Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
B. Bist du nun fertig?
A. Ach, du bist auch noch da! Oder bist du wieder da? Ich hatte dich ganz vergessen!
B. Ich bin dir im gebotenen Abstand gefolgt. Manchmal war mirs freilich wieder zum Davonlaufen. Aber du hast doch mein Interesse erregt und festgehalten, und ich glaube dir sogar für eine Lehre wirklich Dank zu schulden.
A. Das kann mich nur freuen.
B. Freue dich nicht zu rasch! Es müßte seltsam zugehen, wenn dir, was ich von dir gelernt habe, gefallen sollte.
A. Du machst mich neugierig. Sag' an!
B. Das geht nicht so schnell. Zunächst möchte ich erproben, ob ich dich verstanden habe. Weißt du eigentlich, nach welchem Rezept du dir deine Lebensanschauung zusammenbraust?
A. Nach welchem Rezept? Ich verstehe dich nicht.
B. So scheinst du also nicht nach einem Rezept zu arbeiten. Aber auch der Wahnsinn hat (nichts für ungut!) oft Methode. – Ein stoffliches Interesse an der Welt hast du augenscheinlich nicht. Politik, Wissenschaft, Kunst, unsere ganze Kultur interessiert dich nicht. Die Natur ist dir bloß die Küche, worin für den Menschen die nötigste Speise gekocht wird; und dann magst du von ihr noch ästhetische Eindrücke (doch nur von einer gewissen Art) haben: zwischen diesem rohen und raffinierten Genuß, den du von ihr hast, ist auch an ihr für dich nichts.
A. Zugestanden.
B. Aber auch der Mensch interessiert dich nicht.
A. Wirklich?
B. Nein, auch der Mensch interessiert dich nicht. Ob er schön oder häßlich ist, siehst du vielleicht gar nicht; körperliche Kraft und Schwäche ist für dich vermutlich ziemlich gleichwertig; aber auch ob er gedankenreich oder gedankenarm ist, ob er Ziele hat oder nicht, welche Ziele er sich setzt: was geht das dich an? Dich kümmert nur, wie der Mensch mit sich lebt.
A. Zugestanden; das kümmert mich jedenfalls zuerst.
B. Und das Verhältnis des Menschen zu sich selbst fassest du, da dir aller Stoff des Lebens gleichgültig ist, ganz abstrakt auf. Du kennst nur die Eine Frage: Steht der Mensch gut mit sich, oder steht er nicht gut mit sich? Was ihn mit sich zufrieden oder unzufrieden macht, kommt für dich nicht in Betracht. Du kennst eigentlich auch keine Stufen in dem guten oder schlechten Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Deshalb hättest du auch deine Erörterungen über die Schuld nicht an Ödipus anzuknüpfen gebraucht, der den Vater erschlug und die Mutter heiratete: die Qualen eines sensiblen Kindes, das wider Willen das Brüderchen stößt oder erfahren muß, daß es den Anstand verletzte, hätten dir dieselben Dienste getan.
A. Zugestanden.
B. Der Mensch nun, wie du ihn siehst, ist notwendig unglücklich. Wenn es für ein Liebespaar gar keine reelle Frage ist, wie sie sich ihr Haus einrichten wollen, was der Mann verdienen werde, was für den Haushalt draufgehen werde, wie sie den Überschuß anlegen oder aufbrauchen wollen u. s. f.; wenn die einzig reelle Frage für sie die Harmonie ihres Verhältnisses ist: so werden sie so gewiß unglücklich, als zwei mal zwei vier ist. Ebenso wird der Mensch, der kein stoffliches Interesse am Dasein hat, für den die ganz abstrakte Frage, wie er mit sich steht, die einzige reelle Sorge ist, mit absoluter Notwendigkeit unglücklich. Dieses abstrakte Verhältnis zu sich selbst muß (ich kann das allerdings bloß vermuten) ungeheuer empfindlich sein. Und das Stoffliche am Leben, das für einen solchen Menschen (scheinbar? wirklich?) gar kein Interesse hat, besitzt doch die Macht, Störungen in dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst hervorzurufen. Daß ein Mensch solcher Art mit anderen, ob sie nun derselben Art sind wie er oder nicht, immer schwer leben wird, ist ebenso selbstverständlich wie, daß er sich darüber anklagt und endlos quält. Also Leiden über Leiden!
