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Als ich diese Schrift das erste Mal in die Welt hinausgehen ließ, mußte ich es ihr überlassen, sich mit dem Leser selbst zu verständigen. Ein Begleitwort von mir war durch ihre Anlage ausgeschlossen; ich steckte aber auch zu tief in den ausgesprochenen Stimmungen und Gedanken, als daß ich etwas darüber hätte sagen können. Nun sie das zweite Mal sich dem Publikum vorstellen soll, ist es unumgänglich, daß ich ihr einige Worte beifüge; denn sie ist mir so fremd geworden, daß ich sie nicht mehr ohne Vorbehalt in meinem Namen reden lassen kann.
Nicht als ob ich von ihrem Inhalt, soweit er überhaupt meine Meinung ausdrücken sollte, Es scheint mir, daß man mich gerne etwas unbedacht mit meinem A zusammengeschlagen und in B nur einen fingierten Gegner gesehen hat. Ich habe, als Mensch mit seinem Widerspruch, A und B aus meinem Eigenen ausgestattet.viel zurückzunehmen hätte. Die einzige wirkliche Änderung, die sich seither in meinen Gedanken vollzog, habe ich schon in meinem »Luther« verwertet; ich will sie nachher nennen und erklären. Aber manches, was ich vor vier Jahren gesagt, würde ich jetzt vielleicht nicht mehr sagen; und was ich von dem Gesagten wieder sagte, würde ich in einem andern Tone vortragen, womit es auch etwas Anderes würde.
Ich schrieb diese Schrift in der Aufregung der Stunden, da mir das Vertrauen in meine Macht über mich selbst zusammenbrach; da ich erkennen mußte, daß ich gar nicht anders könne, als mich eben leben lassen. Ihr Inhalt ist die Geschichte der Wanderung über diese Paßhöhe, die zwei Welten scheidet, mit Andeutung der Aussicht, die man von ihr aus hat. Es ist das die gefährlichste Wanderung und schmerzlichste Wandlung eines Lebens, das mich an Kämpfe und Krämpfe des Werdens doch schon gewöhnt hatte. Wie sehr sie mich angriff, erkenne ich jetzt daraus, daß sie mich nötigte, noch einmal eine Anleihe beim Christentum zu versuchen.
In der Aufregung nun der Krisis habe ich manches gesagt, was (wie ich nachher sah) viele klügere Leute auch denken, aber nicht sagen. Wozu auch? Wer es selbst entdeckt hat, weiß es schon; wer es nicht selbst entdeckt hat, glaubt's doch nicht. Schaden habe ich durch das Ausplaudern solcher Geheimnisse allerdings kaum angerichtet. Für wen sie nicht waren, der sah leicht, daß er viel besser Bescheid wisse als ich. Und damit war ihm ja geholfen. Meine neuen Erkenntnisse aber habe ich mit einem Eifer hinausgeschrieen, der ganz unangebracht war – eben weil ich Erkenntnisse mitzuteilen hatte. Was ist, was immer war, was immer sein wird, kann man doch ganz ruhig zeigen, benennen, beschreiben. Die Aufregung, mit der man die Entdeckung des Seienden mitteilt, verrät bloß, wie unfähig man zuvor war, die Wirklichkeit zu sehen. Und das ist um so komischer, wenn es sich um Tatsachen handelt, die offen vor aller Augen liegen. Wer aber mit dem ruhigen Tone redet, in dem man das bespricht was eben ist, wird auch nicht den Anschein erregen, als ob er besonders Gefährliches mitteile. Und es ist doch höchst überflüssig, den Schein der Gefahr zu erregen, wenn es sich nur um Dinge handelt, die immer so waren (ob erkannt oder unerkannt), ohne daß die Welt zusammengebrochen wäre.
Jetzt würde ich, jetzt könnte ich nicht mehr mit dieser Leidenschaft losfahren: und eben deshalb habe ich das Schriftchen, wenn es doch wieder aufgelegt werden soll, in der Hauptsache lassen müssen, wie es war. Nur dem Stil habe ich da und dort nachgebessert; auch habe ich den Gedankengang in einigen Abschnitten, die schon ziemlich lehrhaft gehalten waren, berichtigt. Selbst das hätte ich schwerlich gewagt, wenn ich nicht die betreffenden Änderungen sofort nach dem ersten Erscheinen des Büchleins in meinem Handexemplar angedeutet hätte.
