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Das Jahr 1848 hatte in der tschechischen Bewegung wichtigste Entscheidungen geweckt. Die ihm folgende Reaktionszeit schuf einen Druckpunkt, der seiner Auslösung zustreben mußte. Bis zum Jahre 1848 mochte von Außenstehenden die schöne Bemühung der Tschechen um ihre Sprache, um ihr Volkstum noch immer unter dem Gesichtspunkt jenes der Aufklärung entsprossenen, von der Romantik befruchteten böhmischen Patriotismus gesehen werden, der sie also dem deutschen Kulturverband einverleibt hielt. Palackýs Absage ans Frankfurter Vorparlament hatte diesen latenten Zustand beendet, hatte die klare Parole gegeben.
»Ich bin kein Deutscher –; fühle mich wenigstens nicht als solcher … Dieses (tschechische) Volk ist nun zwar ein kleines, aber von jeher ein eigentümliches und für sich bestehendes; seine Herrscher haben seit Jahrhunderten am deutschen Fürstenbunde teilgenommen, es selbst hat sich aber niemals zu diesem Volk gezählt … daß somit die ganze bisherige Verbindung Böhmens mit Deutschland als ein Verhältnis nicht von Volk zu Volk, sondern nur von Herrscher zu Herrscher aufgefaßt und angesehen werden muß …« Dann über das vom Frankfurter Parlament bedrohte Österreich und die Russengefahr: »… da ich jedoch bei aller heiligen Liebe zu meinem Volke die Interessen der Humanität und Wissenschaft von jeher noch über die der Nationalität stelle, so findet schon die bloße Möglichkeit einer russischen Universalmonarchie keinen entschiedeneren Gegner und Bekämpfer als mich; nicht weil sie russisch, sondern weil sie eine Universalmonarchie wäre … Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müßte im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst, sich beeilen, ihn zu schaffen …«
Mit diesen Worten Palackýs überschreitet die tschechische Bewegung die Schwelle von literarischer zu politischer Aktion. Die Auswirkungen sind für das Schicksal Prags so folgenreich, der Gesamtvorgang der tschechischen Renaissance in seinen beiden Hauptakten, der literarischen Vorbereitung und der politischen Erfüllung, bildet auch in sich so sehr eine geschlossene Einheit, daß wir sie hier als gestalthaften Vorgang zusammenschauen müssen. Blicken wir jetzt also noch einmal zurück, so wird uns das bisher nur unter der Oberfläche der Prager Atmosphäre erschienene Ringen der tschechischen Schriftsteller und Gelehrten in ganz anderer Wirksamkeit vor Augen treten. Aus dem in der Fernsicht leicht vergrauenden Bild der Aufklärung werden durch den anders gerichteten Blick Gestalten, wie die eines Dobrovský, zu ganz anderer Eindringlichkeit geschärft. Besonders aber die Vertreter der nachfolgenden Generation werden dem deutschen Betrachter bemerkenswert erscheinen in der Art, wie sie die Anregungen abwandeln, die sie von der höchsten Entfaltung deutschen Geistes empfangen.
Dies nämlich darf unter den späteren, oft so deutschfeindlich sich gebärdenden Äußerungen der Bewegung nie übersehen werden: die tschechische Renaissance ist eine ins Nationalpolitische gebrochene Auswirkung deutscher Kulturideen. Ihr Jugenderlebnis, dem sie bis in ihre letzte Entfaltung unter Masaryk treu blieb, ist die Humanitätsidee. Herder also grub die Quelle auf für die tschechischen Emanzipationsbestrebungen. Er wirkte schon in die »böhmische« Aufklärung hinein. Dobrovský begeistert sich 1786 an Herders Lob der Slawen (»Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, IV. Teil, 4. Kap.), druckt es 1806 in seinem »Slavín« ab. Auch Wilhelm von Humboldt wird früh auf die Richtung der tschechischen Spracherwecker wirksam.
Wahre Bereicherung empfängt nun die Sprachbewegung aus den dank Josefs II. Toleranzedikt wieder auftauchenden Bibeln der Böhmischen Brüder. Und mit diesen literarischen Schätzen auch die geistigen Kräfte: die Träger der Brüdertradition. Die josefinische Volksbildungsidee bot das Betätigungsfeld für diese jungen Bestrebungen. Die Lehrkanzeln für die tschechische Sprache mögen zunächst wohl nur durch praktische Beweggründe veranlaßt worden sein (wenn auch die Deutung: »um das Volk durch tschechisch sprechende Beamte in seiner eigenen Sprache bevormunden zu können«, sicher tendenziös verfärbt ist) –; sie emanzipierten sich doch bald zu reinen Forschungs- und Bildungszielen: an der Militärakademie zu Wiener-Neustadt (1752), bald darauf an der Wiener Universität, 1778 die Lehrkanzel für tschechische Pastorallehre an der Prager Universität und 1793 die für tschechische Sprache.
In ihrer kulturpolitischen Wirkung blieben diese Keime doch gebunden durch die Grundeinstellung der Aufklärung: deren Glückseligkeitslehre verlangte zwar die Pflege gefährdeter Sprachen –; ihre Vernunftlehre ließ sie aber mehr oder weniger nur als Studienobjekt gelten.
Dobrovský (1753-1829) ist der bezeichnende Vertreter dieser Haltung. Er ist der aufgeklärte Enzyklopädist, der als kühler Kritiker die neugehobenen Schätze beurteilt, der sie als Sprache aber für tot erachtet. Er wurzelt in der josefinischen Ära, die er noch 1820 wehmütig zurückruft, fühlt sich noch eindeutig in den deutschen Kulturkreis eingegliedert. Neben der Bemerkung, daß er »väterlicher Abstammung Slawe« sei, bekennt er: »wir Deutschen«. Er schreibt seine altslawische Grammatik (die erste überhaupt) lateinisch: »Institutiones linguae slavicae veteris dialecti«, 1822. Dobrovský« wechselt Briefe mit den Gelehrten in Deutschland, beantwortet zum Beispiel ausführlich Sulpice Boisserées Fragen über den Veitsdom, den der rheinische Forscher in seinem deutschen Domwerk behandeln will. Er ist noch 1825 gegen die Herausgabe der Museumszeitschrift in tschechischer Sprache, da diese ihm kein lebendiges Verständigungsmittel ist. Er ragt als kritischer Repräsentant seiner Epoche in eine begeisterte Jugend hinein. Seine Ablehnung der Grünberger Handschrift als »eines Bubenstückes« wird von dieser Jugend mit dem Vorwurf des »Hyperkritikers«, des »slawisierenden Deutschen« beantwortet.
Diese »übereifrigen Patrioten« und »böhmischen Zeloten« (Dobrovský!) waren aber schon auf der ganzen Front an der Arbeit. Die deutsche Romantik hatte sie geweckt. Deren Hochburg war damals Wien. Dort gab Friedrich Schlegel sein »Deutsches Museum« heraus (1812-1813), dann seine »Wiener Allgemeine Literaturzeitung« (1813-1816), und Gentz veröffentlichte seine »Wiener Jahrbücher« (1818). Die Jahre um 1813 hatten ja ganz Prag in die deutsche Freiheitsbegeisterung hineingezogen. Jetzt erklangen aus Wien die menschlichen Worte Friedrich Schlegels: »… die Liebe des besonderen Vaterlandes und die nationalen Erinnerungen des Volkes, in dessen Sprache sie auftreten und auf welches sie wirken sollten …« Das war Auslösung der in der Aufklärung nur latent enthaltenen Lehre ins Wirken. Das war Nationalpatriotismus romantischer Prägung. Und von Wilhelm von Humboldt hörte man: »… die wahre Heimat ist eigentlich die Sprache.«
Wie mußte alles dies bei den Tschechen auf der Grundlage, wie sie die ältere Generation geschaffen hatte, zünden! Das Beispiel der Slowenen und Kroaten lockte. In Graz war schon 1810 eine »societas slovenica« gegründet worden (Primic). Die Gründung des »Johanneums« in Graz durch den Erzherzog Johann, eines wahren Volksmuseums, das mit einer wissenschaftlichen Lehranstalt und einer Bibliothek verbunden war (1811), hatte die Richtung gezeigt, der man in Prag 1822 bei der Museumsgründung folgte. Der Bischof Verhovac in Agram hatte 1813 zur Pflege der »lingua illyrica« aufgefordert und 1815 erschien in Wien die erste kroatische Broschüre von Mihanoviæ. In Wien wirkte nun auch Kopitar, der südslawische Erwecker, der in den beiden Schlegel und in Jakob Grimm die großen Anreger gefunden hatte.
Jetzt also zündet die Bewegung zu den Tschechen herüber. Bei der nationalpatriotischen Begeisterung nach 1810 waren manche Erleichterungen für die tschechische Sprache in Übung gekommen. Auf den Gymnasien durfte tschechisch vorgetragen werden. 1816 empfahl gar ein Dekret der Hofstudienkommission die besondere Übung im Tschechischen. Das Wartburgfest und die Ermordung Kotzebues warfen dann ihre Schatten auch nach Böhmen: die sprachfreundlichen Verordnungen wurden wieder aufgehoben. Immerhin hatten sie eine Zeitlang gewirkt. Josef Jungmann (1773-1847) hatte am Leitmeritzer Gymnasium tschechischen Unterricht erteilt und hatte dafür vom deutschen Magistrat der Stadt ehrenden Dank geerntet. In Prag entwickelt er sich zum ersten Führer der jungen Bewegung, die sich der Aufklärung entgegenstellte in der Überzeugung, daß ein Staatswesen ohne Nationalität wertlos sei.
Jungmann war noch nicht Romantiker, er war nur erst teilweise von gleichen Quellen gespeist. Sein eigentliches Jugenderlebnis bildeten Voltaire und Wieland. Auch Milton, dessen »Verlorenes Paradies« er übersetzt hatte. Dann hatten die Deutschen auf ihn gewirkt: er hatte Gedichte Klopstocks, Bürgers, Schillers und Goethes, auch Goethes »Hermann und Dorothea« übersetzt. Vor allem Herders Slawenhymne hatte ihn früh begeistert. Sein Weckruf »Über die tschechische Sprache« (1803-1806) wies auf das Beispiel der Deutschen bei der Rückeroberung ihres Volkstums hin. Er verwarf den Kosmopolitismus der Aufklärung, bekannte sich aber noch zum aufgeklärten Despotismus. So war er eigentlich nur erst Auflockerer der aufklärerischen Tendenzen (deren witzigen Geist er liebte), unterschob ihnen eine deutliche nationalpatriotische Richtung und bereitete dadurch das Eindringen der Romantik vor.
Diese stieß mit einem »literarischen Unikum« in die Bewegung herein. Im Jahre 1817 hatte Wenzel Hanka im Gewölbe des Kirchturms von Königinhof (Nordostböhmen) einige Pergamentstreifen »gefunden«. Auf diesen Pergamentstreifen waren Bruchstücke alttschechischer Epen aufgezeichnet. Da hatte man also die so schmerzlich ersehnten »Reste des tschechischen grauen Altertums«, die Zeugnisse einer »vaterländischen« Originalkultur vor der Christianisierung, hatte stichhaltigere Beweise, als sie die mittelalterliche Poesie zu geben vermochte, die »keine nationale Bedeutung hatte« (Palacký). Die Zeitgenossen waren begeistert. Nicht nur die Tschechen. Der deutsche Professor Meinert schrieb in »Hormayrs Archiv« eine enthusiastische Anzeige der Entdeckung. Die Göttinger, auch Goethe, auch Jakob Grimm, studierten die bald erschienenen Übersetzungen (1819) als Zeugnisse einer durchaus originalen »Volkspoesie«. Goethe veröffentlichte später sogar eines der Gedichte: »Kytice« (Das Sträußchen), das er durch Hinzufügen zweier Strophen umgedichtet hatte, als böhmisches Volkslied.
Im nächsten Jahre (1818) kamen der Museumsgesellschaft dann noch auf mysteriöse Weise (durch die Post) Bruchstücke einer andern Handschrift zu, der »Grünberger Handschrift«, deren Gesänge Stoffe aus Prags Gründungszeiten behandelten. Dobrovskýs Argwohn erwachte. Wir haben oben seine Zurückweisung des Betruges erwähnt. Diese Grünberger Handschrift wagte man nicht in Prag selbst herauszubringen –; auf dem Umweg über Polen erscheint sie in der Öffentlichkeit. Aber die tschechische Jugend stürzt sich mit Begeisterung auf die Funde. Verteidigt sie leidenschaftlich gegen alle Verdächtigungen. Noch 1840 schreiben Palacký« und Šafaøík ihre gelehrte Apologie. Und Hanka, der gefeierte Finder, ist Bibliothekar am Nationalmuseum, wo er noch zu manch andern kleineren Fälschungen Gelegenheit fand. Später mehren sich die Verdachtsmomente. Aber die Handschriften sind ein nationales Palladium geworden, an dem nicht gerüttelt werden darf. Erst Gebauer und Masaryk bringen im Jahre 1886 den Mut auf, die Unhaltbarkeit der Echtheitsbehauptungen in streng kritischer Methode definitiv nachzuweisen, die Absage als nationale Pflicht zu fordern.
Für die Überschau über die tschechische Renaissance ist nicht mehr das »ob«, sondern das »wie« der Fälschung interessant. In diesen, in manchem geradezu genialen Machwerken wirkt schon echt romantischer Geist. Schlegels Universalpoesie, hier schien sie erfüllt. Geschichte und Mythologie, allerdings gar keine Philosophie, waren hier in Poesie eingegangen. Alle Vorwürfe der Kritik: die neugebildeten Wörter, die verfehlten Diminutiva, zahlreiche Komposita, das Phantastische, Nebelhafte, oft Unhistorische und Oberflächliche in dieser »Sammlung lyrischepischer Nationalgesänge« (Hanka), überhaupt dieser Rückgriff in die graue Vorzeit –; all das sind, teilweis entstellte, Äußerungen des romantischen Geistes, wie er jetzt in Wien hohe Wellen schlug.
Dort hatte Hanka, den man als Mittelpunkt des Fälscherkreises betrachten muß, studiert. Dort hatte er an Hromadkos, des Professors für tschechische Sprache an der Wiener Universität, »Vídeòské Noviny« (Wiener Zeitung) mit der Beilage »Prvotiny pìkných umìní« mitgearbeitet. Seine volksliedhaft gehaltenen Lieder, die Tomaschek zum Teil vertonte, sind gleichen Geistes wie die Fälschungen. Traurig, daß dieser Geist zur Lüge benützt wurde. Wichtig für die Bewegung, daß er eindrang.
Denn jetzt treibt großer Enthusiasmus weiter. Hájeks Lügenchronik wird, obwohl sie von Dobner entlarvt worden war, neu herausgegeben. Die von der deutschen Romantik gelösten Kräfte dringen tiefer ein, schaffen neue Grundlegung. Zwei Forderungen erstehen: wissenschaftlicher Unterbau und Verwurzelung im Volk. Für beides regen sich die Kräfte. Jungmann arbeitet an seiner Literaturgeschichte, die 1825-1849 erscheint. Sein deutsch-tschechisches Wörterbuch folgt in den Jahren 1835-1839. Die andern Wissenschaften: Philologie (Marek), Naturwissenschaften (Presl, Purkynì) werden der tschechischen Kultur erobert. Im Jahre 1821 gründet Presl die Zeitschrift »Krok«, eine »allwissenschaftliche Zeitschrift für Gebildete des tschechoslawischen Volkes«. Palacký rüstet sich zu einem nationalen Geschichtswerk.
Der Verwurzelung im Volke muß die Poesie dienen. Patriot und Schriftsteller werden Synonyma. Palacký-Šafaøík stellen die Forderung auf, die quantitierende Prosodie an die Stelle der akzentuierenden zu setzen: sie soll den von Dobrovský »in die Fesseln des Teutonismus gelegten Genius der Slavia befreien«. Vielleicht ein Irrtum, der Theorie bleiben mußte. Viel urwüchsiger wirken die Bemühungen von Franz Lad. Èelakovský (1799-1852): dem geht es um das lebendige Volkslied. Seine, die »patriotische«, das ist die romantische Schule baut das ganze geistige Leben auf die Traditionen der untersten Volksschichten auf, ein Unternehmen, das ja dann auch sozial so folgenreich werden sollte. Er ist der konsequenteste, der wirklich nationale Romantiker, obwohl es gerade bei ihm keine nationale Phraseologie gibt. Er und sein Freund Kamarýt setzen dem aufklärerischen »Um« (Verstand) Dobrovskýs mit aller Entschiedenheit das Gefühl entgegen. Èelakovskýs »Nachhall russischer Lieder« (1829) findet besonders auf deutscher Seite Echo (bei dem für alles Neue und Lebendige aufgeschlossenen Professor Anton Müller). Zu Goethes und Herders Einflüssen tritt der zum Realismus hinneigende slawische Wesenszug. Das philologische Interesse bleibt wach, führt Èelakovský schließlich auch zu reiner Lehrtätigkeit. Er erhält 1841 die in Breslau gegründete Lehrkanzel für Slawistik, später –; zu spät: 1849 –; die in Prag.