A. Zugestanden.
B. Nun suchst du diese Empfindlichkeit (ich finde sie krankhaft, will aber darauf, um dich nicht zu beleidigen, keinen Nachdruck legen) zu überwinden.
A. Ja. Übrigens kann ich sie auch wohl krankhaft nennen.
B. Gut. Du suchst sie also zu überwinden. Dazu hilft dir die Wahrnehmung, daß dieses gesteigerte Innenleben auch einen gesteigerten Genuß seiner selbst mit sich bringt. (Erinnere ich mich recht, so hast du diesen Ausdruck selbst gebraucht.) Mir ist dieser Selbstgenuß zum Glück fremd, so will ich ihn auch nicht beurteilen; sonst würde ich ihn, wenn nicht eitel, so doch hochmütig finden.
A. Du magst ihn wohl so finden; ich bestreite nur, daß er eitel, hochmütig sein müsse; – daß er es sein kann, leugne ich zu allerletzt.
B. Meinetwegen. Diesen Gewinn deines gesteigerten Innenlebens, den ich dir gönne, deutest du nun in den Zweck deiner – Krankheit um, findest dadurch die Kraft, aus der Not eine Tugend zu machen und alles, was dich quält, schön und gut, viel herrlicher zu finden, als was andere Menschen erfreut.
A. In der Tat, so kann man die Sache auch ansehen.
B. Wenn man sie richtig, gesund ansieht! Dadurch glaubst du zugleich aus deiner Subjektivität in die Objektivität hinübergesprungen zu sein –
A. Glaube ich das bloß?
B. – die doch nur Schein ist. Denn du hast nachher so wenig wirkliches, stoffliches Interesse an der Welt, an den Menschen als zuvor. Zum Überfluß beweisest du dies selbst damit, daß du die wirkliche Auflösung der Lebensrätsel in ein Jenseits verlegst, das ich dir gern überlasse. Wirklich, dort gehörst du hin; in diesem Leben hast du weder etwas zu suchen, noch etwas zu finden – du hast ja auch nicht leben wollen. Ich kann nur wiederholen, daß ich keinen Grund sehe, daß du dich nicht schleunigst dorthin begibst.
A. Das wirst du doch meiner eigenen Entscheidung überlassen.
B. Gewiß! Aber ich darf dich vielleicht auf einen Umstand hinweisen, den du schwerlich beachtet hast; eigentlich kannst du ihn gar nicht sehen.
A. Du verpflichtest mich zu Dank, wenn du mir ihn nennst.
B. Du hast nicht bloß für dich in diesem Leben nichts zu suchen und nichts zu finden, sondern du verderbst uns andern die Gesellschaft. Wir andern haben ein stoffliches Interesse an dieser Welt, aneinander. Daß du dieses Interesse nicht teilst, ist deine Sache und kann uns gleichgültig sein. Aber wir haben uns so eingerichtet (leidlich gut und leidlich schlecht), daß wir unsere Interessen wider einander und mit einander befriedigen können. Und diese unsere mangelhaften, aber nützlichen Einrichtungen, unser Recht, unsere Sitten untergräbst du.
A. Wirklich? Ich achte das Recht …
B. Bringe mich nicht zum Lachen! Die Sitte läßt du, ehrlich, wie du zu sein scheinst, weg; aber du achtest auch das Recht nicht; du untergräbst es.
A. Ich wünsche wirklich, daß du mir das deutlicher sagst.
B. Gerne. Ich wollte dir gerade das so deutlich als möglich sagen. Deshalb bin ich dir nicht davongelaufen. – Du hast eine gefährliche Sympathie mit dem Abnormen …
A. Das ist richtig.
B. Daß dich der aussätzige Hiob mehr interessiert als ein gesunder Arbeiter oder Soldat, überlasse ich willig deinem Privatgeschmack. Aber um den mit Mord und Blutschande belasteten Ödipus herauszuhauen, machst du uns alle zu Mördern, behauptest du, daß jede Verbindung von Mann und Weib ein Zunahetreten sei, hebst du die Begriffe von Pflicht, Verantwortung, Schuld auf.
A. Ich sage nur, daß wir alle von einander leben müssen, und das ist wahr. Ich habe gerade aufgezeigt, wie die Verbindung von Mann und Weib wirklich heilig wird. Ich anerkenne die Schuld, die ich mir zuziehe, anerkenne, daß ich mich als verantwortlich behandeln lassen muß, anerkenne damit auch die Pflicht.