Einen Satz kann ich heute, wie schon bemerkt, überhaupt nicht mehr vertreten. Es ist der Anfang von 9 und 10 in » Homo sum«: »Wenn diese Gedanken in mir erwachen (das gehört zum Gelebt-werden), wenn ich mich ihnen zu überlassen wage (die einzige Tat der Freiheit, die ich vollziehen zu können, – zu müssen glaube), so verändern sie die Art, wie ich mich empfinde, wie ich den andern empfinde, vollständig.« Jetzt glaube ich auch diese einzige Tat der Freiheit nicht mehr vollziehen zu können, zu müssen; ich »wage« es nicht mehr, mich solchen Gedanken zu überlassen. Jetzt kann ich nur sagen: »Erwachen sie in mir, so haben sie mich und verändern die Art, wie ich mich empfinde, wie ich den andern empfinde.« Jenes »Wagnis« war nichts anderes als ein letzter, schwacher Nachklang des »Gehorsams des Glaubens«, in dem ich erzogen wurde.
Aber es ist auch mit diesem »Wagnis« nichts. Ein Gedanke, dem wir uns »frei« überlassen, verändert unsere Empfindung nicht; das vermag nur ein Gedanke, dem wir unfrei zur Beute fallen. Und überhaupt: der Gedanke bestimmt den Entschluß, wird aber nie durch einen Entschluß wirklich bestimmt. Daß ich mich einem Gedanken hinzugeben wage, besagt bloß, daß er mich reizt, ohne mich ganz überzeugen zu können, und daß ich in der Ungewißheit des Denkens mich durch seinen Reiz bestimmen lasse, es mit ihm zu probieren, – ein Experiment, das in gewissen Stadien der Geistesentwicklung natürlich-notwendig und auch nicht ohne Wert ist.
Vielleicht steht hiemit (ich kann das selbst nicht mehr beurteilen) ein Punkt in Zusammenhang, in dem ich mich jetzt vorsichtiger ausdrücken würde. Wie kam ich dazu, eine Liebe, die ich nicht verstehe, Liebe zu heißen? (» Homo sum« 7.) Ich habe den Grund genannt: es bestimmte mich noch die Erinnerung an die »alte Sage«, »daß die Macht, von der der Mensch mit der ganzen Welt gelebt werde, Liebe sei«. Jetzt ziehe ich doch vor, Liebe nur das zu nennen, was ich als solche verstehe. Welchen Wert soll es denn haben, daß ich vorwegnehme, als was sich das Unverständliche einmal enthüllen werde? Mir nützt es nichts; für »Gott« ist es gewiß gleichgültig; es dient also nur, mir vor Menschen das Ansehen zu erwerben, daß ich doch an eine »Liebe Gottes« glaube. Das ist aber kein zureichender Grund, über die Beschreibung meines gegenwärtigen Zustandes hinauszugehen: daß ich nämlich ein Leben gelebt werde, welches ich wesentlich nicht verstehe; daß ich abwarten muß, ob, wann und wie es sich mir einmal verständlich machen wird. Da ich dieses Abwarten jetzt etwas geduldiger und ruhiger besorgen kann, brauche ich mich auch nicht mehr an die Hoffnung anzuklammern, »Gott« müsse sich endlich, endlich als »Liebe« offenbaren.