Die Bewegung war jetzt in vollem Fluß. Es bedurfte noch der Herausarbeitung ihrer Kernidee, zu der sich immer mehr der Panslawismus entwickelte. Die beiden Freunde, die sie vollbrachten, P. J. Šafaøík (1795 bis 1861) wissenschaftlich, Jan Kollár (1793-1852) literarisch, trugen zugleich die Vollkraft des Jenenser Idealismus zu den Tschechen. Sie beide, slowakische Protestanten, hatten in Jena studiert, hatten bei Fries, Oken, Luden und Eichstädt gehört, hatten das Wartburgfest erlebt. Mit der gewaltigen deutschen Begeisterung war aber auch das Leid um die entslawisierten Gebiete Ostdeutschlands in sie eingedrungen (Kollár), hatte die wehmütige Liebe zum eigenen Volke vertieft. »Es ist jedenfalls besser, sein Volk durch den Tod zu verherrlichen, als durch das Leben zu verunehren« (Šafaøík). Diese beiden Mächte, Jena und Volksliebe, prägten ihre Gestalten.
Ihre Frühwerke entstanden fern von Prag. Šafaøík wirkte im »barbarischen« Neusatz als Gymnasialdirektor, Kollár im magyarischen Budapest als protestantischer Prediger. 1826 erscheint deutsch Šafaøíks »Geschichte der slawischen Sprache und Literatur nach alten Mundarten« (Ofen). 1836-1837 folgen tschechisch die »Slawischen Altertümer«. Ihm geht es um die Eigenwüchsigkeit des slawischen Altertums. Herder, Jakob Grimm, Wilhelm von Humboldt sind seine Lehrer. Nach Humboldt faßt er »Philologie als Wissenschaft der Nationalität«. Palacký holte ihn später nach Prag (1837), wo er als protestantischer Privatgelehrter eine gewagte Existenz begründete. Später wurde er Kustos, dann Direktor der Universitätsbibliothek. Prag wurde durch ihn ein Mittelpunkt der Slawistik.
Kollár hatte 1824 in seiner Dichtung »Die Tochter der Sláva« (»Slávy dcera«) den Panslawismus verherrlicht. Herders Slawenkapitel wird begeistert paraphrasiert. Das Muster des in Jena erlebten Pangermanismus schwebt ihm vor. Im Jahre 1836 macht er dann den Versuch, seinen Panslawismus philosophisch zu begründen: »Über die Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slawischen Nation« (deutsch erschienen). Die Slawen sollen die alternden Kulturelemente verjüngen und zur Humanität steigern. Von hier aus führen unmittelbar Linien zum Slawenkongreß von 1848. Aber »die enge Vaterlandsliebe ist leichter eine Sünde an der Menschheit als der weite Bürgersinn an der des Vaterlandes« –; das bleibt im edlen Universalismus deutsch-romantischer Prägung, verschließt den Weg zum lebenden Volk. Kollár endete denn auch im Dienste der Reaktion.
Dieser Universalismus barg eine deutliche Gefahr für die Stoßkraft der Bewegung. Er schwebte in nebelhaften Fernen, in grauer Vorzeit und Phantastik. Bei den deutschen Romantikern war dieser Universalismus durch die metaphysische Grundkonzeption der romantischen Idee gegeben. Die war trotz allem aktivistischen Optimismus ihrer Äußerungen ein radikaler Pessimismus. Wir denken hier an die großen Frühromantiker, nicht an die verbürgerlichten Postillone der Spätzeit. Das Leben ein Chaos, dem man durch Ironie, durch ewige Verwandlung entgehen mußte, dem man schließlich nur durch Konvertitentum eine Form zu geben vermochte. (Nachholung römischer Prägung durch den protestantischen Osten!)
Die Tschechen wurden vor einem völligen Versinken in solche Tiefe der Idee von der viel wirklichkeitsnäheren »Volksbildungs«-Aufgabe aufgenommen, wurden durch sie ins praktische Wollen abgeleitet. Zur Verzweiflung über ein »Nichts« konnte es also bei ihnen nicht mehr kommen –; der einzige große Besinger des »Nichts«, Karel Hynek Mácha, blieb vereinsamt –; und so auch nicht zu einer Wiedergeburt in der »Form«. Wohl aber zu einer Trauer über ein »Noch-nicht«. Und die hielt einen Kollár eben in jenem »rettenden« Universalismus, der allerdings mangels allertiefster Spannungen –; wie überhaupt die ganze tschechische Romantik –; nie zu solcher Wucht ausholen konnte wie jener der deutschen Romantiker.
Immerhin mußte dieser Universalismus einer tatkräftigen Politik zuliebe »gebunden« werden. Franz Palackýs Leistung am Gesamtwerk der tschechischen Renaissance wird hier fällig (1798-1876). Auch er Protestant, Mährer, lebt zuerst in Preßburg neutrale Jahre in nationaler Beziehung, wird dann in Wien durch den Verkehr mit Dobrovský, der dort weilte, und den südslawischen Erwecker Kopitar in die Bewegung einbezogen. Er kommt nach Prag, um die Genealogien der Sternbergs abzufassen. Hier schafft er in seiner »Geschichte von Böhmen«, die ihm von den Ständen aufgetragen wird (1. Bd., deutsch, 1836), das historische Gerüst, dessen die Bewegung nun bedarf. Er will einen »Spiegel der echten tschechischen Nationalität« geben, begeistert sich an einer idealisierten slawischen Vorzeit, an der Epoche des selbständigen tschechischen Staates. Sein Nationalismus ist noch von der großen Humanitätsidee getragen, die er in der Geschichte der Tschechen ganz besonders sich auswirken sieht. Wo seine Forschung auf Hankas Fälschungen aufgebaut ist, ergeben sich falsche Schlüsse. Auch der tiefste Grund seiner Geschichtsauffassung, die auf philosophischer Konstruktion aufgebaut ist, führt oft zu falschen Sichten. Für die Stärkung des Nationalgefühls der Tschechen war dies Geschichtswerk von größter Bedeutung. Neben seiner Forschertätigkeit organisiert er. Er holt Šafaøík nach Prag. Er leitet die Museumszeitschriften. Er führt die Gesamtbewegung in feste Bahnen, formuliert klare Ziele.
Um festen Boden kämpft auch der mutige Karel Havlíèek (1821-1856). Er erkennt bei einem Aufenthalt in Rußland als erster die Leblosigkeit einer »slawischen Wechselseitigkeit«. Er kritisiert den in lauter Universalismen verflachenden Nationalpatriotismus der Phrasenhelden, kämpft als Redakteur der »Pražské Noviny« (Prager Zeitung), an der er den Deutschen Klutschak 1846 ablöste, dann als Leiter der »Národní Noviny« (Nationalzeitung) 1848-1850 gegen die sentimentale Romantik der Vorgeneration. Aus dem verschwommenen »Slawentum« will er ein entschlossenes »Tschechentum« erzwingen. Gerade in den Jahren vor dem slawischen Kongreß also drangen die ersten ganz realistischen Ideen in die Bewegung ein. Bakunins auf dem Kongreß gepredigter Radikalismus erweist dann gerade durch seine Unanwendbarkeit auf die tschechischen Verhältnisse noch schlagkräftiger, daß alle panslawistischen Träume Gefahr für die Verwirklichung der Erneuerungsidee bedeuten.
Die Revolutionstage zeigen nun, daß ein tschechisches Volkstum auf breiter Front erwacht ist. Es stellt sich dem deutschen Volkstum schon kämpfend gegenüber. Ja, die tschechische Volksbewegung mußte in jenen Prager Sturmtagen ihrem ganzen Wesen nach den demokratischen Ideen die entscheidende Stoßkraft verleihen. Aus diesem erstarkten Selbstbewußtsein mußte die Politik, von der sich ein Šafaøik, der nur Wissenschaftler sein wollte, noch ängstlich zurückhalten zu müssen glaubte, als führende Lebensmacht hervortreten.
Zunächst wurde sie durch die der Revolution folgende Reaktion gewaltsam unterdrückt. Und mit ihr die sie tragende Literatur. Das ließ nun die andern geistigen Mächte, vor allem die Künste, nachdrängen. Die tschechische Malerei fand in Josef Mánes ihren bewußt zum Volkstum hinführenden Erwecker. Während an der Prager Akademie (seit 1841) Christian Ruben einen akademischen Romantizismus pflegte, hatte sich Mánes in München an Cornelius, Genelli und Schwind begeistert, hatte dann auch französische Einflüsse, vor allem Ingres' Linienkultur aufgenommen. Jetzt kam er nach Prag zurück und knüpfte seine poetisierende Romantik ans heimische Volksleben an. In dem kunstsinnigen Industriellen Lanna fand er einen vornehmen Gönner, der ihm dann auch die Reise nach Rußland, mit den »Moskau-Pilgern« unter Palacký 1867, ermöglichte. Mit Mánes beginnt jene Pflege des Volkstümlichen im Bild, die sich später, vor allem dank der großen Prager ethnographischen Ausstellung im Jahre 1895, auf alle volkskundlichen Gebiete erweiterte, hier aber auch Gefahr lief, zur Manie auszuarten.
In Jaroslav Èermák, der in Frankreich arbeitete, kämpfte die westlich kultivierte Bildkunst gegen eine allzu stark betonte Heimatlichkeit an. Auch Karel Purkynì, Sohn des Physiologen, hatte lange in Paris gearbeitet. Jetzt kam er nach Prag zurück, blieb aber mit seinem festen, koloristisch oft interessanten Realismus ohne größeren Erfolg. Ganz anders mußte ein Maler der nationalen Historie wirken: Václav Brožík, der in Prag, Dresden, München und Paris studiert hatte und nun nach Art der Kaulbach und Piloty seinem Volke die eigene Historie in großformatigem Bild vorführte, ein Jirásek der Malerei.
Für die wahre Kunst wichtiger war das Wiederanknüpfen an das Landschaftsbild, das vor Mánes in Navrátil einen fein empfindenden Vertreter hatte. Jetzt gestaltete Adolf Kozárek die verhaltenen Reize der böhmischen Landschaft, er bringt in die romantische Naturauffassung der Zeit den typisch realistischen slawischen Anklang. In Antonín Chitussi, der sich an den Meistern von Barbizon geschult hatte, fand diese heimische Landschaftskunst dann ihren besten Gestalter. In der jungen Generation der Mikuláš Aleš, František Ženížek und Vojtìch Hynais vermochten diese verschiedenen nationalen Momente sich zu einer gemeinschaftlichen Kundgebung zu sammeln, die im Bau des tschechischen Nationaltheaters ihren architektonischen Rahmen fand. Wir wollen hier die Entwicklung des Jahrhunderts beschließen mit der Nennung Antonín Slavíèeks, der –; gerade als Apostel des französischen Impressionismus –; die schwere Note des slawischen Farbensinnes in seinen Lichtapotheosen erwies.
Die Plastik drang langsamer zu volkhaftem Ausdruck durch. Die Jahrhundertmitte hatte in den (deutschen) Brüdern Josef und Emanuel Max ein Epigonentum hervorgebracht, das mit seinen monumentalisierenden Statuen auf der Karlsbrücke einer freien Entwicklung breit im Wege stand. Im Nationaltheaterbau versucht Bohuslav Schnirch eigene Töne. Bei Václav Myslbek treibt ein plastisches Empfinden in den Skizzen recht lebendig, im ausgeführten Werk kühl und oft akademisch (Wenzelsdenkmal auf dem Wenzelsplatz, Schwarzenbergmonument im Veitsdom). Die Nachfolger werden von der Unsicherheit der Zeit verwirrt: Stanislaus Suchardas Palackýdenkmal zerflattert in sezessionistischen Bewegungsabsichten. In Ladislav Šalouns großem Husdenkmal (Altstädter Ring) löst sich die Gestalt kaum aus der schweren Masse. František Bílek versucht den grüblerischen Geist des Hussitenvolkes in seine pathetische Skulptur zu heben. Starker Eigenwille und Formbegeisterung für die Gotik ringen hier um die Gestaltung eines neuen Werkes, aber die allzu deutliche Absicht läßt reinste Kunst nicht aufkommen. Erst das neue Jahrhundert bringt in dem vortrefflichen Jan Štursa den Bildhauer, der das naive Volksempfinden in die große plastische Form hinaufsteigert. In ihm schufen Kraft und Instinkt und die schönste Verbundenheit mit dem Empfinden des Volkes.
In der Architektur war ein Anschluß ans Volkstümliche, wie ihn Mánes in der Malerei vollzogen hatte, nicht wohl möglich. Höchstens ein Hereinnehmen der am Volksempfinden erstarkten Tochterkünste. So in der Karolinenthaler Kirche der Heiligen Cyrill und Method, bei deren Ausschmückung zum Architekten Ullmann der Maler Mánes und der Bildhauer Levy treten. Von 1870 an wirkten die deutschen Gründerjahre auch nach Prag herein: eine rege Bautätigkeit erwachte. Gottfried Sempers Geist wirkte in Prag bei Ignaz Ullmann und bei Antonín Barvitius (Wenzelskirche in Smichow). Die Neue Allee (Ferdinandstraße, Volksstraße) war seit der Anlage des Staatsbahnhofes (Hiberner-Bahnhof) zu einem starken Verkehrszug und dadurch auch zu einer Ladenstraße geworden. Die Böhmische Sparkasse baute sich hier an. Hier an der Moldau sollte auch das neue tschechische Nationaltheater zu stehen kommen.
Der Kampf um dieses Theater bildet eine entscheidende Kraftprobe der gesamten Erneuerungsbewegung. Im Jahre 1845 schon hatten einige Patriotenführer: Rieger, Friè, Strobach, Trojan und Palacký, eine Eingabe an die Stände um Bewilligung eines eigenen tschechischen Theaterprivilegiums gemacht. Noch war ja das Ständetheater im Besitz des einzigen Privilegiums. Man dachte damals schon daran, das neue Theater am Moldaukai, aber gegenüber dem später gewählten Platz, zu erbauen. Der Ablehnung des Gesuches antwortete in den Revolutionszeiten die Gründung eines tschechischen Theaterkomitees, das seine Aufrufe und Sammellisten bezeichnenderweise noch tschechisch und deutsch drucken ließ. Im Jahre 1852 wird der endgültig gewählte Platz, der heutige, um 45.000 Gulden gekauft. Aber das Projekt schreitet nur langsam voran. Das tschechische Theater drängte nicht von innen, von einem starken dramatischen Leben aus zu einem Neubau, es drängte mehr von außen her der Wunsch des Volkes nach repräsentativem Ausdruck seiner Kultur.
Die tschechischen Vorstellungen im Ständetheater müssen noch immer hart um Besuch kämpfen. Das Schauspiel will trotz aller Anstrengung der Kolár und Kajetan Tyl, der seit 1849 als Dramaturg am Ständetheater wirkte, nicht recht gedeihen. Man hofft, daß das eigene Haus den Theaterbetrieb und den Besuch heben werde. So beschließt man den Bau eines Interimstheaters, beschließt ihn gegen den Willen einiger Patrioten, die durch ein solches Interimstheater den Bau des großen Hauses gefährdet glauben. Im Jahre 1862 wird es neben dem für das Nationaltheater bestimmten Platz eröffnet. Damit war das alte Prager Theater zum erstenmal vollkommen gespalten. Ein Deutscher ist Direktor: Siegert. Aber die Teilnahme des Publikums ist bald zu schwach, um Oper und Schauspiel zu halten. Die Gegner des Interimstheaters sabotierten den Betrieb. Die Theaterleitung verhandelt mit dem Direktor des Ständetheaters Thomé wegen Zusammenlegung der beiden Opern, was aber vom Theaterkomitee abgelehnt wird.
Am 16. Mai 1868 findet die feierliche Grundsteinlegung des großen Hauses statt. Im Festzug, der vom Invalidenplatz in Karolinenthal zum Bauplatz zieht, gehen die Zünfte in Nationaltracht, geht das Bürgerkorps, gehen 1500 Studenten, die Typographen tragen die Druckerpresse. Palacký und Rieger, auch der Deutsche Dr. Schmeykal als Vertreter des Landesausschusses sind im Zug. Aber die Spaltung der Tschechen dauert fort und wird durch die politische Konstellation vertieft. Die Alttschechen opponieren noch immer gegen das Interimstheater. Die Jungtschechen erwirken durch ihren Eintritt in den Landtag eine Landessubvention von 300.000 Gulden für den Theaterfonds. Am Interimstheater wird Mayr, früher Dirigent am Ständetheater, Direktor. Er muß seinen Spielplan mehr vom Kassenstandpunkt als vom künstlerischen und nationalen Ernst bestimmen lassen. Die Alttschechen spielen in ihrer »Neuen Arena«, die sie als Kampftheater gegen das Interimshaus erbaut haben. Die Jungtschechen gründen ein »Neues Tschechisches Theater«, das neben dem Interimstheater spielen soll. Das Interimstheater wird nun wieder von einem Deutschen, von dem früheren Direktor am Ständetheater, Wirsing, geleitet.
