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Wie dieser Stadtbau in vier großen Schichten aufgeht: über der romanischen die gotische, über ihr die barocke, zuoberst die heutige –; so auch das Schicksal, das ihn schuf. Und immer gähnt ein Abgrund zwischen den Schichten. Auf ersten Anstieg unter den großen Pøemyslidenkönigen folgt ärgste Bedrohung durch innere und äußere Wirren. Aus ihnen erhebt sich der große Aufschwung der Weltstadt Karls IV. Aber ihre Pracht zerfällt im Hussitenjahrhundert. Habsburgs Gegenreformation baut langsam und zielbewußt wieder auf. Der hohe Barock triumphiert im Glanz des Adels. Doch als der zersetzt ist, reicht die junge Kraft des Bürgertums nicht aus, vor dumpfem Rückfall in die Provinz zu retten. Aus ihr riß im vorigen Jahrhundert die tschechische Renaissance zu neuen Zielen. Das Heute weist ihnen die Form.
Dies der Rhythmus im Großen, der hier am Werk war. Ihm in seine feineren Regungen zu folgen, erschwert sich in mancherlei Betracht.
Einmal: Prag ist Böhmen. Von Anbeginn entscheiden sich hier die Geschicke eines Landes, eines Volks. So ist die besondere Geschichte der Stadt, die Entwicklung ihrer Kultur belastet und geweiht durch das Schicksal: Praga caput regni. Nur manchmal –; dann aber stets in einprägsamen Zügen –; zeichnet sich die besondere kulturelle Erscheinung der Stadt von der des Gesamtvolkes ab: wenn geistige Fragen des Volkes umkämpft werden, deren besonderer Eigenart die Prager Geistes- und Lebensstimmung nicht gerecht werden kann. Die Radikalisierung des Hussitismus treibt zu solcher Situation. Aber auch gegenüber der geistigen Höchstleistung tschechischer Volkskultur, gegenüber der Bewegung der »Böhmischen Brüder« verbleibt die Prager Mentalität recht kühl.
Das erweist nicht nur die üblichen sozialen Gegenstellungen zwischen Stadt und Land, zwischen Bürger und Adel, zwischen Bürger und Bauer. Es erweist vor allem den anderen geistigen Boden, den Prag als städtische Siedlung der völkischen Besinnung zu bieten hat. Dieser Boden ist von sehr vielfältigen Kräften gespeist. Zum Tschechentum tritt sehr früh und in bestimmender Weise das Deutschtum. Das hat die Empfänglichkeit der hier wachsenden Kultur gegenüber dem Westen sehr gestärkt. Es sicherte den Anschluß an eine Weltkultur, staute aber auch die Gegenkräfte draußen.
Denn Prag ist »das Haupt des Königreichs«. In Prag zuvörderst muß sich jene schicksalhafte Mittelstellung ausspielen, in die regionale Bedingungen den Tschechenstamm zwischen Ost und West gestellt hatten. Von Nordost her war er mit anderen slawischen Stämmen vorgestoßen, war an die Ränder des Abendlandes, das Roms Kultur und Herrschaft übernommen hatte, angerannt. So lockte der Westen. Von Osten her aber hatte Byzanz geworben als Reich, als Kirche. Im ersten Jahrhundert der Prager Geschichte zittert das Ringen um die Entscheidung noch nach. Sie fällt um die Jahrtausendwende: Prag wird dem Schicksal des Abendlandes eingegliedert.
Aber als Ostland. Nie war auf böhmischem Boden der Schritt römischer Kolonnen erdröhnt, nie war hier römisches Gesetz, römische Ordnung eingedrungen. Drang jetzt ein geistiges Rom hier ein, so konnte es nicht als Erbe aufgenommen werden. Fremdgut war es, mußte es lange bleiben. Im Unterbewußtsein zumindest mußten Abwehrkräfte sich stauen. Das stellt die Geschichte Böhmens, die Geschichte Prags in mancher Beziehung unter die Gesamtsicht ostdeutscher Kulturbewegung, in die sie von innen her ja auch durch das starke mittelostdeutsche Element in den Städten geknüpft war. Wenn Karl IV. Prag zum Mittelpunkt seiner ostwärts gerichteten abendländischen Politik erhebt, so ist das geniales Erspüren dumpf treibender regionaler Kräfte.
Und doch fügten es politische, religiöse und soziale Mächte, daß jede eigentschechische Abwehr gegenüber dem Geiste Roms zugleich auch gegen das Deutschtum sich richten mußte. So konnte der Kampf der Tschechen gegen das blutsfremde Rom nicht einmünden in die große Protestation des deutschen Ostens. Der Hussitismus zerrieb sich in nationalem Fanatismus. Rom konnte die Gegner einzeln packen und zum Teil auch schlagen. Der Schlag traf Böhmen-Prag.
Über dieser politischen Tragik, wie sie die Abwehrstellung gegen Rom mit sich brachte, wie sie eine langwährende Gegenreformation dann gewaltsam löschte, indem dies Böhmen katholisch ward, steht eine geistige. Abwehr gegen Rom bedeutet im abendländischen Kulturzusammenhang zugleich Abwehr gegen die Form. Der deutsche Protestantismus hatte sich in der Einschmelzung südwestlicher Elemente Form gerettet. Und was dem Osten Deutschlands daran noch fehlte, das holte er in seiner Romantik nachträglich noch herein. In ihr hat man die Aufholung des Geistes von Rom gesehen. Im Hussitismus scheint die alte Spannung zwischen West und Ost, zwischen dem formenden Rom und dem im Osten treibenden Hang zum Entformen in mancher Regung wieder aufzubrechen. Fanatischer Haß gegen alle Formung ließ radikalen Richtungen im Hussitismus viel kostbares Seelengut zerrinnen. Ein Hang zum Formlosen treibt aber durch die gesamte tschechische Kulturentwicklung wie ein geheimer Hussitismus weiter. Man hatte Rom nicht freiwillig sich erworben. Die tschechische Romantik, die sich zuerst so eng an die deutsche anschloß, mündete in nationalpolitischen Zielen. Den übergreifenden Verpflichtungen der Idee vermochte sie noch nicht oder nur in Bemühungen einzelner zu folgen. Ein fast krampfhaftes Formsuchen in der Bildungssphäre ist nur der bewußte Gegenzug der sich bedroht fühlenden lebendigen Gestalt. Diese Dialektik läßt sich von den frühesten Regungen tschechischer Geistigkeit bis in die jüngsten herauf verfolgen. Man muß ihre Wurzeln sehen, um sie ganz zu begreifen.
Das schafft der naturgegebenen Bestimmung Prags, Vermittlerin zwischen West und Ost zu sein, das Gegenschicksal: schroff spannen sich hier die Gegensätze. Je tiefer man in die Einzelerscheinungen untertaucht, um so tiefer empfindet man diesen Kontrast. Erst die Entfernung läßt das »Vermittelte« schauen.
Äußerste Verwirklichung dessen spiegelt wieder das Stadtbild Prags. Alles Geformte scheint hier gegen Unform sich anzustemmen. Das schafft das Gespannte des Stadtraums, wie er uns hier so bestürmt. Einsicht in Überschneidung und Durchdringung der Einflußsphären gelingt wieder erst der überschauenden Fernsicht.