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Denken wir uns den zufälligen, wesentlich unwahren Schluß des Hiob durch einen andern ersetzt, der den wirklichen Ertrag von Hiobs Leiden und Kampf zum Ausdruck bringt: so wird Hiob nach der entscheidenden Auseinandersetzung mit Gott (die zu einer positiven Verständigung geführt haben muß: anders kann eine Auseinandersetzung mit Gott nicht endigen) fortleben, mehr oder weniger arm, mehr oder weniger krank, mehr oder weniger schief angesehen von den Glücklicheren; es wird ihm das nach wie vor mehr oder weniger wehe tun, – aber er wird darunter nicht mehr leiden. Wehe tut dem Menschen, was überhaupt an irgend einem Punkt sein Leben hemmt; leiden kann er nur unter der sinnlosen Lebenshemmung: Hiob aber hat sich nun in seinem Schicksal verstanden. – Überlebt Ödipus (was wir jedenfalls als möglich setzen können) die Zwiesprache mit den Erinnyen, und hat diese (was wir als möglich setzen müssen: anders kann eine Zwiesprache mit den höchsten Mächten nicht enden) zu einer positiven Verständigung geführt: so bleiben des Ödipus Taten stehen, wie sie sind: die Erinnerung daran wird ihm immer wehe tun; sein Augenlicht, seine Herrscherstellung ist und bleibt verloren, geringe Menschen werden ihm ihre Verachtung zeigen, bessere ihr Grauen nicht verhehlen können, und auch das wird ihm fortdauernd wehe tun. Aber er wird darunter nicht mehr leiden. Wehe tun muß es dem Menschen immer, daß er Unerhörtes, vielleicht gar Unnatürliches tun mußte und von den Menschen darum angesehen wird; hat er aber verstanden, wie das von den Göttern aus sich ansieht (und von ihnen aus muß es sich als gut darstellen), daß er an sich und andern so sündigen mußte, so kann er darunter nicht mehr leiden. Und Ödipus hat sich ja nun in seinem Tun und Leiden verstanden.
Soviel glaube ich von dem Fortleben des Hiob und Ödipus zu verstehen. Dagegen bleibt mir etwas anderes völlig unklar: was ihres ferneren Lebens Inhalt sein wird. Nur so lange sie darunter leiden, kann sie ihr Geschick innerlich beschäftigen; ist das Rätsel gelöst, so ist es auch erledigt, so ist es für sie uninteressant geworden. Beruht die Lösung des Rätsels darauf, daß sich das Erlittene, immer noch zu Erleidende, als göttliche Notwendigkeit erweist, so kann auch das Bestreben, sich des Schmerzes zu erwehren, nicht mehr den Sinn wirklich, ernst beschäftigen; ja sogar die Frage, wie man sich unter dem Leiden einrichten solle, vermag kein ernstes Interesse mehr zu erregen. Es geschieht ja doch nur, was die Gottheit will! Auch das Maß des Schmerzes und der Erquickung, der Erschwerung und Erleichterung des Lebens wird durch sie bestimmt! Und der Mensch weiß ja doch nie, ob er nicht durch eigenes Eingreifen das Gegenteil dessen erreicht, was er beabsichtigt; ob er nicht durch sein Bestreben, sich das Leben zu erleichtern, es nur erschwert! Was soll ihn nun noch ernstlich beschäftigen? Oder steht das Interesse von nun an einfach still? Aber das wäre ja der Tod! Und ich setze doch voraus, daß Hiob und Ödipus fortleben! daß sie erst recht leben!
Kein Dichter hat mir auf diese Fragen eine Antwort gegeben, aber die Geschichte, – das Gemenge von Wahrheit und Dichtung, das wir Geschichte nennen. Ein Hiob redivivus, ein Ödipus redivivus hat gelebt, wirklich und wahrhaftig, obgleich seine Gestalt für uns keine ganz sicheren Umrisse mehr hat (ich werde mich dessen als eines Vorteils bedienen); er hat gelebt, an einem bestimmten, bekannten Punkte der Geschichte, und hat ein lebhaftes, reiches Leben entfaltet, – ach, und sein Leben wurde eine Leidensgeschichte, noch viel schrecklicher als die des ersten Hiob, des ersten Ödipus, die furchtbarste, innerlichste, erhebendste Leidensgeschichte, die wir kennen!
Jesus von Nazaret soll ein Hiob redivivus sein, sogar ein Ödipus redivivus? Er, das große Kind Gottes, der Entdecker, der Vertreter, der Märtyrer der unbedingten Kindlichkeit, er soll ein Mann sein, der eine Tragödie hinter sich hatte? eine gebrochene und wieder aufgerichtete, eine in sich zerrissene und wieder mit sich versöhnte Persönlichkeit? Er, in dem die Menschen bald die geradewegs fleischgewordene Gottheit sahen, auch er sollte erst durch die Entzweiung mit Gott zum vollen, sichern, frohen Frieden mit Gott gelangt sein?! – Eine alberne Lästerung des »Sündlosen«!
So sei diese »Lästerung« doch einmal gewagt, von einem, der Golgatha für den Mittelpunkt des Erdkreises, den Tod Jesu für den Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit hält!
Mir scheint, daß das erste Blatt der wirklichen Geschichte Jesu noch nicht richtig verstanden wird. Denn auf diesem ersten Blatt steht mit größter Frakturschrift geschrieben, daß wir einen Hiob, einen Ödipus vor uns haben; dieses erste Blatt erzählt geradezu die Genesung eines Hiob, die Versöhnung eines Ödipus.
Jesu ward, als er sich einer Bußtaufe zur Vergebung der Sünden unterzog, das Gotteswort: »Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe!« (Oder wie es sonst gelautet haben mag: auf den Wortlaut dieses Gottesworts kommt es nicht einmal so sehr an, weder für seine Geschichtlichkeit, noch für das Verständnis seines Sinns.) Dieses Gotteswort brachte ihn in so furchtbare Aufregung, daß er in die Wüste entwich, dort mit den Tieren lebte, von Dämonen versucht, von Engeln bedient wurde; daß er dort durch wochenlanges strenges Fasten seiner selbst wieder mächtig werden mußte.
Gott spricht kein unnützes Wort: warum ward also Jesu dieses Gotteswort? Durch nichts und für nichts gerät ein Mensch nicht außer sich: warum brachte das Gotteswort Jesus in diese an Wahnsinn grenzende Aufregung?
Hätte er es schon zuvor gewußt, wäre ihm dieser Gedanke vorher auch nur nahe gestanden, daß er Gottes geliebtes Kind sei, daß er Gottes Wohlgefallen habe: so hätte er darin niemals eine »Offenbarung« sehen können, so hätte ihn diese Offenbarung (wenn wir die bloße Bekräftigung eines schon vorhandenen Gedankens je so nennen wollten) niemals in solche Aufregung versetzen können. In aller »Offenbarung« enthüllt sich dem Menschen das Sinnlose als Weisheit, das Unglaubliche als Wirklichkeit, das Leid als Freud', das Häßliche als schön, das Böse als gut, – deshalb ist eine »Offenbarung« auch immer eine Sache, die den Menschen leicht den Verstand kostet.