Unterdes schreitet der Neubau des großen Hauses rüstig fort. Ihn leitet der kultivierte Jan Zítek, ein volksbewußter Tscheche, als Professor jedoch an der deutschen Technik verblieben (vgl. S. 331 unten). 1877 versöhnen sich die beiden tschechischen Parteien. Am 15. Juni 1881 kann das Tschechische Nationaltheater mit einer Festaufführung von Smetanas »Libuša« eröffnet werden. Aber nach wenigen Vorstellungen brennt der Neubau fast völlig nieder (12. August 1881). Leidenschaftlich betriebene Sammlungen, Stiftungen des Kaisers, des Kronprinzen, der Stadt bringen große Summen herein. Auch die Deutschen hatten damals reichlich gespendet. Sofort beginnt man mit dem Wiederaufbau. Zwischen Zítek, der ruhig arbeiten will, und dem Baukomitee, das zur Eile antreibt, entstehen Meinungsverschiedenheiten. Zítek legt die Bauleitung nieder. Sein Kollege an der Technik, Josef Schulz, baut weiter. Am 18. November 1883 kann das wiedererstandene Haus in feierlicher Akademie eröffnet werden. Das tschechische Volk hatte sein monumentales Theater.
Nun galt es, das Haus mit wirklicher Leistung zu füllen. Preise für dramatische Werke wurden ausgesetzt. Die Produktion folgte nur langsam. Der große Schauspieler erwuchs erst in Vojan.
Aber Musik strömte herein. Die war inzwischen schon zu einer großen volksnahen Kunst gediehen. Wie die Malerei hatte sie unmittelbar am Volkhaften anknüpfen können. Jaromír Erbens Volksliedersammlungen (1842-1852) hatten einen großen Schatz gehoben. Die Melodien dieser Volkslieder waren meist auf Tanzweisen in knapper Rhythmik, auf den G'stampften, den Hopser, die Polka aufgebaut. 1825 war in Franz Škroups »Dráteník« (Der Drahtbinder) die erste romantische tschechische Oper entstanden. Škroups »Kde domov mùj« (Wo ist meine Heimat) war zum Nationallied geworden. Dann erstand in Bedøich Smetana der geniale Musiker, der all diese Schätze heraufholen sollte in die große Kunst der Oper.
Smetana hatte von 1843 an bei dem aus Reichenberg zugewanderten Proksch studiert, war durch Knittl, den Leiter des Konservatoriums, als Musiklehrer zu den Grafen Thun gekommen. Als er sich selbständig machte, geriet er in die größte Not. Sein Hilferuf an Liszt (1848), dem er Kompositionen einsandte, brachte ihm wärmste Anerkennung und tatkräftigste Unterstützung. Aber was in Weimar so freudig aufgenommen wurde, fand in der Heimat keinen Erfolg. So nimmt Smetana einen Ruf nach Göteborg als Leiter der philharmonischen Konzerte an. Fünf Jahre hält er es in der Fremde aus. Dann zieht es ihn nach Prag zurück (1861). Hier beginnt er mit Klavierstücken, denen er tschechische Volkstänze zugrunde legt, und mit Chorgesängen. Im Rahmen der »Umìlecká Beseda« veranstaltet er Abonnementskonzerte, die zuerst schweren Stand haben. Im Jahre 1866 wird ihm für seine Vertonung der »Brandenburger in Böhmen« der Harrach-Preis zuerkannt. Aber die Uraufführung seiner »Verkauften Braut« (im gleichen Jahr) läßt kühl. Erst der Wiener Triumph der Oper bringt ihm den Sieg.
Hier war volkstümliches Empfinden in große Gestaltung hinaufgehoben. Scherz, musikalischer Einfall und tiefe Innigkeit, strömende Melodik hatten ein Meisterwerk geschaffen. Smetana bekommt die Stelle als erster Kapellmeister am tschechischen Interimstheater. Dem »Dalibor« (1867) wird aber von Landsleuten »reflektierender Germanismus« vorgeworfen. Er schafft unbeirrt weiter. Otakar Hostinskýs Ausdeutung der Nationalmusik –; eine solche müsse auf Rhythmik und auf den Tonfall der Sprache begründet sein –; wirkt fruchtbar auf ihn ein. Aber ein Ohrenleiden steigert sich bis zur Taubheit. Er muß auf seine Dirigententätigkeit verzichten, muß die Triumphe eines Jüngeren, Dvoøáks, mitansehen, glaubt sich schon abgetan. Da erstehen die symphonischen Dichtungen »Má vlast« (Mein Vaterland) und das Streichquartett »Z meho zivota« (Aus meinem Leben). Auch wieder Opern: »Hubièka« (Der Kuß) wird ein großer Erfolg. Sein 50jähriges Künstlerjubiläum gestaltet sich zur Feier der ganzen Nation (1880). Bei der Eröffnung des Nationaltheaters wird seine »Libuša« aufgeführt. Aber das Ohrenleiden verwirrt seine Sinne. So stirbt er in der Irrenanstalt, während kurz zuvor draußen sein 60. Geburtstag von einem ganzen Volk gefeiert worden war (1884).
Eine nationale Musik war geschaffen. Jüngere folgen. Antonín Dvoøák, Fleischersohn aus Mühlhausen in Mittelböhmen, geht zuerst mit Opernversuchen in Smetanas Spuren. Aber den ersten Erfolg bringt ihm, dem Organisten bei St. Adalbert, ein Chorgesang: ein »Hymnus«, den der tschechische Gesangverein »Hlahol« 1873 aufführt. Entscheidend für Dvoøák wurde die Begegnung mit Johannes Brahms. Der war in Wien als Prüfer der Stipendiengesuche auf den jungen Tschechen aufmerksam geworden, hatte ihm in Simrock einen großzügigen Verleger verschafft. Nun erstehen die »Mährischen Duette« (1877), die »Slawischen Tänze« (1878). Nun ersteht vor allem die Kammermusik, die in ihrer strotzenden Sinnlichkeit, in ihrem unerschöpflichen Reichtum an Einfällen, ihrer Ursprünglichkeit die europäische Musikwelt erobert. Schöpferisch reichste Jahre, bis ein Angebot aus New York, das dortige Konservatorium zu leiten, hinüberlockt in die Neue Welt. Brahms warnt, beschwört. Aber Dvoøák zieht hinüber. Dort wird er gefeiert wie kaum ein Komponist. Holt sich neue Anregungen in motivischen und klanglichen Elementen. In der Symphonie »Aus der Neuen Welt« und in den »amerikanischen« Quartetten hat er sie gestaltet. Aber er kommt etwas verwirrt zurück, denn die neudeutsche Richtung der Wagner und Liszt, deren Siege er drüben erlebt hatte, bannt ihn. Er wirft sich der poetisierenden Musik in die Arme, ringt um die Bühne. In volkhaften Stoffen leuchtet seine Musik noch auf. Auch in der Oper muß ein Dvoøák Bedeutendes leisten. Aber die Gesamtproduktion dieser Spätjahre reicht doch nicht an die Größe seiner absoluten Musik heran. Trotz aller Bitten der Freunde nimmt er sie nicht mehr auf. Er stirbt 1904.
Neben ihm, dieser »Apotheose des tschechischen Musikantentums«, wirkt die komplizierte Natur eines Zdenìk Fibich. Scharfer Kunstverstand ringt um Bewältigung von Problemen, die durch Mischblut –; Fibich stammt von deutschen Ahnen –; und sehr bewußte Modernität diesem vornehmen Musiker gestellt werden. Zwischen Opern und Melodramen –; dies seine neue Kunstform –; drängen spontane Herzenstöne herauf, wie in den »Stimmungen, Eindrücken, Erinnerungen«, in denen er in romantischer Versunkenheit dem natürlichen Empfinden des Volkes so nahe kommt.
In der Musik hatte sich die Erneuerung einer tschechischen Kultur am schönsten erfüllt. Die Aktivierung in die Wirklichkeit hinein mußte eine die Politik tragende Literatur bringen. Zu Beginn der Reaktionszeit waren noch Karel Havlíèeks Kampfrufe erschallt gegen den »inhaltsleeren Nationalismus und die sentimentale Romantik«, wie sie in den Patriotenkreisen üblich geworden waren. Aber sein mutiger Realismus brachte ihm eine Internierung (in Brixen) ein. Als er nach Jahren zurückkehrte, krank und verbittert, fand er auch bei den Landsleuten eine durch die Reaktion geduckte kleinmütige, mißtrauische Gesellschaft vor. Er starb bald. Die literarische Jugend scharte sich jetzt um Hálek und um Jan Neruda. Das »Junge Deutschland« wirkte auf sie ein. Dazwischen hübsche Literaturblüten: Nerudas wirklichkeitsgetränkte Stimmungsbilder (»Kleinseitner Geschichten«). Vorher die gütige Božena Nìmcová. Sie banden die Bewegung wieder fester an den wirklichen Volksboden. Aber die Jahrzehnte von 1860-1880 brachten die Literatur völlig unter das Joch der Politik.
Unter der neu gegebenen Verfassung (1861) war bald der Kampf ums »böhmische Staatsrecht« wild aufgelodert. Innerhalb der Tschechen spaltete sich die Front. Gegen die Alttschechen, die mit Hilfe des Feudaladels und durch strikte Opposition zum Ziel gelangen wollten, stellten sich die demokratisch eingestellten und für Aktivismus eintretenden Jungtschechen. In alle Kulturgebiete spielten die Kämpfe herein. Die Rückgabe einiger der schönsten von Königsmarck 1648 geraubten Handschriften durch Schweden brachte echte Schätze der alttschechischen Dichtung ins Nationalmuseum. Besonders die alttschechische Katharinenlegende, die schon 1850 von Dr. Josef Peèirka in Stockholm aufgefunden und abgeschrieben worden war, beleuchtete den hohen Stand tschechischer Dichtung im 14. Jahrhundert. Svatopluk Èechs Epen warfen nun die Erinnerung an eine glorreiche Vorzeit in die Kämpfe, traten aber auch für die Forderungen des Tages ein. Èech stand als liberaler Demokrat beim Kleingewerbe, das von der Industrie immer mehr gefährdet wurde. Alois Jirásek, der 79jährig erst im Jahre 1930 gestorben ist, befriedigte mit seinen nationalen Stoffen die anspruchslose Unterhaltungssucht der Massen in Stadt und Land und hatte breiteste Wirkung.
Die nationale Bewegung drohte wieder in seichte Wohlrednerei zu verebben. Die Erfüllung des Theatertraums trug die Gefahr verfrühter kultureller Genügsamkeit in sich. Der Gegenstoß kam von gebildeten kritischen Geistern, die in die Enge der Heimat neue Kulturwelten des Westens hereinholten. In der Zeitschrift »Lumir« sammelte sich eine junge Gelehrtengeneration zu scharfer Kritik der in den letzten Jahren bedenklich angeschwollenen »aufdringlichen Moral«, der »gewaltsamen patriotischen Tendenz«, des »faden erlogenen Idealismus«, der »süßlichen Sentimentalität«. Der bedeutende Historiker Jaroslav Goll, der Bahnbrecher einer streng kritischen Geschichtsschreibung bei den Tschechen, der Professor der Ästhetik Otakar Hostinský, der Kunsthistoriker Miroslav Tyrš kämpften für weitere Horizonte in Wissenschaft und Literatur. Julius Zeyer und Jaroslav Vrchlický wurden die Dolmetscher der neuen Ziele in der Dichtung. Diese Dichtung holte ihre Vorbilder aus Frankreich. Dessen hochgetriebene Dekadenz wirkt –; bei Zeyer bis zum Morbiden –; auf die tschechische Volkskultur. Zum erstenmal meldet sich eine tschechische Dekadenz, eine bei diesem so gesund anmutenden Volk sehr erstaunliche Erscheinung. Waren die geistigen Spitzen aus bäuerlicher Herkunft zu schnell in kulturelle Überreife vorgestoßen? Aber von unten her hält gesunde Kraft.
Der Realismus, der solchen Kosmopolitismus notwendig ergänzen mußte, wird von Gelehrten in die Bewegung getragen. Jan Gebauers und Thomas G. Masaryks vernichtende Kritik der Hanka-Fälschungen, die immer noch als nationales Palladium vor allen Angriffen der Gegner, vor allem von deutscher Seite geschützt wurden, sind der Kampfruf, mit dem sich eine kritisch eingestellte, für Wahrheit und Wirklichkeit kämpfende Generation von den unklaren Wortführern »nationaler Überlieferung« scheidet. Gebauer, der Erneuerer der seit Šafaøík brachliegenden tschechischen Sprachwissenschaft (»Historische Grammatik der tschechischen Sprache« und »Alttschechisches Wörterbuch«), führt die unanfechtbare Kritik durch. Masaryk, der realistische Philosoph (»Konkrete Logik«, »Die philosophischen und soziologischen Grundlagen des Marxismus« u. a.), macht die Anerkennung der Kritik zur nationalen Ehrensache. In der tschechischen Akademie, die Kaiser Franz Joseph 1890 gründet –; Stiftungen Josef Hlávkas hatten die Gründung unterstützt –;, herrschen zwar noch die Konservativen. Aber ein Stamm modern gerichteter Gelehrter erobert der tschechischen Kultur den Wirklichkeitsstandpunkt. Masaryk politisiert die neue Richtung, unterbaut sie mit dem Geist der Hussitenzeit, mit dem Gehalt der Brüdergemeinden, schmiedet in zielbewußter Politik die Bewegung zu einer kräftigen Waffe für die Zeit. Die tschechische Renaissance ist zu einer Macht in der Wirklichkeit geworden.
Wir haben oben den Begriff »Tschechische Renaissance« zeitlich weiter als üblich ausgedehnt, um die Aufholung der Gesamtkultur, wie sie dem literarischen Vorstoß der ersten Jahrhunderthälfte folgte, als Einheit darzustellen. Jetzt gilt es, die einschneidende Rückwirkung dieser Bewegung auf die Prager Atmosphäre zu betrachten. Die Stadt spaltet sich restlos in zwei Kulturkreise auf, die allmählich jede Verbindung untereinander außer der lebensmäßig bedingten wirtschaftlichen lösen. Aus dem Übereinander, das durch mannigfache Durchdringungen als ein Ineinander erscheinen konnte, wird ein Nebeneinander, dessen tiefste Richtung ein Gegeneinander ist. Da dieser Vorgang jede Regung politisch durchtränkt, werden wir uns hier, um den Standpunkt der Betrachtung zu wahren, auf kürzeste Skizzierung der Hauptpunkte beschränken.
Wir hatten oft genug Gelegenheit, auf die keineswegs nur theoretische, sondern oft auch recht praktische Teilnahme hinzuweisen, welche die Deutschen der tschechischen Erneuerungsbewegung bezeugten. Deutsche hatten Stoffe aus der tschechischen Geschichte bearbeitet (Egon Ebert). Deutsche Musiker hatten tschechische Texte vertont (Knittl), hatten kritisch für sie geworben. Bis zum Jahre 1848 waltete auf vielen Gebieten, nicht nur auf dem Theater, aufrichtige Zusammenarbeit. Franz Klutschak, seit 1844 Chefredakteur der »Bohemia«, die damals noch kulturelles Wochenblatt war, leitete gleichzeitig die tschechische Volkszeitschrift »Èeská vèela« (Die tschechische Biene), ja, daneben auch die einzige tschechische Tageszeitung »Pražské Noviny«, an der er dann (1846) von Karel Havlíèek abgelöst wurde.
Erst im Revolutionsjahr selbst, als die auf Sprengung des bisherigen böhmischen Nationalitätsbegriffes ausgehenden Absichten der Tschechen laut und eindeutig zum Ausdruck kamen, erhoben sich allmählich warnende Stimmen, welche die Deutschen eindringlich aufforderten, die tschechischen Übergriffe abzuwehren und die bisherige Gleichgültigkeit in nationalen Fragen endlich aufzugeben und sich auf ihr Deutschtum zu besinnen. Man beschäftigte sich noch mit der gemeinsam erlebten böhmischen Geschichte und mußte erst ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht werden, daß solche Nationalbegeisterung vom tschechischen Lager aus in einem durchaus entgegengesetzten Sinne gewertet und ausgenutzt werden würde. So nimmt es nicht wunder, daß der böhmische Nationalpatriotismus, bei den tschechischen Patrioten längst erloschen, nun auch auf der deutschen Seite schwand. Wenn noch um die Jahrhundertmitte ein böhmischer Adeliger, Graf Thun, sagte: »Ich bin weder Deutscher noch Tscheche, ich bin Böhme!«, so war das ein letztes Aufflackern des landschaftlich begründeten Einheitsbewußtseins, das aber bald darauf auch beim Adel zerbrach.
Die Fronten formierten sich. Bei den Tschechen führte Palacký, dessen »Geschichte Böhmens« in ihren weiteren Bänden von nun an, wie fast alle Veröffentlichungen der Tschechen, nur mehr tschechisch erschien. Den Deutschen erwuchs in Dr. Schmeykal ein zielbewußter und tatkräftiger Führer.
