlweg hinaus über Schlan und Laun nach Sachsen, die andere unterm Burgberg am Fluß entlang gegen Süden nach Regensburg, beziehungsweise Linz. Von ihr zweigt die dritte ab, die für die dortige Stadtbildung wichtigste: Hradschin. Sie führt am Südhang des Hradschin zum Stift Strahow hinauf, von dort weiter nach Leipzig (vgl. Plan A).
Die Marktsiedlung drüben wuchs, sprengte den alten Ovalkern. Als Wuchsbedingungen wirkten einmal der Stromlauf auf- und abwärts, dann zwei Nachbarsiedlungen. Stromabwärts saßen seit dem 11. Jahrhundert die Deutschen. Der lokale Marktverkehr schloß allmählich die Lücke zwischen ihrer Ansiedlung und dem alten Kern. Flußaufwärts scheint ein altes Slawendorf gelegen zu haben: noch der heutige Grundriß zeigt in der Gegend des Bethlehemplatzes ein unregelmäßiges Radialsystem von Gassen, was auf alte Flurteilung zurückgeführt werden könnte. Die Marktsiedlung griff nach diesem Dorf aus, zog es ein.
Jetzt scheinen sich Schwierigkeiten in der Durchführung der großen Handelsstraßen durch die eng verbaute Siedlung zum Stapelplatz an der Moldau ergeben zu haben. Es schien ratsam, den großen Marktplatz vor die Siedlung hinaus zu verlegen.
Die große Osthandelsstraße hatte schon neue Siedlungen angeschoben (vgl. o. S. 36). Dort wurde nun der »Ring« angelegt, ein sehr großer Platz in unregelmäßiger Vierecksform, von zwei Diagonalstraßen durchschnitten, der alten Oststraße und einem neugebildeten Gegenlauf, der zu den beiden andern Handelsstraßen flußauf- und -abwärts führte.
Der Moldauflecken folgt also der üblichen Entwicklung: am Rand der eng gewordenen Altsiedlung, dort wo die Handelsstraßen einlaufen, lagert sich ein Stapelplatz an. Auf ihn wird der Markt hinaus verlegt. Die wachsende Siedlung umfaßt ihn und baut ihn allmählich zur neuen Mitte aus.
Dieser alte »Ring« umfaßte den Raum von Großem (Altstädter) und Kleinem Ring zusammen. Der heutige Rathausblock wurde erst später eingebaut. Die Grundmaße des Platzes waren annähernd 150:200 Meter. Im Osten, an der Einmündung der Oststraße, wurde der Teynhof angelegt, ein alter Herzogshof, der für die Unterbringung der fremden Kaufleute Verwendung fand, in dem diese fremden Kaufleute ihre Waren verzollen mußten. Ein neuer Schwerpunkt für die Stadtbildung war gegeben. Die vorgelagerten Bezirke flußabwärts und flußaufwärts ziehen sich an den neuen Marktplatz heran. So saugt er (12. Jahrhundert) die gesamte Energie der Siedlung an: die deutschen Kaufleute erwerben durch Kauf von den Herzögen Gelände im Siedlungsweichbild, schieben sich aus ihrem unten gelegenen Petersviertel herein, bestimmen immer ausschließlicher den Markt. Damit dringen sie auch näher an die andere große Handelsstraße heran, die der Moldau aufwärts folgte zum Wyschehrad. Als dieser Felsen im späten 11. Jahrhundert planmäßig zur zweiten Befestigung ausgebaut wurde, war aus der alten Südstraße die direkte Verbindungsstraße zwischen den Burgen geworden. Unterm Wyschehrad hatte sich ein Flecken angesetzt. An der Strecke zwischen den Burgen siedelten sich Klosterbezirke, Dörfer, Flößerstellen an. Wenig später sollen dort große Wochenmärkte abgehalten worden sein. Die Straße war belebt, »via publica« heißt sie in den Urkunden, sie zog Kräfte vom Marktflecken herüber.
Und noch ein Kraftzug beschleunigt den Westdrang der Entwicklung: die Burg sucht die kürzeste Verbindung mit dem Markt. Die führte nicht über die alte Furt unterhalb des Marktes –; das war ein Umweg –;, sondern durch die neuerstandene Unterburg direkt zur Kernsiedlung gegenüber. Alte Berichte behaupten, daß schon vor 1100 dort eine hölzerne Brücke gestanden hat. Historisch gesichert ist, daß unter König Wladislaw (zwischen 1158-1172) hier eine steinerne Brücke errichtet wurde (neben der Stelle, wo später die Karlsbrücke erbaut wurde, s. o. S. 32). So war die kürzeste Verbindung mit dem neuen Marktplatz geschaffen. Das Schwergewicht der Siedlung war westwärts verschoben. Ein großer Verkehrsweg faßte nun Ost- und Südstraße vor dem alten Siedlungskern zusammen, führte ihn über den Strom hinüber, am Johanniterspital, an der Burg, an den Klöstern Strahow und Breunau vorüber auf die Leipziger Straße hinaus.
Daß dieser neuen Verkehrsader in der Altstadt kein entsprechender Straßenraum geschaffen wurde, daß sie sich durch die engen Gassen der Siedlung hindurchzwängen, den Weg zur Brücke mühsam durch lauter Gewinkel sich bahnen mußte, war eine Unterlassung, die bis heute nachwirkt. Auch die spätere Karlsbrücke erzwang sich nicht eine entsprechende Einführung in den Stadtleib. Die neue Verkehrsbahn war nicht mit der Siedlung gewachsen, hat sich ihr nie organisch eingefügt.
Immerhin war durch die Brücke die feste Verbindung zwischen »Burg Prag« und dem »Prager Burgflecken« gegenüber geschlagen, die Einheit war unverlierbar gesichert. Rings um den neuen Kern lagerten sich verstreute Flecken. Im Gebiet der späteren Neustadt lagen der Hof Opatowitz, die Siedlung um das Zderazkloster, dessen Basilika zum Markt hinüber grüßte, die Flößerstelle am Podskal, der Rybnikflecken und unterm Wyschehrad ein kleiner Burgflecken. Im Grundriß der heutigen Neustadt lassen sich die Gassennester dieser alten Siedlungen noch nachweisen. Mehr als 30 Kirchen, Klöster und Kapellen lagen schon damals im Siedlungsgrund, beherrschend ragte darüber die Burg am andern Ufer.
Als im 13. Jahrhundert eine Stadterweiterung und zugleich die Ummauerung notwendig wurde, ergab sich sehr natürlich die Forderung, die Mulde der blasenartig am Strom gedehnten Siedlung auszufüllen, den großen Marktplatz dadurch in die Mitte zu rücken. Es trieb dazu, den Siedlungsumriß wieder in die alte Ovalform zu bringen, die bei Verteidigungen die geringste Angriffsfläche bot. Wenzel I. hatte den deutschen Münzmeister Eberhard mit der Verbauung des neu hinzugenommenen Geländes beauftragt, hatte also einen »Locator« bestellt gemäß der Sitte, die bei allen deutschen Stadtgründungen des Ostens damals üblich war.
In der Längsachse des neuen Siedlungsraumes wurde ein großer »Neumarkt« ausgespart. Mag sein, daß hier schon vor der Neugründung Markt abgehalten worden war –; jetzt wurde er, zumindest im Südosten, regelmäßig umbaut. Wieder überraschen die großen Ausmessungen dieses Platzes (zirka 400:100 Meter): der ganze Raum zwischen der heutigen Galligasse (Havelská) und Rittergasse (Rytíøská) sowie Kohlmarkt und Obstmarkt waren eine Einheit. Nur das Gallikloster, monumental in die Platzmitte gestellt, teilte ihn in zwei Räume. Alle heute dort stehenden Einbauten sind späteren Datums, zum Teil schon der Zeit Karls IV. Die Nordwestgrenze dürfte von alten Besitzverhältnissen abhängig gewesen sein. Die Südostflucht zeigt die regelmäßige Planziehung. Das System der ostdeutschen Städtegründungen greift zum erstenmal in die Prager Stadtbildung ein.