Jesus kam zur Taufe elend und schuldig. Andere mochten das seltsam finden, da sie in ihm schon längst den trefflichsten Menschen erkannt zu haben glaubten. Er aber, der sich von innen kannte, wußte es besser. Er kam zur Taufe wirklich bußfertig, der Entsühnung nach seinem Bewußtsein bedürftiger als irgend einer. Und er ward entsühnt, – aber nicht durch die »Bußtaufe zur Vergebung der Sünden«, nicht durch seine Reue, seine Buße. Vielmehr kam ihm während der Taufe das Gotteswort zu: »Du bist ja schon mein lieber Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe!«
Herrlich! schrecklich? Sollte er zum Himmel auffliegen vor Freude? sollte er in den Boden versinken vor Entsetzen? sollte er sich in nichts auflösen vor unsagbarer Angst?
Denn es ist nichts so Einfaches, mit wirklichen Schmerzen gequält sich für Gott-geliebt, also unendlich glücklich, mit wirklichen »bösen« Gedanken, Begierden, Worten, Werken belastet, sich für Gott-gefällig, also gut zu halten! Wer das wagt, wird dadurch entweder zum Gott, oder …! Ein Drittes, Mittleres gibt es nicht, wenn jemand zu seinem Leiden, zu seiner Buße zu sagen wagt: »Wahn!« Das letzte Selbstgefühl des gefährdeten Menschen hängt daran, daß er unter sich noch leidet, – und das soll er aufgeben!? Schrecklich! Und wie herrlich wäre das doch: daß man unter sich selbst litt, als einen Wahn verlachen zu dürfen!
Jesus hat es gewagt, diesen Wahn aufzugeben. Heil ihm! Er ist als der Erste durch die Gespenster des Leidens und der Schuld hindurchgeschritten! Er hat doch schon manchem, den sie ängsteten, den Mut eingeflößt, dieses kecke, leichte Wagnis zu wiederholen!
Im selben Augenblick, da Jesus für sich wieder froh, in wiedergewonnener Unschuld, aufzuatmen wagte, sah er, daß er dem Menschen überhaupt den Frohsinn, die Unschuld wiedereroberte. Und zugleich sah er, was jetzt die einzig mögliche, sinnvolle, würdige Aufgabe für ihn sei: die andern zu neuem Leben in Frohsinn und Unschuld zu führen. Und zugleich ergriff ihn die Liebe zu den leidenden, im Gewissen beschwerten Brüdern, daß er nichts anderes sich mehr vornehmen konnte, als ihnen Frohsinn und Unschuld wiederzugeben. Es ist gänzlich unerwiesen und höchst unglaublich, daß Jesus zuvor auch nur einen einzigen Menschen wirklich lieb gehabt hätte: jetzt liebte er sie alle, alle!
Scheuen wir doch nicht die freilich undankbare Mühe, Jesu Menschenliebe mit ein paar Worten zu kennzeichnen! Liebe muß man ja sehen, – um den Anblick seiner Liebe will ich dich also durch keine Beschreibung betrügen. Wenn du aber hingehst, seine Liebe zu sehen, so freut es dich doch vielleicht, mit den Entdeckungen, die du selbst machst, zu vergleichen, was ich besonders Herrliches daran geschaut zu haben glaube. Jesus ist chemisch rein von jedem Unbehagen beim Anblick des Leidens, von jedem Ekel vor der Sünde; Jesus hat Wohlgefallen an dem Menschen als solchem, als der schönsten Blume in dem Weltgarten, als dem kostbarsten Kleinod, das nicht bloß ist, sondern sich denken läßt; Jesus hat den Glauben, daß jeder Mensch, einer wie der andere, unendlichen Lebensgefühls, einer wirklichen und wahrhaften Seligkeit, fähig sei. – Damit beweist er auch, daß er so wurde, wie wir anzudeuten versuchten. Das ist keine natürliche, sondern eine erworbene Liebe. Erwerben kann der Mensch aber nur durch Erleben. Jesu Liebe wurde dadurch erworben, daß er das Unbehagen beim Anblick des eigenen Schmerzes, den Ekel vor der eigenen Sünde überwand; daß er sich selbst wieder zu gefallen wagte; daß er selbst, der Elendeste, Schuldigste, wieder ganz frei und froh wurde. Wie anders hätte er diese Liebe gewinnen können?
So ging er denn hin, als er seiner selbst wieder Herr geworden war, den Brüdern das Evangelium zu verkünden, das ihn selbst beseligte.
Sieht man genauer zu, so enthält es nur Einen Gedanken:
Heil euch, die ihr leidet; denn gerade ihr sollt selig werden!
Nach der Ursache des Leidens zerlegt sich diese Verheißung in zwei, die gesondert ausgesprochen werden mögen:
Heil euch Armen, denn gerade
ihr sollt reich werden!
Heil euch Schuldigen, denn gerade
ihr sollt gut werden!
Dazu tritt ein Satz, auf dem für Jesus die Zuversicht der Verkündigung, für den Hörer die Möglichkeit der Aneignung dieses Evangeliums beruht:
daß der Mensch für sich weder zu sorgen vermag, noch auch zu sorgen braucht, da für ihn immer schon gesorgt ist: durch den »Vater«, dem er das Leben verdankt, der ihm mit diesem Hauptgut selbstverständlich auch alles Zubehör schenkt.
Hiermit sind die primären Gedanken Jesu bereits erschöpft. Gerade ihre Einfachheit empfiehlt es, nicht schnell darüber hinwegzugleiten, sondern bei ihnen zu verweilen.
Gerade den Armen preist Jesus selig; ebenso preist er gerade den Schuldigen selig. Stimmt das, so muß er gerade den Reichen, gerade den Gerechten bedauern, und das hat er in der Tat getan. Also ist, daß der Mensch sich arm und schuldig findet, die Pforte zur Seligkeit. Dies läßt sich auch leicht aus seiner Auffassung des Menschenlebens heraus verstehen. Besteht die Seligkeit darin, daß der Mensch die Sorge für sich selbst dem Vater überläßt, der sie sich vorbehalten hat, so muß der Mensch, um selig zu werden, es erst verlernen, daß er für sich selbst sorgen will. Die verkehrte Anmaßung, für sich selbst sorgen zu wollen, wird ihm dadurch abgewöhnt (auch diese Sorge hat der Vater auf sich genommen), daß er durch jeden Versuch, sein Leben selbst bestimmen zu wollen, sich schließlich Leiden und Verschuldung zuzieht. Heil dem, der so weit ist, daß er schon unter Armut und Schuld leidet! Er ist dem seligen Ende seiner Entwicklung nahe; er kann, wenn er es wagt, in die Seligkeit hineinspringen, – und der Vater wird ja wohl dafür sorgen, daß er diesen Sprung einmal wagen muß! Heil auch dem, der noch nicht so weit ist, der noch in vermeintem Reichtum und vermeinter Gerechtigkeit sich selbst fühlt! Auch er, der jetzt nach Seligkeit noch gar kein Bedürfnis hat, soll und wird selig werden: wie könnte das der Vater anders wollen, der doch auch sein Vater ist? Aber er ist auf dem Wege zur Seligkeit noch eine Station zurück, – worüber ihn Jesus aufrichtig bedauert. Doch wird er ja gewiß einmal sich arm und schuldig fühlen (der Vater wird schon dafür sorgen!), und dann wird auch er selig werden wollen, wird den Sprung in die Arme des Vaters wagen. Heil darum allen, allen!