Die Revolution hatte Deutsche und Tschechen in der Forderung nach Gleichberechtigung beider Nationen des Landes geeinigt. Diese Gleichberechtigung war auch schon am 8. April 1848 durch kaiserliches Handschreiben zugestanden worden. Zur verfassungsrechtlichen Sicherung war es vor der Reichsratsauflösung nicht mehr gekommen. Innerhalb solcher Einigkeit spielten aber schon während der Revolution die Gegensätze der Nationen: die Deutschen wollten das Frankfurter Parlament beschicken –; die Tschechen wollten Österreich föderalistisch gestalten. Immerhin dachte man damals noch an Ausgleich durch Autonomisierung der Siedlungsgebiete. Die Tschechen ließen diesen Plan fallen, als ihre Macht wuchs, und zielten auf Föderalisierung der Länder der Krone Böhmens unter tschechischer Führung. Da eine solche Autonomie des gesamten Kronlandes unter tschechischer Mehrheit hätte stehen müssen, bekämpften sie die Deutschen. Dieser Kampf nahm immer schärfere Formen an.
Zunächst unterdrückte die von Wien geübte Reaktion jede politische Äußerung. Havlíèek mußte seine im Jahre 1848 gegründete »Národní Noviny« (Nationalzeitung) einstellen: er übersiedelte nach Kuttenberg, gab dort seinen »Slovan« (Der Slawe) heraus. Bald darauf war er dann in Brixen interniert worden. Klutschak mußte sein »Konstitutionelles Blatt in Böhmen« einstellen. Er wandelte nun die »Bohemia« zur Tageszeitung um.
Ein eigentümlicher, für eine in vielen Kreisen gemischte Kultur bezeichnender Zwiespalt machte damals manchem zu schaffen: das »Zwischen-den-Rassen-Stehen«. Wir denken hier nicht so sehr an die Juden. Die Emanzipation hatte sie zwar in die kulturellen und politischen Tageskämpfe stark mithereingerissen. Aber ihre persönliche Entscheidung war durch ihre Herkunft gegeben: soweit sie der städtischen Bevölkerung entstammten, hielten sie sich ans Deutschtum. Soweit sie vom Lande zugezogen waren, vollendeten sie den draußen begonnenen Tschechisierungsprozeß nun bis zur völligen Einschmelzung ins Tschechische. Wir denken auch nicht so sehr an die Massen der »Zweisprachigen«, die, meist tschechischer Herkunft, sich bald eindeutig zum Tschechischen bekannten.
Zum ernsten persönlichen Problem wird die Frage, wo Blut und Kultur sich schieden. Beispiel ist Anton Springer, der bedeutende Kunsthistoriker. Er war im Revolutionsjahr aus Deutschland, wo er studiert hatte, nach Prag zurückgekehrt. Hier war seine Heimat: eines Strahower Braumeisters Sohn, tschechischer oder tschechisierter Abstammung –; durch den Bildungsgang völlig in die deutsche Kultur hineingewachsen. Während der Revolutionszeit und in den Jahren danach wirkte er in Prag als politischer Journalist großen Formats: schrieb in Klutschaks »Konstitutionellem Blatt« tiefsachliche Erörterungen über das österreichische Problem. Zuerst war er für Beschickung des Frankfurter Parlaments eingetreten. Seine Kulturzugehörigkeit bewirkte also bei ihm das gleiche, was bei den Deutschen das Blut bewirkte. Dann aber tritt er für Erhaltung eines föderalistischen Österreich ein. Dazu –; so begründet er es –; trieben ebenso Wirtschaft wie Geschichte, andererseits sei ein Großdeutschland mit zwei Reichstagen, mit zwei Großmächten innerhalb eines Reiches undenkbar. Das war im Ergebnis das gleiche, was die Tschechen wollten. Und Palacký glaubte schon, den Sohn des Volkes im tschechischen Lager zu haben. Die Deutschen, die gegen alle von Deutschland abrückenden Forderungen, wie die Tschechen und jetzt auch Springer sie verfochten, immer gereizter wurden, da sie sich dadurch immer mehr bedroht fühlten, sahen in ihm schon den Abtrünnigen. Aber Springers Argumentation ging nicht vom tschechischnationalen, sondern vom europäischen Standpunkt aus. Der verlangte ein starkes Österreich. Im übrigen verdroß ihn die Art der Prager Politik immer mehr. Als dann noch sein neugegründetes föderalistisches Organ, »Die Union«, nach kurzem Bestehen unterdrückt wurde, entschloß sich Springer, zur rein kunstwissenschaftlichen Tätigkeit zurückzukehren. Da in Österreich die Habilitation eines Achtundvierzigers unmöglich war, habilitierte er sich in Bonn, von wo aus er seine große Laufbahn als deutscher Gelehrter antrat (1852).
Droben auf der Burg wohnte zurückgezogen das alte Kaiserpaar, das im Jahre 1848 abgedankt hatte. Auf dem Kleinseitner Ring wird das Radetzky-Denkmal von Emanuel Max, zu dem die Gesellschaft patriotischer Kunstfreunde die Anregung gegeben hatte, aufgestellt. (Beim Umsturz wurde die Figur vom Sockel genommen, nahe davon kam das künstlerisch nicht sehr geglückte Denkmal für den französischen Tschechenfreund Ernest Denis zu stehen.) Die Vororte wachsen stark unter dem Zuzug der Industriebevölkerung vom Lande. Das tschechische Element nimmt auch zahlenmäßig sehr zu. Prag ist Wiener Provinz.
Im alten Ständetheater, jetzt Landestheater, blühte die Romantik (Flotow, Donizetti, Verdi). Eine Wagner-Festwoche (1856) begeistert. Auch Franz Liszt kam nach Prag, um seine »Graner Festmesse«, die der Domkapellmeister Johann Škroup einstudiert hatte, beim festlichen Hochamt im Veitsdom selbst zu leiten. Die moderne Richtung in der Musik zündete in Prag.
Die großen Schiller-Feiern des Jahres 1859 vereinten noch einmal Deutsche und Tschechen zu gemeinsamer Huldigung vor dem Genius. Ein Fackelzug bewegte sich vom Clementinum aus über die Karlsbrücke zum Waldstein-Palais, wo in deutscher und tschechischer Sprache das hohe Andenken des Dichters geehrt wurde. Glänzende Schiller-Aufführungen im Neustädter Theater. Beim Festbankett sprach auch der greise Purkynì. Aber die Jüngeren protestierten schon gegen die Teilnahme der Alten an der »deutschen Feier«.
Die neuerliche Verleihung der Konstitution und die Zusage Franz Josephs, zur Krönung nach Prag zu kommen (1861), ließen die nationalen Hoffnungen auf tschechischer Seite wieder stark auflodern. Die durch die Verfassung erneuerte Gemeindeautonomie verlangte Neuwahlen für den Gemeinderat. Sie ergaben eine starke tschechische Mehrheit. Ein Tscheche, Pštros, wird Bürgermeister. Die Deutschen gründen zur Wahrung historischer Forschungsergebnisse den »Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen«.
Der Riß zwischen den Kulturkreisen geht immer tiefer, greift schon ins gesellige Leben ein. Der Künstlerverein Arkadia, den Mikovec, ein junger tschechischer Archäologe, in vornehmer Bemühung um Einigkeit innerhalb der künstlerischen Welt gegründet hatte, bröckelte unter dem Austritt der Tschechen immer mehr auseinander. Die Tschechen gründeten in der »Umìlecká beseda« nach den Statuten der Arkadia ihre eigene künstlerische Gesellschaft. Die vollbrachte in ihren großen Shakespeare-Veranstaltungen und in den Smetana-Abonnementskonzerten sehr bald schon wirkliche Kulturtaten. Die »Arkadia« verkümmert. Aus ihren Resten fand sich unter Thomés, des Theaterdirektors, Ägide die »Schlaraffia« zusammen, in der Künstler und solche, die es sein wollten, sich die Zeit vertrieben. Von Prag aus verbreitete sie sich schnell.
Der Polenaufstand vom Jahre 1863 weckte unter den Tschechen begeisterte Sympathien. Das Konzert, das Richard Wagner 1863 im Sophien-Insel-Saal gab, führte die Nationen noch zusammen. Ja, in der tschechischen Musik findet der von Wagner gebrachte »Fortschritt« regste Anteilnahme. 1865 aber reißt die nationale Spaltung das Theater auseinander: das tschechische Interimslandestheater öffnet seine Pforten. Und wieder vertieft Politik die kulturelle Spaltung. Die Aufhebung der Verfassung unter dem Minister Belcredi reizt auf.
Der Einmarsch der Preußen am 8. Juli 1866 spülte in ganz Prag das deutsche Element wieder an die Oberfläche. Man hörte in diesen Monaten nur deutsch sprechen, berichtet Emanuel Max in seinen Erinnerungen. Österreich hatte Prag als Festung aufgegeben. So blieb der Stadt die Beschießung erspart. Auch sonst scheint diese Preußenbesetzung recht anders gewirkt zu haben als vor 122 Jahren. Man rühmte die Haltung der Offiziere und der Truppen. Zwei Tage weilte der König Wilhelm mit seinem Minister Bismarck in Prags Mauern, wohnte im Hotel »Zum blauen Stern« –; an dessen Stelle heute der Neubau der Živnostenská Banka steht –; und unterzeichnete dort den Frieden mit Österreich. Der preußische Kommandant Vogel von Falkenstein wohnte auf der Burg. Im September zogen die siegreichen Preußen wieder ab. Ob sie sich des schmählichen Benehmens der Prager bei dem Auszug der preußischen Truppen im Jahre 1744 erinnert haben?
Die Tschechen beginnen jetzt auch mit der Verselbständigung ihrer Wirtschaft. Sie streben den geschlossenen Wirtschaftskreis an. Die nationale Spaltung gräbt ins kommerzielle Leben hinunter. Der Gründung der (deutschen) Hypothekenbank im Jahre 1864 erwidert im Jahre 1868 die Gründung der (tschechischen) Živnostenská Banka als tschechischer Großbank. Tschechische Maschinen- und Elektrizitätswerke (Køižík) treten den alten deutschen Maschinenindustrien (Prager Eisen u. a.) gegenüber. In der Handels- und Gewerbekammer erringen die Tschechen die Mehrheit. Folgen dieser wirtschaftlichen Umschichtung dringen ins kulturelle Leben: die von der (damals noch deutschen) Handels- und Gewerbekammer gegründete Kunstgewerbeschule drückt jetzt die vier deutschen Professoren beharrlich hinaus. Während die deutschen Industrien und Gewerbe mehr nach kaufmännischen Gesichtspunkten arbeiten, also national unbeteiligt bleiben –; wir erinnern uns an die Haltung der deutschen Großkaufleute des Mittelalters in Prag –;, arbeiten die Tschechen bewußt auf die Schließung eines nationalen Wirtschaftskreises hin. Ein bemerkenswerter Parallelvorgang zu der Aufrichtung einer eigenen geschlossenen Geisteskultur.
Schon arbeitet bei den Tschechen in breitesten Schichten der »Sokol« (Falke), der von Heinrich Fügner (deutscher Abstammung) und Miroslav Tyrš gegründete nationale Turnverein, der die »Deutsche Turnerschaft« nachahmt und zum stärksten Gerüst der tschechischen Volksbewegung heranwächst. Als Franz Joseph 1868 zur Einweihung der Franz-Josephs-Kettenbrücke nach Prag kommt –; unter dem jubelnden Spalier bemerkt man meistens Deutsche –;, unternimmt der »Sokol« einen Demonstrationsausflug nach Kolin. An den Hochschulen treten die Sprachschwierigkeiten verschärft auf. An der Technischen Hochschule führen sie, nachdem Teilregelungen nichts helfen, im Jahre 1869 zur völligen Trennung: die deutsche Technik bleibt in der Dominikanergasse (jetzt Husgasse), zerstreute Mietswohnungen ergänzen ihre Räumlichkeiten. Die tschechische Technik bekommt den Neubau am Karlsplatz.
Zwischendurch immer wieder Bemühungen einzelner, wenigstens in der Kunst die Sprachstreitigkeiten auszuschalten. Erzherzog Ludwig Salvator, der zwischen seinen großen Forschungsreisen in Prag lebt (Palais Kinsky), empfängt bei sich deutsche und tschechische Künstler, steuert auch zur Gründung der Künstlervereinigung St. Lukas bei, unter der Bedingung, daß keine Sprachzerwürfnisse vorkommen. Aber solche Gründungen haben in Prag kein Erdreich mehr. Nur Nationales gedeiht. Auch das Weltgeschehen draußen, wie jetzt eben der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich, findet in Prag seine nach Nationalitäten verschiedene Beurteilung. Die Deutschen wollen ihr Kunstleben sammeln und kräftigen: sie gründen am 80. Geburtstag Grillparzers (1871) ihre Vereinigung von Schriftstellern und Künstlern, die »Concordia« –;, der in den Revolutionstagen zerbrochene Name taucht mit anderem Gehalt wieder auf. Die »Concordia« hat in den folgenden Jahrzehnten manche wichtige Tat für die deutsche Kultur geleistet, so die Entdeckung des Bildhauers Metzner, Anspornung junger Künstler durch Stipendien. Die Künstlerschaft Prags ist endgültig gespalten. Der Feier, welche die »Concordia« dem Bildhauer Emanuel Max anläßlich des 50jährigen Jubiläums seines Eintrittes in die Akademie gibt, bleiben alle Tschechen, auch die früheren Freunde des Künstlers, fern. Die Kluft ist durch die Politik zu tief aufgerissen.
Ein Streiflicht auf diese Politik, um die kulturelle Lage zu begreifen. Im Jahre 1868 hatten die »Deklaranten« ihren staatsrechtlichen Standpunkt, wie er allmählich aus den Forderungen der Tschechen herausgewachsen war und nun in der Verselbständigung Ungarns den letzten Ansporn gefunden hatte, festgelegt. Innerhalb der österreichischen Monarchie sollten die Länder der Krone Böhmens ihre eigene Verfassung, die eigene gesetzgebende und vollziehende Gewalt mit dem Sitz in Prag haben. Äußere Dokumentierung des tschechischen Staatsrechtes sollte die Königskrönung Franz Josephs auf dem Hradschin sein. Über ein halbes Jahrhundert wurde um dieses »Staatsrecht« gekämpft, wobei von jungtschechischer Seite eingestanden wurde, daß es in diesem Kampf um das Staatsrecht sich nur um eine Formel handle (Abgeordneter Dr. Kaizl im Reichsrat, 13. Dezember 1895). Die Deutschen stellten sich mit aller Entschiedenheit gegen diese Bedrohung ihrer Selbständigkeit.
Kämpfe beherrschten den Landtag. Er war in drei Kurien eingeteilt: die überwiegend tschechische Landkurie, die überwiegend deutsche Stadtkurie und die in den tschechisch gesinnten Feudaladel und den deutsch gesinnten Verfassungsadel gespaltene Adelskurie. Den Ausschlag gab das jeweilige Verhalten der Adelskurie. Als die erneute Zusage der Königskrönung im Jahre 1871 wieder nicht eingelöst worden war, traten die Tschechen aus dem Landtag aus. Entscheidend für das weitere Stadium des Kampfes wurde die Spaltung innerhalb der tschechischen Front: gegen die mit dem Feudaladel gehenden, in der Opposition verharrenden Alttschechen (Palacký, Rieger) stellten sich die zum Aktivismus entschlossenen, aber auf extrem nationalem, durch Hussitismus und Panslawismus bezeichnetem Boden stehenden Jungtschechen. Die »Národní Listy« gingen damals in die Hände der Jungtschechen über (Grégr, Sladkovský). Die Wirkung dieser Spaltung auf die tschechische Kulturentwicklung hatten wir anläßlich des Kampfes um das Interimstheater beobachtet. 1874 treten vier Jungtschechen in den Landtag ein; die Alttschechen bleiben fern.
Auf dem Grunde der Gleichberechtigung gehen eine Zeitlang die Deutschen mit den Jungtschechen zusammen. Die Aussöhnung unter den beiden tschechischen Parteien bringt wieder eine tschechische Mehrheit. Die Deutschen stellten ihren »Abgrenzungsantrag«: die Siedlungsgebiete sollen autonom werden. Die a limine-Ablehnung durch die tschechische Mehrheit beantworten die Deutschen nun ihrerseits mit ihrem Austritt aus dem Landtag. Die Wiener Ausgleichsverhandlungen unter dem Ministerium Taaffe im Jahre 1890 führen dann aber die Alttschechen mit den Deutschen zusammen: nationale Abgrenzung soll im Oberlandesgericht, im Landesschulrat, im Landeskulturrat und in den einzelnen Kreisen durchgeführt werden. Das Veto der Jungtschechen, die im neuen Landtag eine große Mehrheit errungen hatten, stürzte diese »Abgrenzung der Kreise«. Nur Schulrat und Kulturrat wurden getrennt. 1899 versuchten die Sozialdemokraten beider Nationen noch einmal, das Abgrenzungsprojekt durchzubringen: ein deutsches, ein tschechisches und ein gemischtsprachiges Gebiet sollten geschaffen werden. In der wachsenden Verbitterung der Kämpfe ging das Projekt unter.