Vorsichtiger würde ich mich jetzt auch über die Unsterblichkeit ausdrücken, – die persönliche natürlich; denn jede andere ist bloße Phrase. Ich muß allerdings unsern ganz perfekten Freidenkern gestehen, daß ich (mit Goethe und Lessing) das persönliche Fortleben nach dem Tode nicht für einen offenkundigen Unsinn halten kann. Aber man darf, wie es scheint, eine solche Meinung nur aussprechen, um mißverstanden zu werden. Es gab Leute, die glaubten, ich wolle die Unsterblichkeit beweisen, was mir wirklich nie in den Sinn kam (einen Ausdruck in » Homo sum« 13, der dahin gedeutet werden konnte, habe ich jetzt auch beseitigt). Andre meinten, ich wolle die Unsterblichkeit schließlich doch als Forderung des Gemüts einschmuggeln. Diese Vermutung hatte ich durch meine Art sie einzuführen gerade ausschließen wollen; ob es mehr meine oder mancher Leser Schuld war, daß mir das nicht glückte, will ich dahingestellt sein lassen. Dafür will ich jetzt kühl und trocken bemerken, daß mir an der Unsterblichkeit so viel wirklich nicht liegt. Eine Hölle, um etwelche Bösewichter hineinzuwünschen, brauche ich nicht; und für mich fürchte ich sie nicht, da ich in dem Gedanken gar keinen Sinn mehr finde, ich müßte einmal mit Teufelsgewalt unendlich elend gemacht werden, weil ich elend war. Himmlische Freuden locken und trösten mich nicht, seit ich dem Zauber des leeren Worts entronnen bin und das ganz Unvorstellbare auf mich keinen Gemütseindruck mehr macht. Was ich von dem Tode je hoffen möchte wäre das, daß er mich »aus Hüllen der Nacht« hinüberführte »in der Erkenntnisse Land« (Hölderlin). Aber ich verzweifle auch nicht, wenn ich nie erfahren sollte, was es eigentlich mit diesem Leben war, das mich so viel Herzklopfen kostete. Ich neige also dazu, und mache darin täglich Fortschritte, die Unsterblichkeit als rein theoretische Frage zu behandeln, wie für mich jetzt auch »Gott« eine Frage der philosophischen Theorie ist. Und ich muß, wie gesagt, bekennen, daß ich den Gedanken einer persönlichen Fortdauer nicht für einen sonnenklaren Unsinn halten kann, daß das Wort »Gott« mich auf ein Sein hinzuweisen scheint. Verderbe ich es dadurch mit den Freidenkern, wie ich es durch bodenlose Zweifelsucht mit den Gläubigen verdorben habe, so tut mir das natürlich sehr leid; ändern kann ich mich trotzdem nicht. –
Die Skizze, die ich von der Entwicklung Jesu entworfen, hat mir nicht viel Anerkennung erworben. Das hat mich nicht verwundert; doch kann ich leider nicht sagen, daß mir die Einwendungen, die ich vernahm, viel überzeugende Belehrung gebracht hätten. Deshalb habe ich auch diesen Teil der vorliegenden Schrift ohne wesentliche Änderung wieder abdrucken lassen. Und es wäre mir doch, glaube ich, nicht zu schwer gefallen, mich berichtigen zu lassen. Denn Jesus ist mir ein rein geschichtliches Problem; ich habe ihn auch nur als psychologische Illustration einer Lebensauffassung benutzt, deren Gültigkeit für mich von meiner Auffassung Jesu unabhängig ist. Was aber die Anfänge Jesu betrifft (deren Darstellung besonders tadelhaft gefunden wurde), so kann ich gelehrtere Theologen nur wieder bitten, mir die Geschichte von der Taufe Jesu durch Johannes erklären zu wollen. Hat Johannes mit einer Bußtaufe zur Vergebung der Sünden getauft? Hat Jesus mit dieser Taufe sich von ihm taufen lassen? Wenn diese Fragen verneint werden, so können wir überhaupt darauf verzichten, über den geschichtlichen Jesus irgend etwas auszusagen. Werden sie bejaht, so frage ich weiter: was hat Jesus sich dabei gedacht, sich mit einer Bußtaufe zur Vergebung der Sünde taufen zu lassen, wenn er zur Buße gar keine Veranlassung zu haben glaubte, wenn er Vergebung der Sünden überhaupt nicht