So darf der Mensch das Leben verstehen, das er einfach passiv erlebt. Und daß er es so verstehe, ist für Jesus die Hauptsache. Aber darin liegt zugleich offenbar eine bestimmte Auffassung des Lebens, sofern es der Mensch doch immer auch aktiv zu leben hat. Versuchen wir diese Auffassung des menschlichen Tuns zu entwickeln, nicht indem wir einzelne Aussagen Jesu zergliedern und verbinden, sondern indem wir uns zutrauen, aus einem einfachen Gedanken eine einfache Folgerung abzuleiten.
Indem der Mensch zu diesem Verständnis des Lebens gelangt, erkennt er zugleich, die Vergangenheit betreffend, daß alles, was er bis dahin sich und andern an »Gutem« und »Bösem« zufügte, nicht sowohl seine als Gottes Tat war. Der Vater läßt sich natürlich die Sorge für seine Kinder, deren er allein fähig ist, niemals aus der Hand entwinden. Er überläßt nie ein Kind ganz sich selbst, überläßt noch weniger ein Kind dem andern je zu beliebiger Behandlung. Was ein Kind von dem andern materiell erleiden, was also ein Kind dem andern materiell antun kann, ist von dem Vater festgestellt. Glaubte ich jemand zu schaden, so war das ein Wahn; wollte ich jemand schaden, so war es eine Lächerlichkeit. Ich wollte etwas, was gar nicht in meiner Macht stand! Daß ich meinen Willen durchsetzte, war nur ein Schein! Mit dem Nutzen verhält es sich natürlich ebenso. Also habe ich, was die Vergangenheit betrifft, mit keinem Menschen über Nutzen und Schaden, den wir uns etwa zufügten, abzurechnen. Ich habe mich mit den Menschen nur darüber nachträglich zu verständigen, wie sich's mit diesem Nützen und Schädigen eigentlich verhält.
Was Gegenwart und Zukunft betrifft, so ist die Sorge (für sich selbst und für andere) ebenso unmöglich, wie überflüssig. Die materielle Sorge für das Leben seiner Kinder hat sich nun einmal der Vater vorbehalten. Also gibt es einen Zwang zur Arbeit, für sich und für andere, nicht. Ich weiß ja doch nie, was bei meiner Arbeit als wirklicher Ertrag für die Erhaltung und Beglückung des eigenen und fremden Lebens herauskommt! Also ist es namentlich ein leerer Wahn, daß ich mit andern in einem Kampf ums Dasein zu stehen glaube. Der Vater wird es doch nicht darauf ankommen lassen, daß die Kinder sich das Brot vom Munde wegschnappen müssen! Er ist reich genug, alle zu versorgen. Und der Vater wird doch dafür Sorge tragen, daß keinem Kinde von dem andern wirklich das Brot vom Munde weggeschnappt wird! daß das, wo es zu geschehen scheint, auch nur ein bloßer Schein bleibt! Wer den Schein durchschaut hat, wird den sogenannten Kampf ums Dasein nicht mehr tragisch nehmen, wird sich namentlich nicht mehr mit dem üblichen tragischen (vielmehr tragikomischen) Ernste daran beteiligen.
Damit ist die Sorge als Motiv der Arbeit außer Kraft gesetzt.
Und damit ist die Möglichkeit geschaffen, daß sich der natürliche Zug des Menschen zum Menschen als seinem Blutsverwandten geltend macht. In dem Konkurrenten den Bruder zu erkennen ist ein Ding der Unmöglichkeit, – wie es ein Ding der Unmöglichkeit ist, in dem Gespielen den Bruder zu verkennen. Das ist aber das menschlich reale Verhältnis, das die Kinder des Vaters, der schließlich alles selber besorgt, unter sich allein haben können: daß sie Gespielen sind. Mag der Vater der Stellung des einzelnen Kindes im Hause eine ernstere Bedeutung zubestimmen (deren wirklichen Ernst doch nur Er ganz verstehen wird): unter sich sind die Kinder, eben weil der Vater alles Ernste letzlich selbst besorgt, nie mehr, nie weniger als Gespielen. Jede höhere Bedeutung, die sie sich unter sich zuschreiben möchten, die eine ernste Konkurrenz verursachen könnte, ist hohle, kindische Wichtigtuerei.
Ist die Sorge als Motiv zur Arbeit außer Kraft gesetzt, so kann sich ferner die freie Lust zur Tätigkeit im Menschen entfalten. Und wer möchte nicht etwas schaffen? Welche höhere Freude gibt es für den Menschen als zu schaffen? Auch hat der Vater dem menschlichen Schaffen einen gewissen Ernst eingeräumt, indem er, was er besorgt wissen will, gerne durch die Kinder besorgen läßt, ohne sich doch je von der Willigkeit der Kinder abhängig zu machen. Daß die Tätigkeit des Menschen Sinn gewinne, hängt natürlich davon ab, daß sie mit dem Sinn des Vaters, der unbedingt sich durchsetzen wird, übereinstimmt. Wie auch die Beziehungen, die die Kinder als Gespielen unter sich anknüpfen, nur dann Sinn und Bestand haben werden, wenn sie mit dem Sinn des Vaters übereinstimmen.
Das gibt dem Leben des Menschenkindes den Ernst, der doch nie gar zu ernsthaft genommen werden darf. Den wirklichen Ernst des Daseins nimmt ja der Vater ganz und gar auf sich. Die Wahrheit des Menschenlebens ist, im Tun wie im Leiden, jene undefinierbare Mitte zwischen Spiel und Ernst, die uns an der echten Kindlichkeit entzückt. Der Mensch ist ja auch Kind, und wird nie mehr als ein Kind.
Jesu Auffassung des aktiven Lebens ist übrigens, wie ich sagte, die einfache Folgerung aus seinem Verständnis des Lebens, das von dem Menschen erlebt wird. Ich kehre daher zu diesem, als seinem eigentlichen Evangelium, zurück und frage: hat Jesus sein Evangelium wirklich so verstanden?
Ich weiß das nicht. Aber ich wage zu behaupten, daß Jesus es ursprünglich gar nicht anders verstehen konnte, wenn er sich doch berufen glaubte, wirkliches Evangelium zu verkünden. Soll seine Seligpreisung der Leidenden die Verheißung einer Bevorzugung, seine Wehe über die Glücklichen die Androhung einer Bestrafung durch Gott bedeuten: so löst Jesus nicht das Rätsel des Schicksals, sondern stellt nur die gemeine Auffassung des Lebens zur Abwechslung einmal auf den Kopf. Und sollte Jesus darin richtige, erquickende Vaterliebe gesehen haben, daß Gott die Laune, womit er Armut und Reichtum, Gesundheit und Krankheit, Neigung zum Ausschweifen und Sinn für den gebahnten Weg der Sitte verteilt, durch eine richtige Bosheit krönt, indem er die, die sich bevorzugt glauben, vielmehr um das höchste Glück betrügt? Eine solche Albernheit traue Jesu zu, wer mag; ich halte mich daran, daß er Evangelium verkünden wollte, und was ich von ihm zu hören glaube, ist eine wirkliche frohe Botschaft für alle – auch die Satten, auch die Gerechten.