Hinter den politischen Kämpfen schreitet die Entwicklung Prags zur Großstadt weiter. Um die Jahrhundertmitte hatte eine neugotische Richtung in der Architektur recht gute, in der Gliederung straffe und dabei stilistisch zurückhaltende und solcherweise anpassungsfähige Gebäude geschaffen. Der Anstoß kam von Bernhard Grueber, einem aus Schwaben eingewanderten Architekten. Sein Flügelanbau am Rathaus (Südflügel), sein Palais Aehrenthal in der Stephansgasse und seine Erneuerung des Lustschlößchens im Baumgarten (1855) stellten gute Beispiele auf. Deutsche und tschechische Architekten arbeiteten in der gleichen Richtung. Die Errichtung des Poøiè-Tores durch L. Tscheper (1856-1859) und des Aujezder Tores (1862) ließen solche Baugedanken an öffentlichen Bauten sich auswirken.
Ins Jahr 1869 fällt der erste Spatenstich zur Franz-Josephs-Bahn, die eine direkte Verbindung Wien –; Prag schaffen sollte. Im Jahre 1874 wird die von Chotek zu schönen, mit Bäumen bepflanzten Anlagen umgewandelte Bastei (über dem späteren Vrchlický-Park) abgetragen. Privater Eifer nimmt sich der Kunst an. Industrielle begründen ihre Sammlungen (Lanna, Náprstek). Die Böhmische Sparkassa, deren Verwaltung damals noch vollkommen deutsch war, stiftet das »Rudolfinum«: ein Künstlerhaus, das den Sammlungen der »Gesellschaft patriotischer Kunstfreunde«, des Kunstgewerbevereins und dem Konservatorium Unterkunft gewähren und außerdem noch schöne Konzert- und Vortragssäle bieten soll (Zítek und Schulz, 1885). Seit 1918 wurde es für die Zwecke des Parlaments verwendet, das das Gebäude seines durch die Stiftung festgelegten Charakters vollständig beraubt hatte. Heute ward er ihm wiedergegeben.
Droben auf dem Hradschin wird »ausgebaut«. Ein Jahr nach dem Tode des Vaters der Ausbauidee, des Kanonikus Pessina, war der Dombauverein gegründet, die Restauration des Veitsdoms in Angriff genommen worden (Arch. Kranner). Seit den Siebzigerjahren rückte man dann dem herrlichen Torso noch gründlicher zu Leibe, nahm ihm durch den akademischen Anbau eines Langhauses mit charakterlosen Westtürmen (unter Leitung des Schmidt-Schülers Joseph Mocker, dann Kamil Hilberts) die schöne Wildheit, zerstörte den feierlichen Innenraum (vollendet 1929).
Im Jahre 1889 beginnt Schulz mit dem großen Bau des böhmischen Nationalmuseums, dem das alte Roßtor weichen muß. 1893 ist dieser reichlich repräsentativ geratene Monumentalbau, der dem Wenzelsplatz nach oben einen fast zu massiven Abschluß gibt, beendet. Die wertvollen naturkundlichen Sammlungen der Gesellschaft und einige kunsthistorische Objekte sowie die reiche Bibliothek finden dort ihre Unterkunft. Für die Sammlung alter Kulturdokumente Prags wird das »Städtische Museum« (Poøiè) errichtet. In der großen Landesausstellung 1891 gelingt es dem Grafen Thun nur mit größter Anstrengung, die deutschen Künstler zur Beschickung der Kunsthalle zu bewegen: die einseitige Anwendung des Tschechischen hatte die deutschen Aussteller, auch die aus Industrie und Gewerbe, veranlaßt, ihre Anmeldungen zurückzuziehen. Der tschechische Charakter der Ausstellung kommt dann auch bei den meisten Veranstaltungen zum Ausdruck, so in der jubelnden Begrüßung von zwölf französischen Turnern, in der sich die neuerliche Wendung der Kulturpolitik zum romanischen Kulturkreis deutlich anzeigt.
Es gibt keine Brücken mehr zwischen den Nationen. Anläßlich des Krieges der Südslawen gegen die Türken (1876/77) hatten die Tschechen leidenschaftlich ihre Sympathien zum Slawentum bezeugt, was jetzt immer auch mit deutschfeindlichen Kundgebungen Hand in Hand geht. Das Jahr 1880 bringt die Gründung der Schulvereine als Kampforganisationen für die Erhaltung der nationalen Schulen. Die Deutschen gründen den »Deutschen Schulverein«, die Tschechen die »Ústøední matice školská«.
1882 wird auch die Universität geteilt. Karls IV. Gründung spaltet sich in die deutsche und in die tschechische Universität. Für die Deutschen war das eine Rettung vor einem abermaligen »Kuttenberger Dekret«, dessen 400jähriges Jubiläum dann im Jahre 1909 von den Tschechen festlich begangen wird.
Die Stadt in ihrem äußeren Gehaben war tschechisch geworden. Längst wurden die deutschen Straßenbezeichnungen unterdrückt. Der nationale Kampf wurde auf die Gasse getragen. Es kommen die häßlichen Zeiten, da Straßenkrawalle nationale Heldentaten wurden. Die Alldeutschen forderten den Anschluß der deutschen Siedlungsgebiete an das Hohenzollernreich. Die tschechischen Radikalen arbeiteten an der vollkommenen Verdrängung des Deutschtums zumindest aus Prag.
Aus den ursprünglich rein wissenschaftlich eingestellten »Realisten« hatte Masaryk eine zielbewußte politische Partei geschaffen (1900), die im »Èas« (Zeit) ein vorzüglich geleitetes Organ (zuerst Wochenschrift, dann Tageszeitung) hatte. Karel Kramáø ruft 1905, in einiger Spannung zu Masaryk, seine »Neuslawisten«-Bewegung ins Leben, die gegen den Dreibund, für ein politisches, wirtschaftliches und kulturelles Zusammengehen Österreichs mit Rußland eintritt. Letztes Ziel: ein von den Slawen bestimmtes föderalistisches Österreich. Hier wendet man sich der Pflege der russischen Sprache zu, einige fordern sogar Einführung des orthodoxen Glaubens, der slawischen Liturgie. Die »Slawische Woche« (1908) führt die Bewegung auf ihren Höhepunkt. Die Realisten werfen das Steuer der tschechischen Kultur nach Westen herum, lehnen deutsche Kultureinflüsse –; in bezeichnender Reaktion auf ihre durchaus deutschen Bildungswege, auf die Begründung der tschechischen Renaissance überhaupt –; immer nachdrücklicher ab. Die Entscheidung zwischen Ost und West brachte der Krieg.
Die Jahre 1914-1918 spalteten die Nationen bis zur Wurzel. Die Haltung des Tschechentums war durch die Tatsache Krieg in schwerste innere Bedrängnis gestürzt. Noch stand es ja zu Österreich. Aber die Feinde Österreichs waren seine Freunde. Hin und her gerissen zwischen zwei Fronten, deren jede einen »Verrat« in sich barg, wurde es immer tiefer unter die Diktatur des Krieges gebeugt. Tschechische Patrioten arbeiteten draußen für die Befreiung: Masaryk und Beneš waren über die Grenzen entkommen, warben bei den Ententeregierungen um Anerkennung. Tschechische Patrioten arbeiteten im Lande: die »Maffia« organisierte heimlich ein neues Staatsgerüst, hielt die Verbindung mit den Organisatoren draußen. Noch bekannten sich die meisten politischen Führer zu Österreich (1917). Aber am Dreikönigstag des Jahres 1918 erklärte die entscheidende »Dreikönigsdeklaration« die tschechischen Ziele: ein souveräner demokratischer Staat innerhalb der geschichtlichen Grenzen und Siedlungen des Volkes. Und die letzte Entwicklung des Krieges, von Masaryk zielbewußt genutzt, spielt den Tschechen in die Hände, was keiner von ihnen noch 1914 erträumt hatte: den selbständigen Staat.
Die Überleitung der Gewalt aus österreichischen in tschechische Organe war nur Vollzug einer langen Entwicklung. Die Niederreißung aller Embleme der habsburgischen Herrschaft blieb Demonstration. Die Schwerpunkte der Stadtherrschaft waren ja schon längst vertauscht.
Während die Deutschen draußen in ihrem geschlossenen Siedlungsgebiet noch um ihre Selbständigkeit kämpften, auf frühere Zusagen der Selbstbestimmung vergeblich pochten, war das Schicksal der Prager Deutschen schon besiegelt: die neue Volksmacht zwang sie in die Stellung einer nur geduldeten Minderheit.
Die Entwicklung eines Jahrhunderts hatte dem Tschechentum die ausschlaggebende Macht gesichert. Sie war ihnen nicht kampflos von den Deutschen überlassen worden. Zu einer der tschechischen das Gegengewicht haltenden nationalen Bewegung aber hatte es bei den Deutschen nicht kommen können. Die Ursachen dessen reichen tief in die Grundlagen deutscher Geistigkeit des 19. Jahrhunderts, ja in die Grundlagen deutschen Geistes überhaupt hinunter.
Die Jahre nach 1800 hatten im deutschen Prag die Wellen der Freiheitsbewegung hochschlagen lassen. Man hatte mit den Freiheitskämpfern gejubelt, hatte den Sturz Napoleons als nationale Rettung empfunden. Wo aber sollten solche Gefühle nun sich einwurzeln? Die böhmische Erde war noch getränkt von jenem Bohemismus, den das ausgehende 18. Jahrhundert so tief eingesenkt hatte in die führenden Geister Böhmens und vor allem Prags. Die um 1800 führende Generation schloß sich gegen den deutschen Idealismus fast feindselig ab. Die Humanitätsphilosophie eines Bolzano wurzelte in ganz andern Kräften, als sie jetzt von Deutschlands Universitäten herüberwarben. Als die Lehrkanzel für Ästhetik an der Prager Universität, die durch den Abgang Joseph Georg Meinerts frei geworden war, neu besetzt werden sollte, wurden in der Beurteilung der Kandidaten die Grundüberzeugungen der entscheidenden Männer offenbar. Gegen den Schüler der neuesten deutschen Philosophie Anton Müller war damals Johann Heinrich Dambeck (Prag), in manchem ein Gesinnungsgenosse Bolzanos, berufen worden. Erst Jahre später übernahm dann doch Müller diese wichtige Lehrkanzel.
In der jungen Generation hatte der deutsche Idealismus längst gesiegt. Aber war dieser deutsche Idealismus, der nun auch in Prag das Feld behauptete, denn eine Grundlage zu völkischer Sammlung? War er nicht viel eher ein hochgemuter Versuch, Völkergrenzen zu sprengen, die sich selbst verantwortliche Persönlichkeit, die verstehende, alles Fremde sich einbildende, umfassend herauszuarbeiten! Die tschechische Bewegung hatte ihn denn ja auch nur mit aller Vorsicht und Eingrenzung aufgenommen, hatte ihn auch so stark mit willkommenen Zügen der Romantik durchtränkt (Palacký), daß er dem zu bildenden Volksbegriff nutzbar werden konnte.
Zielte der Bohemismus, jener »böhmische Landespatriotismus«, auf Hebung aller Kräfte, die in der Landschaft, die im Boden der Heimat, in deren Geschichte schlummerten, die also Deutsche wie Tschechen als Kinder der gleichen Erde zusammenführen sollten, so strebte der deutsche Idealismus weit darüber hinaus in Menschheitsideale, die den deutschen und jeden Menschen zwar stärken, ihn als Glied eines kämpfenden Volksganzen aber gerade lähmen mußten.
Zu diesen beiden für die deutsche Geistigkeit in Prag ausschlaggebenden Mächten trat als dritte im Prager Deutschtum wirkende der Josefinismus, der gerade damals zu einer groß angelegten Österreich-Ideologie sich entwickelte. Religiöse Bindungen festigten die neue Macht zu charaktervoller menschlicher Haltung. Ein Aloys Klar setzte dieser Haltung in Prag das schönste Denkmal. Man begreift, welch freundliche Aufnahme die tschechische Sprachbewegung –; als solche wurde sie von den Deutschen noch erst verstanden –; in den also durchschichteten Lagern der Deutschen finden mußte.
Da zündete nun plötzlich das Wartburgfest (1817) nach Prag herüber. In der deutschen Jugend gärte es. An der Universität fanden sich Verbindungen nach Art der deutschen Burschenschaften zusammen. Nationales, kampffrohes Feuer schien aufzuleuchten. Aber der Winter 1819 erstickte die Flammen: das System packte mit harter Faust zu. Verhaftungen, Karzerstrafen. Tödliche Stille.
Als ob der grausame Druck der »Restauration« die völkischen Kräfte in die Tiefen gewiesen hätte: gerade damals regten sich lebendige Keime einer Volkskunde. 1817 waren Joseph Georg Meinerts »Alte Teutsche Volkslieder in der Mundart des Kuhländchens« erschienen (Wien und Hamburg), glückliches Erbe aus der deutschen Romantik, ein Fanal für die Deutschen im Sudetenraum. Und am heiligen Berg zu Olmütz veranstaltete Joseph Leonhard Knoll seine Festspiele (1818), wohl reichlich phantastisch und keineswegs so gesund erdgebunden wie Meinerts Tat, immerhin ein Zeichen vom Aufblühen deutschen Wesens im Lande.
Jetzt hätte in Prag eine zielbewußte Sammlung aller völkischen Kräfte einsetzen müssen. Aber man freute sich dort wohl solcher deutschen Volksgüter, wie man sich auch der von den Tschechen eifrig zutage geförderten tschechischen, auch der gefälschten, erfreute. Man sah nicht, daß die Tschechen den Zug der Zeit zum Nationalismus mit ganz anderer Folgerichtigkeit erfaßt hatten. Der starke Unterton des immer noch lebendigen Bohemismus band alle deutschvölkischen Töne zurück in die landschaftliche Gemeinsamkeit.
In der »Ludlamshöhle« saßen die jungen Dichter, die deutschen und die tschechischen, noch einträchtiglich beisammen. Aber die tschechischen hatten ihren Rückhalt in eifrigen Baumeistern an einer tschechischen Literatur. Die Deutschen verströmten sich in ein allzu nebuloses Volkstum. Kein Mißton entstand, wenn der junge Karl Egon Ebert (geboren um die Jahrhundertwende) die Stoffe für seine Gedichte dem altdeutschen Sagen- und Geschichtskreis entnahm. Schiller und Goethe wirkten in ihm mächtig nach. Nahe Freundschaft verband ihn damals noch mit Palacký. Dann wirkten romantische Ideen auf ihn ein. Sein geliebter Lehrer Dambeck hatte ihm manches vermittelt. Befreiung des Menschen, Befreiung der Frau! Das große Versepos »Wlasta« entstand (nach seinen Angaben zwischen 1825 und 1828). Jetzt war sein Gesang ein böhmisch nationales Heldengedicht. Auf böhmische Erde war dieser Befreiungskampf der Frau verpflanzt, die alttschechische Sage vom »Mägdekrieg« lieferte den Stoff. Dieser Stoff war in Eberts Dichtung aber von allem Nationalhader gelöst, in befreiende Menschlichkeit hinaufgehoben. So stand der deutsche Dichter zum Nachbarvolk. So stand man im deutschen Prag der Dreißigerjahre zur tschechischen Bewegung. Man stützte voll warmer Sympathien deren Mühen um Hebung des eigenen Volkstums. Auf gleicher Höhe wollte man ihm begegnen, um auf solcher hohen Warte alle Gegnerschaft zu begraben in versöhntem Nebeneinander.
Aber manche sahen damals eine Gefahr fürs Deutschtum aufkommen. So Joseph Leonhard Knoll. Er war von Olmütz an die Prager Universität berufen worden. Von seiner Teutschtumsbegeisterung war er äußerlich zu einem regierungsfreundlichen Josefinismus eingeschwenkt. Aber gegen den »Èechismus«, den die österreichische Regierung damals voll Anteilnahme betrachtete –; durfte man damals in Böhmen doch nur entweder österreichisch oder aber tschechisch sein, nicht aber »deutsch«, das immer verdächtig erschien! –;, gegen den »Èechismus« wandte sich Knolls heftiges Temperament. In einer Denkschrift an den Obersthofkanzler Grafen von Mittrowitz zeichnete er die Gefahren, die einem Gesamtösterreich von einer solchen Überspitzung des slawischen Anspruchs drohen mußten. Sein deutsches Empfinden lehnte sich gegen Palackýs Satz auf: nur die Tschechen seien beheimatet in Böhmen, die Deutschen seien nur Gäste. Knoll führte seinen Kampf weiter. Aber es fehlte die ihn stützende wissenschaftliche Leistung, die seinen Warnungen hätte Gewicht verleihen können, die aus der Enge der Denkschriften hätte hinauswirken können aufs Volk. 1838 wurde er dann nach Wien berufen, sein Herzenswunsch war erfüllt. Schon drei Jahre später ist er gestorben.