Die solcherweise wieder geschlossene Form des Marktortes wurde nun mit festen Mauern und Gräben umzogen. Die Linie blieb in dem Straßenzug: Volksstraße –; Graben –; Deutschherrenstraße erhalten. Acht Tore öffneten ihn nach der Landseite (darunter das St. Franzenstor, das Langgassentor, das [alte] Roßtor, das Gallitor, das Zderazertor, das St. Stephanstor). Als bald darauf auch die Moldauseite ummauert wurde, errichtete man dort hinaus fünf Tore, darunter das St. Valentinstor.
Bemerkenswert, wie sich das Gegenüber der Prager Siedlung im Weiterwuchs der Stadtzweiheit immer wieder auswägt. Der Marktflecken war stark gewachsen. Ein großer Block lag in der Moldaukurve, in dem neben den Kirchtürmen die Wohntürme einiger Adliger, später der Stadtgeschlechter scharfe Akzente gaben. Drüben ragte die Burg. Die stolzen Zeiten Pøemysl Ottokars II. waren gekommen: der neue Palasbau Wladislaws, später der Erneuerungsbau Ottokars entzogen die Basilika des 11. Jahrhunderts fast ganz dem Blick von unten, nur deren Türme ragten wohl über den First des Hofbaues. Daneben ragten die Türme der Georgskirche. Rings im Kranze die Burgtürme, in West und Ost und in der Mitte die stärksten. Dem Burgberg zu Füßen ein Haufen kleiner Lehmhütten, aus dem nur am Brückenkopf auf der einen Seite das Spital der Johanniter, auf der andern Seite die Pfalz des Bischofs, der seit kurzem hier unten residierte, als Großbauten aufgingen. Unter dem schwereren Gewicht der Gegenseite (der Altstädter Seite) steigt die Schale der Burgseite fast zu leicht auf. Da setzt nun auch hier eine monumentale Vergrößerung ein.
Der lebendige Hof braucht ein wirtschaftliches Fundament: man verkauft Baugelände an die Deutschen. Der stolze Burgbau brauchte ein architektonisches Fundament: man teilte die Bauflächen unterhalb der Burg zu. Bezeichnend für die sammelnde Kraft des Gegenübers Burg –; Stadt: nicht das hier und dort schon besiedelte Gelände zwischen Prager Markt und Wyschehrad, das so viel Freiplatz bot, wird jetzt regelrecht besiedelt. Nein: unmittelbar unter der Prager Burg werden die einheimischen Ansässigen, die den Königen wenig Steuern einbringen, rücksichtslos vertrieben. Die Burg bekommt in den regelmäßig angelegten Neubauten der Deutschen ihr festes Stadtfundament: die »Kleinseite«.
Hier steigt zwischen Moldauhöhen und Burgberg geschütztes Gelände amphitheatralisch empor. Die neue Bischofspfalz, vor allem die Brücke, hatten es begehrenswert gemacht. In ihnen waren die Fixpunkte für die neue Stadtplanung gegeben. Wie klug sie berechnet wurde, macht der Grundriß deutlich. Zum zweitenmal greift ostdeutscher Städtebau in die Prager Stadtbildung ein. Alte Wegausfahrungen werden in deren festes Schema eingespannt. Die Verlängerung der Brückenachse wird landeinwärts vom sehr großen Platz aufgenommen. An dessen diagonal gegenüberliegendem Eck wird die Straße wieder hinausgeleitet, den Burghang hinauf dem alten Handelsweg folgend. Die Querachse zieht parallel dem Flußlauf. Die Gesamtanlage wird als Zwickel zwischen Burghang, bischöflicher Pfalz und der Achse: Brücke –; Burgwesttrakt eingefügt. Der Ausgleich zwischen Burgstadt und Brückenstadt wird geschaffen durch den sehr klug der Mitte des architektonischen Kraftfelds eingefügten Platz. Er ist in viel tieferem als bloß örtlichem Sinn Mittelpunkt der Anlage: er knotet die Kraftlinien, die von der Burg einerseits, von der Brücke andererseits ausgehen, sichert zwischen ihnen den tragfähigen Ausgleich. Die Blöcke liegen dem Platz regelmäßig an, nur am Hang folgen die Gassen unregelmäßigem Gelände. Der Platz in der Mitte wieder sehr groß –; 100:200 Meter. Er umfaßte den Gesamtraum von Kleinseitner Ring und Wälschem Platz. Doch auch dieser Platz wird bald in der Mitte verbaut: einige Jahrzehnte nach der Gründung ersteht dort –; noch vor 1300 –; neben St. Wenzel, das die Neugründung offenbar geschont hatte, die Niklaskirche als Pfarrkirche der Kleinseitner Bürgerschaft. Andere kleine Gebäude schließen sich zu einem Mittelblock an. Die Platzwände schieben sich an den Ecken vor die Einfallstraßen, im Wehrsinn wie künstlerisch gleich bedeutsam. Dieser Grundriß blieb bis heute gewahrt, wurde nur im Südeck durch einen Durchbruch und einen häßlichen Neubau verdorben.
Das Ganze wird ummauert: fünf oder sechs Tore führen hinaus, für ihre Anlage wiesen die alten Handelswege die Stellen. Das Bild hatte monumentale Figur: die Brücke schuf den Energiestrom von der »Alten Stadt« herüber und hinauf zur Burg. Das Gegenüber wird wieder in sein spannungsvolles Verhältnis gesetzt, unter dem die Wyschehrader Seite für das Gesamtbild absinkt.
Das 14. Jahrhundert baut zunächst auf beiden Stromseiten weiter. Die Mauerringe bleiben, nur oben hinter dem Hradschin wird westwärts vorgeschoben. Dort hatte die große Handelsstraße vor dem westlichen Burgeingang Siedlungsstellen gestaut. Es lag nahe, diese Siedlungen zur festen Stadt zusammenzufassen, um dadurch ein starkes, dem gefährdeten Burgeingang vorgelagertes Bollwerk zu erzielen. Denn hier am Ansatz des »Weißen Berges«, aus dem der Burghügel vorspringt, war die bedrohteste Stelle, der ein tiefer Graben am Westeingang, seit Jahrhunderten gezogen, immer ungenügender entsprach. Unter Johann von Luxemburg –; kaum durch ihn selbst, der sich nicht eben viel um Prag bekümmerte, sondern vermutlich durch den Burggrafen Zbinek Berka von Dub –; wurde die Gründung bestimmt. Der schmale Ansatz des Hradschinfelsens an die zusammenhängenden Moldauhöhen wurde bebaut. Ein langgezogener Platz in der Mitte (der heutige Hradschinplatz), ringsum Häuserzeilen, zwischen denen wenige Gassen den Anschluß an das Gelände suchen. Die Ummauerung schließt die große Handelsstraße, die vom Westen anläuft, aus, nur einen Abzweiger nimmt sie herein (Brandstätte). Der Hauptarm wird erst von dem Kleinseitner Mauerring durch das Strahover Tor ins Stadtinnere eingelassen. Wie Gallistadt, wie Kleinseite, so wird auch diese Hradschinstadt als eigenes Gemeinwesen eingerichtet. (In der Renaissancezeit wird ein eigenes Rathaus, an der Stiege, die vom Südwesteck des Platzes abwärts führt, gebaut.) Als Stadterweiterung kommt sie kaum in Betracht: hier oben zwischen den Hügeln, weitab vom Strom, waren keine Entwicklungsmöglichkeiten. Erst der Barock versucht solche zu schaffen, auch er ohne Erfolg. Entwicklungsmöglichkeiten warten unten am rechten Ufer.
Karl IV. nimmt sie auf (1348). Er ist der erste Fürst des Abendlandes geworden. Er will ihm einen neuen Mittelpunkt hier im Osten schaffen. Als Grundlage für seine Pläne braucht er eine Weltstadt. Er gründet die Neustadt.