B. Blendwerk! Diese sublime Heiligkeit der Verbindung von Mann und Weib, die du aufgezeigt haben willst, kümmert uns andere gar nicht. Uns interessiert dagegen die Institution der Ehe. Die Ehe, als gesetzliche Verbindung von Mann und Weib, ist als solche heilig. Die Frage der »Heiligkeit« der Verbindung von Mann und Weib noch besonders aufzuwerfen, ist ein Verbrechen gegen die Institution der Ehe. Dadurch werden nur überflüssige Skrupel in die Ehe hineingetragen; dadurch wird der Anschein erweckt, als ob die Verbindung von Mann und Weib auch ohne gesetzliche Legitimation schön, gar heilig sein könne. Das lassen wir, deren stoffliches Interesse am Leben durch die Institution der Ehe gewährleistet wird – wir lassen uns das nicht gefallen! … Willst du mir darauf nicht antworten?
A. Ihr laßt es euch ja nicht gefallen, daß ich meine Meinung vertrete, vielleicht nicht einmal, daß ich sie habe!
B. Aber ich möchte jetzt doch ein ausdrückliches Wort über die Ehe von dir hören.
A. Das kann dir werden. Die Institution der Ehe dient euren Zwecken ziemlich gut und ziemlich schlecht (so ungefähr hast du dich vorhin über eure Institutionen selbst ausgedrückt). Für mich ist sie, so lange sie besteht, gut, wie alles, was ist, für mich so lange gut ist, als es ist. Zwischen der Heiligkeit der Verbindung von Mann und Weib und der öffentlichen Anzeige und Anerkennung derselben besteht kein innerer Zusammenhang.
B. Also könnten Mann und Weib auch ohne offizielle Legitimation »heilig« mit einander leben?
A. Wer es wagen will, hat meinen aufrichtigen Glückwunsch. Ihr werdet ihnen aber das Leben sauer genug machen!
B. Gewiß werden wir das! Du aber, du wagst zu leugnen, daß du die Institution der Ehe untergräbst?
A. Du sollst Recht haben: ich untergrabe sie.
B. Das liegt doch auf der Hand! – Über das unbehagliche Gefühl, das du zu haben scheinst, daß wir von einander leben müssen, will ich nicht mit dir rechten. Mir ist es fremd. Dagegen kenne ich den Unterschied zwischen einem ehrlichen Geschäft und einem Diebstahl oder Raubmord, den du nicht zu kennen scheinst. Ihn wollen und dürfen wir uns nicht verwischen lassen.
A. Willst du dann so gut sein, mir zu sagen, wo z. B. im Handel das ehrliche Geschäft aufhört und der Diebstahl anfängt? Und wo die Ehrlichkeit als Gesinnung aufhört und die Diebesgesinnung anfängt?
B. Da kommen wir ja wieder auf dieselbe Geschichte! Die Grenze zwischen ehrlichem Geschäft und Diebstahl bestimmt das Gesetz; das anerkennst du nicht, und damit untergräbst du die Achtung vor dem Gesetz. Wie wenn das Gesetz nichts wäre, nichts für recht und unrecht erklären könnte, behandelst du es als etwas Schreckliches, daß der Mensch vom Menschen lebe, machst uns dadurch (wenn es dir gelingt, was aber schwer halten wird) überflüssige Skrupel im gesetzlich gewährleisteten Geschäft und erregst zugleich den Anschein, daß der Mensch unter der schrecklichen Notwendigkeit zu fressen (um mich deiner feinen Ausdrucksweise zu bedienen) auch das Gesetz überspringen könne, wie er ja auch im ehrlichen Geschäft doch nur ihr gehorcht. Dies mag ja wahr sein, meinetwegen. Aber weil die Notwendigkeit zu fressen als allgemeiner Druck auf uns lastet, können wir sie füglich ignorieren und uns der Hauptsache sofort zuwenden: in welcher erlaubten Weise der Mensch sich mit ihr abfinden kann. Und das bestimmt das Gesetz. Dadurch bindet es das Gewissen, während die allgemeine Notwendigkeit zu fressen mit dem Gewissen gar nichts zu tun hat. Das dürfte doch klar sein!
