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Ödipus.


1.

Hiob ist in keiner Weise an seinem Leiden schuld. Daß er es sich unmittelbar selbst zugezogen haben könnte (indem er seine Herden, seine Kinder, seine Gesundheit unbedacht einer Gefährdung aussetzte), kommt in der ganzen Dichtung von Hiob überhaupt nicht in Frage. Dagegen wird die Möglichkeit erörtert und entschieden abgelehnt, er könnte sein Leiden mittelbar selbst verursacht haben, durch irgend welche Tat, worauf Gott sein Leiden hätte als Strafe folgen lassen müssen.

Daß Hiob in jedem Sinne des Worts »unschuldig« leidet, erleichtert ihm die Erkenntnis, daß das Leiden nicht als Strafe verstanden werden kann, aber es erschwert uns die Aneignung und Verwertung dieser Erkenntnis.

Hat jemals ein Mensch ganz »unschuldig« gelitten? so, daß er in keiner Weise, weder unmittelbar noch mittelbar, sein Leiden selbst verursachte? Den unmündigen Kindern müssen wir ja solches Leiden zugestehen. Aber das fängt doch sehr frühe an, daß wir dem Kinde sagen können: »du hast es dir selbst zuzuschreiben, daß du zu Schaden, zu Leiden kamst«. Und in Gedanken fügen wir dann gerne hinzu: »darum geschieht es dir auch recht, daß du zu leiden hast.« Dem mündigen Menschen läßt sich bei einigem guten Willen (der uns in diesem Falle selten abgeht) immer nachweisen, daß er dem Leiden wohl hätte entgehen können, wenn er nur da und dort richtiger, besonnener, gewissenhafter gehandelt hätte. Und haben wir diesen immer ersehnten, immer willkommenen Nachweis geliefert, so stellt sich auch sofort der Gedanke – oder doch das Gefühl ein: »eigentlich geschieht dirs recht.« Das unverschuldete Leiden dünkt uns ein höchst beunruhigendes Schrecknis; aber unverschuldetes Leiden gibt es für uns – wenigstens bei andern – fast nicht.

Darum hat Hiob so gut wie umsonst gelebt und gelitten; darum ist die Verurteilung seiner Freunde so gut wie umsonst in »dem« Buche niedergelegt worden! Hiob war leider unschuldig. Wäre er schuldig gewesen, so hätten ja die Freunde Recht gehabt. Der wirkliche Mensch ist aber immer irgendwie schuldig. Also haben in Wirklichkeit die Freunde Recht.

So rächt es sich, daß der Dichter des Hiob nicht wagte, einen Schuldigen die Sache der leidenden Menschheit führen zu lassen. Und doch hat er selbst (vielleicht ohne die Tragweite seiner Worte zu ahnen!) darauf hingewiesen, daß die Schuld das Leiden nicht erklärt, sondern nur zu einem noch viel schrecklicheren Rätsel macht.

Er weiß nämlich ganz gut, wie der Mensch »schuldig« wird. Er läßt seinen »unschuldigen« Hiob ausrufen:

Bei ihm ist Macht und unfehlbarer Plan:
Wer irrt und irre führt, gehört ihm an,
Der Räte läßt entkleidet zieh'n
Und Richter gibt in Torheit hin;
Der Zucht läßt weichen von Regenten,
Und Fesseln schlingt um ihre Lenden;
Der Priester läßt entkleidet zieh'n
Und stürzt die alt Ehrwürd'gen hin;
Der den Beredten Sprache raubt
Und Greisen wegnimmt den Bedacht;
Der Schmach gießt auf der Edlen Haupt
Und schlaff der Helden Gürtel macht;

— — — — — — —

Der Volksbeherrscher sinnlos macht,
Daß sie in Oede pfadlos irren:
Sie tappen lichtlos in der Nacht,
Daß sie im Trüben sich verirren.
Seht, all dies hat mein Aug' geseh'n …

Der Sinn ist deutlich genug. Zum Überfluß aber fragt Hiob anderswo noch:

Wenn ers nicht ist, wer anders sollt es sein?

– der die Erde in Frevlershand gibt, der die Augen ihrer Richter einhüllt.

Der letzte Urheber der »Schuld« ist Gott selbst.

Und dann verbindet Gott mit der »Schuld« das Leiden …

Aber ist damit eine Erklärung, eine Rechtfertigung des Leidens gegeben? Soll der Leidende darin eine Erklärung, eine Rechtfertigung seines Leidens anerkennen, daß er selbst dazu bestimmt wurde, durch seine Schuld sich sein Leiden zuzuziehen? Wie wenn darin nicht vielmehr bloß eine Verschärfung des Leidens läge! Daß er sich, soweit der Zusammenhang der Sache in die Erscheinung tritt, sein Leiden selbst zuzuschreiben hat, gibt den anderen Menschen den willkommenen Vorwand, ihm ihr Mitgefühl zu versagen, gewährt ihnen das Recht, legt ihnen die Pflicht auf, ihn, weil er ja schon im Unglück ist, noch mehr zu quälen (– »wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe« –) … bringt ihn endlich gar in Zwiespalt mit sich selbst. Daß der Mensch erkennt, sein Leiden hätte sich vermeiden lassen, wenn er nur da und dort anders, »richtiger«, gehandelt hätte, zieht bei der geistigen Organisation des Menschen sofort den sehr überflüssigen Wunsch nach sich: »daß ich es doch anders gemacht hätte!« – und dieser törichte, abstrakt verständige, in concreto sinnlose Wunsch verwandelt sich bei der Organisation des Menschen sofort in den Vorwurf: »warum bin ich doch nicht besonnener, besser gewesen!« Die nächste, beste Antwort fällt ihm natürlich zuletzt ein: »weil ich eben nicht gescheit, nicht gut war!« … Und so leidet der Mensch erst recht … Aber sollte darin die Rechtfertigung des Leidens liegen, daß Gott den Menschen auf die raffinierteste Weise mit sich selbst in Zwiespalt bringt, den Druck auf ihn in eine Spannung in ihm verwandelt? … Wird der Leidende diese Erklärung anerkennen?

Auch der Schuldige leidet unschuldig; seine »Schuld« ist nur eine Steigerung, nicht eine Rechtfertigung seines Leidens: das ist das wirkliche Rätsel des Menschenloses.

Warum hat der Dichter des Hiob nicht gewagt, uns dies Geheimnis durch einen schuldig Leidenden enthüllen zu lassen? Er führt uns ja bis an die Pforte desselben: warum hatte er sie nicht überschritten? Graute ihm doch davor, der Entrüstung, der Wut seine Zunge zu leihen, die den »Schuldigen« ergreifen muß, wenn er hinter das Geheimnis seiner »Schuld« kommt? wenn er entdeckt, daß der, von dem er sein Leiden als gerechte Strafe für seine Verschuldung hinnehmen soll, der eigentlich und einzig »Schuldige« ist? Fürchtete er, daß ihm die Stimme versagen werde, wenn er Gott mit majestätischer Ironie dem unter seiner Schuld, über seine Schuld tobenden Menschen die Antwort geben ließ – die einzige, die er ihn geben lassen konnte: »Willst Du mich nicht vielmehr bewundern, wie fein ich das gemacht habe?« …

Dem sei, wie ihm wolle: er hat es nicht gewagt, das »schuldige« Leiden in dasselbe grelle Licht zu stellen wie das »unschuldige«. Und kein Jude hat das gewagt, obgleich der Jude wußte, daß »Gott« nicht bloß jegliches Unglück bewirkt, sondern auch den Menschen versucht, verblendet, verstockt. Seinem Gotte das nachzusagen, hatte der Jude noch Mut genug; seinen Gott durch den Betroffenen selbst ins Gesicht hinein fragen zu lassen: »warum hast Du mich verwirrt, verblendet, verstockt?« – das war ihm zu viel! Einer der Mutigsten seines Glaubens schnitt diese Frage doch mit der Gegenfrage ab: »Wer bist denn du, o Mensch, daß du Gott zur Rede stellen willst?« Hatte auch für ihn Hiob umsonst gelebt? Hatte ihn Hiob nicht zu lehren vermocht, daß Gott von dem Menschen zur Rede gestellt sein will?

Machen wir aber der jüdischen Frömmigkeit keinen zu großen Vorwurf daraus, daß sie diese Frage an »Gott« nicht zu richten wagte: der griechische Dichter, der dem schuldig Leidenden zum Worte verhalf, genoß des Vorteils, daß er keinen persönlichen Herrn der Welt, sondern nur ein unpersönliches Schicksal für die Schuld des Menschen verantwortlich machen mußte. Das hat dann freilich des Ödipus' Leidenschaft weit unter die Hiobs herabgestimmt, während Ödipus doch tausendmal mehr Ursache hat, über Mißhandlung zu klagen. So sehr das zu bedauern ist, so dankbar müssen wir doch Sophokles sein, daß er die böseste Seite des Menschenlebens uns sorgsam aufdeckt und »ohne Falsch« zu deuten sucht.