Erstaunlich, wie in dieser Gründung persönliches Genie und Befolgung ganz allgemeiner und sehr besonderer Prager Wuchsbedingungen sich treffen, wie sinnvoll Planendes und naturhaft Wachsendes zur Einheit zusammengehen. Wir wissen nicht, welche Architekten dem Kaiser damals zu Diensten standen. Doch wir haben genug Zeugnisse seines persönlichen Eingreifens in die Gründungsarbeit, um seinem Genie weitgehenden Anteil an der Anlage zuzugestehen (s. o. S. 70 ff.).
Er holt den abgestorbenen Wyschehrad wieder herein ins Weichbild: er zieht die Neustadtgrenzen bis zu ihm als Fixpunkt hin. Er holt das abgestorbene Petersviertel (flußabwärts von der Altstadt) wieder herein ins Weichbild: er dehnt flußabwärts das Stadtgelände bis zu ihm aus. Und zwischen Petersviertel und Wyschehrad, von Moldau zu Moldau also, zieht er über Hügel und Täler die Mauern, schafft später oben im Karlshof einen neuen architektonischen Schwerpunkt, der über die Gesamtanlage hinübergrüßt zum Hradschin.
Alle vor den Stadtmauern angesiedelten Flecken, Klöster und Einöden werden mit einem Schlag hereingeholt in das Stadtsystem. Die innere Aufteilung dieses großen, für damalige Zeiten unerhört großen Geländes verrät Anpassung und Wissen zu gleichen Maßen. Drei große Plätze bestimmen das Ganze. Der mittlere (der heutige Wenzelsplatz), vom Gallitor senkrecht hinaufführend, teilt das Gesamtgelände zu klarem Rhythmus. Seiner Bestimmung gemäß (Roßmarkt) ist er mehr lang als breit (700:60 bzw. 75 Meter). Die Platzschöpfung ist absolute Neuanlage: keine alte Straße zog hier aus. Im Gegenteil: das Gelände steigt hier zu dem im Südosten abschließenden Hügelgelände an. Dieser Platz ähnelt dem süddeutschen Straßenmarkt. Auch das oberdeutsche Straßenkreuz klingt an, allerdings mit bezeichnender, wenn auch nur geringer Verlagerung der Gegenachsen in der Mitte (Heinrichs- und Wassergasse –; Jindøišská und Vodièková). Aber vom Straßenmarkt scheidet ihn doch das In-Sich-Beschlossensein: keine große Straße führt von ihm weiter ins Land hinaus. Das Hügelgelände, das an ihn anschließt, sollte mit Weinreben bepflanzt werden. Ein Triumphalplatz also von Kaisers Gnaden, streng gerichtet. Straßensysteme schneiden rechtwinklig an.
Die durch ihn gebildeten Hälften des Neugeländes werden nun in sich durch je einen Platz wieder unterteilt. Der südwestliche folgt der alten Südstraße: großer rechteckiger Straßenplatz, auch er in ungewöhnlichen Ausmaßen (500:150 Meter), zum Viehmarkt bestimmt (heute Karlsplatz). In rechten Winkeln gehen die Straßen ab.
Der Platz im Nordosten, der Heumarkt (heute Heuwagsplatz), muß vermitteln zwischen der nordostwärts führenden Handelsstraße und dem südöstlich gerichteten Mittelquartier: er legt sich in seiner Hauptachse parallel zu jener Oststraße, weitet sich aber dem Stadtkern zu zum Dreieck, dessen dem Stadtkern zugewandte Seite das Achsensystem des Mittelquartiers aufnimmt (100:300 Meter). So wird hier durch den Platz selbst die Durchdringung zweier Achsensysteme –; System Roßmarkt und System Oststraße –; vermittelt. Zwischen den auf Roßmarkt und Viehmarkt senkrecht errichteten Achsensystemen, die unter sich in 45 Grad geneigt sind, wird in der Straßenführung ein sinnvoller Ausgleich gewonnen: die Stephansgasse zum Beispiel führt in leiser Schräge aus der zum Roßmarkt senkrechten Richtung in die zum Viehmarkt parallele Richtung hinüber. Der Gesamtgrundriß verrät deutlich die der Natur und auch den vorgefundenen Siedlungen klug angeschmiegte städtebauliche Berechnung.
Über die wirtschaftlichen und rechtshistorischen Unterlagen der Gründung haben wir im vorigen Abschnitt berichtet. Hier noch über den künstlerischen Wurf der Anlage. Diese ungeheuerliche Dehnung des Stadtgeländes über die ursprüngliche konzentrierende Ovalform hinaus hätte die Spannung Hradschin –; Altstadt, wie sie der Prager Stadtbildung bis jetzt zugrunde lag, bedrohen, zumindest verflauen können. Dem wirkt die Grundplanung der neuen Anlage entgegen: sie flutet nicht unförmig hinaus, sondern drängt im Gegenteil dem Zentrum zu. Drücken schon die Außenpunkte: die Hügel Wyschehrad –; Weinberge –; Veitsberg zum Stadtkern hin, so wird diese natürliche Gerichtetheit noch verstärkt durch eine künstliche: die drei Hauptplätze bilden in ihrem Zusammen ein Radialsystem, das seinen Mittelpunkt in der Altstadt sucht. Das strafft die große Ausdehnung der Neustadt zentripetal, saugt die ganze Energie zurück in den Kern. Wie dies Radialsystem in die andere Richtung vom Kern hinaus wirkt, haben wir in dem Kapitel »Raumerlebnis« beschrieben. Die Neustadt ist dadurch auf großartige Weise ins Gesamtsystem einbezogen. Und dieses Gesamtsystem ist wieder in sich ausgewogen.
Dieses Radialsystem, in dem ein Lieblingsmotiv der Renaissance in noch lockerer Fassung anklingt, läßt sich noch genauer festlegen: die drei Platzachsen zielen in ihrer Verlängerung tatsächlich auf einen Punkt. Hier muß bewußte Absicht angenommen werden. Die Feststellung dieses ideellen Mittelpunktes des Radialsystems deutet des Kaisers tiefsten Beweggrund für die Formung der Neuanlage an: dieser Mittelpunkt liegt nämlich dort, wo die Einfallsgasse vom Graben zur Gallistadt, das »Brückel« (Mùstek) in den damaligen »Neumarkt« mündet. Karl band also die Neustadt über die rechtshistorisch und wirtschaftlich noch bedingten Grenzen –; auch die Neustadt war wieder als eigenes Gemeinwesen begründet worden! –;, über Wall und Graben hinweg künstlerisch doch schon ein in das Stadtganze. Und indem er sie gerade hier, an diesem Punkt der Gallistadt, einband, rückte er das Schwergewicht der Altstadt zumindest symbolisch vom Ring herüber der Neugründung zu. Man denkt daran, daß er auch sein Krönungsmahl auf diesem Platz, nicht auf dem alten »Ring« hat rüsten lassen. Denkt daran, daß er unweit, schon auf dem Neustadtgelände, den hohen Chorleib von Maria Schnee errichten ließ, der mit seinem scharfen Turm daneben so recht »am Platz« war, die stolze Mitte des neuen, des kaiserlichen Prag zu betonen, dem keine Zeitschranken mehr wehren sollten, in die Idee des Schöpfers sich hinaufzuheben.
Ein Mauergürtel mit Warttürmen in je 200 Meter Abstand umschloß das Ganze, schwang in großen Kurven über Hügel und Täler. Mit Toren wurde sparsam umgegangen: nur fünf führen hinaus, meist monumentale Abschlüsse großer ansteigender Straßenzüge (s. Abb. nach S. 72).
