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A. Ich habe ja nicht leben wollen! Ich hätte ja nicht leben wollen!
B. Wie Du nur so was sagen magst! Aber Du machst wenigstens eine Einschränkung, Du deutest auf eine Bedingung hin: wenn …
A. Wenn nur das Unmögliche möglich, das Undenkbare denkbar wäre: daß man, ohne erst zu leben, das Leben kennen lernte! daß man, bevor man wird, gefragt würde, ob man auch werden wolle!
B. O weh! Dieses »Wenn« allein hast Du im Rückhalt! … Und wenn also das Unmögliche möglich, das Undenkbare denkbar wäre …
A. … so hätte ich gesagt, daß ich nicht werden wolle – nicht Mann und nicht Weib, nicht mit Talent und nicht ohne Talent, nicht von den oberen Zehntausend, nicht vom Mittelstand, nicht Proletarier – überhaupt nichts, nicht! So aber bin ich ins Leben hineingestoßen worden, ungefragt; bin im Leben fortgestoßen worden, ungefragt; werde aus dem Leben hinausgestoßen werden, ungefragt …
B. Verzeih; darauf wenigstens, daß Du hinausgestoßen werdest, brauchst Du's nicht ankommen zu lassen: Du kannst ja gehen!
A. Nein, ich kann nicht gehen; das ist eben das Elend! Denn der Zwang zu leben ist zugleich (empörend!) der Zwang, leben zu wollen! –
B. Und der Zwang leben zu wollen, sollte der nicht auch Liebe zum Leben genannt werden dürfen? Und sollte diese Deine Liebe zum Leben nicht darauf beruhen, daß auch Du Dein Teil Glück und Freude in diesem elenden Leben zu genießen hast? Wenn Du es nur bescheiden, dankbar anerkennen und hinnehmen wolltest!
A. Ach, daß ich Dir nicht mit einem einfachen Nein antworten kann! Es wäre mir ja so viel leichter ums Herz, wenn ich dem Leben jeden Reiz für mich absprechen dürfte! wenn ich ganz gleichgültig daraus gehen, daraus fallen könnte!
B. So, dann wäre Dir leichter ums Herz? Erlaube mir doch die Frage: Sind das nicht Phrasen? oder ist das Dein Ernst?
A. Mein bitterer Ernst! – Es ist ja wahr, daß eine wohlschmeckende Speise meinem Gaumen schmeichelt, daß harmonische Farben und Töne mir in Auge und Ohr angenehm sind, daß ein hübsches, freundliches Gesicht mein Gemüt wohltuend berührt. Aber wie mich das beleidigt, in einem Leben, das mich als Ganzes abstößt, den Reiz des Einzelnen empfinden zu müssen! mir das Beides zusammen gefallen lassen zu müssen, daß mich das Leben als Ganzes abstößt, im Einzelnen kitzelt!
B. Ich verstehe Dich nicht. Ich höre Worte, die sich zu Sätzen verbinden, aber einen Sinn finde ich darin nicht.
A. Doch möchtest Du mich verstehen?
B. Gewiß!
A. Und ich darf das Äußerste wagen, mich Dir verständlich zu machen?
B. Ich sehe nicht, inwiefern das so gewagt sein könnte; aber sprich!
A. So höre! Das unglückliche Weib, das in die Klauen einer menschlichen Bestie gerät, – in ihrem brennenden Schmerz muß sie noch dulden, daß ihr das Verbrechen, dessen Opfer sie wird, wollüstige Empfindungen erregt. Oder ist das etwas linderndes Öl für ihren Schmerz?
B. Pfui! Abscheulich! Lästerlich!
A. Ja pfui darüber, daß dem so ist; es ist abscheulich, lästerlich, daß dem so ist!
B. Pfui! Abscheulich! Lästerlich!
A. Ich sehe, Du hast mich verstanden; und ich verstehe Dich, denn ich verstehe mich …
Ist mir ein Leben aufgedrängt (in dem schrecklichen Maße aufgedrängt, daß ich sogar leben wollen muß, ein Leben, das mich als Ganzes abstößt: so kann und will ich mich keinem einzelnen Reiz, den es hat, innerlich hingeben. Und daß ich die einzelnen Reize doch fühlen muß, als Reize, die mir schmeicheln, die mich locken, die mich über meine Haupt- und Grundempfindung immer wieder wegtäuschen: das wirkt auf mich in meinem allgemeinen Elend nur als bitterer Hohn. So verstehe ich mich in den Einzelgenüssen des im ganzen schweren, ängstigenden, häßlichen Lebens. Heiße mich undankbar, heiße mich frech: ich weiß doch, daß ich darin Recht habe …
Aber daß ich nicht bloß leben, sondern leben wollen muß; daß mir, bei meiner gründlichen Verstimmung gegen das Dasein, doch vor dem Tode graut: sollte diese peinliche Paradoxie nicht darauf hindeuten, darauf beruhen, daß das Leben gerade als Ganzes gut ist? daß es mir deshalb aufgedrängt werden durfte, weil es unbedingt lebenswert ist? So daß man sich auch dem Einzelreize des Lebens hingeben dürfte, ohne sich zu beschimpfen, weil auch er nicht lügt, weil er nicht ein Schönpflästerchen ist auf einem häßlichen Ganzen, sondern nur ein besonderer, leichter ins Auge fallender Zug in der allgemeinen Schönheit des Lebens! …
O, wie mich diese Ahnung schon beseligte! Und wie es mich schon ängstete, daß ich doch ihre Wahrheit einmal erproben muß – bewähren oder zerstören! daß ich einmal niedersteigen muß in die tiefsten, schrecklichsten Tiefen menschlichen Daseins, um dort meine instinktive Anhänglichkeit an das Leben, deren ich mich jetzt fast schäme, entweder entschlossen abzutöten, oder zu einer ihres Sinns bewußten Freude am Leben zu steigern! …
B. …
A. Ach, Du sagst mir nichts; Du munterst mich nicht auf, diese gefährliche Entdeckungsreise anzutreten; Du versprichst nicht, mir zu folgen!
B. Ich muntere Dich nicht auf; ich verspreche Dir nichts. Denn ich weiß jetzt, daß es gewagt ist, Dich verstehen zu wollen.
A. Tu' denn, was Du mußt; ich tue, was ich doch nicht lassen kann – und gehe zu!