Das freilich muß ich zugeben, daß Jesus diese Auffassung seines Evangeliums nicht ausdrücklich entwickelte, daß er ihr öfters scheinbar (meinetwegen auch wirklich) widersprach.
Denn seine meisten Reden enthalten nicht eine freie, gerade Darlegung seiner neuen Deutung des Lebens, sondern sind als ein Versuch zu betrachten, sich aus den überlieferten Anschauungen seines Volkes heraus zu verstehen, sich in die jüdischen Gedanken über Gott und Welt hineinzulegen. Für das Verständnis seiner weiteren Geschichte kommt hauptsächlich folgendes in Betracht.
Dem damaligen Juden war sein Gott der personifizierte Vertrag. Israel ist Gottes Volk; Gott Israels Gott. Dieses Verhältnis beruht auf einer historischen Abmachung: »Du sollst mein Volk sein, und ich will Dein Gott sein«. Daß Gott dieser Abmachung getreu geblieben ist, darf nicht bezweifelt werden, obgleich Israel noch nie die Rolle unter den Nationen spielte, die dem Volke Gottes zukäme. Israel ist eben seinerseits den Vertragsbedingungen niemals ganz pünktlich nachgekommen! Deshalb muß Israel allen Eifer dran setzen, bis ins kleinste Detail festzustellen, was Gott von seinem Volke vertragsgemäß verlangen kann, und die Erfüllung dieser Gebote Gottes einzuüben. Ist es seiner Verpflichtung ganz gerecht geworden, so wird Gott nicht säumen, das Seine zu tun: er wird seinem Volke durch seine Macht die gebührende Stellung an der Spitze der Völker verschaffen, und Israel wird unter einem Idealkönige in idealem Glück leben, getreue Gesetzeserfüllung reichen Lohn empfangen.
Nach Jesu Empfinden kann Gott zum Menschen so wenig ein Vertragsverhältnis haben wie zum Vogel und der Lilie. Aber Jesus hatte unter diesen Vorstellungen über Gott und sich denken gelernt, und wenn er sich jemand mitteilen wollte, mußte er sie voraussetzen. Wie verband er nun sein Empfinden mit der jüdischen Auffassung des Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen? Auf die seltsamste, einfachste und – gefährlichste Weise. Er steigert die Verpflichtung des Menschen gegen Gott, die von seinem Volk sehr äußerlich aufgefaßt wurde, durch Verinnerlichung und Konzentration des Gesetzes bis ins Unendliche: der böse Gedanke ist so gut ein Vertragsbruch, der die härteste Strafe nach sich ziehen muß, wie die böse Tat; und erfüllt wird Gottes Gebot nicht durch irgend eine Einzelleistung, sondern durch die Richtigkeit der allgemeinen Gesinnung gegen Gott und den Menschen, durch die Liebe. Somit muß von jedem Menschen vorausgesetzt werden, daß er in unendlicher, stets wachsender Schuld bei Gott steht, die er niemals abtragen kann. Somit ist jeder Mensch darauf angewiesen, daß ihm Gott die Schuld einfach nachläßt. Somit kann Gott sein Verhalten nicht von der Erfüllung der Vertragspflicht seitens der Menschen abhängig machen: er bestimmt es also frei von sich aus, und zwar in freundlicher Weise – als Vater. Jesus verkündet den bedingungslosen Nachlaß der Schuld jedem, der darauf angewiesen zu sein glaubt. Nur verzichtet der Mensch, der diese Freundlichkeit Gottes benützt, damit selbstverständlich auf das Recht, seinerseits irgend eine Schuld, die ein Mensch bei ihm stehen hat, einzuklagen. Läßt er sich beikommen, irgend einen Menschen als Schuldigen zu behandeln, so tritt seine eigene Schuld gegen Gott unmittelbar wieder in Kraft. Damit ist der Gedanke der Schuld aus dem Verhältnis des Menschen zum Menschen ausdrücklich ausgewiesen, aber auch aus dem Verhältnis des Menschen zu Gott tatsächlich ausgefallen. Aber die Schuld bleibt als riesiges Gespenst im Hintergrunde des Lebens stehen. Wer es auf einen andern zu hetzen wagt, wird sofort selbst von ihm erfaßt – mit Recht, sage ich. Wenn aber das Gespenst eben doch einmal wieder berufen ist: wird dann auch sofort ein Jesus da sein, der es zu bannen vermag? Und es ist wieder berufen worden, hat sogar die Maske Jesu anzunehmen gewagt, und wer es wieder zu bannen versucht, muß sich dem Verdachte aussetzen, daß er gegen Jesus kämpfe …
Jesus hat gerade den Armen selig zu preisen gewagt, da er reich werden soll, gerade den Schuldigen, weil er gut werden soll. Da das Leben des Armen und Schuldigen zunächst, für das unmittelbare Gefühl, schmerzlich bleibt, muß ihn Jesus auf ein anderes Leben verweisen, in dem er sich selig fühlen kann. Es lag äußerst nahe, daß Jesu selbst das andere Leben, auf das er verweisen mußte, mit dem idealen Leben, das Gott durch seine Macht seinem Volke einmal verschaffen sollte, zusammenfloß. Wollte er den erlösenden Gedanken des andern Lebens zur Geltung bringen, so konnte er fast nicht anders, als daß er an seines Volkes Hoffnung auf einen anderen Zustand der Dinge anknüpfte. So ward Jesu Evangelium zur Predigt vom »Reiche Gottes«. Eine sehr naheliegende und sehr bedenkliche Einkleidung seines neugewonnenen Verständnisses des Lebens! Denn das »Reich Gottes«, in dem Gottes Wille die alles bestimmende Macht ist, wird erst kommen; Jesu Lebensfreudigkeit beruht aber darauf, daß Gott die dem Menschen selbst unmögliche Fürsorge für das Menschenleben immer schon auf sich genommen hat! Die Hoffnung auf das zukünftige Reich Gottes konnte für den Glauben an den gegenwärtigen Gott sehr gefährlich werden. Jesus selbst sollte das noch zu erfahren bekommen; und indem die Phantasie seiner Gläubigen der Versuchung unterlag, den zukünftigen Idealzustand mit grellen Farben auszumalen, verleitete sie zugleich das Gefühl, mit grauser Wollust in dem Gedanken zu schwelgen, daß die elende Gegenwart doch eben des Teufels sei. Daß aber die Hoffnung auf eine Veränderung der Lebensbedingungen durch die Macht Gottes sich richtete, war außerdem geeignet, den Zusammenhang zwischen Leiden und Seligkeit zu verdunkeln, der doch gerade ins Licht gestellt werden sollte. Die Lösung des Lebensrätsels beruht ja eben darauf, daß das Leiden Sinn bekommt! Welcher innere, erklärende Zusammenhang soll aber zwischen der zu erwartenden Großtat Gottes und der Armut und Schuld des einzelnen Menschen bestehen? Ist es zu verwundern, daß unter den Hörern Jesu bald der Gedanke Macht bekam, Gott werde die bestehenden Verhältnisse einfach umkehren, die Gedrückten erheben und die Stolzen demütigen? daß sie darin die Weisheit und Güte Gottes bewundern zu sollen glaubten? daß sie, als gedrückte Partei, sich dieses Glaubens getrösteten?