 

2.

Laios, der Sohn des Labdakos, König von Theben, wurde, da er sich Kinder wünschte, von dem Orakel zu Delphi gewarnt, sein Sohn werde den Vater töten, die Mutter heiraten, das ganze Haus tief in Schuld und Blut stürzen. Dennoch wird Ödipus geboren. Die Eltern glauben das Schicksal dadurch zu umgehen, daß sie das Kind auf dem Kithäron aussetzen. Aber es wird durch das Mitleid eines Hirten gerettet, kommt zu dem Könige Polybos von Korinth, wird dort als dessen eigener Sohn erzogen und wächst zu einem schönen, kräftigen, stolzen, tatendurstigen Jüngling heran. Durch die Schmähung eines Gespielen über seine Herkunft unsicher geworden, wendet er sich an das Orakel zu Delphi, das ihn aber nur vor Vatermord und Blutschande warnt. Also beschließt er, Korinth zu meiden, das er doch für seine Heimat hält, und schlägt den Weg nach Theben ein. Auf dem Wege trifft er mit Laios zusammen, der ihn übermütig behandelt; da erschlägt er ihn mit allen seinen Begleitern bis auf einen, der entrinnt. Auf dem weiteren Wege nach Theben kommt er zur Sphinx, die jeden tötet, der nicht ihr Rätsel löst, die dadurch schon lange die Thebaner geängstigt hat. Ödipus löst ihr das Rätsel des Menschen, worauf sie sich selbst in einen Abgrund stürzt. Als Retter aus großer Not in Theben freudig begrüßt, gewinnt er mit dem erledigten Throne (der König war auf dem Wege zum delphischen Orakel »von Räubern« erschlagen worden) als würdigster Nachfolger zugleich die Hand der verwitweten Königin Jokaste. Lange Jahre herrscht er zum Segen des Landes und erzeugt mit Jokaste zwei Söhne und zwei Töchter. Da wird von den Göttern eine schwere Pest gesendet. Der Landesvater wendet sich an das Orakel um Rat und erhält die Weisung, alte Schuld endlich zu sühnen, den Mord des Laios, der noch auf dem Lande laste. Mit heiligem Eifer wendet er sich dieser seiner Herrscheraufgabe zu, verpflichtet alle Bürger unter Androhung schwerer Strafe, ihm bei der Aufsuchung des Mörders behilflich zu sein, und verhängt über den unbekannten Frevler zum voraus den schrecklichsten Fluch. Sein Bemühen ist nicht umsonst. Er entdeckt den Mörder – in sich, und entdeckt in sich zugleich den Gemahl seiner Mutter, den Bruder seiner Kinder. Sein Fluch fällt auf ihn selbst zurück. Von Entsetzen vor sich selbst erfaßt, erhängt sich Jokaste, sticht sich Ödipus die Augen aus. Kreon aber, der eigene Schwager, der ihm einst den Königsthron und die Hand der Jokaste angetragen, das Volk, das er von der Sphinx befreit, dem er Jahre lang gedient, die leiblichen Söhne stoßen ihn aus dem Vaterlande hinaus, um nicht von dem Fluche mitbetroffen zu werden, der ihn verfolgt. Nur von der Tochter Antigone geleitet, irrt er als blinder Bettler in der Fremde umher.

* * *

Ödipus, dem von der Sphinx das Rätsel des Menschen aufgegeben wird, ist selbst das personifizierte Rätsel des Menschen. Es lastet auf dem Menschen der Schicksalsbeschluß, daß er im Kampf der Selbsterhaltung, in der Sehnsucht der Liebe dem eigenen Blute zu nahe tritt. Unter der Ahnung so grausen Loses wird er erzeugt; von der Angst vor seinem Geschick verwirrt, erfüllt er es mit unheimlicher Sicherheit, und erfüllt auch den Teil seines Geschicks, daß er es als seine Tat an sich selbst rächen muß. Denn auch das ist ein Teil des Schicksals, das über ihn beschlossen ist. – Das ist das Los des Menschen.

 

3.

Der Mensch wird in zwei charakteristischen Formen »böse«: durch widernatürlichen Zwist, und durch widernatürliche Verbindung.

Durch widernatürlichen Zwist: ach, und nicht nur durch den und jenen Zwist mit dem Vater, dem Bruder, sondern durch jeden Kampf mit jedem Menschen, ja mit jedem Lebewesen. Denn alle Menschen, alle lebenden Geschöpfe sind Ein Geschlecht: der Mensch kann überhaupt nur den eigenen Vater, Bruder erschlagen, kann sich nur von dem gemeinsamen Fleisch und Blut nähren.

Durch widernatürliche Verbindung: in jedem Weib ist es doch immer nur die Mutter, die Schwester, die Tochter, mit der der Mann sich verbindet; in jedem Mann ist's der Sohn, der Bruder, der Vater, mit dem das Weib sich verbindet! Alle Ehe ist ein »Zu-nahe-treten«; – für den, der überhaupt Gefühl hat, ist das fühlbar; jede nachfolgende leichte Differenz macht es fühlbar. Aber die Ehe ist nur ein Symbol jeder wirklichen »Verbindung« von zwei Menschen: der Mensch kann dem Menschen überhaupt nicht nahe treten, ohne sich und dem andern zu nahe zu treten. Jeder innigen Berührung zwischen zwei Menschen folgt diese unbehagliche Empfindung nach, in jedem, der überhaupt empfindet.

Und das ist ein Verhängnis, das über dem Menschen lastet, ein Verhängnis, dem er unentrinnbar verfallen ist.

Oder meinet ihr, daß der leider nur zu wahre Kampf aller gegen alle auf der freien Bosheit der einzelnen Menschen beruhe? Der Mensch muß leben (» je n'en vois pas la nécessité«, soll ein französischer König gesagt haben, der die Notwendigkeit seines eigenen Daseins wohl auch nicht sah, und trotzdem selbst auch leben mußte), muß essen, muß Luft und Licht haben, kann gar nicht genug Nahrung, Luft und Licht haben, … und der Mensch muß sich aus der Macht, aus Besitz und Ehre, einen Götzen bilden, der ihm alles heilig spricht, was zu seinem Dienste gehört … Der schrecklichen Notwendigkeit zu fressen entgeht der Mensch nur durch den Tod und wird deshalb auch, wenn er ihr entstorben ist, immer wie ein Gespenst mit einer Mischung von Neugier und Grauen betrachtet.

Oder meinet ihr, daß es in der freien Boshaftigkeit oder Tugendhaftigkeit liegt, daß sich der Mensch mit dem Menschen, daß sich der Mann mit dem Weibe zum Unglück oder zum Glück verbinde? – Der Einzelmensch ist zur Persönlichkeit zu wenig und zu viel; er leidet immer zugleich an Lebensmangel und Lebensüberfluß; er kann sich für sich allein weder sinnlich noch geistig ausleben, noch zu einem gesicherten Genuß und einer sicheren Schätzung seiner selbst gelangen. So entsteht in dem Menschen mit unmittelbarer Notwendigkeit ein leidenschaftliches Verlangen, in Lebensaustausch mit anderen einzutreten, insbesondere die unbezwingbare Sehnsucht nach dem Wesen, mit dem er zu der erst vollständigen, sinnlich-geistigen Doppelpersönlichkeit verschmelzen kann. So sehnt sich, so sucht also der Mensch nach dem Freunde, nach der Genossin. Aber aller Lebensaustausch, und noch mehr die Verschmelzung zu Einer Persönlichkeit, ist an geheimnisvolle, strenge Bedingungen geknüpft, die – durch eine seltsame Einrichtung des Schicksals – dem Menschen erst durch den Versuch offenbar werden. Oder wartet etwa das Verlangen, bis die Hoffnung wirklichen Lebensaustausches, völliger Verschmelzung zur Gewißheit werden könnte? Diese Vorsicht dünkte dem gütigen Schöpfer so überflüssig, daß er die entgegengesetzte Einrichtung für viel zweckmäßiger hielt. Nur indem du Vertrauen schenkst, kannst du dich von der Vertrauenswürdigkeit deines Freundes überzeugen. Und namentlich lernen sich Mann und Weib erst durch die unbedingte Hingabe wirklich kennen. Was sie vorher über einander denken, im allgemeinen und im besondern, ist immer mehr oder weniger freie, leere, luftige Phantasie. Also kann Lebensaustausch, Lebensverschmelzung immer nur als mehr oder weniger unsicherer Versuch gewagt werden. So hat es das Schicksal bestimmt. Und dann hat das Schicksal weiter bestimmt, daß der mißglückte Versuch, der an objektiven, im Wesen (nicht im Willen!) der Beteiligten liegenden Bedingungen scheiterte, als brennender Schmerz empfunden wird: man hat sich verraten, man hat sich bloßgestellt, man hat sich weggeworfen! Denn der Mensch als sinnlich-geistiges Wesen, ist für sich ein Geheimnis, das er nur seinem andern Ich öffnen kann, – und daß er es einem andern öffnet, kann ihm erst den Beweis bringen, daß er sein anderes Ich gefunden hat! Und die Bedingungen dafür, daß zwei Menschen sich gegenseitig als das andere Ich empfinden, sind so streng, so kompliziert, daß dieser erwünschte Erfolg der Annäherung, der Aufschließung nur als seltener, glücklicher Zufall betrachtet werden kann. In der Regel wird das Nahetreten ein Zunahetreten! Es soll es werden – das ist Schicksalsbeschluß.