Diese Ummauerung wirkt wie harter Abschluß einer sinnvoll gewachsenen Figur. Genial war die neue Bildung dem Wuchsgesetz des Stadtganzen eingefügt. Nun schnitt die Mauer es jäh ab. Blicken wir westwärts über den Fluß hinüber, wo Karl einige Jahrzehnte später (1360) den Berg herab –; hinter dem Strahower Stift beginnend, unter Einschluß des Aujezd bis zur Moldau gehend –; die sogenannte Hungermauer ziehen ließ, mit ihr wieder neues Gelände dem Stadtganzen einbezog, so scheint ein neues Licht auf die Tatsache der Ummauerung zu fallen, wenigstens von der rein künstlerischen Seite aus. Dort oben schweifte die Stadt gar zu pflanzenhaft aus: die Hänge, die Wälder verwischten alle klaren Grenzen. Grenzen aber wollte der Kaiser trotz aller geistigen Weite. Man wird vor dieser Mauer, die oben auf den Hängen der Moldauhöhen dem Stadtbild eine gezackte Folie gegen den Himmel schafft, an den hortus inclusus des Mittelalters erinnert, aber auch an den Willen der Renaissance, die das Schweifende haßte, die alle Bewegung zu stauen suchte zur bildhaften Figur.
Figur war diese Stadt geworden unter dem großen Kaiser: vom Hradschin nieder herrschte der neue hohe Chor, herrschte der neuerrichtete Burgpalast, herrschten die vielen Türme. Aus der Altstadt grüßten St. Jakob, St. Ägidien und in ihrer Mitte der Teyn, dessen neuer Chor nun aufwuchs, als Hauptkirche der deutschen Bürger. Der Brückenturm vermittelte zwischen beiden Gewichten, und Maria Schnee lud den Raumschwung weiter über die neuen Pfarrkirchen der Neustadt: St. Heinrich und St. Stephan, über die Klosterkirchen und Kapellen hinüber bis hinauf zum Karlshof und zum Wyschehrad.
Karl IV. war ins Mittelalter gewendet und in die neue Zeit. Beide Motive: der hortus inclusus und die Figur der Renaissance mögen bestimmend gewesen sein für seinen Formwillen. Bleibend war die »Stadtfigur« der kaiserlichen Gründung, diese großartige Figur, die geräumig und bedeutsam genug war, um bis ins 19. Jahrhundert hinein die Entwicklung Prags zu halten und zu gestalten.
Die künftigen Jahrhunderte hatten wenig hinzuzufügen. Ihnen blieb nur Ausbau und Einbau. (Das Hussitenjahrhundert ließ viel von dem Erbe verfallen.) Das einzige Denkmal, das sie schufen, sind die Türme des Teyn, die sie als trutzige Fäuste der Burg entgegenstemmten. Der architektonische Fixpunkt für die Altstadt als monumentales Gegenspiel gegen den Hradschin war erst mit ihnen geschaffen. Bezeichnend, daß er in einer Zeit geschaffen wurde, die in der Altstadt auch geistig den Gegenpol zum »römischen« Hradschin mit wilden Kräften geladen hatte.
Die Spätgotik erfüllte wieder den Hradschin mit neuer Kraft: mit dem Wladislawbau (um 1500). In der Altstadt entstand der Pulverturm. Aber all dies blieb im Bann der von Karl gewiesenen Gestalt.
Erst die Renaissance versuchte Neues: sie stellte im Belvedereschloß eine Gegenachse zum Hradschin auf die beherrschende Höhe. Gegen die Südostrichtung der Hradschin-Energie wird die Nordostrichtung einer neuen Energie versucht. Zugleich wird versucht, den Vertikalakzent des Hradschin in die Breitenausladung herüberzuziehen. Doch diese Energie wird drunten nirgends zur Erwiderung aufgenommen, auch ist der neue Kernbau zu leicht, um wirkungsvoll auszustrahlen. Das Hradschinmotiv saugt die neue Richtung doch wieder zurück in die Grundrichtung.
Auch nach der andern Seite versucht diese Zeit einen neuen Richtungsstrahl auszusenden: Lobkowitz stellt seinen Palast an den Hradschinplatz, läßt die Rückfront am Burghang südwärts wirken. Mit Hradschin und Belvedere zusammen könnte das ein radial vom Kern hinauswirkendes Kraftsystem ergeben, ein Gegenprinzip also gegen das hier wirksame Richtungsprinzip: Hradschin –; Altstadt. Das Allseitig-Ausstrahlen als Renaissance-Ideal klingt an. Doch auch dieser Bau (jetzt Schwarzenberg) schafft kein neues Gesetz, lenkt nur die Richtungsenergien, die vom Gegenüber herauftreiben, vom Hradschin weiter dem Strahowstift zu. So arbeitet hier die Renaissance –; wider den eigenen Formwillen gleichsam –; dem Barock in die Hände, der diese Richtungsweitergabe dann schwungvoll ausbaut.
Unten in der Stadt zwängt die Renaissance in die Blockenge der Altstadt ihre Arkadenhöfe: beschwingte Gebilde italienischer Prägung, die aber bald verflachen und zuletzt in die Vulgärform der »Pawlatsch«, des mit Holzgalerien umbauten Innenhofes, aufgehen. In ihnen allerdings hat die Renaissance dann doch eines der charakteristischesten Motive der Prager Wohnhausarchitektur geschaffen, ein Motiv, das noch heute den Großteil der Wohnbauten als Innengerüst bestimmt. (Erst die jüngste Architektur –; doch nur in den Außenbezirken –; brachte die direkte Umkehrung: das Außenganghaus.) Aus diesen Renaissancehöfen mag sich noch ein anderes für Prag so bezeichnendes Motiv entwickelt haben: der Durchgang. Die Höfe lagen gewöhnlich innerhalb eines Blocks zwischen zwei Gassen. Was war bei den knappen Verbindungswegen innerhalb der Altstadt natürlicher, als aus den Höfen Durchgänge auf die Gassen herauszubrechen. Das Motiv wucherte. Allüberall wurden solche Durchgänge geschaffen. Die »Passage« entstand auf diese Weise in Prag in vollkommen selbständiger Entwicklung. Noch heute, ja gerade heute wieder, beherrscht sie den modernen Geschäftsbau in Alt- und Neustadt, zieht den Fußgängerverkehr ab von den verkehrsüberlasteten Straßen und Gassen. Wir wissen: auch dies Motiv ist tiefer im Prager Wesen bedingt als nur durch zweckliche Entwicklung. Es ist Ausdruck des wühlenden Raumes, der sich in die Massen hineinbohrt. In alten Häusern erweisen Treppenläufe, die sich labyrinthartig durch den Bauleib hinaufschrauben, das gleiche Wesen.
Der Barock setzt an der Salvatorkirche der Jesuiten ein: der alten Brücke wird ein monumentaler Empfang auf der Altstadtseite bereitet. Das alte Clemenskloster verschwindet. Bezeichnend, wie alte Grundrisse, also Besitzverhältnisse wirksam bleiben durch die Jahrhunderte: der Jesuitenneubau rückt keinen Zoll breit über die alte Gassenflucht, denkt nicht daran, die städtebaulich unmögliche Situation der Durchfahrt von der Brücke zum Ring zu ändern.
Folgenreicher gestaltet der Barock in dieser Frühzeit (17. Jahrhundert) auf der Kleinseite: Wallenstein erbaut hinter der ehemaligen Bischofspfalz »Am Sande« (Na písku) seinen Palast. Das war Stadtgründung im Kleinen. Ganze Wohnviertel, unansehnliche allerdings, wurden abgerissen, um des Friedländers Anlage, Palais mit großem Park dahinter, Platz zu schaffen. Das Kleinseitner Stadtgelände wird erst mit diesem Bau durchorganisiert bis zum Strom.