zu brauchen glaubte? Was hat er sich unter dieser Voraussetzung dabei denken können, das seiner würdig gewesen wäre? Nach meinem Geschmack ist die natürlichste Erklärung der Taufe Jesu auch die würdigste: daß er als »Sünder« zu Johannes kam, sich durch eine Bußtaufe zur Vergebung der Sünden von seiner »Sünde« reinigen zu lassen. Worin er diese seine »Sünde« sah, ist mir ganz gleichgültig; nur begeht ein großer Mensch niemals eine kleine Sünde (d. h. die kleinste Sünde ist für ihn riesengroß); denn er tritt immer und überall mit dem Gewicht auf, das Er hat. Übrigens wäre es gar nicht undenkbar, daß gerade die Unfähigkeit, manches an sich und andern so böse zu finden, wie er eigentlich sollte, ihn als Beweis besonderer Verdorbenheit geängstet hätte. Was man aber über die ungebrochene Kindlichkeit Jesu zu sagen pflegt, und daß er keine Narben überwundener Kämpfe zeige, darin kann ich nicht ein Resultat geschichtlicher Untersuchung sehen, sondern nur eine schwächliche Verdünnung des Glaubens an die Gottheit Christi und ein Produkt oberflächlicher Psychologie. Hat man einmal mit dem willkürlichen Vorurteil gebrochen, daß jedes Wort Jesu so ganz lieb und gut gemeint sein müsse, so stößt man auf manches, was nach durchfochtenen (vielleicht bloß halb durchfochtenen) Kämpfen schmeckt. »Wehe euch Reichen! wehe euch, die ihr lachet! Hütet euch vor den Menschen! Laßt die Toten ihre Toten begraben!« u. s. f. Was ist gewagter: daß man aus solchen Worten etwas Nachweh heraushört? oder daß man gar keines darin entdecken will? Und warum soll denn Jesus durchaus »unschuldig« sein? Über die Unschuld hat Kant das richtige Urteil gefällt: daß sie eine sehr schöne Sache ist und nur keine Sicherheit gewährt. Seuchenfest ist jeder nur, sofern er durchseucht ist. Die Erbitterung aber in Jesu letzten Kämpfen zeigt, daß er leider nicht ganz durchseucht war, als er es wagte den Armen und Sündern Evangelium zu predigen. – Doch dem sei, wie ihm wolle. Mir schien unter langer Beschäftigung mit den Evangelien aus einer verworrenen, verstümmelten, vielleicht auch verfälschten Überlieferung der Jesus, den ich zu zeichnen versuche, als eine verständliche Gestalt entgegenzutreten; und ich wage es, was ich über ihn gesagt noch einmal darzubieten als einen ernsthaften Versuch, in das Rätsel dieses Mannes tiefer einzudringen. Für mich und meine Zwecke ist es übrigens, wie gesagt, gleichgültig, ob ich Jesus richtig verstanden habe oder nicht. –
Und so möge denn dieses wunderliche Büchlein wieder seinen Weg durch die Menge suchen, um doch da und dort einem den erlösenden Dienst zu leisten, daß es zu sagen wagt was er zu denken erschrickt und errötet. Für solche Leser füge ich jetzt das freilich überflüssige Geständnis bei, daß es kein gemachtes, sondern ein erlebtes Buch ist. Für andere Leser will ich doch auch bemerken, daß sie die wirklichen Erlebnisse, aus denen es geboren ist, weder erraten noch erfahren werden. Ich kann nicht bloß mein Inneres sehr offenherzig preisgeben, sondern mich auch so ausdrücken, daß »Ketzer mich nicht verstehen«.
[1905.]
Seit ich diese Schrift geschrieben habe, bin ich nicht nur 20 Jahre älter geworden, sondern habe auch noch eine solche Fülle und Last von »Menschenlos« zu erleben bekommen, daß die Erlebnisse, aus denen heraus ich einst geredet habe, daneben geringfügig erscheinen könnten. Aber sie hatten mich doch im Tiefsten erschüttert, und so haben sie mir auch Erkenntnisse gebracht, die durch die nachfolgenden, doch nicht bedeutenderen, nur massigeren Erlebnisse nur bestätigt werden konnten. Darum reiche ich ihren Ertrag dieses dritte Mal dem Leser mit größerer Zuversicht dar als das zweite Mal, und sogar als das erste Mal.