Ganz allgemein:

Der Mensch muß leben. Und für den einen Menschen ist der andere, ganz objektiv, unabhängig von seinem Sinn und Willen, einerseits Hindernis, andrerseits Mittel, sich auszuleben. Der Mensch kann dem gar nicht entgehen, daß er den andern als solches behandelt. Als Hindernis und Mittel fremden Lebens behandelt zu werden, empfindet aber die menschliche Persönlichkeit als Mißhandlung. Also: der Mensch muß den Menschen mißhandeln. Darauf ist sein Leben angelegt.

 

4.

Und Schicksalsbeschluß ist es, daß diese notwendige Versündigung von dem Menschen »frei« vollzogen wird, als »Schuld«.

Dasselbe Orakel, das des Ödipus Untaten vorausverkündigt, warnt ihn auch davor. Und zwar so, daß ihm damit in gar keiner Weise geholfen ist, – wie ihm ja auch nicht geholfen werden soll: denn er soll schuldig werden. Ödipus möchte seine Eltern erfahren. Darüber bekommt er keine Auskunft; aber er soll sich vor Vatermord und Blutschande hüten. Diese Mahnung ist nicht deutlich genug, daß er bei Verfolgung der allgemeinen, ihm wie jedem aufgenötigten Lebenszwecke auf Vater und Mutter gebührende Rücksicht nehmen könnte, und gerade deutlich genug, daß er sich nachträglich Vorwürfe machen kann, er habe sich nicht gebührend in acht genommen. Er hätte ja den Laios, hätte die Jokaste erst fragen können, ob sie nicht einen Sohn als unmündiges Kind verloren haben. Freilich, Laios hätte ihm zu dieser Frage schwerlich die Zeit gelassen, Jokaste ihm schwerlich eine offene, richtige Antwort gegeben! Aber auch er dachte ja gar nicht daran, die doch so naheliegende Frage zu stellen – und so ist erreicht, was überhaupt erreicht werden soll: er hat das Schreckliche »frei« getan; er hat sich eine »Schuld« zugezogen; er kann sich nachher nach Herzenslust Vorwürfe machen!

Daß die Menschen sich notwendig als Hindernis und Mittel des Lebens behandeln, d. h. mißhandeln müssen, nötigt sie auch dazu, sich durch Recht und Sitte gegeneinander zu sichern. Der einzelne wird durch das bestehende Recht, die bestehende Sitte, die bestehende Religion früh genug gewarnt, dem Nächsten nicht zu nahe zu treten. Wenn nur diese Warnung auch wirklich etwas hülfe! Aber macht sie einen tieferen Eindruck, so ist's nichts; macht sie keinen tieferen Eindruck (ganz kann sie niemand von sich abgleiten lassen: sie ist ja so offenkundig richtig!), so ist's auch nichts. Der Mensch kann dem gar nicht entgehen, daß er sich des andern als eines Lebenshindernisses erwehre, als eines Lebensmittels bediene. Recht, Sitte, Religion weisen ihm hierbei die notwendigen Grenzen, zeigen ihm hierfür die erprobten Formen. Und so hält sich denn der Mensch in diesen Grenzen, an diese Formen. Aber ist damit der böse Tatbestand aufgehoben, daß er den andern als Mittel zum Zweck behandeln muß? daß er, im aufgedrungenen Interesse eigener Selbsterhaltung, dem andern die Selbsterhaltung erschwert? daß er, in der aufgedrungenen Sehnsucht nach Lebensaustausch, Lebensgemeinschaft, ihnen zu nahe tritt? Nein! Kein soziales Recht vermag den Interessenkonflikt zwischen den Menschen aufzuheben – und der ist eben das Böse! Kein Eherecht hebt die Möglichkeit auf, daß die Frau, indem sie sich dem Manne hingibt, sich prostituiert – und das ist eben das Böse! Oder wird das Schmerzliche dieser bösen Dinge dadurch gemildert, daß sie sich innerhalb der gesetzlichen Grenzen halten, in den gesetzlichen Formen vollziehen? Nein! Im Gegenteil! Was mich betrifft, so wünschte ich entschieden, lieber durch die rohe Macht als unter den Formen des Rechts weggedrückt oder ausgenützt zu werden. Und eine legitime Prostitution in der Ehe dünkt mir noch viel peinlicher als die illegitime außer der Ehe. Je »sittlicher« das Zunahetreten ist, desto schrecklicher ist es. – Indem das Gesetz Schranken zieht, Formen aufnötigt, läßt es den allgemein bösen Charakter des Lebens unangetastet bestehen. Und es verderbt zugleich den Menschen für sich und für die andern. Es zwingt ihn, sich zu beschränken, sich zu formen. Ein sehr nützlicher Dienst, möchte man sagen. Wie aber, wenn der Adel des Menschen in der Grenzenlosigkeit seines Strebens läge! Darin, daß er gar nicht genug haben, werden, wollen kann! daß er dem andern gar nicht nahe genug kommen kann! Was bedeutet es dann für den Menschen, daß er Beschränkung, Bescheidenheit lernt? Das bedeutet es, daß er sein Erstgeburtsrecht um ein Linsengericht, seine Würde um etwas Behaglichkeit verkauft! Und wenn die rechte, passende Form für den Menschen nur die weiche, geschmeidige Haut wäre, mit der sich das lebendige Fleisch der Leidenschaft selbst überzieht? Was bedeutet es dann, daß er sich in überlieferter, also von außen an ihn herangebrachter Weise, formen läßt, formen lernt? Das bedeutet es, daß er sich entstellt, daß er auf wahre Schönheit verzichtet! Und dadurch wird er zwar glätter für den Verkehr mit den Menschen, also behaglicher für sie, aber nicht anziehender, nicht vertrauter. Oder liegt wirklich darin die Anziehungskraft des Menschen, flößt er dadurch herzliches Vertrauen, sehnsüchtiges Verlangen, wohliges Heimatgefühl ein, daß er immer mit einem Auge nach der Schranke des Gesetzes, auf die übliche Form schielt? Bezaubert uns nicht gerade das an einem Menschen (und in einem Sinne, dessen wir uns nur freuen können), daß er von der Leidenschaft, der Begeisterung dahingerissen werden kann? ohne sich zu verflüchtigen! ohne häßlich zu werden! Wer aber kann noch an Schranken und Formen denken, wenn er dahingerissen wird? Form wird er freilich haben, der von einem hellen, starken Drange Dahingerissene; seine Leidenschaft wird aus sich, wenn sie echt ist, auch die rechte Form erzeugen. Schranken aber sieht er nicht – ja, bis er gegen sie anprallt. Das ist dann böse. Er und andere leiden darunter. Aber steht darum der Mensch, für den wir nie fürchten müssen, daß er gegen eine übersehene Schranke anpralle, unserem Herzen näher? steht er höher? – Macht das Gesetz auf den Menschen einen so tiefen Eindruck, daß es ihn bestimmt, so ist's nichts. Macht es diesen Eindruck nicht auf ihn, so ist's auch nichts. Nicht bloß, weil Recht, Sitte, Religion den Menschen in der äußern Einrichtung seines Lebens als Wirklichkeiten, die sich Nachdruck zu verschaffen wissen, hemmen; nicht bloß, weil das Gesetz durch seine abstrakte, unwahre Auffassung menschlichen Tuns den Zeugen desselben zu einem unmenschlichen Urteil verführt; sondern es dringt immer auch so tief in den Menschen selbst ein, daß es ihn vor sich »schuldig« macht. Ist es zur Wirklichkeit geworden, daß er verletzt hat, zu nahe getreten ist: so zeigt sich ihm nachträglich immer, daß durch Beobachtung dieser Schranke, jener Form die eingetretene Art von Mißhandlung des Nebenmenschen hätte vermieden werden können. Und so hat der Mensch die Schuld auf sich geladen, daß er ohne Not, frei, dem Nächsten ein Leid zufügte.