Jesus trug das Bewußtsein in sich, dem Menschen den Frieden wiedergewonnen zu haben, bringen zu sollen. War das nicht wesentlich dasselbe, was man von dem zukünftigen Idealkönige des Volkes Gottes erwartete? Jesu scheint in der Tat seine Bedeutung und Aufgabe mit der des verheißenen »Messias« zusammengeflossen zu sein. Und man darf vielleicht geradezu sagen, daß er es wagte, die auf diesen bezüglichen »Weissagungen« zu »erfüllen«. Daß er aber dem König David, dessen rechter Nachfolger der Messias sein sollte, nicht so ganz gleich sah (Jesus hatte weder die Macht Davids noch dessen Willen zur Macht), konnte ihm nicht entgehen. Wollte er sich nun dadurch verständlich machen, daß er die vom Volke geglaubte Verheißung auf sich bezog, so entstand die sehr ernsthafte Frage, ob es ihm gelingen werde, dem doch immer fließenden Messiasideal des Volks seine konkreten Züge aufzuprägen, oder ob er von dem Volke genötigt würde, ein Messias nach dessen Herzen zu werden. Im letzteren Fall wurde er ein politisch-religiöser Abenteurer, wie es deren unter den Juden damals manche gab; im ersteren Fall mußte er den ganzen Messias- und Reichs-Gottes-Glauben zerstören, indem er die Verheißung »erfüllte«. Wer durch Jesu Glauben zum Frieden gelangt war, brauchte keine Machttat Gottes mehr zu erwarten, durch die das Volk Gottes die ihm gebührende Stellung an der Spitze der Nationen erlangen sollte. Wenn nun Jesus mit dem Messias sich verschmelzen, der Christus werden sollte: wer mochte dabei sich in seinem Charakter behaupten? wer mußte seinen Charakter aufgeben? Jesus von Nazareth? oder der verheißene »Sohn Davids«? Wir werfen mit dieser Frage nicht bloße abstrakte Möglichkeiten auf: vielmehr sollte dieses Dilemma die äußere und innere Katastrophe in der Geschichte Jesu herbeiführen.
So ging Jesus denn zu seinem Volke, ihm »Evangelium« zu bringen. Kranken vermochte er, unter der Voraussetzung, daß sie ihm Vertrauen schenkten, vielfach auch Heilung zu gewähren. Der Armut abzuhelfen war er, selbst arm und ohne Macht, natürlich außerstande. In dem »Reiche Gottes« dagegen, dessen Ankunft er zu seiner Person in irgendwelche unbestimmte Beziehung brachte, gab es die Leiden der Armut und Krankheit überhaupt nicht mehr. Was Jesus vorerst gewähren konnte, schränkte sich in der Regel darauf ein, daß Jesus dem Leidenden ein Verständnis seines Leidens eröffnete, das ihn im Leiden ruhig und froh machte. »Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken; … bei mir werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.«
Das war seine gegenwärtige Wirkung: daß er die Menschen über ihr Schicksal, über sich selbst erhob. Die Kraft, womit er das bewirkte, soweit er überhaupt zur Wirkung kam, war nichts andres als die strahlende Wärme seiner Persönlichkeit, die mit seiner eigenen Beseligung bei Gelegenheit der Taufe in ihm frei geworden war. Vorurteilslos, wie die Sonne, sandte er (wenigstens innerhalb seines Volkes) seine Strahlen allen zu, Armen und Reichen, Ungelehrten und Gelehrten, Bösen und Guten, alle blendend, selbst durch nichts zu blenden. Er redete, handelte wie einer, »der Vollmacht hat«; aber die Macht seiner Rede war die Macht des sanft eindringenden, ausweichenden, belebenden Regens; der Nachdruck seines Handelns war die zähe Kraft einer nie sich erschöpfenden Liebe. Und in allem war er Mensch – dem Einfältigsten verständlich, dem Gebildetsten ein Rätsel.
Was Wunder darum, daß er leidenschaftliche Bewunderung entzündete! In Massen zogen die Menschen ihm nach, seinem Worte zu lauschen. Männer verließen ihr Gewerbe, sich in seinen Dienst zu stellen. Frauen beneideten die Mutter, die einem solchen Sohn hatte das Leben geben dürfen – und die nur selbst, wie es scheint, ihres herrlichen Sohnes nicht recht froh werden konnte! Er aber besaß die Größe, die überschwenglichste Begeisterung als sachlich berechtigt zugleich hinzunehmen und an sich abgleiten zu lassen. Ja, in ihm war der Menschheit geschenkt worden, was viele Geschlechter ersehnt hatten; das wußte er selbst am besten, – aber was ging das ihn »persönlich« an? Und so konnte er in großartiger Unbefangenheit die Bewundernden selbst zu seinem Anblick beglückwünschen.
Wie ein glänzendes Gestirn ging er an dem nächtlich dunkeln Himmel seiner Zeit, seines Volkes auf, mit rasch auflodernder Freude begrüßt, von gierigen Erwartungen verfolgt. Aber er sah bald selbst, daß der Kreis der Menschen, auf die er wirklich wirksam werden konnte, in Wahrheit sehr eingeschränkt war. Da er, wenigstens in seinem regelmäßigen, gegenwärtigen Wirken nicht Befreiung vom Druck, sondern nur frohen Sinn unter dem Druck geben konnte, war sein Evangelium in Wirklichkeit nur für solche eine wirklich, sofort erfreuliche Botschaft, die bewußt litten, die durch das Leiden schon so gereift waren, daß sie die Freiheit unter dem Druck zu schätzen wußten. Wer nur in der Befreiung vom Druck eine wirkliche Hilfe sehen konnte, also darnach mit leidenschaftlicher Ungeduld verlangte, mußte bald entdecken, daß er bei ihm seine Rechnung nicht fand. Seine Sorge überließ Jesus, als dem Menschen nicht zustehend, mit einer den Schein der Gleichgültigkeit nicht scheuenden Geduld und Zuversicht dem Vater, der sich die Bestimmung über das Leben des Menschen vorbehalten hat. Wer überhaupt noch nicht bewußt litt, konnte, mußte eine Zeit lang den stillen und doch majestätischen Glanz seiner Erscheinung bewundern (falls ihm der Neid nicht auch das unmöglich machte), sich aber, wenn er ihn genugsam besehen, kühl von ihm abwenden.
So mußte bald eine Scheidung unter seinen Bewunderern eintreten. Sie hätte sich wohl in der Stille vollziehen können, wenn Jesu Existenz nicht mit einer Zweideutigkeit behaftet gewesen wäre. So aber wurde die notwendige, wünschenswerte Krisis für ihn zu einer äußern und innern Gefahr.