Im Einzelnen hat sich mir das Bild des Lebens, wie sich von selbst versteht, mannigfach verschoben. So würde ich jetzt neben der natürlichen Feindschaft zwischen Mann und Weib, Eltern und Kindern, deren natürliche Freundschaft stärker betonen; und so auch neben dem Auseinanderwachsen der Persönlichkeiten deren Zusammenwachsen; – wodurch doch die Tragik des Lebens nur noch verschärft würde. Aber ich will diesen einzelnen Verschiebungen hier nicht nachgehen. Wer sich dafür interessiert, kann sie z. T. verfolgen, wenn er mit diesem »Menschenlos« das »öffentliche Geheimnis des Lebens« vergleicht, wie ich es neulich zu deuten versuchte. Ich halte es für nützlicher, in einem vermutlich letzten Nachwort neu und frei auf eine möglichst kurze und möglichst bestimmte Formel zu bringen, wie ich nun das Los des Menschen verstehe.
* * *
1. »Ich werde gelebt.« Und zwar nicht nur, wenn ich mein Leben nur so natürlich, instinktiv und impulsiv, hin und weg lebe, sondern gerade auch, wenn ich es selbst, mit Bewußtsein und Absicht, zu bestimmen und gestalten suche. Denn »durch jede Entscheidung, die ich noch vollzog, stürzte ich mich gleichsam in ein Wasser von unbekannter, übermächtiger Strömung. So wurden freilich meine Entscheidungen Wendepunkte in meinem Leben; nur daß nicht ich mich darin wendete, wohin ich wollte, sondern durch die Entscheidung nur die Möglichkeit schuf, irgendwie gewendet zu werden«. Je wichtiger die Entscheidung ist, desto sicherer stellt sich heraus, daß ihre Folge meiner Absicht nicht entspricht. In diesem Sinn werde ich gelebt: jetzt wie einst und (denke ich) auch in alle Zukunft. Ich habe nicht bloß die Hoffnung, sondern auch den Wunsch aufgegeben, daß ich dahin gelangen werde, in meinem Sinn über mein Leben entscheiden zu können.
2. Das Leben, das ich so gelebt werde, ist nicht ein Chaos zusammenhangsloser Erlebnisse, sondern eine zusammenhängende Geschichte. Und zwar hat es einen doppelten Zusammenhang: einen mir mehr oder weniger durchsichtigen der Ursache und Wirkung, der es mir ermöglicht, die Fortsetzung mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit vorauszusehen; und einen anderen, der sich mir immer erst hinterher offenbart und mir deshalb nicht erlaubt, mit ihm für die Zukunft zu rechnen. Ich will ihn den »sinnreichen Zufall« nennen: denn er besteht eben darin, daß die sinnlosen Zufälle des Lebens sich nachträglich zu einem sinnvollen Fortschritt zusammenordnen. Dieser letztere Zusammenhang schließt den ersteren in sich. Denn auch die Gesetze, nach denen aus der Ursache die Wirkung folgt, sind nur zufällig so – und, wie sich mir mehr und mehr offenbart, eine zufällige Einrichtung mit bestimmtem Sinn. – Der sinnreiche Zufall verwirklicht sich vornehmlich eben dadurch, daß die Entscheidungen, die ich treffe, nicht nach meinem Sinn ausfallen. In der unberechenbaren Folge dieser Enttäuschungen liegt ein Zusammenhang, ein Sinn. Das hat sich mir in meinem bisherigen Leben aufgedrängt und bewährt; und so erwarte ich auch für die Zukunft, daß jede neue, natürlich wieder überraschende Enttäuschung nachträglich, über kurz oder lang, sich als sinnvolle Fortsetzung meines Lebens erweise.
3. Der Sinn, den ich durch meine Entscheidungen in mein Leben hineinbringen wollen muß, ist: daß ich mir mein Leben, durch Erfüllung sich mir aufdrängender Wünsche, zur Freude mache. Darin ist eingeschlossen, und zwar als conditio sine qua non, daß ich auch den andern Menschen, ja den andern Lebewesen, das Leben zur Freude mache. Fällt meine Entscheidung nicht nach meinem Sinn aus, so bedeutet das also: daß ich das Erfreuliche, das ich wünschte, entweder nicht erreiche oder, wenn ich es erreiche, nicht so erfreulich finde, wie ich erwartete. Also ist die Erfüllung meines Wunsches nicht der Sinn des Zufalls, nach dem ich letztlich gelebt werde. Da sich mir dieser immer erst nachträglich offenbart, kann er sich mir endgültig erst mit dem Ende meiner Geschichte offenbaren. Ich kann ihn also vorerst immer nur unbestimmt und unsicher ahnen, nicht bestimmt und sicher wissen.