Das maliziöse Orakel! Warum mußte es Laios und Ödipus überhaupt ihr Schicksal vorausverkünden? Warum konnte es ihnen nicht zugleich erklären, daß an ihrem Geschick weder etwas besonders Schreckliches, noch etwas besonders Häßliches sei? Wenn Laios einmal sterben muß – und er stirbt natürlich nur zu der vom Schicksal bestimmten Stunde –, so ist es doch gleichgültig, ob er unter den Hauern eines wilden Ebers verblutet oder von der Waffe seines Sohnes, der statt des Ebers den Vater trifft, den er retten will! Und wenn es überhaupt eine schöne Aufhebung des Schamgefühls gibt, die zugleich eine Bewahrung, eine Veredelung desselben ist, so kann diese auch zwischen jedem Mann und jedem Weib eintreten, zwischen Mutter und Sohn so gut wie zwischen einem Paar, das sich ganz fremd ist. Nur wird die Aufhebung des Schamgefühls zwischen Mutter und Sohn nicht so leicht schön werden wie zwischen Fremden, kann sich zwischen jenen durch eine tiefere Verstimmung rächen, als zwischen diesen, wird also überhaupt besser nicht gewagt. Ist sie aber vom Schicksal beschlossen, so muß sie geschehen, und dann besser sehend als blind. Warum sagt das Orakel dem Laios nicht solche einfache selbstverständliche Dinge? Und warum warnt es dann den Ödipus vor dem Unvermeidlichen, statt ihm eine Anweisung zu geben, wie er das Unvermeidliche vollbringen solle? Denn das ist doch die einzige wirkliche Frage, die das Unvermeidliche noch offen läßt! Warum wirft das Orakel sie nicht auf? warum gibt es darauf keine Antwort? – Ödipus soll schuldig werden, vor andern und in seinen eigenen Augen schuldig; das soll er …

Die maliziöse Religion! Sie verkündigt dem Menschen, daß er von Gott unter die »entsetzliche Notwendigkeit zu sündigen« gestellt sei ( dira necessitas peccandi), um dann mit Miene und Ton des Biedermanns hinzuzufügen: jetzt hüte dich vor der Sünde! Wenn doch die entsetzliche Nötigung zu sündigen vorliegt: wäre dann die richtige Frage nicht die, wie sich der Mensch mit sich und andern unter diesem Verhängnis einrichten kann? Zu einem Menschen, der mir zu nahe treten muß, habe ich doch ein ganz anderes Verhältnis, als zu einem Menschen, der mir zu nahe treten will! Habe ich einem Menschen zu nahe treten müssen, so habe ich ihm gegenüber doch ein ganz anderes Bewußtsein, als wenn ich ihm habe zu nahe treten wollen! Warum verdunkelt die Religion durch das Verbot der Sünde diese Sachlage? warum erregt sie künstlich den Schein, daß wir uns zu nahe treten, hänge an unserem »freien« Willen? Warum? … Der Mensch soll schuldig werden, er soll schuldig werden: das ist des Rätsels Lösung.

Doch will ich dem maliziösen Orakel, der maliziösen Religion keinen Vorwurf machen. Denn das soll geschehen: sie tun nur, was sie sollen, indem sie bewirken, daß der Mensch mit bösem Gewissen tut, was er tun muß.

 

5.

Endlich muß der Mensch noch – das gehört zu seinem Menschenlose – sein Geschick an sich selbst rächen.

Die Götter geben dem Ödipus durch das Orakel den Auftrag, den Mord des Laios zu sühnen. Die Sache würde zu einfach, zu wenig peinlich, wenn sie ihm den Übeltäter gleich nennen würden. Nein, Ödipus soll ihn selbst erst suchen. Er tut es. Aber mit unheimlicher Sicherheit weisen alle Spuren auf Einen Punkt hin – auf ihn. Endlich hat er ihn – sich. Und über dem Eifer der aufgetragenen heiligen Rache macht es ihm keinen Eindruck mehr, daß er alle seine Missetaten seiner Zeit je als das Rechte beging. Er ist konsequent, gerecht, grausam genug, sich selbst zu blenden.

Wie wird der Mensch denn zum Sünder? Dadurch, daß er je im Augenblick das Rechte tut. Entweder tut er dies und das, ohne daß ihm überhaupt zum Bewußtsein kommt, daß die sich darbietende Handlung als Eine Möglichkeit erst gegen andere Möglichkeiten abgewogen werden sollte. Was so eindeutig, selbstverständlich sich gibt, muß doch wohl das Rechte sein! Oder sieht er sich vor eine Wahl gestellt, und wählt dann immer das Rechte. Immer! Denn es ist dem Menschen gar nicht möglich, mit Bewußtsein nach dem Unrechten zu greifen. Daß er unter verschiedenen Möglichkeiten eine wählt (vorausgesetzt, daß er eine Wahl zu haben glaubt), wird nur durch den Gedanken vermittelt, ermöglicht, verwirklicht, daß eine der sich darbietenden Möglichkeiten eben das Rechte sei. Im Augenblick der Tat tut der Mensch immer das Rechte, – und wenn er gar die Mutter erschlägt, die Unschuld verkauft, Himmel, Erde und Hölle lästert; und wenn er nur eine Zigarre raucht, einen Schoppen trinkt, der ihm schlecht bekommt.

Im Augenblick des Handelns tut der Mensch immer das Rechte, – selbst wenn er mit zweifelndem, ja mit schlechtem Gewissen handelt. Untersuchen wir, um die Wahrheit dieser Paradoxie zu verstehen, nur den Augenblick der Tat etwas genauer! Stellen wir nur richtig fest, was für den Menschen im Augenblick der Tat das Rechte ist! Das Rechte ist nämlich im Augenblick der Tat nicht die Pflicht, das einfache Sollen, und freilich auch nicht das einfache Wollen, die bloße Nachgiebigkeit gegen die Neigung, sondern ein Sollen, bei dem das Wollen zu seinem Recht kommt, ein Wollen, bei dem das Sollen nicht um sein Recht kommt. Recht gegen Recht: das ist die Situation der Tat. Denn nicht bloß die Pflicht vertritt ein Recht, sondern auch das Verlangen trägt ein Recht in sich. Es entspringt ja nie einem »freien«, luftigen, gleichgültigen Entschluß, sondern einem aufgedrungenen Bedürfnis, unter dem der Mensch leidet, so lange es noch nicht befriedigt ist, das deshalb ein Recht auf Befriedigung hat. Wer einmal Hunger litt, weiß, daß der Hunger ein Recht auf Nahrung ist; wer einmal am Wissensdurst gelitten hat, weiß, daß er ein Recht auf Bildung ist. Darin stehen alle Bedürfnisse, das sinnlichste und das geistigste, sich völlig gleich. Unter dem Druck des Bedürfnisses verlangt der Mensch immer nur sein Recht. Und wenn er nach dem Entsetzlichen verlangt! Denn das ist der character indelebilis des Verlangens, daß es sein Objekt als sein Recht schaut. Recht gegen Recht, das Recht des Verlangens gegen andere, von der Pflicht vertretene Rechte: das ist die Situation der Tat. Und nun soll der Mensch, um zur Tat zu gelangen, den Rechtsstreit zwischen Verlangen und Pflicht entscheiden. Im Hintergrunde des Bewußtseins steht der Glaube, daß die widerstreitenden Rechte sich zugleich befriedigen lassen müssen. Ja, sie müssen! Der Mensch, der das Unrecht als Unrecht wollte, ist ein bloßes Phantom, – jeder Mensch will eigentlich Jedem das Seine geben. Aber er will auch das Seine haben, denn er kann nicht glauben, daß ihm ein Bedürfnis aufgedrungen werde, bloß um nicht befriedigt zu werden, bloß um ihn zu quälen. So sucht denn der Mensch das Rechte, das alle Gerechtigkeit erfüllt, das Recht der Pflicht und das Recht des Verlangens, – vielmehr: das Recht des fremden und des eigenen Verlangens. Denn das allein ist der reelle Kern der Pflicht: daß fremdes Verlangen, als aufgedrungenes, ebenfalls ein Recht auf Befriedigung hat. Die Pflicht an sich, das Gesetz als bestehende Satzung, die Gesetzmäßigkeit als bloße Form des Handenls erweist sich im Augenblick der affektvollen Entscheidung als das, was sie wirklich ist: als ein Nichts, um das sich kein gesunder, verständiger, redlicher Mensch kümmert. Aber indem der Mensch nach dem Rechten sucht, das alle Gerechtigkeit erfüllte, lodert plötzlich das eigene Verlangen oder der sympathetische Reflex des fremden Verlangens mit trüber, qualmender Flamme empor, erfüllt die Szene des Bewußtseins mit Rauch, – und bis die Luft wieder durchsichtig geworden ist und der Mensch sich die Augen reibt, hat er gehandelt, – ist vielmehr durch ihn etwas geschehen: das Verlangen oder die Pflicht hat sich gewaltsam durchgesetzt. Oder erzwingt der Drang der Umstände, daß der Mensch handle, ehe ihm das Rechte unzweifelhaft klar geworden ist, – und so tut er auf Geratewohl, was ihm am nächsten zur Hand liegt, gehorcht der begehrlichen oder pflichteifrigen augenblicklichen Stimmung. Was kann er anderes tun, da er doch handeln muß, ohne wirklich handeln zu können? Er tut also – das Rechte. Oder glaubt er klar zu sehen, wie sich das eigene und fremde Recht in Einer Tat vereinigen lassen, und tut sie also, als das Rechte.