Das Urerlebnis, in dem Jesu ein neuer, seliger Sinn des Menschenlebens sich enthüllte, hatte ihn tief genug unter das Niveau der Zeit hinabgeführt, darum auch hoch genug über das Niveau der Zeit erhoben, um es ihm innerlich unmöglich zu machen, daß er zum Exponenten der Wünsche seiner Volksgenossen werde. Jesus verstand nicht sich aus der Hoffnung Israels heraus, sondern die Hoffnung Israels aus sich heraus; er verstand nicht sich als den endlich geborenen Messias, sondern die Messiashoffnung als seinen ihm vorauslaufenden Schatten. Es lag ihm der Gedanke ganz fern, daß er die Aufgabe habe, ein überliefertes Ideal königlicher Herrschaft zu verwirklichen, sich also nach einem solchen zu formen, sein Wirken auf die Erfüllung der Verheißung einzurichten. Er war, er lebte, er wirkte, wie er von sich aus war, konnte, mußte. Der halbgläubigen, halbzweifelnden Frage, ob er der sei, der da kommen solle, oder ob man eines andern warten müsse, begegnete er mit dem Hinweis auf seine Tätigkeit, in der er die Aufgabe des Messias bereits erfülle, mit der Warnung: »Selig, wer an mir keinen Anstoß nimmt!« Was konnte denn der Messias anderes tun wollen, tun sollen, als was Er tat? … Jesus war – Heil ihm! – zum Messias der Juden unheilbar verdorben.
So klar dies hervortritt, so deutlich sehen wir aber auch, daß Jesu nächste Freunde ihre Rechnung darauf stellten, er werde das überlieferte Ideal eines Königs nach der Weise Davids erfüllen. Sie hofften, daß das bald geschehen werde; sie wünschten sich einen Anteil an seiner Herrschaft und Herrlichkeit zu sichern. Das hielt sie, neben dem persönlichen Eindruck Jesu, auch an ihm fest.
Es konnte sehr nützlich erscheinen, und war doch noch viel gefährlicher, daß in die Wirksamkeit Jesu auch solche Motive eingriffen. Wurden derartige Hoffnungen und Wünsche endgültig und gründlich enttäuscht, so konnte die Anhänglichkeit in Haß umschlagen; man haßt nichts mehr als den Gegenstand einer als mißverstanden erkannten Begeisterung. Jesus scheint das Mißliche in der Begeisterung seiner Jünger bald gesehen zu haben; er scheint endlich zu der schweren Erkenntnis gelangt zu sein, daß er sich nicht auf einen einzigen ganz verlassen könne.
Daß er den Gedanken einfließen, gewähren ließ, benutzte, er sei gekommen, das verheißene Gottesreich aufzurichten, machte sein Verhältnis auch zu denjenigen Kreisen seines Volkes kritisch, zu denen er eigentlich gar kein Verhältnis hatte. Das waren teils Leute, die nur für Machtfragen und was damit zusammenhängt, Sinn hatten, teils Fromme, die in der Selbstgenügsamkeit dahinlebten, die mit jeder geschäftigen, für unbedingt richtig gehaltenen Frömmigkeit verbunden ist. Die Männer der Macht konnte Jesus nur interessieren, sofern er politisch gefährlich werden konnte. Das war von dem Manne, der Gedrückten den Frieden der Seele bringen wollte, nicht zu befürchten; anders stand es mit dem Prätendenten auf den Thron Davids. War dieser »Thron Davids« für die Machthaber der Juden auch längst eine ganz phantastische Größe geworden, die niemand »in Geschäften« in Rechnung zog, so durften sie doch einen Menschen nicht leicht nehmen, der die unleugbare Kraft besaß, einem politisch-religiösen Traum für eine Weile Leben einzuhauchen. Zu der frommen Selbstgenügsamkeit der eifrigen Juden nahm Jesus bald die ihm allein mögliche Stellung durch das scharfe Urteil, daß ihre Gerechtigkeit für das Reich Gottes nicht genüge. Nun hätten sie es in ihrer Selbstgefälligkeit sehr leicht ertragen können (ob es sie auch immer verstimmen mußte), daß Jesus ihre Gerechtigkeit für ungenügend erklärt hätte, weil sie der Seele den wahren Frieden, dem Leben die rechte Freudigkeit nicht gebe. Und manche hätten ihm das vielleicht in der Stille für sich, manche öffentlich vor dem Volke gern-ungern zugestanden. Anders stand es, wenn ihnen, den Eiferern für Israels Gesetz und Hoffnung, der Anteil an der Zukunft Israels abgesprochen wurde. Das mußte sie empören, zum schärfsten Widerstande reizen; das mußte ihren kritischen Blick darauf lenken, ob Jesus selbst den rechten Eifer für das vorhandene, gegenwärtige Heiligtum Israels, das Gesetz, habe. Und Jesus, der aus dem Geiste des Gesetzes zu leben sich bewußt war, hatte keine Zeit und kein Interesse dafür übrig, sich den Ruf der Gesetzestreue zu sichern. Er hätte sich ja auch nur um einen Schein bemüht: denn seine Gesetzestreue war anderer Art als die der Schriftgelehrten und Pharisäer.
So ward Jesus politisch verdächtig, ward in einen kirchlichen Kampf verwickelt, ward aus einem Sämann ein Streiter.
Darin lag für ihn auch eine innerliche Gefahr.
Jesus hatte gelernt, die selig zu preisen, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten (natürlich, weil sie nach ihrem eigenen Bewußtsein eben nicht gerecht sind); er hatte verstanden, daß die Sünde, zum peinlichen inneren Zwiespalt geworden, die mächtigste Triebkraft in der Entwicklung des Menschen ist. So hatte er jeden Ekel vor der Sünde überwunden. Wo aber die Sünde noch nicht zum schmerzlichen inneren Zwiespalt geworden ist, gerät er selbst in innere Schwierigkeiten.
So redet er von »Hunden«, »Schweinen«, – offenbar Menschen, die noch mit Genuß sündigen. Ihnen soll man das Gute, Edle überhaupt nicht darbieten. Ganz richtig: sie sollen erst elende Hunde, elende Schweine werden. Und indem man darauf wartet, kann man sich darüber Rechenschaft ablegen, warum Gott auch Hunde und Schweine geschaffen hat, – – deren »Vater« er doch auch ist! Oder nicht?
Ganz unverständlich scheinen Jesu (welche Ehre ist das für ihn!) solche Leute zu sein, die in der Selbstgenügsamkeit eines äußerlichen Gottesdienstes Hunger und Durst nach Gerechtigkeit nicht kennen; die vielleicht mit ihrer Frömmigkeit auch weltliche Geschäfte zu machen vermögen; die, weil die Religion auch Gewinn an Geld und Ehre eintragen kann, sogar den Schein einer Frömmigkeit nicht verschmähen, ja suchen, die sie gar nicht haben. Sie schilt er, und zwar mit steigender Leidenschaft, als Heuchler. Sie sucht er schlecht zu machen, in ihren eigenen Augen und in den Augen anderer, – oder: seine Reden, wie sie uns überliefert sind, scheinen von diesem Bestreben beseelt zu sein.
Nehmen wir den bedenklicheren Fall als richtig an, daß diese Reden gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten wirklich so gesprochen wurden, wie sie in unseren Texten lauten, so zeigen sie uns Jesus in einer schweren Gefahr.