4. Das Ende meiner Geschichte kann nicht mit dem Ende des Lebens, das ich jetzt lebe, zusammenfallen. Oder: wenn mit meinem Tod meine Geschichte aufhörte, hätte ich keine Geschichte. Zur Geschichte wird das Leben, das ich gelebt werde, erst dadurch, daß sich aller Zufall darin als in einem sinnvollen Zusammenhang stehend erweist. Ich schöpfe aber aus meinem bisherigen Erleben die allerdings immer noch schwankende Hoffnung, daß es der Ansatz zu einer Geschichte sei, die einmal einen richtigen Abschluß haben werde. Kann das, wie ich klar sehe, bis zu meinem Tode nicht geschehen, so wird es, wie ich hoffe, nach meinem Tode eintreten. Diese Hoffnung habe ich, ohne daß ich sie doch halten wollte: daß sie kommt und geht, gehört zum Gelebtwerden und erwies sich mir bisher als sinnvoller Zufall. Wenn sie da ist, mache ich mir auch meine Gedanken über die etwaige Fortsetzung meiner Geschichte, ohne daß ich diese doch fixieren könnte und wollte. Dessen bedarf ich auch nicht: über mein Leben nach dem Tod wird ja gewiß noch weniger als über mein Leben bis zum Tod durch meine Entscheidung, die durch meine Auffassung der möglichen Fortsetzung bestimmt wäre, entschieden. Nur soviel nehme ich mit wachsender Zuversicht an, daß der wichtigere Teil meiner Geschichte noch vor mir liegt. Darauf drängt mich alles hin, was ich bisher erlebt habe.
5. Kann ich meine Geschichte nicht durch meine Entscheidung bestimmen, so vollzieht sie sich doch dadurch, daß ich sie von Fall zu Fall durch meine Entscheidung zu bestimmen suche. Das ist ein unausweichliches, unentrinnbares Gesetz meines Gelebtwerdens. Meine jeweilige Entscheidung kann ich aber nur nach dem jeweiligen Verständnis meines Lebens treffen. Ich tue also ganz von selbst immer nur, was ich jetzt tun zu müssen glaube. Und was daraus folgt, muß ich dann wohl oder übel hinnehmen: was doch nur bedeuten kann, daß ich mich mit den Folgen meines geschehenen Tuns nach dem durch sie veränderten Verständnis meines Lebens abzufinden und einzurichten suche. Das tue ich wieder ganz von selbst so, wie ich es tun zu müssen glaube. Auf diese Weise vollzieht es sich, daß ich durch meine Entscheidung hindurch gelebt werde. Denn auch das Verständnis meines Lebens berichtige ich unter der Nachwirkung meines Tuns immer so, wie ich es berichtigen muß.
6. So lebe ich – in den Tag hinein:
ein Leben, das nicht »Lust« ist und nicht »Leid« ist, sondern eben Leben;
ein Leben, das nicht »gut« ist und nicht »böse« ist, sondern eben Leben;
ein Leben, das nicht »fromm« ist und nicht »gottlos« ist, sondern eben Leben.
– So lebe ich: unter dem stärksten Eindruck von der Irrationalität des Lebens notwendigerweise rational; durch alles Streben, mein Leben zu rationalisieren, nur dessen Irrationalität immer tiefer entdeckend.
– So lebe ich: und lebst du nicht auch so? lebt nicht eben der Mensch so? Ob er das merkt oder nicht merkt? ob er das anerkennt oder nicht anerkennt? Nolens volens?