Eine junge Generation drängt heran. Drüben über den Grenzen war Jung-Deutschland aufgebrochen. Man horchte auf, sang mit. Aber man spürte doch immer die böhmische Erde. Kämpfernaturen, darunter Aloys Klar hatten der jungen Generation eine Zeitschrift geschaffen: »Ost und West« (1837). Herders und Schlözers Ideen lebten darin. Versöhnung und Völkerfriede waren die Ziele. Ein völkerumspannendes Weltbürgertum sollte allen Hader stillen. 1842 trat dann noch Paul Aloys Klars Taschenbuch »Libussa« dem älteren Organ zur Seite (bis 1860). Der Titel ist bezeichnend. Jungdeutsche Töne sind in Alfred Meißners frühem Schaffen zu vernehmen. Meißner war der Enkel jenes August Gottlieb Meißner, der Seibts Werk fortgesetzt hatte. Aufklärungskultur trieb in der Familientradition nach. Jetzt schreibt der Enkel vom deutschen Rhein, begeistert sich für ein Hermannsdenkmal, jubelt Groß-Deutschland zu. Sein Hauptwerk aber, ein großes Versepos, ist Žižka gewidmet (1846). Doch er besingt seinen Helden nicht als den tschechischen Volkshelden. Er sieht in ihm den übernationalen Freiheitskämpfer, der für Menschlichkeit, für Brüderlichkeit und großen Glauben sich opfert. Der überzeugte Demokrat grüßt über Jahrhunderte hinüber den Bruder. Begeistert nehmen die Jüngeren das Epos auf. Die tschechischen Führer aber rücken ab. Nicht um an eines Groß-Deutschlands Brust sich auszuweinen, kämpften sie um ihr Volkstum. Ihr Werk war gegen dieses erdrückende Deutschland gerichtet, auch gegen das größere, freiere, für das Meißner eintrat. Aber wie die meisten der freiheitlichen Kämpfer Prags wird auch Meißner von Prag fortgerissen. Wie so viele geht auch er außer Landes, um von jenseits der schwarzgelben Grenzpfähle das Österreich des Vormärz zu unterhöhlen.
Wie die jungen künstlerischen Kräfte, ein Führich, ein Riedel, die in Wien, in Deutschland und Frankreich weitere Horizonte suchten, so trieb es auch die politischen und dichterischen Führernaturen aus der Enge Prags hinaus in die Welt. In Leipzig, dem lebendigen Sammelpunkt vieler demokratischer Kämpfer, war unter deutschböhmischer Führung ein Kampflager gegen Österreich erstanden. Angriffsfreudige Jugend war dazugestoßen. Leipzig war auch für die Prager Freiheitskämpfer Asyl oder Station. Andere von den jungen Führern waren nach Wien gezogen, um im Herzen des verhaßten Systems die Lunten zu legen. So hatte das deutsche freiheitliche Prag viele seiner besten Kräfte verloren, während das Tschechentum die Blüte seiner Jugend zielbewußt gerade in Prag sammelte. Das kennzeichnet die äußere Lage, die das Sturmjahr 1848 in Prag antraf. Die innere erschwerte eine stoßkräftige Abwehr der tschechischen Ansprüche noch mehr.
Die innere Lage des Prager Deutschtums war allzu vielfältig geschichtet. Da trieb noch immer der alte Bohemismus. Da trieb aber auch eine starke Regung für ein großes Österreich. Die freiheitlichen Kräfte aber waren eindeutig auf ein zu gründendes Großdeutschland gerichtet, dem kraft historischen Gesetzes auch Böhmen angehören sollte. Solche Wünsche schienen dem freiheitlich eingestellten Deutschtum so selbstverständlich, daß es die tieferen Antriebe der tschechischen Bewegung noch immer nicht ernst genug einzuschätzen vermochte. Und als dann die Wenzelsbad-Deklaration der Tschechen (im März 1848), die das böhmische Staatsrecht, zunächst noch im Rahmen eines föderalistischen Österreich unverblümt forderte, als diese nun offen bekannten Ziele der tschechischen Bewegung den meisten unter den Deutschen die Augen geöffnet hatten, als der Einigkeitswahn, der die deutschböhmische Kultur und Politik so lange bestimmt hatte, der gerade zu Beginn des Jahres 1848 besonders stark aufgelebt war, plötzlich zerriß, da waren diese deutschen Kräfte doch gebunden durch die Kämpfe um Beteiligung an der Nationalversammlung in Frankfurt, waren an ferne Ideale hingegeben, wo nächste Notwendigkeiten konkreter Maßnahmen bedurft hätten.
»Frankfurt«, das war den Deutschen ein nationales Sinnbild –; den Tschechen war es nur ein Politikum, ein abzulehnendes Politikum. Diese Deutschen strebten nach Frankfurt, wo doch Prag aller Kräfte bedurft hätte. Gewiß: in Wien bildete sich jetzt (April) ein »Verein der Deutschen aus Böhmen, Mähren und Schlesien zum Schutze ihrer Nationalität«, der dem Prager Nationalausschuß, der inzwischen gegründet worden und immer eindeutiger unter tschechische Führung geraten war, oft wirksam entgegentreten konnte. Und in Prag selbst fand sich nun der »Constitutionelle Verein« zusammen, der –; weitmaschig genug –; zunächst noch hoffte, auch den Tschechen einen Weg nach Frankfurt bereiten zu können.
Als diese Hoffnungen dann trogen, als nicht zum geringsten Teil auf Antrieb von der Provinz aus auch hier die nationale deutsche Sache volksgebundener betrieben wurde, da fehlte es doch an einem Presseorgan, das die Kampfideen der Zeit hätte hineintragen können in die Menge. Den »Národní Listy«, der tschechischen »Nationalzeitung«, hatten die Deutschen nichts entgegenzustellen. Franz Klutschaks »Constitutionelles Blatt« huldigte bewußt oder unbewußt dem Bohemismus, in Anton Springers Beiträgen sogar oft in einer Weise, die das nun empfindsam gewordene Nationalgefühl der Deutschen verletzen mußte. Und als dann die weitertreibende Entwicklung im Juni zur Katastrophe drängte, als Windischgrätz eine tödliche Ruhe unter Bajonetten herstellte, da brach das Deutschtum noch einmal auseinander in Reaktion und Fortschritt.
Windischgrätz' eisern durchgesetzte Parole »Alles für Österreich« hatte dem Sprachenkampf Einhalt geboten, hatte damit auch das Deutschtum in Prag wieder zur Geltung gebracht, und das mußte ihm manche Deutsche gewinnen, vor allem in Prag, dessen deutsche Bevölkerung zumeist aus oberen, die Ruhe liebenden Schichten, aus Beamten, Offizieren, Industriellen und Gewerbetreibenden, kurz aus »Besitzenden« zusammengesetzt war. Aber die demokratischen Ideen waren nun verurteilt, der großdeutsche Gedanke war gewaltsam erstickt. Das fortschrittliche Deutschtum wurde abgespalten von den »Reaktionären«.
Solche Fragen konnten die tschechische Bewegung gar nicht berühren. Da trieb eine Menge von Kleingewerblern und Arbeitern von Natur aus der fortschrittlichen Sache entgegen, um so widerstandsloser, als ja jede politische Entscheidung eindeutig vom völkischen Standpunkt aus getroffen wurde. Ständische Politik konnte hier nicht scheiden, weltanschaulich war man in der großen Idee des Volksaufbaus geeint. Zwar: die Enttäuschung über die später ganz offen zur Schau getragene reaktionäre Haltung der Regierung –; die Tschechen hatten stark mit der antideutschen und antimagyarischen Geste der Regierung gerechnet –; trieb auch die tschechischen Politiker zeitweise wieder in die Nähe der deutschen Demokraten. Aber die letzten Ideen blieben doch geschieden und mit ihnen auch die politischen Ziele. Und bald genug führten die nationalen Kämpfe die Tschechen wieder zurück zur ursprünglichen, antideutschen Linie.
Durch die Ereignisse des Jahres 1848 waren die Deutschen endlich zur Klarheit über die wirkliche Ausrichtung der Fronten gekommen. Der »Constitutionelle Verein« hatte seinen Namen nun geändert. Er nannte sich »Deutscher Verein«. Unter dem Druck der »Restauration« verwandelte er sich im Frühjahr 1849 in das »Deutsche Kasino«. Seine Zeitung, die nach großen Kraftanstrengungen am 1. Oktober zum erstenmal –; als »Deutsche Zeitung« –; hatte erscheinen können, hielt sich dank der Opferwilligkeit der Verleger Borrosch und André bis 1851. Aber der Schwerpunkt der deutschböhmischen Politik verschob sich nun immer mehr nach Wien, von wo aus tatkräftig und jetzt mit klarster Zielsetzung gekämpft wurde.
Für die Deutschen kamen nun die schweren Zeiten des Abschieds von Idealen, die teils ein Jahrhundert hindurch ihre besten Geister bestimmt hatten. Die warme Schicht des Bohemismus war schon vor 1848 vom auftauchenden Ideal der Nation durchstoßen worden. Die endgültige Tilgung seiner Spuren ward erst jetzt durch eine unerbittliche Wirklichkeit erzwungen. Aber auch der großdeutsche Gedanke bröckelte ab. Auch hier war es nicht nur die Haltung der Regierung, die das Ideal erstickte. Nähere Wirklichkeiten drängten vor, zwangen viele alte Kämpfer zu näheren Zielen. Freundschaften mußten darunter zerbrechen. Meißner sah das Heil der deutschböhmischen Sache nun immer mehr im Aufblühen eines starken Deutschland. Daß seine Einsicht nun als »kleindeutsch« abgewertet werden sollte, stimmte ihn bitter. Aber auch die Spannungen innerhalb der großdeutschen Ideale nahmen zu, gleichsinnig mit der politischen Spannung zwischen Preußen und Österreich. Welche Macht sollte Großdeutschland führen? Kräfte, die sich aus dem abgelebten Josefinismus erhalten hatten, schmolzen nun ein in die für Wien werbende Idee. Die norddeutsche Richtung stand dagegen. In Prag hatten beide Pole ihre Anhänger. Man war also auch in jenen Schichten gespalten, in welche die viel plumpere Spaltung von »reaktionär« und »fortschrittlich« gar nicht hereinragte. Nur ganz langsam setzte sich die aus der Wirklichkeit aufgezwungene Erkenntnis nieder, daß hier und jetzt die engste Bindung an die eigene deutschböhmische Überlieferung not tue, daß man die Wurzeln des heimischen Deutschtums aufgraben müsse, um den Standort zu sichern, den dieses Deutschtum dem immer stärker vordrängenden Tschechentum gegenüber behaupten sollte. Im politischen Kampf drückte sich solche Besinnung in der Forderung der Autonomie der Siedlungsgebiete aus. Die Tschechen stellten die Forderung der Untrennbarkeit aller Länder der böhmischen Krone dagegen. Die deutsche Front schien sich unter dem neuen Gesichtspunkt zu sammeln.
Aber ehe im Politischen überzeugend gekämpft werden konnte, mußte kulturelle Volksarbeit geleistet werden. Die Deutschen waren in Industrie und Wirtschaft überall und sehr rasch zu führender Stellung vorgestoßen. Die völkische Kulturarbeit war dahinter zurückgeblieben. Hier warteten die dringlichsten Aufgaben.
Die Jugend, um neue Ideen ringend, tat den entscheidenden ersten Schritt. Im Jahre 1862 gründeten deutsche Studenten in Prag den »Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen«. Junge Menschen, draußen im deutschen Siedlungsland geboren, Kinder einfacher Leute aus dem Volk –; sie führten als erste durch, was so viele als notwendig empfanden: den Aufbau eines Sammelortes für alle Besinnung um das Werden des deutschböhmischen Volkes. Der Verein »sollte daran arbeiten, die allgemeine ebenso wie die örtlich bestimmte Geschichte der Deutschen in Böhmen aufzuhellen, die Quellen dieser Geschichte zu sammeln und zu erhalten und schließlich die Kenntnis dieser so geklärten geschichtlichen Vergangenheit im Volke zu verbreiten«. Die Entwicklung des Vereins in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens spiegelt die Umstellungskrisen, die das böhmische Deutschtum durchzumachen hatte, getreulich wider.
Als Präsidenten des jungen Vereins wußten die Gründer (Ludwig Schlesinger, Alexander Wiechowsky, Julius Lippert, Hermann Hallwich, Karl Pickert, Anton Kohl) einen führenden Vertreter der älteren Generation zu gewinnen: den Historiker an der Universität Karl Adolf Konstantin Höfler.
Höfler, bayrischen Geschlechts, wirkte seit einem Jahrzehnt an der Universität. Sein starkes Temperament hing in einiger Romantik an der großdeutsch-österreichischen Idee. Er kam von ihr nicht los. Auch brachte seine kirchengläubige Bindung einige Spannung zu den Bestrebungen der Jungen. Die wollten unpolitische sachliche Arbeit leisten. Höfler überspannte das Programm mit großen Ideen, die dieser Jugend nicht mehr als verbindlich erscheinen konnten. Auch ließ sich Höfler zu verschiedenen Malen zu polemischer Abwehr gegen die tschechische Geschichtsauffassung, wie Palacký sie vertrat, hinreißen. Dieser Geschichtsauffassung, welche eine historische Kontinuität des historisch gewesenen und eines künftig zu errichtenden Staates der böhmischen Krone herstellte, mußte vom deutschen Lager aus entgegengetreten werden. Nur hielten die Jungen das Vereinspodium nicht für die passende Tribüne. Sie wollten ihre sachliche Arbeit nicht durch Politik stören lassen. Es spricht für die Vornehmheit des im Verein waltenden Geistes, daß solche generationsbedingten Spannungen nicht zu schroffem Bruch führten, daß Höfler seine echt deutsche Gesinnung auch nach seinem Rücktritt als Präsident dem Vereinsleben erhielt.
Sofort nach Gründung des Vereins hatte zielbewußte Arbeit eingesetzt. Als Vereinsorgan, das die Ergebnisse der geleisteten Arbeit hinaustragen sollte ins Volk, wurden die »Mitteilungen des Vereins …« geschaffen. Der redaktionell erfahrene Franz Klutschak leitete sie. Schon 1863 erschien aus der Feder des Mitbegründers stud. phil. Julius Lippert die »Geschichte der königlichen Leibgedingschaft Trautenau«. Eine Tat, die im ganzen deutschböhmischen Land lautestes Echo fand. Lippert (1838-1909) entwickelte sich in der Folgezeit zum Historiker großen Formats, vor allem: zu einem der bewährtesten Führer der sudetendeutschen Erneuerungsbestrebungen. 1871 erscheint seine »Geschichte der Stadt Leitmeritz«. Das deutsche Volk in Böhmen lernt seine wirkliche Geschichte kennen. Alle Städte verlangen nun ihre Geschichte. Die »Mitteilungen« schaffen immer neue Stoffmassen zutage. Ein Kreis vorzüglicher Mitarbeiter bildet sich heran. 1868 legt Ludwig Schlesinger (1838-1899) seine »Geschichte Böhmens« vor, ein Werk, nach dem in den weitesten Schichten der deutschen Lehrer, des Volks überhaupt tiefstes Verlangen bestand. Man begreift, was eine solche sachliche Darlegung der geschichtlichen Entwicklung in Böhmen für eine Selbsterkenntnis der böhmischen Deutschen, für die Stärkung ihres Selbstgefühls gerade damals bedeuten mußte.
Auch die Kunstgeschichte des Landes wurde vom Verein gepflegt. 1864 erschien Bernhard Gruebers Monographie über »Die Kaiserburg zu Eger und die an dieses Bauwerk sich anschließenden Denkmale«. Wir haben Grueber schon als schaffenden Architekten kennengelernt. Auch sein theoretisches Schaffen steht bedeutsam innerhalb der deutschen Kulturarbeit in Böhmen. Er war gebürtiger Schwabe (Donauwörth), hatte in München Architektur studiert, war dann bei der Restauration des Regensburger Domes mit beschäftigt gewesen. 1844 war er als Professor an die Prager Technische Hochschule berufen worden. Seitdem übte er hier stärkste Wirkung aus. 1856 war seine »Charakteristik der Baudenkmale Böhmens« erschienen (Wien). Mit seiner Arbeit über »Eger« hatte er das alte Reichsdenkmal auf böhmischem Boden ins deutsche Volksbewußtsein zurückgeholt. »Die Kathedrale des heiligen Veit und die Kunsttätigkeit Kaiser Karls IV.« (1869) arbeitete eine Hauptleistung deutschen Geistes am Gesamtaufbau Prags heraus. In dem umfassenden Werk »Die Kunst des Mittelalters in Böhmen« (1872) versuchte er eine Grundlegung kunstgeschichtlicher Erforschung Böhmens überhaupt. Joseph Neuwirth setzte später diese umfassende Erforschung böhmischer Kunst mit vorbildlichem Fleiß fort. Die Deutschen erinnerten sich immer tatkräftiger der Leistungen ihres Volkes auf diesem umkämpften Boden, was in unserem Jahrhundert einige einheimische Historiker zu der These veranlaßte, die Deutschen in den Kronländern seien nicht Kolonisten, sondern hätten auf Resten früherer germanischer Besiedlung weitergebaut.