Oben auf der Hradschinstadt baut die zweite Jahrhunderthälfte: die Stiftung der Gräfin Benigna Catharina von Lobkowitz, die Wallfahrtsstätte Maria Loretto (aus dem Jahre 1626), wächst sich zu einem reizvollen Klosterkomplex aus. Gegenüber errichtet Johann Humprecht Czernin von Chudenitz seinen gewaltigen Palast, sammelt mit ihm hoch über dem Hradschin ganz neuen Stadtraum, in dem sich behäbige Bürgerhäuser und genug Hütten einfinden. Das schafft dort oben neue Energien: der Palast richtet sich mit seiner Hauptfront gegen Osten, stellt aber ebenfalls gegen Norden eine wuchtige Front, das brach liegende Gelände auch nach dieser Richtung organisierend. Dieser Palast wird architektonischer Schwerpunkt für die Gegend dort oben. Daß er nicht ausgewertet wurde –; es gähnt noch heute ringsum große Öde –; lag am Mangel günstiger Verbindung mit dem Stadtkern: die alte Handelsstraße war zugleich Burgstraße, für einen Stadtverkehr also ungünstig, auch zu steil. Eine Nordverbindung schuf erst das 19. Jahrhundert, allerdings ohne sie auszuwerten.
Jetzt werden die Stadtkerne unten angegriffen von der neuen Baulust: Jesuiten bauen zuerst. In jede der drei Städte stellt der restaurierende Orden seine Burg. Das Clementinum wird mit prächtigem Kolleghaus erweitert. Ein gewaltiger Komplex mit Kirchen, Kapellen, Kollegien, Bibliothek und Alumnaten ersteht, eine kleine Stadt für sich. Da gegenüber, dicht an der Brücke, nun auch der Kreuzherrenorden an Stelle seiner kleinen romanisch-gotischen Kirche eine moderne Kuppelkirche errichtet, wächst hier am Brückenkopf ein neuer Schwerpunkt der Altstadt auf, eine Platzschöpfung erlesenster Art.
Inmitten der Kleinseite ersteht Profeßhaus und Kirche zu St. Niklas als monumentale Trutzburg. Man begreift vor diesen Bauten, wie der Orden sogar dem Erzbischof trotzen konnte. Die durch diesen Bau geschaffene städtebauliche Organisation haben wir oben gezeichnet (s. S. 364).
Inmitten der Neustadt, am Viehmarkt, wächst die Ignatiuskirche samt Profeßhaus auf, wieder ein gewaltiger Block im Stadtgebilde. Er wird schräg gegenüber der Fronleichnamskapelle, die unter Wenzel in die Mitte des Platzes gestellt worden war, errichtet. Ein Jahrhundert hindurch stehen sich dort Mittelalter und Barockzeit gegenüber: der in sich geschlossene Rundbau dem prunkvollen Längsbau der Jesuiten. Auf van Ouden-Allens Stich von 1685 spürt man die architektonische Spannung zwischen beiden: in der Zeitkluft zwischen ihnen liegt der oft grausige vielhundertjährige Kampf um Gottes Wort.
Und zwischen diesen Schwerpunkten füllten sich nun die Gassen und Plätze aller drei Städte mit dem starken Ton der Zeit. Die Kirchen wechseln ihr Inneres aus: St. Jakob, St. Agidien, St. Thomas und andere bekommen barocke Innenarchitektur. Neue Kirchen erstehen an der Stelle von alten: Strahow, St. Niklas in der Altstadt, das hinter dem Krennhaus verborgen, doch in den Platzrhythmus bestimmend hereinwirkt (s. Tafel nach S. 368), St. Johann am Felsen, am Hang gegenüber dem Emauskloster, und noch so viele andere. Der Adel baut seine Paläste: am Ring der Graf Golz, nahebei in engster Gasse der Graf Gallas, auf der Kleinseite die Nostitz und Thun und Morczin. Der Erzbischof erneuert seine Residenz. Sie war im Renaissancejahrhundert auf dem Hradschinplatz dicht neben dem Königspalast errichtet worden. In der Neustadt bauen die Piccolomini, Sporck und Colloredo (heute abgerissen).
Fast eineinhalb Jahrhunderte hindurch hat barocke Gestaltung (im weitesten Sinn) eingewirkt auf Prag. Sie hat die Plastik des Stadtkörpers großartig gesteigert, hat die Rhythmen, die ihn durchbeben, wunderbar vertieft. Zwingende Dominanten wuchsen jetzt aus den einzelnen Teilen auf, verbanden sie untereinander zur lebensvoll gegliederten Gestalt. Die Straßenzüge, vom Mittelalter in heftige Kurvaturen ausgeschliffen, waren nun mit gewichtigen Häuserblöcken fast lückenlos umbaut, die Straßen- und Platzwände hatten sich geschlossen zu eindrucksvoller Raumbegrenzung.
Gewiß: die einheitliche, groß angelegte Barockplanung war hier nicht eingedrungen. Es fehlte die Nötigung zu grundlegender Änderung. Karls IV. Stadtkörper reichte noch immer aus. Es fehlte auch der Herrscher, der seinen Willen hineingezwungen hätte in dieses selbstsichere Stadtwesen. Gelöst in eine Vielfalt von städtebaulichen Einzeltaten senkte sich die große Idee des Barock hier ein und fügte in Teilen, was dann, lebendiger gerhythmet und eben in solchen Teilen mit allen Energien geladen, zum Ganzen zusammentreiben mußte. Dies aber war das Gesetz dieser Stadt. Ein despotisch über sie verfügtes rationales Schema hätte ihren Atem ersticken, hätte die Erdkräfte lähmen müssen, die in sie aufschossen. Die lockere Durchdringung mit barockem Geist entsprach dem hier treibenden Wesen. Naturhaftes, wie es hier seit je aus dem Boden, aus der Atmosphäre trieb, es konnte aufgenommen werden von diesem offenen Rhythmus. Es konnte hinaufgehoben werden in die große Form der Kunst. Und da der Barock in Prag dies geheime Gesetz erspürte und befolgte, konnte er weiterbauen auf jenen Zeiten, die diesem Gesetz ehedem gehorsam waren. Das ununterbrochene Hinaufwirken mittelalterlicher Gestaltungsideen in die barocken, das wir wie selten anderswo in Prag bewundern können –; es gründet auf diesem Befolgen eines örtlichen Genius durch die Zeiten hindurch.
Wir übersehen dabei nicht, was der Barock an ganz Neuem hinzubringt. Was das Mittelalter in übergreifende Bezüge aufzulösen sucht, den immer wieder andringenden Dualismus des hier Gegebenen –; der Barock arbeitet es mit aller Kraft heraus, setzt, wo er nur kann, sein Lieblingsthema des Gegensatzes. Und im Einzelnen häuft er die Formenergien bis zu wilder Entladung, bis zum Umschlagen in düstere, verhaltene Leidenschaft, wo das Mittelalter die stolze Gewalt der Form einbindet in den Dienst am Werk. Aber unter solchen Verschiedenheiten treibt der gleichsinnige Strom durch beide Schichten hindurch, ja kommt gerade im Barock zum Bewußtsein seiner selbst. Was in der Renaissancezeit sich regte, –; der Barock läßt es ausreifen zu bezwingender Gestalt.
Und noch ein anderes schuf der Barock, das tief auf den Charakter der Stadt wirkte: die Gärten. Hinter seinen Palästen führte der Adel seine Parks die Hänge hinauf: reiche Architekturen in Terrassen, Loggien, Treppenläufen und Kaskaden. Naturhaftes, das wir im Wesen der Prager Stadtbildung so tief eingebunden fanden –; es wird nun von der Kunst zurückgeholt in die Gesamtwirkung, gerade da, wo Karl es hatte verbannen wollen. Und doch war er es gewesen, der die erste Anregung gegeben hatte: seit seinem botanischen Garten (an der heutigen Heinrichsgasse, Jindøišská), in dem er seine Naturliebe noch wissenschaftlich verbrämte, reißt die Tradition der Gärten hier in Prag nicht ab. Sie geht über das Belvedere, über den erzbischöflichen Garten drunten auf der Kleinseite und über den Waldsteingarten unmittelbar in den Barock über, Prag wird –; zumindest auf seiner gegen Westen gelegenen Seite –; zur Parkstadt höchsten Ranges. Naturform steht gegen die reifste Kunstform. Und dieser reiche Gegensatz wirkt noch ins heutige Stadtbild herein.