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Kann ich meine Deutung des Menschenloses mit gesteigerter Zuversicht wieder darbieten, so die Deutung Jesu nur mit verstärktem Vorbehalt. In meiner Schrift »Vom öffentlichen Geheimnis des Lebens« habe ich eine Auffassung der Person und Geschichte Jesu vorgetragen, die von meiner früheren erheblich abweicht. Als ich diese aber nachträglich wieder durchlas, kam mir doch die Frage, ob ich Jesus nicht früher in einem wesentlichen Punkte richtiger gesehen habe als jetzt. In dem neuen Bilde, das ich nun entwarf, ist das Enthusiastische in Jesus, das in dem früheren Bild kräftig hervortritt, vollständig ausgefallen. Die überlieferten enthusiastischen Äußerungen Jesu machen mir jetzt nicht mehr den starken Eindruck, daß sie sich von selbst in meinem Bild Jesu zur Geltung gebracht hätten. Ja, sie muten mich jetzt auch geradezu als theatralisch, und dann erdichtet, an. Ich kann mir (um nur das Wichtigste zu nennen) nicht vorstellen, wie, mit welcher Gebärde und welchem Ton, Jesus coram publico ausgerufen haben sollte: »Ich danke dir, Vater, Herr des Himmels und der Erden, daß du dieses verborgen hast vor Weisen und Verständigen, und hast es Unmündigen geoffenbart; ja, Vater, denn so ist es wohlgefällig vor dir gewesen …« Aber ob sich in mir der Sinn für das Echte verschärft oder der Sinn für das Überschwängliche verloren hat: das kann ich selbst nicht beurteilen.
Deshalb hielt ich es für angezeigt, an dem Bild Jesu, das ich in dieser Schrift gegeben habe, nichts zu ändern. Der Leser, der sich dafür interessiert, mag selbst würdigen, ob sich meine Auffassung Jesu verbessert oder verschlechtert hat. Es wäre mir allerdings auch ganz unmöglich gewesen, den Abschnitt über Jesus umzuarbeiten ohne die Einheit der Schrift zu zerstören.
Doch will ich wenigstens andeuten, in welcher Richtung sich mein Nachdenken über Jesus jetzt bewegt.
Ein Zweifel an der Geschichtlichkeit Jesu ist mir selbst eigentlich nicht gekommen. Wurde er von außen in mir aufgeregt, so hat er doch in mir nicht Wurzel fassen können.
So gut wie sicher bin ich dessen, daß Jesus der Wunderdoktor nicht war, als der er in den Evangelien auftritt.
Sehr wahrscheinlich ist mir auch, daß er erst nachträglich als der Messias gedeutet wurde; daß er also auch nicht als der Messias, der er habe sein wollen, verurteilt wurde, sondern nur als Gotteslästerer.
Zur offenen Frage ist mir jetzt geworden, ob sich Jesus von Johannes dem Täufer habe taufen lassen. Wahrscheinlicher ist mir doch, daß die Taufe Jesu eine Legende ist, erdichtet zur Rechtfertigung der erst als eine Neuerung aufgekommenen christlichen Taufe.
Dann wäre aber (und darum allein interessiert mich diese Sache) Jesu »Unschuld« nicht von ihm erworben worden, sondern ihm natürlich gewesen; also nicht reflektiert, sondern naiv. Dafür, daß Jesus von der »Schuld« erst hätte entlastet werden müssen, haben wir keinen andern Grund, als daß er sich mit einer Bußtaufe zur Vergebung der Sünden habe taufen lassen. Hätte er dies aber getan, so ist auch in keiner Weise der Konsequenz auszuweichen, daß er erst wieder »unschuldig« werden mußte. Pro forma tut ein Jesus nichts.
Fällt aber die Taufe Jesu weg, so muß ich auf ein Verständnis Jesu verzichten. Verstehen kann ich nur eine erworbene Unschuld, nicht eine natürliche Unschuld.
Warum sollte aber Jesus durchaus restlos von mir verstanden werden können? Nur sofern ich ihn nicht verstehe, kann ich von ihm zu lernen hoffen was ich als Autodidakt nicht lernen kann.
– Übrigens ist meine Deutung des Menschenloses von meiner Deutung Jesu gänzlich unabhängig. Mein »Glaube« ruht nicht »auf dem Grunde der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist«, sondern ist im strengsten Sinn mein Glaube. Daß ich darin mit Jesus, Sokrates, Laotse u. a. wesentlich übereinstimme, ist mir nur eine Bestätigung meines Glaubens, deren ich mich freue, ohne auf sie angewiesen zu sein. Was ich von solchen Lehrern wünsche und hoffe, ist nicht, daß sie mir die Richtigkeit des Einmaleins bestätigen, sondern daß sie mich in die höhere Mathematik einführen.
Eßlingen, im August 1921.
Christoph Schrempf.
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