Handelt der Mensch überhaupt, so tut er immer das Rechte. Denn wenn das vermeinte Handeln nicht bloße Reflexbewegung ist, kann nur der Glaube, das Rechte gewählt zu haben, den Menschen bestimmen, eine der ihm vorschwebenden Möglichkeiten zu verwirklichen. So tut also der Mensch immer das Rechte, – um nachher regelmäßig zu entdecken, daß er das Rechte verfehlt hat. Er ist vielleicht dem Rechte fremden und eigenen Verlangens nicht gerecht geworden, er hat jedenfalls die Pflicht oder die Neigung nicht befriedigt. Eins ist so schlimm wie das andere. Wie es Fabelei ist, was prahlerisch oder neidisch von dem Vergnügen des Sündigens gesagt wird, so ist es auch Fabelei, was man von der Seligkeit der Selbstverleugnung hört. Der Dichter weiß es besser, sagt es ehrlicher:

Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht
Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht –

so wenig, wie die Seele, die fremdes göttliches Recht verweigerte. Der Mensch tut also immer Unrecht, sich oder dem anderen, oft sich und dem andern.

Daran ist nun eigentlich gar nichts Wunderbares. Das Rechte, das alle Gerechtigkeit erfüllte, gibt es innerhalb der Welt der Erscheinung überhaupt nicht. Das Verlangen ist seiner Natur nach unendlich, darum auch seiner Natur nach unbedingt rechthaberisch; die Einrichtung der Welt bringt es mit sich, daß das Verlangen der Menschen sich feindselig begegnet: wer wollte es da fertig bringen, alles Recht, das in dem aufgedrungenen Verlangen liegt, zu erfüllen?

Nun aber legt sich nach der Tat das bestehende Recht, die bestehende Sitte, die bestehende Religion in die Sache und macht, was gar nicht wunderbar war, zugleich trivial und empörend. Berücksichtigt wird dabei fast nur, daß fremdes Recht nicht zu seinem Rechte kam. Dieser Fall wird auf folgende Weise vereinfacht. Die Pflicht, die im Augenblick der Tat nur das im fremden Verlangen liegende Recht ist, wird zu der bekannten, heiligen, abstrakten Pflicht an sich. Das im aufgedrungenen eigenen Verlangen liegende Recht wird vergessen oder geleugnet (das ermattete, erloschene Verlangen vermag es auch nicht mehr geltend zu machen). Damit verblaßt auch die Erinnerung daran, daß der Mensch im Augenblick der Tat das Rechte tat. So bleibt bloß der nackte, allerdings ganz richtige Tatbestand übrig: daß der Mensch tat, was er nicht hätte tun sollen!

Und was doch auch nicht hätte geschehen müssen! Denn war die vollbrachte Tat nicht wirklich bloß Eine Möglichkeit unter vielen? Hätte man nicht ebenso gut eine andere wählen können? jene, die ganz unverkennbar das Rechte ist! Natürlich hätte man können! Mit derselben Sicherheit, womit der Mensch aus der vor der Tat bestehenden Wirklichkeit heraus die Möglichkeit, die er wählte, als das Rechte erkannte (oder eine Möglichkeit als das Rechte erkannte, weil er sie wählen mußte): mit derselben Sicherheit erkennt er aus der durch die Tat geschaffenen Wirklichkeit heraus, daß er eine andere Möglichkeit wählte, als die er wählen sollte, also auch wählen konnte.

Und so bekommt der arme Sünder einen heiligen Zorn über sich, daß er so sein konnte, – ja wie denn? dumm? oder schlecht? oder elend? Er weiß es selbst nicht! Aber zerreißen könnte er sich, daß er so war!

Doch übt der Mensch diese heilige Entrüstung immer zuerst an andern ein, und das gerade wird dann sein eigenes böses Verhängnis. An andern nämlich sieht er so leicht, so deutlich, daß sie so nicht handeln durften, wie sie handelten, daß sie gar leicht hätten anders handeln können, – wenn sie nur gewollt hätten. Er soll diesen Bösewichtern, die eben nicht wollen, nur den Prozeß machen! Je leidenschaftlicher er dabei vorgeht, je rücksichtsloser er sie in ihrem Übelwollen bloßstellt, je härter er sie straft: desto mehr reizt er die anderen, auch ihm den Prozeß zu machen; desto mehr Anklagematerial häuft er gegen sich zusammen; desto mehr wird er innerlich genötigt, sich demselben scharfen Gericht zu unterziehen. Und da er jeden anderen mit dem Postulat verdammte, daß nicht hätte sein müssen, was nicht hätte sein sollen, so darf er, so kann er auch bei sich nicht sehen, wie's bei seinen »bösen« Taten eigentlich zuging … und er zerfleischt sich selbst.

Gehen wir, umgekehrt, von dem Satze aus, daß was sein mußte, auch sein sollte, so behaupten wir, daß er damit ganz das Rechte tut, – sich selbst so furchtbares Unrecht zuzufügen. Er führt damit nur eine Bewegung zu ihrem korrekten Ende, auf die der ganze Apparat des menschlichen Fühlens, Denkens, Wollens höchst sinnreich eingerichtet ist: daß der Mensch sich selbst quälen soll.

* * *

Hören wir noch eines der Opfer dieser Einrichtung des Lebens, eines, dem ein Gott gab, zu sagen, was es litt. Zwar scheint ihm nicht recht deutlich geworden zu sein, welche Anklage in seiner Klage enthalten ist. Sonst hätte es sie vielleicht nicht auszusprechen gewagt! Aber das macht ja die Klage selbst zu einem um so unverdächtigeren Zeugnis menschlicher Herzensnot.

»Was ich vollbringe, weiß ich nicht. Denn nicht, was ich will, tue ich, sondern das, was ich hasse, das treibe ich. Wenn ich es aber wider Willen tue …, dann bin ich nicht mehr der, der es vollbringt … Das Wollen ist da, das Vollbringen des Guten aber nicht. Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse treibe ich, das ich nicht will … So nehme ich also ein Gesetz wahr, unter dem ich stehe: nämlich daß mir, während ich das Gute tun will, das Böse zur Hand ist … Ich unglücklicher Mensch! …«

Wie sollen wir das aber heißen, daß der mit Empfindung begabte Mensch unter ein heiliges Sollen gestellt ist, doch so, daß er es nicht vollbringen kann? Brutalität ist das nicht mehr, aber (wenn diese Einrichtung nicht einen zweiten, andern, schönen Sinn hat) raffinierte Grausamkeit.

 

6.

Bis zu dem Punkte, da Ödipus in selbstmörderischer Leidenschaft sich blendet, ist er der Typus dafür, wie der Mensch ins Leben hineingeführt wird. Dieser Ödipus ist Gemeinbesitz der griechischen Sage: er repräsentiert nur, was jeder erfährt, der überhaupt zu einem bewußten Erleben des Lebens gelangt. Dem Dichter gehört der Ödipus an, der sich aus dem Leben herausgearbeitet hat: denn das ist eine Tat des Einzelnen, die Ehrlichkeit und Mut erfordert. Sie auch nur zu dichten, erfordert, daß ein Einzelner mit dem Leben gerungen, das Leben besiegt hat. –

Ödipus ist lange Jahre umhergeirrt, zerfallen mit sich, zerfallen mit den Menschen, zerfallen mit den göttlichen Mächten – und doch gebunden an sich, angewiesen auf die Menschen, auch nie ganz ohne Fühlung mit der Gottheit. Er wird geleitet von Antigone. Ismene übermittelt ihm weitere Schicksalssprüche. Sie deuten an, daß er noch zur Ruhe gelangen werde, bei den Erinnyen, an ungenanntem Orte.