Das ausgehende 18., das beginnende 19. Jahrhundert dämpft dies laute Wogen der Formlust. Es beruhigt die Räume. Die in dieser Beziehung folgenschwerste Leistung, die Umwandlung der Hradschinsilhouette, haben wir oben (S. 270) betrachtet. Gleicherweise arbeitet der Klassizismus unten in der Stadt. Er schließt den Graben, den schon das 18. Jahrhundert zu einem Straßenzug eingeebnet hatte, zum geschlossenen Straßenraum ab, indem er, dem Pulverturm gegenüber, dem alten Hibernerkloster die schöne Fassade vorsetzt (Zollamt), Vorbild war die Berliner »Neue Münze« von Gentz. Er riegelt den Obstmarkt gegen die Rittergasse ab durch das Landestheater, er schafft (schon unter Chotek) dem Wenzelsplatz die abschließende Kulisse im großen Roßtor (vgl. Tafel nach S. 384). Er schafft an Fassaden und Kirchenräumen, erweitert die Stadt in der planvoll an zwei Parallelstraßen gereihten Vorstadt Karolinenthal. Aber auch er ändert nichts am Grundzug, der hier treibt. Ja, das Frühere bricht triumphierend durch die Oberflächenstimmung hindurch und drängt ins 19. Jahrhundert hinein.
Dieses 19. Jahrhundert läßt eher geschehen, als daß es planvoll schafft. In den Tälern zwischen den Hügeln wildern die Vorstadtarme hinaus (Smichow zuerst, später Nusl, Veitsberg), auf dem Hügel hinter dem Wenzelsplatz wächst die Vorstadt »Weinberge«. Die städtebaulichen Schemata jener Zeit sind berüchtigt genug, wir müssen sie hier nicht am besonderen Beispiel brandmarken. Man baut Vorstadtkirchen in allen alten Stilen, berauscht sich sentimental am Alten, ohne es doch zu wahren. Nirgends wird um das Alte herum Luft geschaffen, damit es leben könne. Nirgends wird der neue Verkehr sinnvoll eingebaut ins alte Netz. Aufstrebende Industrien, die ersten Bahnen –; das alles wuchert nun an die Stadt heran, in die Stadt herein. Dem rückschauenden Blick scheint fast nur Zufall gewaltet zu haben bei all diesen Neuerungen.
Nur einmal treibt Schöpferisches auf in diesem Übergangsjahrhundert: in den unter dem Oberstburggrafen Chotek ins Werk gesetzten Unternehmungen. Der zieht einige neue Verkehrswege: er errichtet zwischen Volksstraße (damals Neue Allee) und Karlsbrücke den Franzenskai, von dem ein in gute Verhältnisse gesetzter Platz zurückspringt, vom Franzensdenkmal gefestigt. Dann gibt er dem Straßenzug Graben –; Volksstraße den notwendigen Weitertrieb über die Moldau hinüber in der Franzensbrücke, im Volksmund entsprechend der Konstruktion kurzweg »Kettenbrücke« geheißen, die erst im Jahre 1898 durch die heutige, jetzt Smetanabrücke genannte, ersetzt wird. Noch eine wichtige Verkehrsader legt er an: er holt den im Entstehen begriffenen Belvedere-Stadtteil herein in den Stadtorganismus, indem er die große Serpentine den Hang hinaufführt. Dort oben rettet er das Belvedereschloß aus der Verwendung als Artilleriedepot, legt den großen nach ihm benannten Park an und bald ersteht dort oben ein schönes Villenviertel, dem dann auch geschlossene Wohnblöcke folgen. Am andern Ende der Stadt nützt er die niedergebrochenen Befestigungen vom Poøiètor bis zum Roßtor zu schönen Promenaden (Rich.-Wagner-Str., Stadtpark). Die Befestigungen bis zum Karlshof hinauf werden erst in den Siebzigerjahren abgetragen. Diese Tätigkeit des Grafen Chotek (oder doch unter seiner Leitung durchgeführt), die in die Jahre 1826-1843 fällt, waren die ersten Versuche zu einer modernen Gliederung der Stadt, Versuche wenigstens in den Randbezirken. Die nachfolgende Zeit hat nur das äußere Schema, nicht die innere Kultur seiner Schöpfungen nachgeahmt. (Vgl. die Verhältnisse des Franzenskais [Moldaulände] mit dem späteren Zustand!)
Ins Innere griff dann erst das ausgehende Jahrhundert hinein, als es (seit den Achtzigerjahren) die sogenannte »Assanierung« unternahm. Das Ghetto wird abgebrochen, Straßenzüge werden von der Moldau durchgestoßen bis zum Altstädter Ring. Mag man den Untergang des Ghettos, dieser pittoresken Verwunschenheit inmitten des alten Prag, vom romantischen Standpunkt aus bedauern –; die Zustände dort waren unhaltbar. Bleibt nur zu fragen, ob man diese »Assanierung« nicht auf schonendere Weise hätte durchführen können, wofür wir in Frankfurt, in Stuttgart die Beispiele haben. Empörend und sinnlos aber bleibt die Verwundung des Altstädter Rings: man brach die Nordwestwand aus und ließ den Platzraum verströmen in der charakterlosesten Straße der Zeit. Das alte Krennhaus wurde ein Opfer dieser »Verkehrsverbesserung«, wie in den Sechzigerjahren schon der davorstehende Krocin-Brunnen. Die alte Niklaskirche, die Dientzenhofer so genial in die enge Gassenflucht hineinkomponiert hatte, die vom Ring ins Ghetto führte, steht nun breit und unförmig, weil nicht für diese Sicht bestimmt, in dem gerissenen Loch. Der Platz ist aus den Fugen, das vor dem Kriege aufgestellte Hus-Denkmal verlagert ihn noch mehr. Der Raum verfließt, der ehedem so herrlich gestaltet war. Sinnlos die Straße (Nikolausstraße, jetzt Nürnberger-Str.), weil sie weder Einlauf noch Auslauf hat: die Moldaubrücke, von der sie herkommt (1865 erbaut), läuft sich am gegenüberliegenden Hang tot, und vom Ring führt nirgends eine entsprechende Straße den Verkehrszug weiter. (Die ursprüngliche Platzgestalt zeigt unsere Abb. nach S. 368.)
Erwähnen wir nun noch die Brücken, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreich erbaut wurden. Auf die Franzensbrücke folgt die steinerne Eisenbahnbrücke im Norden (1846) für die Strecke nach Bodenbach. Es folgt die Elisabethbrücke (1865), die heutige Jenatschek-Brücke. Im Jahre 1868 wird an der Stelle der heutigen Mánesbrücke ein Kettensteg errichtet, im Jahre 1876 bekommt Smichow seine Verbindung mit der Stadt in der Palackýbrücke. Eine zweite Eisenbahnbrücke, die unterm Wyschehrad, war im Jahre 1871 nötig geworden. Im Jahre 1898 wird dann die Franzensbrücke durch eine neue, die heutige Smetanabrücke, ersetzt. Die für den provisorischen Verkehr dort errichtete Holzbrücke wird 1902 an die Stelle zwischen Lieben und Holeschowitz übertragen, wo sie jetzt durch einen modernen Brückenbau ersetzt ist. Im Jahre 1908 wird die Mendel-Brücke erbaut, im Jahre 1912 die Hlávkabrücke (über die Hetzinsel in der Nähe der alten Furt) und 1914 die Mánesbrücke an der Stelle der andern Furt. Diese letzten Brückenbauten entstammen schon dem Plan, die Stadt über das andere Ufer hinüber nordwärts zu weiten. Aber auch die Westentwicklung verlangte eine neue Verbindung über die Moldau: die in diesen Jahren errichtete Dientzenhofer-Brücke, deretwegen der schöne »Dientzenhofer-Pavillon« abgerissen werden mußte, schafft einen wichtigen Verkehrszug nach dem Stadtteil Smichov hinüber. Damit sind wir schon in die heutigen Probleme des Prager Stadtbaues vorgedrungen, die hier nur kurz angedeutet werden sollen.