A. Allerdings ist das klar, nur muß ich von mir das klare Gegenteil sagen. Mein Gewissen (ich brauche das Wort nicht gern) hat mit dem Gesetz nichts zu tun, während ihm die Notwendigkeit und Lust zu fressen viel zu schaffen macht.
B. Warum liebst du das Wort »Gewissen« nicht? Was hat es dir getan? Ah, ich vermute: es erinnert dich eben an das Gesetz, von dem du nichts wissen magst, auch wenn du z. B. von der Heiligkeit der Verbindung von Mann und Weib redest (– »der Ehe« magst du ja nicht sagen, natürlich wieder wegen des Gesetzes!).
A. Du hast Recht. Man denkt sich das Gewissen immer in Beziehung auf ein Gesetz, und das gefällt mir nicht. Das Wort »Heiligkeit« ist noch nicht ganz so abgenützt und veräußerlicht, und so kann ich eher meinen Sinn hineinlegen: daß das Leben des Menschen, im ganzen und im einzelnen, sein Handeln, Wünschen, Denken, an sich gut oder ungut ist, ohne Beziehung auf irgend ein gebietendes oder verbietendes Gesetz. Die Menschen mögen ja auch definieren, was sie unter Krankheit oder Gesundheit verstehen; aber die Krankheit (gewisse Arten ausgenommen) kümmert sich darum gar nicht, ob sie dafür gehalten wird oder nicht. So mögen die Menschen auch durch Gesetze festlegen, was gut und böse sei: daß aber der Mensch nur im Guten lebt, im Bösen notwendig stirbt, kümmert sich um die gesetzliche Definition von Recht und Unrecht gar nicht. Ich lebe auch des Guten, das ich gegen das Gesetz tue; und ich sterbe auch an dem Bösen, das ich durch das Gesetz durchsetze. Es gibt eine ehrliche Gesinnung, die aus sich selbst lebt, und wenn sie allgemein als Dummheit verlacht, ja als Schlechtigkeit verurteilt wird; und es gibt einen Diebssinn, der in sich tot ist, und wenn ihn das Gesetz als berechtigt anerkennt und sein Treiben schützt.
B. Das will ich dir ja gar nicht bestreiten; ich sage nur, daß du immer den Ton auf die falsche Stelle legst. Der Gegensatz einer an sich rechten Ehrlichkeit und eines an sich schlechten Diebssinns, den du aufstellst, mag ja für das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, das dir freilich alles ist, von großer Bedeutung sein. Für Menschen aber, die ihr materielles Interesse an der Welt und an einander haben, tritt er ganz hinter der Frage zurück, ob ein Mensch vor der gesetzlichen Regulierung der Lebensverhältnisse Respekt hat oder nicht. Ob ein Mensch mich haßt, beneidet, beargwöhnt, mag für ihn wichtig sein, und so soll er es für sich abmachen; mich geht das eigentlich gar nichts an. Dagegen ist für mich von Bedeutung, daß ich keine Gesetzwidrigkeit von ihm zu fürchten brauche. Für dich ist die Gesinnung alles, – deren faktische Bedeutung für das Menschenleben doch schon dadurch in das rechte Licht gesetzt wird, daß sie unkontrollierbar ist. Ich sage, daß wir uns auf das Verhalten des Menschen müssen verlassen können, und die Gesinnung interessiert mich nur soweit, als sie mich vor unberechenbarem Verhalten, das ein Zusammenarbeiten unmöglich macht, schützt. Darum ist nicht Haß und Liebe der entscheidende Gegensatz in der Gesinnung des Menschen, sondern Achtung vor dem Gesetz und Gleichgültigkeit gegen das Gesetz. Du aber machst das Gesetz gleichgültig.