Die Frage, ob Jesus mit seinen Vorwürfen gegen die Feinde immer, ob er wenigstens durchschnittlich Recht hat, kümmert mich weniger. Gesetzt aber, seine Vorwürfe waren ganz gerecht, waren sie dann auch notwendig recht?
Wir lernen von Jesus, daß alle relativen Unterschiede innerhalb der Sünde belanglos sind. Darum vermag Jesus jedes Richten anderer kurzerhand als Heuchelei zu charakterisieren. Sollen wir diese richtige Entdeckung Jesu nur auf die Heuchelei selbst nicht anwenden? Freilich ist die Heuchelei die Sünde in zweiter, dritter Potenz: ein unrichtiges Sein und Handeln, das sich für richtig hält, das sich, auch ohne diese Selbsttäuschung, aus Nebenabsichten für richtig ausgibt. In wem aber ist alle Sünde zum schmerzlichen inneren Zwiespalt geworden? Wer hat niemals mit der Frömmigkeit, Sittlichkeit, Nebenabsichten verbunden? Wer hat niemals geschauspielert? Ich wiederhole es: die Heuchelei ist die Sünde in der zweiten, dritten … tausendsten Potenz. Aber ist die Sünde in der Potenz keine menschliche Sünde mehr? … Machen wir die Probe: ob wohl Jesus an den Predigten über die Heuchelei der Pharisäer, die er durch seine Worte veranlaßt hat, seine ungemischte Freude hätte?
Ich weise noch auf einige einzelnen Äußerungen hin, die uns die Angst einflößen, daß sein helles Auge sich je und je trüben wollte.
Daß ihn das gemeine Volk begeistert aufnimmt, während ihn die Gebildeten ablehnen, entlockt ihm noch den frohen Ausruf: »Ich danke Dir, Vater, daß Du dieses verborgen hast vor Weisen und Verständigen und hast es Unmündigen geoffenbart; ja Vater, denn so ist es wohlgefällig vor Dir gewesen.« – Dieser Ratschluß des Vaters hat doch wohl seinen guten Grund; schade, daß Jesus ihn uns nicht gesagt hat. Oder hat er selbst ihn nur gefühlsmäßig empfunden, nicht sich ausdrücklich klar gemacht?
Auch die Empfänglichkeit des gemeinen Volks läßt nach; das bringt ihm ein altes, böses Prophetenwort in Erinnerung: »sie sollen sehend sehen und nichts erblicken, hörend hören und nichts verstehen, auf daß sie nicht umkehren und es werde ihnen vergeben«. – Das also ist die väterliche Absicht Gottes mit seinen Kindern: sie sollen nicht umkehren und es soll ihnen nicht vergeben werden! Läßt sich die Blödsichtigkeit, die Harthörigkeit des Volks wirklich nicht freundlicher deuten?
»Wahrlich, ich sage euch,« ruft er seinen Gegnern zu, »alle Sünden werden den Söhnen der Menschen vergeben werden, auch die Lästerungen, so viel sie lästern mögen; wer aber auf den heiligen Geist lästert, hat keine Vergebung in Ewigkeit, sondern er ist einer Sünde schuldig für die Ewigkeit.« (Die Feinde hatten gesagt – wider ihr besseres Wissen, nimmt Jesus an –, er sei von einem bösen Dämon besessen.) – Was soll das heißen? Daß Gott von einem Menschen unverzeihlich beleidigt werden kann? So daß der Mensch wohl seine Beleidigung zurücknehmen möchte, Gott aber keine Reue mehr gelten läßt? Etwa, weil Gott so hoch steht, daß er von einem Menschen überhaupt nicht beleidigt werden kann? – Sonderbar! –
»Wehe der Welt der Ärgernisse halber; denn die Ärgernisse müssen kommen –, doch wehe dem Menschen, durch welchen das Ärgernis kommt!« – Sonderbar! Die Ärgernisse müssen kommen – sie sind für den göttlichen Haushalt notwendig. Muß denn in der Welt Gottes jemals etwas Unnötiges geschehen? Das wäre doch ein innerer Widerspruch! … Aber dem, durch den sie kommen – kommen müssen, »wäre besser, es würde ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er würde in die Tiefe des Meeres versenkt.« So behandelt Gott seine – Werkzeuge!?
Davon macht Jesus später die spezielle Anwendung auf seinen Verräter: »Ja, der Sohn des Menschen geht wohl dahin, wie von ihm geschrieben steht: wehe aber jenem Menschen, durch welchen des Menschen Sohn verraten wird; diesem Menschen wäre es besser, wenn er nicht geboren wäre.« – Wäre es dann nicht auch von Gott besser, daß er ihn nicht hätte geboren werden lassen? Aber Gott brauchte ihn ja, des Menschen Sohn so dahingehen zu lassen, wie es eben sein mußte. Denn Jesus durfte nicht durch Zufall sterben, mußte durch die Menschen, durch die Sünde der Menschen umkommen, durch Heuchelei, Verdrehung des Rechts, Verrat! Und dem Menschen, durch den er verraten werden muß, wäre besser, daß er nicht geboren wäre! Sonderbar!
Man sieht, daß diese Äußerungen Jesu auf eine neue Abrechnung mit Gott hinzielen. Es ist Jesus etwas Unverständliches begegnet: daß das Leben, das er darbietet, das echte, göttliche Leben, von den Menschen, die seiner so dringend bedürfen, zum Teil als bloße Unterhaltung genommen, zum Teil kühl abgelehnt, zum Teil geradezu bekämpft und verhöhnt wird. Das hatte er sich nicht in Rechnung genommen. Nun hält er sich zunächst an die Menschen, ruft ihnen sein schmerzliches und entrüstetes Wehe zu; – aber er kann es nie ganz vergessen, verleugnen, daß auch hinter diesem Schrecknis Gott steht. Es muß doch wieder in Gottes Rat liegen, daß ihn die Menschen so aufnehmen! – Wer so, wie er, mit Gott lebt, wird schließlich über die Köpfe der Menschen hinweg direkt mit Gott abrechnen müssen.
Es zog sich ein Gewitter über Jesus zusammen. Er sah das: wie nahm er es auf?
Fest stand ihm der Glaube, daß er nicht durch einen tückischen Zufall untergehen könne, ehe seine Stunde gekommen sei. Er hatte von der Bedeutung seines Lebens als eines Ereignisses, als einer Tat, als eines Problems, schon einen zu tiefen Eindruck bekommen, um noch den Zufall zu fürchten. Die herannahende Katastrophe mußte seine Katastrophe werden, eine Tragödie, die seinem Werk, seinem Wesen entsprach.
Fest stand ihm auch der Entschluß, nicht auszuweichen. Wie konnte er auch? Seiner Katastrophe weicht niemand aus. Auch war er unter den Bann des Gedankens gekommen, daß sein Werk ein Opfer brauche, – sein Opfer. Wie er sich diesen Gedanken vermittelte, ist nicht recht deutlich: er soll seinen Tod bezeichnet haben als Lösegeld für viele, als Bedingung der Vergebung ihrer Sünden, als das notwendige Ersterben des Weizenkorns, das Frucht tragen soll … Derartige Notwendigkeiten können von dem Menschen klar geschaut werden, ohne daß sie sich ihm doch in bestimmte Gedanken zerlegten. Ob Jesu auch die Ahnung kam, daß für ihn selbst noch eine letzte, schwere Lektion nötig sei? Wir wissen es nicht. Wahrscheinlich erscheint es nicht.