Das heutige Prag bietet eine städtebaulich höchst merkwürdige Situation. Majestätisch schiebt sich der alte Stadtwuchs, nachdrängend mit der Wucht eines Jahrtausends, in unser Jahrhundert herein. Ihm stellt sich als eine fremde, den großen Atem zerhackende Atmosphäre der Wille der Moderne entgegen. Zwei Mächte prallen zusammen, die verschiedenen Wuchsgesetzen folgen.
Bisher arbeiteten an der Stadtbildung: Wille zu einheitlicher Figur, Marktinteresse, Wunsch nach sicherem Wohnen. Jetzt arbeiten: Ausgleichsversuche der Vielheit, Verkehrsinteresse, der Wunsch nach gesundem Wohnen.
Zum ersten: die alten Städte reiften trotz aller innerer Polarität doch immer zur einheitlich geschlossenen Figur aus. Beherrschende Mächte erzwangen sich Unterordnung, alle wirtschaftlichen, sozialen, politischen Faktoren, vor allem das Zusammen von Wohnraum und Arbeitsraum mündeten zuletzt in die repräsentative Einheit der Stadtfigur. Alle heute so verlästerte Repräsentationsgeste der Vorzeit hat hierin ihre gesunde Wurzel. Sie war die notwendige Monumentalisierung der Grundeinheit, der Zelle Werkstattwohnung. –; Heute herrscht das Nebeneinander autonom gewordener Mächte. Ihr gegenseitiger Ausgleich ist Lebensbedingung der Moderne. Heutige Städte arbeiten an einer neuen architektonischen Formulierung des Begriffes Nachbarschaft. Wenn man so sagen will: ein demokratisches Prinzip stellt sich heute dem aristokratischen Prinzip früherer Städtebildung entgegen. Vor allem: Wohnraum und Arbeitsraum sind getrennt. Arbeitsstadt steht gegen Wohnstadt, eine Spannung, die sich einer einheitlichen »Figur« zunächst entgegensetzen wird.
Zum zweiten: der Städtebau der früheren Zeiten gründet auf dem Marktinteresse –; Markt als Wirtschaftsform und als wirklicher Raum genommen. Der Markt zieht zusammen, arbeitet sich seine Zufahrts- und Abfahrtsstraßen heraus, wird wohl auch von ihnen herausgearbeitet, saugt das Wirrsal der kleinen Gassen an. –; Heutiger Städtebau gründet auf dem Verkehrsinteresse. Der Markt ist Begriff geworden, der sich im Verkehr verwirklicht. Messen und Ausstellungen sind letzte Überreste der Marktrealität im alten Sinn, dabei schon ganz durchdrungen von der neuen Begrifflichkeit. Wer wollte behaupten, daß sie Städte organisieren: sie lagern sich in den Verkehrsfluß möglichst günstig ein. Der Verkehr organisiert. Er schleift sich die Straßennetze aus nach seinem Bedarf, schafft sich beschleunigende Mittel, die ihrerseits wieder die Straßenzüge korrigieren. Man verwechsle nicht Citybildung mit früherer Marktbildung. Nur der weiteste Begriff ist gemeinsam geblieben. Die Verwirklichung der City schafft völlig andere Bedingungen, wie sie die Verwirklichung des Marktes einst schuf. Markt war Platz –; City ist Apparat (an Häusern, Verkehrsmitteln). Zwei grundverschiedene Stadtgründungsprinzipien treten sich da gegenüber.
Zum dritten: frühere Städte mußten auf Sicherung bedacht sein: man rückt zusammen, schafft Platz- und Straßenriegel, umgürtet sich mit Mauer und Graben. Notwendiger Ausgleich, der damit städtebaulicher Grundsatz wurde, spielte zwischen Marktfreiheit und sichernder Enge. –; Heutige Städte müssen auf Hygiene bedacht sein. Wohnviertel werden von Arbeitsvierteln abgesondert, werden weit auseinandergezogen. Die Gesamtorganisation einer modernen Stadt richtet sich nach Sonne, Luft, Licht. Notwendiger Ausgleich, also städtebauliches Prinzip der Moderne, spielt zwischen Verkehrsmaschinerie und sanitärem Apparat. Die Auswägung des »Organismus« in der heutigen Stadt steht jener in der alten Stadt grundsätzlich verschieden gegenüber.
Wo frühere Stadt und heutige Stadt im gleichen Stadtleib einander gegenübertreten, da nimmt dies dreifache Gegeneinander beängstigende Formen an. Bleiben wir bei Prag. Auch hier hat das 19. Jahrhundert in städtebaulicher Beziehung arg versagt. Ihm war aufgegeben, die neuen Mächte abzufangen, entsprechende Gleise zu schaffen, in die sie zu lenken waren. Doch es blieb an der repräsentativen Geste hängen. Choteks Taten blieben Anfänge, alle nachfolgenden Maßnahmen waren stümperhafte Versuche mit hochtönenden Überschriften wie »Sanierung«, »Erschließung«, »Verschönerung«. Der Umsturz des Jahres 1918 erhob Prag zur Hauptstadt eines selbständigen Staates. Bevölkerungszuwachs des Nachkriegs, Verkehrssteigerung der Moderne –; beides kam hier plötzlicher als anderswo. Und hier stemmte ein machtvolleres Alte gegen das Neue sich an als in andern Großstädten. Fast über Nacht war die Lage höchst kritisch geworden.
Das Prag dieser Jahre läßt alle berückenden Gegensätze, die im alten Stadtbild treiben, fast ersticken unter dem einen erschütternden Gegensatz von Alt und Neu. In die engen Gassen ist hastendes Leben eingebraust. Straßen und Plätze vermögen den Verkehr nicht mehr zu halten. Die alte Stadt wird aufgesprengt vom Tumult des Heute. Der fegt die Hindernisse weg: alte Eckpaläste der Barockzeit und stille Winkel, spült träumende Gassen zu wilddurchhasteten Straßenzügen aus, läßt den alten Grundriß in allen Fugen erbeben. Aber er schafft es doch nicht –; das steinerne Gerüst wehrt sich, stellt sich entgegen. Fuhrwerke, Autos, Fußgänger stauen sich zu lebensbedrängenden Klumpen. Die Bahnhöfe ermangeln der direkten Abzugsstraßen. Die Vororte ermangeln der direkten Verbindungswege untereinander: ihr gesamter Lastenverkehr wird durch die Radialstraßen (19. Jahrhundert) in die innere Stadt gepumpt, die sich verstopft. Besonders die Gelenke zwischen Altstadt und Neustadt sind bedroht: ursprünglich enge Tordurchlässe –; heute Schleusen für einen flutenden Autoverkehr –;, so sind sie größte Gefahrenpunkte, über die alle Versuche einer Verkehrsorganisation nicht hinweghelfen.
Gefeit vor allen Angriffen der Moderne ist nur der Hradschin –; soweit nicht auch hier noch Neuerungen den alten Charakter entstellt haben. Ihn enthebt die Hügellage aller modernen Verkehrsüberhastung. Kluger Geländeankauf an seinen Rändern durch verantwortungsbewußte Stellen hat seinen Gürtel vor wilder Bebauung gesichert. Die Kleinseite ihm zu Füßen mußte schon im 19. Jahrhundert Durchbrüche sich gefallen lassen. Sie bewältigen leidlich den neuen Verkehr. Anders drüben, wo der enge Leib der Altstadt aufbirst von dem neuen Verkehrsstrom, der sich aus allen Vorstädten und aus der Neustadt in sie ergießt. An ihren Rändern, zwischen Neu- und Altstadt, hat sich die City angenistet. Hier boten große Straßenzüge über der alten Umwallung den nötigen Raum. Hier tobt der Kampf.