A. Darin hast du Recht; mir ist das Gesetz gleichgültig, und ich mache es gleichgültig.
B. Daher auch deine mehr als wunderliche Auffassung von Schuld und Verantwortung. Du lehnst die Verantwortung für dein Leben ab: ein Rätsel, dessen Lösung du nicht besitzest, könnest du nicht verantworten. Wer mutet dir denn einen solchen Unsinn zu? Du betonst als etwas ganz schrecklich Bedeutsames, daß du dir dein Leben, deine Konstitution u. s. f. nicht gegeben habest. Ich meine, das ist eine solche Binsenwahrheit, daß es fast eine Schande ist, sie zu erwähnen. Du sagst, daß du auch durch deine Entschlüsse dein Leben nicht machest, da doch immer etwas anderes dabei herauskomme, als du eigentlich gewollt habest. Was soll denn das heißen? Wenn du heute 10 000 Mark aufnimmst und 4 % Zinsen verabredest, so kommt dabei heraus, daß du übers Jahr 400 Mark Zinsen zu bezahlen hast: das weißt du ganz genau. Du kannst auch die Wahrscheinlichkeit, daß du die Zinsen werdest bezahlen, das Kapital einmal zurückgeben können, ziemlich genau berechnen. Bei dieser Berechnung sollst du gewissenhaft zu Werke gehen. Dann wird es dir auch jedermann zu gute halten, wenn Umstände, die du nicht vorhersehen konntest, deine richtige Rechnung falsch machen. Darauf nur bezieht sich deine Verantwortung: auf die Einzelgeschäfte, aus denen sich das Leben der Menschen zusammensetzt, deren Umfang und Tragweite und Entwicklung mit an Gewißheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann.
A. Aber ich leugne doch diese Verantwortung nicht!
B. Meinetwegen magst du sie nicht leugnen wollen. Aber du entnervst sie, du hebst sie auf. Und durch einen Kunstgriff, den ich geradezu raffiniert nennen möchte. Du beziehst die Verantwortung auf die Gesinnung, auf das Leben gar: welcher Ernst! Diese riesige Verantwortung erkennst du, unter tragischen Beklemmungen, als unhaltbar. Und unter der Hand hat sich in dieser riesigen, unmöglichen Verantwortung für das ganze Leben auch die begrenzte, mögliche Verantwortung für die Einzelhandlung aufgelöst. So entpuppt sich aus dem absoluten Ernst ein Leichtsinn, dem ich den Vorwurf der Frivolität nicht ersparen kann.
A. Ich quittiere den Empfang.
B. Und du bestätigst mir durch die kühle Bereitwilligkeit, womit du das tust, daß ich Recht habe … Dann tritt das Gespenst der Schuld auf. Ja freilich, Deine Schuld ist ein bloßes Gespenst! Das hat mir ja gefallen können, daß du die Schuld als ein Schuldigbleiben des Versprochenen deutest. Aber über die Verhältnisse, worin das einen bestimmten, greifbaren Sinn bekommen könnte, gleitest du vornehm hinweg. Daß du mit bestimmten Handlungen im Rückstand sein könntest, die du dann eben nachholen müßtest; daß darin ein Vorwurf liegt, mit einer versprochenen, bestimmten Handlung so lange im Rückstand zu bleiben, daß du sie nicht mehr nachholen kannst: es ist mir wirklich nicht deutlich geworden, ob du dafür überhaupt kein Gefühl hast, oder ob dir solche Bagatellen in der sublimen Innerlichkeit des Verhältnisses zu sich selbst bloß nicht der Erwähnung wert sind. Du beziehst die Schuld natürlich auch wieder auf die Gesinnung; es sollte mich Wunder nehmen, wenn du dich nicht auch schon mit dem Gedanken gequält hättest, deine Urschuld sei, daß du überhaupt da bist.
A. Was du nicht alles erraten kannst!
B. Nun, dein Wahnsinn hat so viel Methode, daß seine verrücktesten Äußerungen, deren du dich vielleicht doch schämst, nicht so schwer zu vermuten sind … Diese Schuld der Gesinnung, des Lebens, hast du dir freilich nicht durch deine Entscheidung zugezogen, oder dadurch, daß du dich nicht rechtzeitig zu einer Handlung entschlossest. So entdeckst du also, daß du schuldig gemacht worden bist. Dadurch fühlst du dich ungeheuer gedrückt, – und in diesem schrecklichen Leiden hat sich nur so unter der Hand die greifbare Schuld, daß du eine bestimmte Handlung seinerzeit tatest oder unterließest, aufgelöst. So entpuppt sich aus dem schmerzlichen Ernst wieder der Leichtsinn, dem ich den Vorwurf der Frivolität nicht ersparen kann.
A. Ich habe mir ihn selbst schon gemacht.
B. Natürlich, ohne den ganzen Boden deiner Betrachtung des Lebens zu verlassen. Das ist eine zweite, potenzierte Frivolität.