Die politischen Spannungen der Siebzigerjahre bedeuteten auch für den Geschichtsverein eine starke Belastungsprobe. Trotz aller Abwehr politischer Einwirkungen waren die führenden Geister doch immer mehr in die politische Tätigkeit hineingezogen worden. Sicherlich war eine solche Entwicklung bei den einzelnen nicht ohne tiefpersönliche Kämpfe erfolgt. Denn all diese Deutschen zog es ja viel eigentlicher zum Universalen, zur Idee. Alle Verwirklichung mußten sie sich unter Kämpfen mit dem eigensten Wesen abtrotzen. Denken wir nur an die späteren Werke eines Lippert, wohl der umfassendsten wissenschaftlichen Persönlichkeit in diesem Kreis: »Der Seelenkult in seinen Beziehungen zur althebräischen Religion« (Berlin, 1880), »Die Religionen der europäischen Kulturvölker usw. in ihrem geschichtlichen Ursprung« (Berlin, 1881), »Christentum, Volksglaube und Volksbrauch« (1882), »Allgemeine Geschichte des Priestertums« (Berlin, 1884), »Geschichte der Familie« (Stuttgart, 1885), »Kulturgeschichte der Menschheit in ihrem organischen Aufbau« (Stuttgart, 1886 bis 1887), »Die Kulturgeschichte in einzelnen Hauptstücken« (Prag, 1886). Und schließlich doch wieder die Hinneigung zur heimischen Geschichte: »Deutsche Sittengeschichte« (Prag, 1888), und die grundlegende »Sozialgeschichte Böhmens in vorhussitischer Zeit« (1895/96). Zu solch umfassender wissenschaftlicher Tätigkeit trat also noch die politische. Schlesinger und Lippert waren mit Dr. Schmeykal und (später) dem Historiker Adolf Bachmann Führer des deutschböhmischen Liberalismus geworden. Politik drohte sie zu verschlingen. Gegensätze der politischen Weltanschauung gefährdeten nun auch in den eigenen Reihen. Die Hoffnungen auf nationale und wirtschaftliche Stärkung, die unter den Deutschen Böhmens an den Ausgang des deutsch-französischen Krieges geknüpft worden waren, hatten getrogen. Die Teilnahme der Deutschen an den nationalen Lebensfragen erlahmte nun auch in Böhmen, in Prag, wie überhaupt in der Gesamtmonarchie. Die Regierung begann, sich auf nichtdeutsche Minderheiten zu stützen. Aber die Tätigkeit des Vereins war schon zu sicher im Volke draußen verwurzelt, als daß ihr Weitergedeihen durch solche Krisen ernstlich hätte gefährdet werden können.
Andere Deutschenverbände waren ins Leben getreten. Schon 1869 war der »Deutsche Verein zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse in Prag« (Joseph Holzamer) gegründet worden. Treue Heimatliebe hatte im Jahre 1884 den »Deutschen Böhmerwaldbund« erstehen lassen. Andere deutsche Landschaftsbünde folgten. Die Tschechen antworteten mit Gegengründungen. 1894 wurde der »Bund der Deutschen in Böhmen« gegründet, der all diese Sonderbünde unter einem gemeinsamen Oberbau zusammenfassen sollte. Der »Deutsche Volksrat«, der 1903 in Prag zusammentrat, sollte über den einheitlichen Einsatz aller nationalen Schutzarbeit in Böhmen wachen. Auf breiter Front wurde um die Erhaltung deutschen Volkstums gekämpft. Und alte Kulturstätten erwachten nun wieder zu früherer Kraft.
Im deutschen Theaterleben war um die Jahrhundertmitte ein trauriger Rückgang zu verzeichnen gewesen. Um abzuhelfen, hatte 1873 ein Konsortium zur Gründung eines zweiten Theaters sich gebildet, das als Konkurrenzunternehmen gegen das versandende Landestheater gedacht war. Das Projekt fiel. In den Achtzigerjahren wurde unter dem Eindruck der tschechischen Theaterbegeisterung der Plan eines »Neuen Deutschen Theaters«, das aber mit dem Landestheater zusammenarbeiten sollte, wieder aufgenommen. Die Wiener Architekten Fellner und Helmer reichten einen genau ausgearbeiteten Entwurf für einen Neubau ein. Der Entwurf wird dem Landtag vorgelegt, wird von einer stürmischen Opposition der Tschechen hinweggefegt. Nun rührt sich bei den Deutschen privater Eifer. 1883 tritt der Theaterverein ins Leben. Der Industrielle Alexander Richter ist die Seele des Vorhabens. Man ist vollkommen auf Selbsthilfe angewiesen. Sammlungen ergeben bedeutende Stiftungen, natürlich nur von Deutschen. Im Jahre 1886 kann schon der erste Spatenstich für den neuen Theaterbau erfolgen: als Baugelände hatte der Theaterverein den Grund angekauft, auf dem das abbruchreife »Neustädter Theater«, der Holzbau von 1859, stand. Die kurz vorher erbaute Varietébühne in Karolinenthal diente unterdes als deutsches Interimstheater. Am 5. Januar 1888 wird der neue Bau, nach dem schematisch praktischen Entwurf von Fellner und Helmer ausgeführt, feierlich eröffnet.
Aber es stand nicht nur der Bau, auch wirkliches Kunstleben war inzwischen wieder ins Deutsche Theater eingezogen. In großartiger Aufbauarbeit waren die arg verfahrenen Theaterverhältnisse gründlich erneuert und auf große Ziele hingelenkt worden. Ein solches war der Kampf um Wagners Kunst. Dieser Kampf hob das Theater zu einer europäischen Bühne. Schon im Jahre 1885 war »Der Ring des Nibelungen« vollständig aufgeführt worden. Im Jahre 1887 war das Mozart-Zentenarium mit einem ausgezeichnet einstudierten Mozart-Zyklus gefeiert worden. Erste Künstler und Musiker bildeten das Ensemble. Die regelmäßigen Maifestspiele hoben das deutsche Prag wieder auf die Höhe vorbildlicher Kulturleistung.
Die tiefste volksbildende Wirkung strahlte die deutsche Universität aus. 1882 war die alte Carolo-Ferdinandea geteilt worden in eine deutsche und eine tschechische Universität. Von den beiden Schwesterinstituten sollte die große Tradition der Jahrhunderte und ihre Würde fortgeführt werden. Die deutschen Professoren und Dozenten hatten schon 1879 die Errichtung einer tschechischen Universität gefordert. Nur durch klare Trennung war der deutsche Charakter der eigenen Universität aufrechtzuerhalten. Jetzt wirkte August Sauer an dieser Stätte. Er war 1886 auf den Lehrstuhl für deutsche Literaturgeschichte berufen worden. Vorher hatte er eine Vertretung an der Lemberger Universität innegehabt. Er war also geschult im Kampf um deutsche Volkheit und Kultur. Nun setzte er seine starke Persönlichkeit auf dem umstrittenen Prager Boden ein. Sein Einsatz gilt zunächst der Stärkung der deutschen Universität. Wie viele unter der deutschen Jugend des Landes ließen sich verlocken, die größere, blendendere Universität in Wien zu besuchen, in der Prager höchstens die Durchgangsstation zu sehen. Sauer will an der Prager Universität die Blüte der sudetendeutschen Jugend sammeln, will die Hochschule des Landes von innen her kräftigen. Sein Vortrag, seine wissenschaftliche Leistung tun das ihre. Die Jugend hängt an seinem Wort und er tritt für sie ein. Seine »Bibliothek deutscher Schriftsteller in Böhmen« eröffnet manchem der Jungen den Weg zur Wirksamkeit. So arbeitet Sauer schon über die Universität hinaus. Seine Vorträge in Prag, im Land rütteln auf. Er ist der Vater des »Verbandes für deutsches Volksbildungswesen in Böhmen« geworden. 1891 war auf Anregung Philipp Knolls in Prag die »Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen« gegründet worden. Sauer ist eine ihrer kräftigsten Stützen. Er begründet im Auftrag der Gesellschaft im Jahre 1895 die Zeitschrift »Deutsche Arbeit«, die er zu einem ausgezeichneten Kampforgan für deutsche Kultur in Böhmen ausbaut. Alle Regungen deutschen Zusammenschlusses in Böhmen verfolgt er, berät er. Alle wichtigen Erzeugnisse der heimischen Kunst, der heimischen Dichtung nimmt er hier auf, fördert sie, vermittelt sie dem Volk. Durch 17 Jahre hat er diese »Deutsche Arbeit« gehalten. Diese 17 Jahrgänge sind eine lebendige Kulturgeschichte der für die Deutschen so schweren Jahre um die Jahrhundertwende.
Sauers Wort wird im Land gehört. Für das deutsche Prag ist er eine nie ermattende Kraftquelle. Wissenschaftliche Leistungen schaffen seinem Wort den nötigen Klang. Seine Rektoratsrede (1907) über »Literaturgeschichte und Volkskunde« bricht einer neuen Richtung in der deutschen Literaturgeschichtsforschung Bahn. Nicht historische, nicht ästhetische Gesichtspunkte allein dürfen die Literaturwissenschaft bestimmen. Landschaft und Boden, auf dem die Dichtung erwuchs, die Stammeszugehörigkeit des Dichters müssen beachtet werden, um neue Erkenntnisgrundsätze für das Schaffen der Zeiten und Völker zu gewinnen. Für die Fruchtbarkeit seiner These, von ihm selbst in langer Lebensarbeit erprobt –; mußte der Prager Boden einem Sauer nicht solche Sicht anbieten! –;, hat dann Joseph Nadler, sein Schüler, den großen Beweis erbracht (»Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften«).
Und Sauer kämpfte für die Erhaltung eines deutschen Prag. Sammelte schon sein Gesamtwirken viele deutsche Kräfte des Landes in dessen alter Hauptstadt, so mahnte im besonderen sein Eintreten für die Belassung der Universität auf dem alten Boden an Verpflichtungen, die das Deutschtum nie aufgeben durfte. Schon 1897, dann wieder 1908 und ganz besonders stürmisch in den ersten Jahren nach der politischen Umwandlung der nationalen Verhältnisse waren deutscherseits Bestrebungen aufgetaucht, den deutschen Studenten des Landes die Lehr- und Forschungsstätte im volksnahen Gebiet aufzubauen. »Deutsche Großböhmens, holt eure Hochschulen heim!« erscholl es allerorten. Wie hätte ein Sauer die gewisse Berechtigung solcher Forderung nicht einsehen sollen! Aber Sauer blickte tiefer. Die deutsche Universität im deutschen Siedlungsgebiet –; das hieß: Prag als geistige Mitte des Deutschtums im Lande aufgeben, hieß, vielhundertjährige Überlieferungen sinken lassen, hieß, Atmosphäre und Bodenkräfte aufgeben, in die deutsches Wesen seit je eingeschmolzen war. Eine zweite deutsche Universität –; so forderten viele –; müsse draußen im deutschen Siedlungsgebiet errichtet werden. (Die Hörerzahl der deutschen Universität in Prag –; 5000 Studenten! –; hätte eine Teilung vertragen.) Die alte Universität, der ihr angestammter Name und damit ihre auf Karl IV. zurückgehende Tradition von den Tschechen noch immer vorenthalten wurde, muß in Prag bleiben. In heute volksfremdem, aber geschichtsnahem Umkreis –; so schrieben wir 1934 –; die ersten Flügelschläge des Geistes zu erproben, wird dem deutschen Studenten dieses Landes stets ein stolz gebrachtes Opfer sein, ein erstes Opfer seinem Volk, das ehemals in dieser Stadt sein Schicksal fand und gestaltete und dessen Geist auch heute noch diese Straßen durchweht.
August Sauer sank 1926 ins Grab. Seine Arbeit trug weiter zum Heute.
Der politische Umbau Europas im Jahre 1918 hatte Prag sehr plötzlich aus der Verwunschenheit gerissen, die es trotz aller nationalen Unruhe bis zum Weltkrieg umfangen hielt. Die Einrichtung der Staatshauptstadt mit Parlament und Ministerien, mit Zentralämtern und Gesandtschaften schuf einen neuen Kern, um den Industrien und wirtschaftliche Organisationen mit ihrer Menschenhäufung, ihrer Verkehrssteigerung in fast beängstigend schnellem Wachstum sich sammelten. Der mächtige Antrieb, den die staatliche Selbständigkeit dem tschechischen Volk gegeben hat, schuf Prag in wenigen Jahren von der großen Provinzstadt zur europäischen Großstadt um. Zivilisatorisches Gepräge erfüllte nun die alten Straßen, legte neue Viertel an, brach den großen Atem des alten Architekturbilds zum erregten Hin und Her des modernen Verkehrs.
Mit der Wandlung zur Großstadt –; die Bevölkerungszahl ist seit 1919 aufs Doppelte gestiegen: Prag wächst seiner ersten Million entgegen –;, mit der damit verbundenen Umschichtung der Bevölkerung veränderte sich in entscheidendem Sinne auch das auf dem wirtschaftlichen sich aufbauende kulturelle Leben. Welt strömte herein, ward aufgenommen, der heimischen Art eingefügt. Und umgekehrt: die Energien des Landes wurden von hier aus hinausgesandt nach Europa. Der Umsatz kultureller Güter hatte beträchtlich zugenommen, die Verstädterung der vielfach vom Lande stammenden Bewohner stieg. Neu-Prag rang um Formung.
So mag der erste Eindruck, den das heutige Prag zu bieten hat, den Anschein einer jungen Neugründung im alten Stadtgehäuse erwecken. Wir haben in der Einteilung dieser Darstellung schon angedeutet, daß wir den maßgebenden Einschnitt im Kulturleben Prags weit vor der politischen Umstellung von 1918 sehen: in jenen Tagen nämlich, wo ein tschechisches Volksbewußtsein den Neuaufbau einer eigenen Kultur begann. Die Entfaltung seit 1918 war nur Verwirklichung dessen, was ein Jahrhundert hindurch heranreifte. Die moderne Großstadt Prag war die Schöpfung der tschechischen Selbständigkeitsbewegung und ihre Frucht.
Unter diesen Erneuerungskräften schoben aber noch tiefer verankerte Mächte ihre Energien in die letzte Entwicklung hinauf. Wir durchschauen die Prager Gegenwart der letzten Jahrzehnte erst, wenn wir in ihr die Verzweigung jener Stämme erfassen, die aus den Tiefen des Jahrtausends in die oberste Schicht emporragen. Als solche Stämme, um welche die gesamte Entwicklung sich rankte, glaubten wir die religiösen und die nationalen Fragen zu erkennen. Sie wirkten, teils gedämpft, teils laut gegenwärtig, noch im jüngsten Prag.
Die religiöse Frage war in dem mit der tschechischen Renaissance auflebenden Hussitismus neu aufgerollt, die säkulare Auseinandersetzung mit Rom wieder aufgenommen worden. Daß politische Motive jetzt vielleicht auf einer andern Schicht der religiösen Besinnung hereinspielten als ehemals, wandelte kaum die alte moralische Kraft, die das Problem barg. Und bezeichnenderweise wuchs die kirchliche Zielsetzung auch sofort wieder mit den panslawistischen Bestrebungen zusammen, die ja von Anfang an die Erneuerung durchdrungen hatten. Vor 1918 war es nur zu innerer Aneignung und äußerer Denkmalsetzung gekommen. Im eigenen Staatswesen aber schlug sich die lebendige Bewegung in der Gründung der »tschechoslowakischen Staatskirche« nieder, die hussitische Gedanken in einer an römischem Kultus geschulten Kirchenverfassung verankern wollte. (Ein halbes Jahrtausend früher erstand in ähnlicher Weise die anglikanische Kirche.) Die ersten Jahre brachten begeisterten Zustrom: die »nationale« Kirche lockte an. St. Niklas in der Altstadt wurde der neuen Religionsgemeinde zugewiesen. Aber schon nach wenigen Jahren holten die alten Kirchen viele der Anhänger zurück, so daß der zuversichtlich begonnene Kirchenbau heute schon vom Rückfall in die Sekte bedroht ist.
Die protestantischen Kirchen der Böhmischen Brüder und der Lutheraner blühten nun wieder stärker auf, wußten aber keine neuen Kraftquellen außer der erneuerten Tradition aufzugraben.
Der römische Katholizismus warb mit der ganzen Kraft, die ihm zu Gebote steht. Rom hatte noch in den Achtzigerjahren einen neuen Stützpunkt in Prag gewonnen: die Benediktiner der Beuroner Kongregation hatten das ehemalige Slawenkloster bei Emaus überkommen. Die Konvente der Beuroner Kongregation, mit Monte Cassino eng verbunden, suchen in bewußter Bildungstradition die alten Kräfte herauszuarbeiten, wie sie die hohe Liturgie und das strenge Ordensleben bergen. In Prag übte Emaus seine Wirkung. Die Neuausstattung der Klosterkirche im Stil der Beuroner Kunst sei als äußeres Zeichen erwähnt. In der tschechischen Geschichtswissenschaft fand die katholische Strömung ihre historische Unterbauung durch die Forschungen Josef Pekaøs, dessen streng kritische Untersuchungen die durch Palacký begründete und durch Th. G. Masaryk wirksam ausgebaute Geschichtsideologie von der tragenden Kraft der hussitischen Idee im tschechischen Volksbewußtsein angreifen. Im Lande hatte Rom an der katholischen Slowakei den starken Rückhalt.