Wo anpacken in diesem Chaos? Man hat eingerissen, hat durchgebrochen –; Flickmaßnahmen. Das Neue hatte seine gierigen Pranken ins Alte geschlagen, hat es verwundet, oft entstellt –; durchgreifend konnte es nicht ändern. Es wehrt sich Alt-Prag.
Es wehrt sich als Wirklichkeit und es wehrt sich als Idee. Radikale Neuerer riefen: »Reißt alles Alte nieder! Baut eine neue City! Ihr spart Raum, schärft Leben!« Man kennt die Argumente aus der Diskussion der letzten Jahrzehnte (Corbusiers Ruf nach einem neuen Herzen von Paris!). Vor der sinnvollen Schönheit dieser alten Form hier in Prag müssen sie verstummen. Stadtgebilde sind mehr als auswechselbare Kleider. Sie sind geformter Geist. Der altert nicht, mag die entsprechende Verkehrsform unter ihm auch abdorren. In unteren Schichten unseres Bewußtseins ist als Empfinden noch lebendig, was da draußen Stadtform werden mußte. Heben wir es herauf in unser Verstehen, indem wir es schützen! Wir klären dadurch unser heutiges Wollen. Zerstörung wäre Sünde wider den Geist. Die heutige Technik wird Mittel und Wege für einen Ausgleich finden. Nicht Mumifizierung des Alten! Kein totes Herz inmitten einer neuen Großstadt! Umlagerung der Wirtschaft: die verkehrsbedingende heraus aus der Altstadt –; Verwaltungen, Lehrbetriebe, geistige Institute mit der ihnen entsprechenden stilleren Geschäftswelt an ihre Stelle. Das wirtschaftliche Problem läßt sich lösen. Gelingt eine Lösung des baulichen?
Das alte Prag, das Prag der Jahrhunderte, schwingt in der Polarität zweier architektonischer Kraftfelder –; wir haben sie oben oft genug genannt –;: Hradschin und Altstadt. Die Kurve des Stromes erhöht die Spannung zwischen beiden. Die Neustadt schlägt den ersten Gürtel um dies Drama, die neue Stadt den zweiten, den dritten usw. Dies stört nicht: das Drama in der Mitte ist stark genug, um die Absaugetendenzen der Peripherien abzuwehren. Es ist Formgeber, Organisator, Kraftkern für das Stadtganze –; ein heroisches Gegenüber.
Er muß erhalten bleiben. Die ihn umsäumenden Gürtel können als Verkehrsadern genutzt, entschlossene Durchbrüche können, gerade der Erhaltung alter Schönheit zulieb, gewagt werden. Die Peripherien müssen mehr und mehr der Stadtgestalt eingeschmolzen werden, verkehrstechnisch und architektonisch. In diesem Sinn wirken schon Bauten wie das wiederhergestellte Czernin-Palais über der Hradschinhöhe, das mit seiner Nordfront dem auswuchernden Stadtteil im Nordwesten einen kraftvollen Zielpunkt bietet, und das vor einigen Jahren vollendete Žižka-Nationaldenkmal, das dem Nordosten der wachsenden Stadt die hier dringend nötige Dominante geschaffen hat. Es antwortet über den Fluß hinüber dem Hradschin, bindet das Hügelgelände des Horizontes ein in das architektonische Gefüge.
Ins Einzelne des modernen Ausbaus dieser Stadt einzudringen ist hier nicht der Ort. Wir schließen mit einem Blick auf die besondere Situation des heutigen Prag. Sie verursacht, daß hier die Zahl der Fragen und Projekte modernen Bauens ungleich größer ist als in irgend einer andern Stadt Europas. Vorbedingung und Zeitbedingung steigern sich aneinander empor. Wer heute hieherkommt, findet eine ansehnlich lebendige Stadt teils im Abbruch, teils im Umbau, teils im Neubau. Man kann bedauernd bemerken, daß dieser kritische Zeitpunkt für Prag vielleicht um ein Jahrzehnt zu früh eingetreten sei: die moderne Architektur stecke noch zu tief in ihrer eigenen Grundlegung, um solcher umfassenden Probleme Herr zu werden in einer Art, die auch vom künstlerischen Gesichtspunkt aus der zum Vergleich herausfordernden Art in sich ausgereifter Jahrhunderte ebenbürtig wäre. Immerhin kann die große Aufgabe die junge Architektur zur Klärung führen.
Ein Glück für Neu-Prag, daß es über eine junge Architektengeneration verfügt, die gute Leistungen erwarten läßt. Vor dem Jahrhundertbeginn drang hier in der Person Ohmanns, des Wagner-Schülers, der neue Geist klarsachlicher Architektur ein. In Jan Kotìra (Mozarteum, Laichter-Haus, Universitätsprojekte, letztere in ihrer heutigen Ausführung arg entstellt) erwuchs der tschechischen Moderne ein weltgewandter Führer. Der Deutsche Zasche (Allgemeiner Bankverein) kämpfte um gleiche Ziele. Vor dem Krieg trat schon die zweite Generation (Janák, Goèár, Chocholl) mit kühnen Projekten auf den Plan. Sogar »kubistische Architektur« wurde versucht, die im »Haus zur schwarzen Mutter Gottes« (Zeltnergasse) von Goèár zum Beispiel erstaunlich gut in die Barockarchitektur der Altstadt sich einfügte. Novotny und Chocholl übertrugen das Experiment auf den Wohnbau. Kriegszeiten lenkten von diesem radikalen Wege ab: eine Nationalarchitektur sollte geschaffen werden, die in Übertragung von altslawischem, für Holzbauten bestimmtem Formengut auf moderne Steinbauten merkwürdigste Fossilien in die Prager Straßen stellte. Chocholl trug die ursprüngliche Bewegung in kluger Mäßigung weiter. An ihn schloß sich die jüngste Generation an, die in den vergangenen Jahren mit ausgeprägten Bauten dieser Zeit –; Messepalais (Architekt Týl), Neubau der Allgemeinen Pensionsanstalt (Architekten Havlièek und Honzik) –; auf den Plan trat. Hier sucht das Problem Alt-Neu seine Lösung. Neben der Pracht der alten Architektur hält sich nur das phrasenlose Bekenntnis zum Heute.
Dies aber ist Schicksalsfrage des neuen Prag: ob die echten Architekturkräfte der Jahrhunderte einzugehen vermögen in die heutige Gesinnung –; nicht Stilbesonderheiten und Lokallaunen, sondern jene durchgehenden Charaktereigenschaften, deren Entfaltung wir auf diesen Seiten durch ein Jahrtausend hindurch verfolgen konnten. Die Grundbedingung zu ihrer fruchtbaren Aufnahme durch die modernen Architekten ist gegeben: Aufrichtigkeit der architektonischen Gesinnung. Sie darf, ja sie soll entschlossen heutig arbeiten. Sie wird dabei doch den typisch Prager Charakter tragen. Der individuelle Charakter der Landschaft, der Rassen muß auch die heutige Architektur durchwachsen. Er wird es. Man übersehe über äußerer Schablone die Vielfalt der Kernkräfte nicht, die heutige Architektur wie jede frühere speisen.
Prags heutige Architekten dürfen aus reichster Quelle schöpfen. Unbewußt strömt in sie ein, was die Jahrhunderte so schön geformt. Unbewußt wird es auch wieder aus ihnen hervorquellen im neuen Bau. Die heimliche Nährkraft des Prager Stadtwuchses, des Prager Stadtwesens wird auch im modernsten Bautum sich entfalten können. Ein wirklich modernes Prag, d. h.: ein in seiner Form aufrichtiges Prag wird dem Wunderbau des Jahrtausends gerecht werden. Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.