Zufällig läßt er sich bei dem attischen Flecken Kolonos in dem Haine der Erinnyen nieder. Eingeborene wollen ihn von diesem heiligen Orte vertreiben, den kein lebender Mensch betreten darf. Daraus ersieht er, daß er nun an dem Ort seiner Rast angelangt ist. Um die Bürger von Kolonos zu beruhigen, weicht er zwar über die Grenze des Hains zurück, sühnt sogar den unbewußt begangenen Frevel durch das übliche Opfer. Er muß sich ja wohl in die Menschen noch schicken, um seine Rechnung mit dem Leben vollends abschließen zu können! – Ihm, dem elenden, fluchbeladenen Bettler, wird in letzter Stunde wiederholt verkündigt, daß sein Grab den Besitzern Segen bringen werde. Er vermacht seinen verfluchten, heiligen Leib den Bürgern von Attika, die ihm, zitternd vor dem Fluche, der auf ihm lastet, doch Aufnahme gewährt haben. Er erwehrt sich mit ihrer Hilfe der Thebaner, die den Gottverhaßten zwar nicht in den heimischen Boden aufnehmen, ihn aber auch den Fremden nicht gönnen wollen, die ihn nur an der Grenze des Vaterlandes beherbergen und festhalten möchten. Er versagt sich auch dem Sohne Polynikes, dem er den glücklichen Ausgang eines Rachezuges gegen das Vaterland, das auch ihn ausstieß, verbürgen sollte. Nun ist er fertig, und der Donner des Zeus fordert ihn auf, sein Geschick zu vollenden. So geht er, der Blinde, ungeleitet, nur von Theseus, seinem Schutzherrn und Erben gefolgt, in den Hain der Erinnyen ein, um die Schwelle des Hades zu überschreiten.

Suchen wir hieraus zu erkennen, wie der Mensch, wenn er sich den Mut dazu nimmt, sich aus dem todbringenden Netze des Geschicks, das ihn zu erdrosseln droht, herausarbeiten kann!

 

7.

Ödipus hat seine Unschuld wiedergewonnen, – er wagt es, sich wieder unschuldig zu fühlen.

Zwar schmerzt ihn noch jede Erinnerung an das Geschehene. Nur mit Widerstreben nennt er sich den Greisen von Kolonos; ihrer Aufforderung, daß er ihnen über sein Schicksal sichere Kunde gebe, folgt er mit nicht zu unterdrückendem, zu verhehlendem Widerwillen. Ganz ist er also über die Vergangenheit noch nicht hinweg. Aber über den Charakter seiner »Verbrechen« ist er mit sich völlig im Reinen. Nicht Taten waren es, sondern Leiden. Unschuldig ist er schuldig geworden. Durch bloße Schicksalsfügung ist bei ihm zur Missetat geworden, was bei andern für berechtigt, ja für lobenswert gilt: daß er in aufgezwungener Notwehr siegte, daß er mit dem wohlerworbenen Thron die dargebotene Hand der verwitweten Königin annahm. So sicher ist er seiner Sache geworden, daß er an dem eigenen Tun als Torheit erkannt hat, was ihm das übliche Urteil allein noch als Lob anrechnen konnte; daß er an andern als Unrecht zu bezeichnen wagt, was sie gegen ihn, den Gottverhaßten, nur für Pflicht halten konnten. Er hat seine Untaten an sich furchtbar gerächt: diese Reaktion seines Gewissens war ein bloßer, schrecklicher Wahn. Das Vaterland hat ihn ausgestoßen, um nicht mit ihm dem Fluche der Götter zu verfallen: diese Tat frommer Scheu war ein richtiges Verbrechen … So ist Ödipus von seiner Schuld frei geworden. Nicht durch Reue, nicht durch Buße, nein, dadurch, daß er die Reue als eine Unwahrheit abwies … Heil ihm! Er hat den einzig richtigen Weg gefunden, auf dem der Mensch wieder ganz unschuldig wird. Daß der Mensch Schuld und Unschuld, Schicksal und Freiheit gegeneinander abwägen will, führt zu einer unentwirrbaren, unendlichen Rechnung, führt deshalb niemals zu einer sicheren, freien Stimmung. Ganze Menschen haben darum immer gefunden, daß sie entweder die Verantwortung für ihr Leben total und absolut, ohne Einschränkung, ohne Abschwächung auf sich nehmen, oder alle Verantwortung für ihr Leben ablehnen, d. h. die Frage nach der Verkettung von Freiheit und Schicksal in ihrem Leben einfach auf sich beruhen lassen müssen (dies beides ist faktisch und praktisch völlig gleichbedeutend). Nun ist das erstere eine offenbare Unmöglichkeit: wer sagt, daß er nur getan habe, was er frei habe tun wollen, nur geworden sei, was er frei habe werden wollen, weiß nicht, was er sagt, oder lügt in majorem gloriam irgend eines Gottes, – und tut auch das (das ist der Humor bei der Sache!) nicht frei. Sollte ich für mein Leben »verantwortlich« sein, Red' und Antwort stehen können, so müßte sein Gang dem wirklichen gerade entgegengesetzt verlaufen: es müßte mit der Klarheit, dem Wissen, der Freiheit beginnen. Wenn ich mir so, absolut wach, auch die Traumzustände zubestimmt hätte, in denen das wirkliche Leben im Durchschnitt verläuft, so müßte, könnte ich auch, was darin geschieht, auf meine Verantwortung nehmen. Nun aber begann mein Leben im Traume, mit der Bewußtlosigkeit, Unwissenheit und Unfreiheit; keine freie Entscheidung, zu der ich genötigt wurde, konnte die Bedeutung eines ganz neuen Anfangs gewinnen; ich konnte immer nur etwas zurechtrücken, was geschehen war, eine Fortsetzung versuchen, die mir die notwendige, günstige dünkte – –: was dabei herauskommen kann, verantworte, wer dem Leben diese verrückte Einrichtung gegeben hat. Ich lehne es ab, ein Rätsel zu verantworten, dessen Lösung ich nicht kenne.

Wieder unschuldig geworden, wagt Ödipus wieder, Mensch unter Menschen zu sein, – und ist es mehr als je. – Den Chor der Greise von Kolonos erfüllt es mit heiliger Scheu, daß Ödipus durch ein unentrinnbares Grauengeschick in Schuld und Leid verstrickt wurde, daß er so entsetzliche Taten hatte begehen – leiden müssen. Dieselbe heilige Scheu steht zwischen Ödipus und seinen Töchtern Antigone und Ismene, – sie steht zwischen Ödipus und ihm selbst. Aber Ödipus vermag sie jetzt als gegebene Tatsache hinzunehmen und über sie hinüber den Menschen die Hand zu reichen. Er überwindet sich, das zu tun: welche Selbstüberwindung muß es kosten, eine Hand zu fassen, die sich in heiliger Scheu zurückziehen möchte! Ödipus hat den Abscheu vor sich selbst durchlitten, hat sich überwunden, mit sich selbst wieder zu hausen; so gibt es für ihn keine falsche Scham mehr. Er überwindet sich, mit den Menschen, die vor ihm fliehen möchten, von sich zu reden, sie zu bitten, zu rühren; er vermag dabei Demut und Stolz so zu verbinden, daß sein Flehen nichts Einschmeichelndes, sein Selbstgefühl nichts Herausforderndes mehr enthält. So tritt er in eine Verbindung mit den Menschen (er selbst eingeschlossen), die in ganz anderem Sinne schön ist, als ein von naivem Wohlgefallen und Vertrauen geschlossener Bund. Ödipus achtet und liebt sich selbst als den von einem dunklen, grauenhaften Schicksal Verfolgten. Er wagt es, seinen Töchtern zu sagen, daß niemand sie je wieder so lieben werde, wie er sie geliebt habe: sie sollten ja nicht und mußten ja doch da sein, durch ihn; – welch unerschöpfliches Motiv zartester, leidenschaftlicher Liebe! des Vaters zu den Töchtern, der Töchter auch zu dem Vater! So wird auch Theseus durch Ödipus daran erinnert, daß er selbst nur ein Mensch ist, daß ihm kein größeres Anrecht auf den nächsten Tag ward als Ödipus: wie sollten sich Menschen, die das voneinander wissen, nicht als Verbündete fühlen? Sie werden gezwungen, sich zu verständigen, zu verschwören, durch das eherne Schicksal, das sie nicht bloß arm und krank macht, das sie zu schrecklichen Taten drängt, zwischen Mensch und Mensch, zwischen den Einzelnen und sich selbst das Grauen stellt … So hat es doch einmal jemand verstanden, worauf die wahre, tiefe, zarte Verbindung der Menschen beruht: auf dem Grauen, das zwischen sie zu treten lauert, das sie beständig auseinanderhält, das sie zur Verständigung, zum Zusammenhalten zwingt! Die Umarmung der Liebe kann sich dir einmal als die schrecklichste Entweihung enthüllen; in deinem Sohne erzeugst du dir vielleicht deinen Mörder; mit dem Vertrauen, das du deinem Freunde gewährst, rüstest du vielleicht deinen Feind zum Kampfe gegen dich: welches Grauen liegt in diesen Gedanken! und mit welch dämonischer Kraft ziehen sie den Menschen zum Menschen! Das ist es ja eben, was dem Verhältnis der Menschen zueinander den Ernst und den Reiz gibt! Wer das nicht riskieren kann, nicht riskieren mag, nicht riskieren muß, der kann nicht leben, der lebt auch nie, in dem schrecklich tiefen Sinn, den das Wort »leben« für den Menschen in sich schließt …