A. Ich quittiere den Vorwurf …
B. Sei du nur ironisch …
A. – ohne Ironie! –
B. – denn die Rache folgt dir auf dem Fuße nach. Du wirst die Schuld darum auch niemals los.
A. Ich will sie nicht los werden!
B. Eine neue Frivolität. Du sollst sie los werden wollen. Du sollst zugeben, daß du mit dem und dem im Rückstand geblieben bist, vielleicht sogar so, daß du das Versäumte gar nicht mehr nachholen kannst.
A. Das gebe ich doch zu!
B. Nein, das gibst du nicht zu. Denn du tust den nächsten, notwendigen Schritt nicht: daß du zugäbest, es tue dir leid …
A. Es tut mir sogar weh …
B. Nichts da! Mache mir kein X für ein U! Leid soll es dir tun. Und dann sollst du sagen: es reut mich …
A. Sagen kann ich das ja; aber willst du nicht so gut sein, mir zu erklären, was es eigentlich heißt?
B. Frechheit! du willst nicht wissen, was Reue heißt!? Das weiß ja jedes ordentliche Kind!
A. Als Kind, mein Lieber, glaubte ich es freilich auch zu wissen. Aber ich bin kein Kind mehr. Ich habe, indem ich aufhörte ein Kind zu sein, manches gelernt und manches verlernt – und darum eben hörte ich auf, ein Kind zu sein. Zu dem, was ich verlernt habe, gehört auch die Reue. Ich verstehe sie nicht mehr.
B. Da hört doch alles auf! Nun, so bleib' auch in deiner »Schuld« stecken!
—————————————
A. Du wolltest mir eigentlich für eine Lehre danken. Ist dir die Lust dazu jetzt vergangen?
B. Nein. Du hast mir sogar noch mehr Ursache zu danken gegeben.
A. Wieso denn?
B. Deine ersten Worte haben mir sofort den Verdacht hervorgerufen, daß ich es mit einem abnormen Menschen zu tun habe. Du bist so freundlich gewesen, mir diesen Verdacht zur Gewißheit zu erheben.
A. Ich wünsche, daß mich die Menschen so sehen, wie ich bin.
B. Nun, dafür wenigstens sorgst du gewissenhaft.
A. Ich danke. Welches ist aber die Lehre, die ich dir gegeben habe? und die dir doch immer noch dankenswert ist?
B. Gewiß. Du hast mir über die »Liebe Gottes« ein Licht aufgesteckt.
A. Das freut mich.
B. Warte nur. Du hast mich sehen lassen, welche rabiate Genußsucht hinter diesem schönen Glauben lauert.
A. Ich leide an einer verzehrenden Sehnsucht nach Leben, nach Licht, nach Wärme, nach Freude!
B. Genußsucht, sage ich, Weichlichkeit! Du willst gar nichts von Schmerz wissen; daß die Sorge zur Arbeit zwingt, ist dir höchst unbehaglich. Alles soll zu deiner Lust da sein; arbeiten möchtest du, wie der Dichter etwa dichtet – der aber ja nicht an ein Honorar denken darf (wie gemein!), sondern bloß seinem dichterischen Drange genügt. Die raffinierteste Genußsucht! Da die Welt darauf offenbar nicht eingerichtet ist, ersinnst du dir einen geheimen Zusammenhang der Dinge, in dem du die vornehme Rolle spielst, die dir für den Menschen die einzig angemessene dünkt.
A. Der Mensch ist göttlichen Geschlechts und kann nicht hoch genug von sich denken.
B. Meinetwegen mag er irgend welches beliebigen Geschlechts sein. Die Wahrheit aber seines Menschenloses ist, daß er Lust und Schmerz, Schuld und Verdienst ineinander rechnen soll, daß er namentlich Arbeit und Genuß ineinander rechnen soll. Für bescheidene Ansprüche ist das Resultat meistens gar nicht so schlecht. Ausnahmen aber wie Hiob und Ödipus (die zudem bloß dem Reiche der Phantasie angehören) dürfen uns darin, wie wir unsere Lebensrechnung stellen, nicht beeinflussen. Du erhebst den unerhörten Anspruch auf absolutes Glück. Lust und Schmerz, Schuld und Verdienst gegen einander abzurechnen ist für dich hochgeborenen Sprößling von ewigem Adel schon viel zu gering. Du bist dann freilich so liebenswürdig, diese unerhörten Ansprüche jedem zu gestatten. Eine wohlfeile Liebenswürdigkeit! Sie verpflichtet dich ja zu gar nichts, als für verunglückte Existenzen überflüssige Grübeleien anzustellen, deren Resultat jedes gesunde Gefühl abstößt.