Als ihm die Notwendigkeit einer Katastrophe feststand, scheint er sich sogar entschlossen zu haben, sie zu beschleunigen. Er ging nicht bloß direkt ins Lager der Feinde nach Jerusalem, er beschloß auch, die Zweideutigkeit seiner Stellung zu der Hoffnung Israels zu durchbrechen. Ein feierlicher Einzug in Jerusalem ließ seinen Anspruch auf die Messiaswürde erkennen, wurde auch so verstanden und zum Teil begeistert, zum Teil feindselig aufgenommen. Damit war etwas unbedingt Notwendiges eingetreten: die Steine hätten ihn endlich als den Sohn Davids begrüßen müssen, meint Jesus, wenn die Menschen nichts hätten merken wollen. Aber die Art seines Einzugs zeigte zugleich den Feinden und den Freunden, daß er ein sehr harmloser Prätendent auf den Thron Davids war. Auch das war wohl von ihm beabsichtigt. Ob sich nicht beides, der hohe Anspruch, den er erhob, und daß er seine Ungefährlichkeit fast zur Schau stellte, in ihm durch den Gedanken vereinigte, daß er, indem er eine Entscheidung erzwang, auch Gott nötigte, aus seiner Reserve herauszutreten und sich offen und machtvoll zu ihm zu bekennen? Ob er nicht also, in aller Unschuld, gewissermaßen Gott »versuchen« wollte? Es ist nicht unwahrscheinlich, daß ihn auch dieser Gedanke bewegte, neben dem andern, daß er mit göttlicher Notwendigkeit den Feinden erliegen, von den Freunden verlassen, verleugnet, verraten werden müsse. Gott konnte ihm ja diese Schrecknisse alle zugedacht haben, damit er ihn, wenn alles schon verloren war, durch eine Hilfe, die gar nicht mehr möglich erschien, als den Seinen legitimiere! Wie anders sollte denn Gott zeigen, daß Er hilft, als indem er das Unmögliche tut?
Es wurde Ernst. So harmlos sich Jesus erwiesen hatte, erschien er den einen doch bedeutend genug, hatte er sich den andern doch verhaßt genug gemacht, daß sie beschlossen, ihn zu beseitigen.
Im Ernst wurde Jesus beängstigend klar, daß er nicht wußte, was er einst sicher zu wissen glaubte: Gottes Ratschluß über ihn. Was wir sonst in seinem Leben nie treffen, außer etwa in der Aufregung nach der Taufe, tritt jetzt ein: das unruhige Schweben auf bloßen Möglichkeiten. »Ist's möglich? ist's nicht möglich, daß dieser Kelch vorübergehe? Muß ich ihn trinken? muß ich nicht?« Diese Fragen kosten ihm blutigen Schweiß, und er findet Ruhe nur in dem Entschluß, jede Möglichkeit als gottgesendet hinzunehmen.
Es kam die schlimmste. Aber die Wirklichkeit des Leidens scheint Jesu Kraft wieder gesteigert zu haben.
Zunächst liefert er den Gegnern mit klarem Bewußtsein den Vorwand zu der tötlichen Anklage auf Gotteslästerung und Rebellion – und fordert dadurch zugleich Gott heraus, offen Stellung zu nehmen: indem er sich direkt als den Sohn Gottes, des hochgelobten, bekennt, der durch übernatürliche Machtentfaltung Gottes zum Herrn Israels, ja der Welt, eingesetzt werden soll. Damit hatte er das Letzte, Äußerste getan, was er tun wollen konnte, in Beziehung auf die Menschen und in der Richtung auf Gott.
Die raffinierte und brutale Grausamkeit, der er sich dadurch preisgab, zerstörte sodann den Nebel, der sein Auge umschleiert hatte: die Peiniger, die feigen, undankbaren Freunde, die rachsüchtigen und heuchlerischen Feinde, der charakterlose Richter, die geschäftsmäßigen Henker, der spektakelfrohe Pöbel, alle, alle wußten ja gar nicht, was sie taten! So rechnet er, schon am Kreuze hängend, mit ihnen endgültig ab durch die schöne, und doch widerspruchsvolle Bitte: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« Muß denn, kann denn »vergeben« werden, was getan wird, ohne daß der Täter sein eigenes Tun verstünde?
Jesus hat nun die Menschen durchgeschaut, hat sie dadurch weggeschaut: er hat es jetzt bloß noch mit Gott zu tun. Wußten die Peiniger eigentlich nicht, was sie taten, so wußte es doch Gott; wollten die Peiniger eigentlich nicht, was sie taten, so wollte es doch Gott. Warum tat ihm Gott solches an? Vielleicht, um seine Macht desto herrlicher, unwidersprechlicher an ihm zu offenbaren! Aber die Kraft Jesu zerrann, und der Himmel blieb verschlossen; keine himmlische Stimme legitimierte den Gotteslästerer als Gottes geliebten Sohn, keine lichte Wolke senkte sich nieder, ihn als irdisch-himmlischer Thron aufzunehmen … Da tat Jesus mit seiner letzten Kraft etwas, was er nicht gewollt, was er bis dahin als wirkliche Gotteslästerung gewaltsam von sich weggehalten hatte: er nahm, menschlich klein und menschlich groß, sein verzagendes Herz in beide Hände und fragte ihn, den Entsetzlichen, der das zuließ, der das wollte: »Warum? Warum hast Du mich verlassen??«
Vielleicht waren dies überhaupt Jesu letzte Worte; vielleicht hat er darauf noch gesagt: »Es ist vollbracht«, vielleicht verscheidend noch gerufen: »Vater, in Deine Hände befehle ich meinen Geist«. Vielleicht hat er sich nach seinem Tod seinen Jüngern in herrlicher Gestalt lebendig erwiesen. Vielleicht …
Ich finde an allen diesen Überlieferungen gar nichts Merkwürdiges. Sie bekräftigen nur, was mir als allein erträglicher, aber auch wirklich schöner Sinn von Jesu Leben ohnedies feststeht: daß Jesus, nachdem er des Hiob, des Ödipus geringeres Leid schnell repetiert und absolviert hatte, durch neuen, entsetzlichen Druck – das Leiden um der Gerechtigkeit willen – genötigt wurde, Gott wieder, ernsthafter herauszufordern, ihm Rechenschaft abzuverlangen über die Absurdität des Weltlaufs – und daß ihm eine Antwort ward, wie jedem, der sich durch Gott drängen läßt, Gott zur Rede zu stellen.
Und andrerseits sagt mir alles Weitere, was noch von Jesus erzählt wird, das nicht, was menschliche Neugier und Bequemlichkeit freilich gerne wüßte: welche Antwort Jesu auf sein schreckliches »Warum?« wurde. Er hat sie mit sich ins Grab genommen, und das Grab ist auch in diesem Falle seiner bewährten Schweigsamkeit getreu geblieben.