Ödipus wagt es endlich, in sich eine Gabe für die Menschen zu sehen, sich als Gabe den Menschen zu schenken. – Wie die ganze Geschichte des Ödipus ist auch dies äußerlich motiviert, durch einen Orakelspruch. Doch meint Ödipus, es müsse ohne Orakelspruch jedermann klar sein, daß es den Thebanern Unsegen bringen werde, wenn er bei Fremden ein Grab suchen müsse. So ist es auch ohne Orakelspruch klar, daß er den Fremden, die ihn aufnahmen, Segen bringen wird. Die Sache ist so einfach. Wo das Grauen, das sich an entsetzliche Taten heftet, nur als Vorwand zur Durchsetzung privaten Eigennutzes aufgefaßt und verwertet werden kann (das ist in Theben der Fall), da kann Menschlichkeit nicht gedeihen, da werden sich die Menschen nur gegenseitig zerfleischen. Auf dem Boden der Unmenschlichkeit wird die Mißtat nur zum Samen neuer Mißtaten. Findet aber jenes Grauen schon den Keim menschlichen Mitgefühls vor, so befruchtet es ihn, und er wird in raschem Wachstum die schönsten Blüten und erquickendsten Früchte der Humanität tragen. Der Frevler hat die Menschen die paradoxe Wahrheit zu lehren, daß die Götter den, den sie verfolgen, nicht auch noch von den Menschen verfolgt wissen wollen; daß sie es vielmehr mit geheimem Wohlgefallen sehen, wenn die Menschen, in scheinbarem Widerspruch gegen ihren Sinn, den von ihnen Gerichteten mit um so wärmerer Sympathie umfassen. Nicht Entrüstung, sondern mit Grauen gemischtes Mitleid ist die recht fromme Stimmung gegen den »Verbrecher«, die das Verbrechen selbst in einen Segen verwandelt.

 

8.

Doch hat Sophokles das Problem des Lebens, das er mit zartem Sinn und tiefem Ernst aufnahm, nicht ganz zu lösen vermocht. Es tut unserem Danke gegen ihn keinen Eintrag, daß wir seine Grenze zu bestimmen suchen.

Zunächst möchte ich ihm fast zum Vorwurf machen, daß er eine Erleichterung seiner Aufgabe nicht ablehnte, die ihm die Sage darbot. Jokaste, die Mutter-Gattin, erhängt sich, nur Antigone und Ismene begleiten Ödipus in die Verbannung. Aber so wenig Ödipus sich die Augen auszustechen braucht (er nimmt es ja nachher als Torheit zurück), so wenig braucht Jokaste sich zu töten, – was sie nachher leider auch nicht mehr ideell zurücknehmen kann. Was die Götter unter ihren Augen geschehen lassen, was sie sogar selbst herbeiführen können, das soll auch der Mensch sehen, bejahen lernen. Näher noch als Ödipus und Antigone sind Ödipus und Jokaste dadurch verbunden, daß sich zwischen sie und die übrigen Menschen, und in höherem Grade zwischen sie beide, das Grauen gestellt hat. Diese Unheiligen bilden miteinander eine heilige Familie (in einem viel tieferen Sinn als Maria, Joseph und das Christkind), wenn sie ihre Unschuld wiedergewinnen, wenn sie ihr Mit- und Durcheinanderleben als schicksalgewollt anerkennen lernen, wenn sie sich in ihrem abnormen Verhältnis gegen das Urteil, gegen die Anfeindung der Menschen behaupten. Es war eine Aufgabe, des größten Dichters würdig, das als möglich, als schön zu erweisen. Die Sage hat Sophokles diese Aufgabe abgenommen, indem sie Jokaste sich töten ließ; hätte Sophokles ganz verstanden, welches Rätsel er zu erklären unternommen, so hätte er sie wieder auferweckt. Denn sie soll, sie muß leben, – das gehört zur Sache.

Aber nicht einmal Ödipus selbst gewinnt seine ganze Unschuld sicher wieder: schon das überstieg des Dichters Kräfte. Zwar ist nicht zu tadeln, daß Ödipus von dem, was durch ihn geschah, nur mit Grauen reden kann; das ist nur menschlich wahr und schön. Könnte er sein Schicksal einmal als gleichgültige Anekdote Neugierigen erzählen, Leichtfertigen gar zu einem Witz verarbeiten, so wäre er in die Gemeinheit versunken. Ödipus aber hat durch sein Schicksal, gegen sein Schicksal nur die eigene Unschuld wiedergewonnen; er entflammt gegen die Gegner, die durch dasselbe Schicksal schuldig wurden, noch in »heiliger«, »gerechter« Entrüstung: und das ist zwar menschlich schön, zeigt uns aber doch, daß er den Sinn seines Lebens noch nicht erschöpft hat. Es ist ja wahr, daß Kreon ihn nicht hätte als Verbrecher behandeln sollen, da er hätte verstehen können, daß Ödipus schuldlos das Grauenhafte tat; es ist ebenso wahr, daß seine Söhne zu seiner Verbannung nicht hätten die Hand reichen sollen, da sie ihn ja als ihren Vater kannten. Aber im selben Sinne ist es auch wahr, daß Ödipus die Ermordung des Vaters, die Ehe mit der Mutter hätte vermeiden sollen, vermeiden können. Er war ja gewarnt; er hätte deshalb in jedem älteren Mann, mit dem sich ein Kampf entspinnen wollte, in jeder älteren Frau, die ihm zum Ehebund hätte die Hand reichen wollen, den Vater, die Mutter vermuten, vermeiden sollen. Er tat es nicht. Das abstrakte Wissen um die Gefahr, die ihm drohte, war in ihm noch nicht zur konkreten, sein Handeln beherrschenden Sorge geworden. Er konnte deshalb auch nicht so vorsichtig sein, wie es sich aus dem Orakelspruch mit logischer Konsequenz eigentlich ergab: er war der Mann dieser Vorsicht eben noch nicht. Das darf Ödipus sich zu gute rechnen; er hat Recht, wenn er gegen alle nachträgliche Klugheit Unversuchter (»wenn du nur …! hättest du nur …!«) seine Unschuld behauptet. Aber dasselbe muß er Kreon, muß er seinen Söhnen zu gute rechnen, auch wenn ihre relative Schuld größer erscheinen mag als die seine. Gilt die relative Schuld überhaupt etwas, so ist auch Ödipus schuldig. Läßt Ödipus seine relative Schuld als bloßen Schein in der Schuld des Schicksals untergehen, so verschluckt dieser Abgrund auch jede andere, ob noch so große, relative Schuld als bloßes Phantom … Kreon ist eben der Mann noch nicht, der in des Ödipus Taten das Leiden erkennen, achten könnte, das sie eigentlich waren! Und wurde er nicht durch den Orakelspruch und die Fürsorge für die Vaterstadt genötigt, Ödipus zu verbannen, Ödipus nachher wieder heimzuholen? Verdient er dafür so herbe Vorwürfe, daß er noch nicht erkannt hat, die Götter haben selbst ihr geheimes Wohlgefallen daran, daß man die Opfer ihrer grausamen Laune in Schutz nehme? … Polynikes aber weist den Vater aufrichtig und überzeugend darauf hin, daß er erst nachträglich, selbst verbannt, verstanden habe, was er dem Vater angetan, indem er ihn in die Verbannung stieß. Er hatte eben, ehe er selbst elend wurde, das Gefühl für das Elend, das er verursachte, noch nicht. Und schließlich müssen sie alle zusammen ihr Schicksal vollenden: Ödipus den Vater töten, die Mutter zur Ehe nehmen, Polynikes den Vater verstoßen, den Bruder im Wechselmord töten, Kreon mit Antigone seinen Sohn Hämon vernichten; und sie sind alle, eins wie das andere, gleich schuldig, gleich unschuldig, – sie sind alle eben Menschen. Das sollte Ödipus verstehen, er vor allen; und er sollte mit sich alle andern, auch die Gegner, freisprechen. Oder besser, wenn der Dichter das ernsthaft genommen hätte, so hätte er Ödipus nicht so unbesonnen dem Kreon, dem Polynikes fluchen lassen. Denn es geht mit diesen Flüchen, wie mit den früheren, die Ödipus gegen den Mörder des Laios schleuderte: sie fallen alle auf ihn selbst zurück. Indem er in heiliger, gerechter Entrüstung die andern unentschuldbaren Frevels beschuldigt, nimmt er die Anklage gegen sich selbst wieder auf. Über ihn erhebt sich Antigone in den schönen Worten: »Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da.« Sie begleitet den gottverhaßten Vater, begräbt den vom Vater verfluchten, von Kreon geächteten Bruder, liebt den Sohn Kreons, des harten Richters ihrer Lieben.