A. Sage mir doch, bitte, wie?
B. Das sollst du hören. Du erklärst den sinnlosen Schmerz für ein unerträgliches Leiden; glaubst du in dem Schmerz irgend welche liebende Absicht zu erkennen, so tue er dir wohl noch weh, ohne daß du doch weiter darunter leidest. Unsinn! Gerade das zufällige Leiden ertrage ich nicht so schwer. Ich lasse es kommen und lasse es gehen; und bleibt es, so richte ich mich so gut wie möglich mit ihm ein, d. h. ich halte es mir so gut wie möglich vom Leibe. Daß ich hinter dem Leiden eine Absicht sehen soll, nötigt mich ja gerade, immer daran zu denken, macht mir es also immer empfindlicher. Das ist doch klar!
A. Allerdings. Aber ich will mir den Schmerz nicht vom Leibe halten; ich will mich nicht zerstreuen.
B. So ist also die Möglichkeit, sich zu zerstreuen, das einzige Ungute in dieser ganz guten Welt! Ausgezeichnet! – Übrigens war mir gerade deine Theorie von der aus der unbedingten, allmächtigen Liebe Gottes fließenden Vortrefflichkeit aller Einrichtungen des Menschen-, ja Weltlebens höchst interessant. Ich habe noch nie so deutlich gesehen wie über deinen Darlegungen, wie gefährlich der Glaube an die allmächtige Liebe Gottes ist.
A. Das ist also die große Lehre, die du mir danken willst?
B. Ja. Mir scheint, daß du schon in frühester Jugend durch die »Liebe Gottes« verdorben worden bist: sie hat in dir diese furchtbare Genußsucht geweckt, genährt.
A. Ja; sie hat in mir diese verzehrende Sehnsucht nach Leben geweckt, genährt.
B. Natürlich! Sich von einem Gott geliebt zu glauben, das muß ja den Kopf noch viel gründlicher, unheilbarer verdrehen als irgend welche phantastischen Liebesgeschichten. Und das muß ich dir lassen: du hast die Gefährlichkeit des Glaubens an die Liebe Gottes mit seltener Rücksichtslosigkeit enthüllt.
A. Es freut mich, daß du mich so gut verstanden hast: ich wollte von dieser Gefahr den Schleier ziehen …
B. – um die Menschen desto sicherer hineinzulocken. Das wird dir aber nicht so leicht gelingen, wenigstens nicht mit gesunden, normalen Menschen, die in gesunden, normalen Verhältnissen leben. Die lassen sich's nicht gefallen, daß ihnen der Traum von einer allerhöchsten Liebe, deren sie gewürdigt seien, alle relativen Unterschiede zwischen Glück und Unglück auflöse, ja sogar Recht und Sitte entwerte. Sie wollen gesund sein, wollen reich werden, wollen geehrt sein, wollen Erfolge haben, … nein, die kriegst du nicht dran!
A. Hast du den Eindruck gehabt, daß ich jemand dran kriegen wolle?
B. Das wollte ich nicht sagen. Aber deine Theorie von der absoluten Liebe Gottes ist verführerisch wie der Abgrund verführerisch ist: er macht schwache Köpfe schwindeln, lockt sie, sich hineinzustürzen.
A. Und so werde ich gerade dadurch, daß ich die gefährliche Tiefe des Abgrunds der Liebe Gottes zur Anschauung zu bringen suche, doch zum Verführer?
B. Ja, obgleich ich ja nicht glaube, daß du viele verlocken wirst, um die es einem leid tun dürfte. Aber eigentlich gehört die »Liebe Gottes« – auch das hast du mir gezeigt, und ich danke es dir – unter kirchlichen Verschluß. Du spottest ja über die Koryphäen der Seelsorge, die Stützen kirchlicher Frömmigkeit, die breite Masse der Gläubigen: aber die Kirche hat das unbestrittene, große Verdienst, die Liebe Gottes unschädlich gemacht zu haben!