Ein kulturpolitischer Kardinalpunkt gab Rom den Anlaß, die Kraftprobe gegenüber dem jungen Staat zu stellen: als die tschechoslowakische Republik den Hus-Tag zum erstenmal offiziell feierte, verließ der päpstliche Nuntius in demonstrativer Weise das Land. Jahrelange Verhandlungen zwischen Vatikan und Hradschin endeten mit einem Kompromiß. Trotzdem darf man den Aufschwung des Katholizismus in der Tschechoslowakei, vor allem in Prag, nicht überschätzen. Das Wenzels-Millennium, das 1929, tausend Jahre nach der Ermordung des tschechischen Märtyrers, von Rom zu eindrucksvoller Kirchenfeier genutzt wurde, fand nicht das von mancher Seite erwartete Echo in der großen Masse. Daß die Republik diesen Gedenktag zum Millennium des eigenen Staates feierlich ausbaute, ergab ein für die heutige religiöse Lage sehr bezeichnendes In- und Gegeneinander der traditionellen Standpunkte.
Im übrigen drangen diese religiösen Fragen nur gedämpft in die Prager Moderne. Die lebendige Kulturlage wurde durch andere Fragen bestimmt, eine Tatsache, die man auf anderem Schauplatz schon als selbstverständlich hinzunehmen viel zu sehr geneigt ist, die aber hier vor der Folie erbitterter religiöser Kämpfe die Wandlung der geistigen Ziele eindringlich dartut.
Mit ganz anderer Schärfe ragte die nationale Frage ins Nachkriegs-Prag herauf. Sie führt uns zu dem so merkwürdigen Befund der zwei Städte im gleichen Stadtleib. Die Spaltung der Nationen, die wir durchs 19. Jahrhundert herauf verfolgten, hatte allmählich zum streng isolierenden Nebeneinander zweier Kulturen und der sie tragenden Gesellschaften geführt. Die Scheidung beider Städte, des tschechischen und des deutschen Prag, ist heute trotz engsten Beieinanderwohnens größtenteils noch so ausschließlich, daß, wer als Fremder im einen Kulturkreis aufgenommen würde, durch Jahre kaum etwas von dem andern spüren dürfte. Hat man die Doppeltheit erst erkannt, so mag man darin ein seltsam erregendes Reizgefühl genießen, das sich spannen läßt bis zu der Illusion: vom andern als dem eigenen Kulturkreis aus diese, beiden als Problem aufgegebene, Stadt enträtseln zu wollen. Der flüchtige Besucher wird nur die eigentümliche Oberflächenspannung, welche dieser Zustand ergibt, erfassen können. Der hier Lebende wird die darin wartende Aufgabe eines gegenseitigen kulturellen Wettbewerbs erkennen, die bei Entpolitisierung der Lage so Entscheidendes zu schaffen vermöchte.
Einer Lösung solcher Aufgaben standen allerdings recht unterschiedliche Vorbedingungen auf den einander gegenüberstehenden Kulturfronten entgegen. Einmal die äußerliche, daß die tschechische als die Staatskultur über ganz andere materielle Hilfsquellen zu verfügen hatte als die deutsche. Die künstlerischen Institute und Vereinigungen (Theater, Konservatorium und Künstlergesellschaften) zogen Vorteil oder Nachteil aus der unterschiedlichen Stellung zum Staatsvolk. Aber auch die wissenschaftlichen Unternehmungen und noch die alle Kulturleistung unterbauende Wirtschaft wurden vom nationalen Verhältnis empfindlich berührt.
Schwerwiegender war die andere Vorbedingung: das Prager Deutschtum kämpfte in einer fremd gewordenen Stadt. Das Nachkriegs-Prag war eine tschechische Stadt geworden. Tschechisches Volkstum trieb aus weitem Umland herein in diese Mauern. Die Kraft einer lebendigen Ideologie griff aus untersten Volksschichten durchlaufend bis zur Spitze auf dem Hradschin. Organische Schichtung –; soweit sich solche heute irgendwo noch behaupten läßt –; baut die Bevölkerung des tschechischen Prag auf breitem Volksgrund auf, unterteilt sie in der üblichen Weise und treibt ihre geistigen Blüten in der Kultur einer Oberschicht, die von der unteren eher plötzlich als weit sich entfernt hat. Bauerntum treibt noch ins Proletariat, das meist vor kurzem erst von der Scholle sich gelöst hat, treibt aber auch in die höheren Stände hinauf, die ihre Herkunft vom Lande noch nicht vergessen haben.
Das läßt die Kluft zwischen Industriemassen und »Gebildeten« nicht so tief erscheinen wie anderswo. Bezeichnend, daß sich erst vor wenigen Jahren die Sozialisten aus der nationalen Einheitsfront gelöst hatten. Bezeichnend auch, daß der Kommunismus, der hier über so starke Anhängerschaft verfügte, nie zu überzeugenden Kundgebungen durchzustoßen vermochte. Das erstaunlich schnelle Abgleiten der »Arrivierten« und der kleinbürgerlichen Wirtschaftskreise in die »Bourgeoisie« –; erstaunlich innerhalb einer so jungen Entwicklung –; hat die Intellektuellenschicht unmittelbarer an den Volksboden geknüpft, da die Mittelschichten durch rasche Saturierung als Kulturträger ausschieden. Das gab der tschechischen Intelligenz einerseits die kraftvoll gesunde, andererseits die unbürgerlich freie, zu Radikalismen neigende, dabei mit heimlichem Nihilismus belastete Note, die für manche kritischen Zuspitzungen in Kunst und Leben dieser Kreise die Erklärung gibt.
Bei alldem blieb das Ineinander von Urwüchsigkeit und bewußt dagegen gespannter Form bezeichnend. Seit dem späteren 19. Jahrhundert hatte man sich dem Westen zugewandt, hatte vor allem französischen Einflüssen sich geöffnet. Der Wille zur Entgermanisierung, wie die Politik ihn aufgerufen hatte, hat viel zu dieser kulturellen Umstellung beigetragen. Der geistige, vielfach wohl unbewußte Antrieb saß tiefer. Man suchte die Formung, die das lateinische Paris zu bieten hatte, nahm sie fast übereifrig auf. Gegen das Deutsche, dem man so nahe stand, mit dem seit Jahrhunderten reichliche Blutmischung stattgefunden hatte, schloß man sich ab. Französische Literatur, Malerei, Lebensart herrschten auf breiter Linie im tschechischen Prag. Es ist unverkennbar, daß solche Auseinandersetzung mit einem Wesensfremden zur Selbstklärung der tschechischen Kultur der letzten Jahrzehnte in mancherlei Beziehung beigetragen hat. Weite Gebiete der kulturellen Arbeit (Wissenschaft, Technik, Wirtschaft) blieben nach wie vor dem nachbarlichen deutschen Kulturkreis verhaftet. Es sind die entscheidenden. Das Reinste und Eigenste quillt unterhalb solcher Übernahmen auf: der zarte Lyrismus der slawischen Seele, der vom kleinsten Gedicht bis zur großen musikalischen Gestaltung unbeirrt den Genius dieses Volkes erweist.
Übersehen wir aber nicht, daß in solchem Kampf um die Form auch Gefahr liegt: Gefahr einer Überspannung des Verhältnisses von Müssen und Wollen. Sie schärfte sich an den gegebenen Bedingungen. Bei den Tschechen lag die Gefahr in der Enge der Situation. Ein kleines Volk, nein, nur die Spitze eines kleinen Volkes, hat hier die Aufgabe übernommen, zum Nachholen der eigenen Kultur die der Welt zu verarbeiten. Erstaunlicher Eifer und große, durch Sprachbegabung geförderte Intelligenz haben viel geleistet. Aber das letzte tiefe Atemholen stieß doch immer an den räumlichen Grenzen an. Es fehlte der Ausgleich der inneren Weite, den eine große Volkheit zu geben hat. Die Wellenschläge der Krisenstimmung wurden enger zusammengedrängt als bei Völkern, denen ein weites Ausschwingen im eigenen Lebensraum möglich ist.
Wie anders lagen die Verhältnisse bei den Prager Deutschen. Ihnen war solch weites Ausschwingen im eigenen Volksverband von je vergönnt, ja ihnen hat es gerade lockende Fernen stets aufgetan, wo die Nähe so dringend aller Kräfte bedurft hätte. Über solch idealer Bindung konnten Gefahren der Wirklichkeit übersehen, zumindest leichter getragen werden, Gefahren, wie der Mangel an volklichem Unterbau sie heraufbeschwören mußte.
Die Deutschen in Prag waren von je soziale Oberschicht. In früheren Jahrhunderten war diese deutsche Oberschicht von einem kräftigen Handwerkerstand getragen worden. Der war in den neueren Zeiten teils durch Abwanderung, teils durch Aufgehen in den oberen Ständen, teils aber auch durch Aufsaugung durch die tschechischen Mittelklassen immer mehr abgeschmolzen. Ergänzender Zuzug vom Lande her fehlte. Der Zustrom tschechischer Landbevölkerung füllte die Fabriken, ließ Deutsche kaum mehr zu.
So ward diese deutsche Oberschicht immer mehr abgedrängt vom Boden, über dem sie lebte. Zufuhr von Volkskraft von unten her –; Prag liegt im tschechischen Siedlungsgebiet –; war unterbunden. Und die deutschen Siedlungsgebiete draußen rückten immer nachhaltiger ab vom tschechischer werdenden Prag. Als jene stolzen Ideen Großdeutschlands und dann auch Österreichs sanken, da stand dies Prager Deutschtum einsam zwischen fremdem Volkstum, eine Gesellschaft gebildeter Geister unter sich. Lebendige Volkskraft gedieh nicht mehr in solcher Luft. Wohl aber in manchen Kreisen eine erlesene Spätkultur, der dann ein Rainer Maria Rilke aus frühen Erlebnissen, die er hier aufgenommen hatte, in seiner Dichtung die Verklärung schuf.
Seit einem Jahrzehnt aber war ein starker Wandel dieser Lage zu spüren. Ein starker Nachschub gesunder Volkskraft wirkte auf die Gesamthaltung des Prager Deutschtums ein. Die Hochschulen riefen ungebrochene Jugend aus den deutschen Siedlungsgebieten in die fremde, ach, in die altvertraute Stadt herein. Draußen hat viele die Jugendbewegung geschult und unter Erich Gierachs und Emil Lehmanns zielbewußter Führung war eine reiche volksbildende Arbeit gediehen, die sammelnd und läuternd gewirkt hat (»Sudetendeutsche Lebensbilder«, »Bücherei der Deutschen«, »Sudetendeutsche Anstalt für Heimatforschung«, »Deutsche Gesellschaft für Volksbildung«). Durch die von ihr erfaßte Jugend wirkte sie nun nach Prag herein. Andere deutsche Zuwanderung bedingte das wachsende Bestreben vieler deutscher Verbände, ihre Spitzenorganisationen im günstig gelegenen Prag zu verankern. Auch die deutsche Industrie und Wirtschaft legten zumindest Vertretungen ihrer Verwaltungen in die Hauptstadt des Landes. So sammelte sich ein neues deutsches Prag. (Das Prager Deutschtum ist in den letzten zehn Jahren verhältnismäßig stärker gewachsen als das Tschechentum: ungefähr 45.000 Deutsche unter 800.000 Tschechen.) Noch hatte dieses neugefestigte Deutschtum keine Stimme, die seine vorerst geteilten Kräfte einheitlich zum Ausdruck gebracht hätte. Aber es regte sich kraftvoll in manchen Zellen und arbeitete an der Klärung seiner Ziele.
Ziele des Prager Deutschtums! Der Ruf Konrad Henleins hat sie eingebunden in die Ziele des Sudetendeutschtums, hat sie mit ihnen hinaufgehoben in die Ziele Großdeutschlands. Die Ereignisse der letzten Jahre sind in aller Erinnerung. Das Auf und Nieder dieser Jahre schmiedete die Prager Deutschen zu lebendiger Kampfgemeinschaft zusammen. In den Krisentagen des Septembers 1938 wurde sie zu harter Bewährung aufgerufen. Auf bedrohtestem Posten harrten die Deutschen aus bis der Führer ihnen die neue Aufgabe wies: das Prager Deutschtum sollte Bollwerk bleiben vor den Grenzen des Reiches.
Doch uralte Raumkräfte wuchteten weiter. Durch ein Jahrtausend hindurch haben wir auf diesen Seiten verfolgt, wie Böhmen und Mähren, wie die Landesmitte Prag immer wieder und immer schicksalhaft dem Reich anheimfiel. Und riß es sich los, so bebte der Herzraum Europas. Über Prag ballten sich die Gewitter. Die Blitze zuckten hinein in seine Mauern. Hier steht nicht Volk gegen Volk. Hier entscheiden die Mächte des Raumes. Als deren Vollstrecker gestaltete der Führer Prags neues Schicksal.
»Der Friede der Welt hängt von der Ordnung Mitteleuropas ab. Die Standarte des Führers ist auf der Burg in Prag aufgezogen, Ereignisse von unfaßbarer Größe füllten diese Tage. Eine neue Ära der Erdteilsmitte hat begonnen. Sie wird, so glauben wir zuversichtlich, eine Ära des Glückes der Ordnung, des Gedeihens für das deutsche wie für das tschechische Volk sein, denn sie führt das Lebensproblem eines Jahrtausends einer großen Lösung zu und kehrt zu den raumpolitischen und volklichen Grundlagen und zur Geschichte der Mitte Europas in einem gewaltigen Kreislauf zurück.« So schrieb Heinrich Ritter von Srbik, der Geschichtsschreiber des Gesamtdeutschtums, am 22. März 1939 im »Völkischen Beobachter«. Die Reichstagsrede des Führers am 28. April 1939 verbürgt die Durchführung der vom Schicksal gestellten Aufgabe. Prag lebt einer neuen Zukunft entgegen. Neue Aufgaben wachsen aus ihr empor.
Die Jugend beider Völker, unbeschwert von Bindungen älterer Generationen, hat sie schon am klarsten erfaßt. In ihr lebt eine Bereitschaft gegenüber der gegebenen Lage, sie verspürt die darin wartende Verpflichtung. Man lebt hier allerengst mit einem anderen Volk zusammen, mit dem man sich Jahrhunderte lang gemessen hat. Hier soll ein geistiger Kampf in Klarheit ausgetragen werden.
So ergibt sich als Ziel: Arbeit an sich selbst, seinem Volk –; und Arbeit an der Erkenntnis des Gegenübers. Starke Volkskräfte, die sich achten, einander gegenüberstellen –; das wird einem gerechten Ausgleich eher dienen als der Scheinausgleich von Gegensätzen und die Züchtung heimlicher Ressentiments. Welch herrliche Spannung wetteifernder Völker könnte diese Stadt, ja dieses Land durchbeben.
Ja, Prag soll Schauplatz solchen achtungsvollen Gegenübers sein. Hier haben durch Jahrhunderte die beiden Völker sich im Kampf gemessen. Hier sollen sie heute den geistigen Kampf wagen. Noch hat die deutsche Kultur der tschechischen viel zu vermitteln. Sie ist kraftvoll genug, die Anregungen der jüngeren Kultur aufzunehmen und sich einzuarbeiten. Prag, die Stadt, wird solchem Mühen immer ein monumentales Sinnbild sein.
Es geht um die Wirklichkeit des heutigen Prag. Nicht nur um die wirtschaftliche, die nun im großen Kreislauf des Reiches geborgen ist. Es geht um die geistige! An ihr hat der Deutsche teil. »Prag als Sinnbild« –; es ist auch seine Stadt. Sinnbild eines Kampfes um die eigene Form. Über dem Grunde slawischer Erde, vor der Folie eines formbedrohenden Ostens zwang hier ein großes Schicksal den deutschen Menschen zur Gestalt. In tausend Bildungen sieht er sie hier in Stein gedeutet. Und er vernimmt die slawischen Klänge, die sie sich einband. Er begegnet sich selbst im bewegten Treiben dieser Straßen, im kernig lebendigen Rhythmus dieser Stadt, die Ost und West noch heute leibhaftig mengt. Jahrhunderte wirken herein in ihren Atem und fragen ums Ziel.
Prags Ziel war von je und ist heute noch: Vermittlerin zu sein zwischen West und Ost. Die Überlieferung seiner großen Geschichte gibt beiden nationalen Partnern die tiefe Verpflichtung der Besinnung auf. Und sie schenkt ihnen die schöne Frucht des Liebendürfens. Wir Deutschen lieben diese herrliche Stadt. Wir lieben sie um ihrer Vergangenheit willen, die unser Schicksal eingebunden hat in den Wuchs dieser Gestalt. Lieben sie auch um ihrer Zukunft willen, die allen denen gehört, denen wirkliches Schicksal hier wurde.