Sophokles hat das Leben des Ödipus nicht völlig zu bewältigen vermocht. Deshalb ist sein letztes Wort auch nicht, daß selbst ein Ödipus sich noch freuen dürfe, Mensch geboren zu sein, ja, daß gerade er dessen sich freuen müsse, da er durch sein schweres, schönes Schicksal zu einer ganz bewußten, ganz freien Lebensstimmung gekommen sei. Die Selbstverachtung, zu der den Menschen die Superklugheit der nachträglichen, vermeintlichen Einsicht verleitet (»wenn nur …!« – »hätte ich doch …!« – »daß ich auch …!«), löst Sophokles auf in ein reines, demütiges, freimütiges Mitleid mit sich selbst. Das ist eine große Tat! Aber dabei bleibt er auch stehen und unterdrückt nicht den ehrlichen Wunsch, lieber in das böse Spiel des Lebens überhaupt nicht hereingezogen zu sein.

Nie geboren sein, höchstes Glück;
Glücklich auch, wer nach kurzer Frist
Aus dem Sein ins Nichtsein den Pfad
Wandelt, den er gekommen …

– wer tiefer ins Dasein hineingeführt wird, ist bloß elend.

Sophokles hat in Ödipus das Menschendasein nicht gerechtfertigt, nur den Menschen entlastet und dann dessen ganze Existenz um so energischer verdammt.

 

9.

Hiob wird in sein früheres Glück wieder eingesetzt, Ödipus erreicht als sein Höchstes einen ruhigen, würdigen Tod. Sophokles bleibt in den Grenzen des logisch, ästhetisch und psychologisch Möglichen, während der Dichter des Hiob in nicht mehr berechnender Leidenschaft für seinen Helden und seinen Gott die Voraussetzungen seiner Dichtung durchbricht, das nach dem gewöhnlichen Weltlauf Mögliche überspringt. So spielt der Jude neben dem Griechen eine üble Rolle: sein Denken läßt die Konsequenz vermissen; wir können ihm vorwerfen, daß er eine zufällige Schicksalsgunst für die wesentliche Lösung des Lebensrätsels ausgebe, die Wirklichkeit sogar einfach verfälsche – seiner Leidenschaft, seinem Glauben zulieb.

Zugegeben! Darüber dürfen wir aber nicht vergessen, daß die Mängel des »Hiob« nur die Schatten seiner Größe sind, einer Größe, die seinen Dichter über Sophokles hinaushebt.

Hiob darf Gott herausfordern, sogar in leidenschaftlichem Tone, mit den Worten der Ruchlosen. Das kann der Dichter nicht gestatten, er darf darauf seine Dichtung nicht sich zuspitzen lassen, wenn er Gott nicht antworten lassen will. Läßt sich aber Gott zum Reden bringen, so muß er eine positive Lösung des Rätsels geben. Müßte vor dem gegenwärtigen Gott die bloße Ergebung das Letzte bleiben, so wäre das ein Beweis dafür, daß Gott der Schwierigkeiten, die er dem Menschen schafft, selbst nicht mehr völlig Herr werden kann. Das fühlt der Dichter des Hiob. Nun kann er in den Reden des erscheinenden Gottes die Lösung des Rätsels nicht geben. Da läßt er Gott wenigstens im vorliegenden Fall durch die Tat beweisen, daß er die Schwierigkeiten im Leben des Menschen mehr als bloß lösen, daß er sie in Freude verwandeln kann. Die Dichtung leidet darunter; der Verstand kann unmöglich befriedigt sein; aber der Dichter hat seinen Glauben zum Ausdruck gebracht. Und das ist nichts Geringes. Auch der Dichter lebt seines Glaubens.

Vielleicht hat Sophokles etwas mehr Glauben gehabt, als seine Dichtung verrät. Denn auch er streift die Möglichkeit, daß die Gottheit eine Lösung (natürlich eine positive!) des aufgerollten Problems bringen würde, wenigstens als eine Grenze seines Denkens.

Ödipus soll im Hain der Erinnyen zur Ruhe kommen. Ein Orakel hat ihm das verkündigt. Doch braucht er zu dieser Erkenntnis, wie zu mancher andern, das Orakel wirklich nicht: er weiß es von sich aus, – denn er hat mit den Erinnyen zu reden, er, als Mensch, mit den höchsten Mächten, die über dem Schicksal des Menschen walten.

Er hat mit den Erinnyen zu reden. Darum erschrickt er nicht darüber, unbewußt in ihr heiliges Gebiet eingedrungen zu sein. Die Bürger von Kolonos erschaudern, wie sie ihn dort finden. Denn sie wissen bloß, daß die Erinnyen mit dem Menschen zu reden haben. Und sie denken sich deren Wort an den Menschen so schrecklich, daß keiner so vermessen sein darf, die Begegnung mit den Erinnyen zu suchen.

Schwächer als Hiob, nimmt Ödipus auf das unmittelbare menschliche Gefühl der ängstlichen Greise Rücksicht. Er geht in die Grenze des allgemein Erlaubten zurück, die er mit seinem Recht und göttlichem Willen überschritten hatte. Er sühnt sogar die Überschreitung dieser Grenze durch ein Opfer.

Das ist menschlich schön und dezent.

Und erhebend ist es, daß er den nicht zu betretenden Hain auf göttliche Zeichen hin wieder betritt, jetzt mit klarem Entschluß, jetzt auch in seiner Blindheit keines Führers mehr bedürfend.

So tritt er also mit den Erinnyen zu freiem, beiderseitig gewolltem Gespräch zusammen. Was haben sie sich gesagt? Hat Ödipus auch gegen die höchsten Mächte seine Unschuld behauptet? Haben ihm sich die Erinnyen, die Rachegeister, wirklich als Eumeniden, als Huldgöttinnen, erwiesen?

Der Dichter gibt uns auf diese nächstliegende Frage keine Antwort. Theseus, der einzige Zeuge der Begegnung, darf nicht reden. Und was andere ihm nachher ansehen, sagt ungemein viel, und sagt nichts.

Ein Bote berichtet darüber:

... Aber als nach kurzer Frist
Wir uns umwandten, sieh, da war der Greis
Verschwunden, nur den Fürsten sah'n wir noch, wie er
Die Hand zum Haupt emporgehoben hielt und sich
Die Augen schirmte, als hätt' er ein Bild des Grau'ns,
Ein furchtbar unerträgliches, geschaut. Nicht lang,
Da sahen wir ihn niederknieen im Gebet
Und hörten zu der tiefen Erde unter ihm
Ihn flehen und zum hohen, göttlichen Olymp.
Doch welch Geschick den Ödipus entrafft, das weiß
Theseus allein zu sagen von den Sterblichen.
Nicht traf ihn Flammenstrahl vom Zeus, und nicht hat ihn
Der Sturm entführt, der just vom Meere sich erhob.
Nein, ihren Boten sandten ihm die Himmlischen,
Die Tiefe selbst tat freundlich ihren Schlund ihm auf,
Der für ihn keine Schrecken hatte. Also ward
Er abberufen; keine Klage hat, kein Leid
Das Ende ihm verbittert; staunenswert und stolz
Sein Loos. – Wer mich ob des Berichts der Torheit zeiht,
Der wiss', daß seine Weisheit vor mir sicher ist.

Wir zeihen ihn nicht der Torheit. Es geschah alles so, wie er es erzählt. Nur wissen wir damit, was wir wissen möchten, nicht.


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