A. So, und doch hat sie mir die Liebe Gottes in frühester Jugend nahegebracht!
B. In dir ist sie eben an den Unrechten gekommen. Ich lobe mir doch die Kirche. Nachdem einmal die gefährliche Idee der Liebe Gottes in die Welt eingetreten war, hat sie bald ihre Aufgabe richtig erfaßt: sie wieder unschädlich zu machen. – Ob deine Auffassung Jesu richtig ist, kann ich nicht entscheiden …
A. Ich auch nicht.
B. Aber das habe ich dir doch geglaubt, daß manche seiner Gedanken sehr gefährlich sind.
A. Das habe ich zwar nicht so gesagt …
B. Nein, aber ich habe es so gehört. Sodann verwertest du Gedanken des Apostels Paulus und Luthers, die unbedingt gefährlich sind. Du, bei deiner Sympathie für das Abnorme, suchst darin natürlich die Hauptsache. Mit welchem sichern Takt aber hat die Kirche diese bedenklichen Ideen von der Allwirksamkeit Gottes, der Vorherbestimmung, der Unfreiheit zum Guten, der Aufhebung des Gesetzes, dem Leben im Geiste, zurückgestellt und absterben lassen! Vielleicht holt sie der einzelne Seelsorger für besondere Fälle je und je hervor, und das will ich dann nicht tadeln; sie mögen krankhaften Gemütern wohl tun. Aber für die öffentliche Seelsorge verwendet die Kirche den trefflichen Begriff der Vergebung der Sünden, der Gesetz, Freiheit und Schuld aufhebt und zugleich in ihrer Bedeutung wahrt. So drücken diese Ideen nicht zu schwer und sind doch jederzeit zum Gebrauche parat. Und das allgemeine Leben der Kirche wird durchaus beherrscht von den gesunden Begriffen der Sitte, der Ordnung, des Rechts. Indem die Kirche selbst sich Vermögen erwirbt, sorgt sie dafür, daß der Wert des Besitzes nicht unterschätzt wird. Indem sie selbst abgestufte Würden hat und für ihre Würdenträger auch eine Stelle in der Rangordnung des Staats beansprucht, bringt sie den Begriff der Ehre zu Ehren. Sie beteiligt sich lebhaft an dem Kampf um die Macht, und anerkennt so die Macht als eine Realität. So ermuntert sie uns Gesunde, in unserem gesunden Streben nach Geld, Ehre, Macht fortzufahren, und entlastet uns zugleich von den krankhaften, abnormen Existenzen, indem sie für diese die Liebe Gottes reserviert. Uns Gesunden aber mutet sie nicht zu, wie du, das ganze Leben von dieser Idee aus aufzufassen und zu gestalten … Ich kann nicht leugnen, daß ich gegen die Kirche etwas gleichgültig werden wollte. Du aber hast mich gelehrt, sie als treffliche Dolmetscherin des Menschenloses wieder zu schätzen.
A. Das freut mich.
B. Wirklich? Aber natürlich, du würdest ja sonst aus der Rolle fallen. Dir muß ja alles gut sein, so lange es ist, also auch die Kirche.
A. Sie ist mir gut. Da ich die frohe Botschaft von der Liebe Gottes für wirklich gefährlich halte, kann ich es wohl verstehen, daß sie der Menschheit gerade auf diese Weise erhalten wird. So, wie die Kirche sie vertritt, kann sie auf den, der sie nicht notwendig braucht, freilich gar keinen wirklichen Eindruck machen. Das ist gerade recht. Wer ihrer aber dringend bedarf, vermag sie aus jeder Umhüllung herauszulösen, wird sie in jeder Form gerne hinnehmen, auch in der kirchlichen. Und dann macht er daraus, was er braucht, und hoffentlich mehr, als den Wünschen der Kirche entspricht. Das ist dann auch recht.
B. Das erste vernünftige Wort, das ich von dir höre! Also ist es auch recht von mir, daß ich mich um die »Liebe Gottes« nicht bekümmere?
A. Gewiß. Du hast in deinem Lebensgeschäft für diesen Artikel keinen Bedarf, also hältst du ihn auch nicht. Aber auch du wirst der Liebe Gottes einmal bedürfen …
A. Darauf kommt es zum Glücke gar nicht an. – Und bist du so weit, so wirst auch du es ebenso schrecklich wie herrlich, wirst es selig finden, der Liebe Gottes zu bedürfen.
B. Nun wohl, so kann es mir auch recht sein.