Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
(Ein Schema, zu passender Ausfüllung mit dem Material des eigenen
Lebens jedermann dargeboten.)
Ich lebe nicht; ich werde gelebt.
Oder habe ich mir mein Leben gegeben? Nein! – Habe ich mir meine körperliche, meine geistige Anlage gewählt? Nein! – Habe ich mir die Verhältnisse bestimmt, die Personen, die Erlebnisse, die die ersten, fortwirkenden Eindrücke auf mich machten? Nein!
Dann glaubte ich freilich, diese und jene »Entscheidung« über mich selbst zu treffen. Wer aber hatte die Möglichkeiten zurechtgelegt, zwischen denen ich bei meiner »Entscheidung« allein zu wählen hatte? Ich etwa? Nein! – Wer drängte mich, durch die Spannung zwischen diesen Möglichkeiten, zur Entscheidung? Ich? Nein! Ich ging an jede Entscheidung mit Angst. – Und dann entschied freilich ich; was aber aus meiner Entscheidung in der Folge erwuchs, war regelmäßig nicht, was ich gewollt hatte. Durch jede entscheidende Entscheidung, die ich noch vollzog, stürzte ich mich gleichsam in ein Wasser von unbekannter, übermächtiger Strömung. So wurden freilich meine Entscheidungen Wendepunkte in meinem Leben, nur daß nicht ich mich darin wendete, wohin ich wollte, sondern durch die Entscheidung bloß die Möglichkeit schuf, irgendwie gewendet zu werden. Habe ich also durch meine Entscheidungen mein Leben gemacht? Nein!
Ich lebe nicht; ich werde gelebt. Auch durch meine eigenen Entscheidungen hindurch lebe nicht ich, sondern werde ich gelebt. Eine tragikomische Situation! Jeder Blick vorwärts reizt mich, nötigt mich, selbst zu leben; jeder Blick rückwärts lehrt mich, daß ich gelebt werde. Dieser Widerspruch wäre wirklich zum Lachen, wenn mirs nur mit dem Lebenwollen nicht immer wieder so schrecklicher Ernst wäre, wenn nur dadurch das bloße Gelebtwerden nicht immer wieder zu einer Demütigung für mich würde. So aber ist mir diese Urform meines Lebens, daß ich, leben wollend, doch nur gelebt werde, auch ein Urquell böser Verstimmung.
Und welch ein seltsames Leben ist es, das ich gelebt werde!
Ich, der ich Ich sage, ich lebe, wie man so sagt, in einem Körper, zu dem ich oft ein ganz äußerliches Verhältnis zu haben glaube, den ich aber doch eben als meinen Körper fühle, der mich vielmehr (um es gleich richtiger zu sagen) als seinen Haussklaven behandelt. Er baut sich auf und brennt sich nieder, ohne daß ich etwas Wesentliches dazu tun könnte, ja ohne daß ich seine seltsame Geschichte auch nur wirklich verstehen könnte. Aber auf eine geheimnisvolle Weise wird seine Schädigung mein Schmerz, sein Bedürfnis mein Verlangen, seine Sättigung meine Lust, und so werde ich gelockt und gezwungen, ihn zu pflegen und zu hüten. Dadurch macht er mir endlose Mühe. Erst war sie mir lustig; dann wurde sie mir zur wichtigen, ernsthaften Arbeit; jetzt ist sie mir oft beschwerlich und langweilig. Um es ehrlich zu sagen: das ganze Verhältnis, in dem ich zu meinem Körper stehe, gefällt mir nicht und ist mir überwiegend eine Quelle des Verdrusses.
In mir, der ich Ich sage, lebt, wie man so sagt, ein Geist, zu dem ich ein nicht minder seltsames Verhältnis habe. Auch er steht mir gewissermaßen fremd gegenüber, und doch ist er mein Geist, oder vielmehr (um es gleich wieder richtiger zu sagen), er behandelt mich als sein Werkzeug. Auch er lebt sein Leben für sich, zu dessen Entwicklung ich wesentlich nichts tun kann, dessen Gang ich nicht einmal recht verstehen kann. Er produziert auf eine geheimnisvolle Weise Ideen, die ich verarbeiten, die ich verwirklichen soll. Dazu lockt er mich: es ist eine Lust für mich, von Ideen getragen zu sein! Dazu zwingt er mich: der Geist versteht es so gut wie der Körper, seine Bedürfnisse und Triebe zu meiner Qual zu machen. Und so schafft auch er mir unendliche Mühe. Ich wollte sie mich nicht verdrießen lassen, wenn ich nur auch sehen könnte, was dabei herauskommen soll. Aber je eifriger ich mich meinem Geist widme, desto ferner rückt mir das Ziel, auf das er hinzudrängen scheint, desto mehr verschwimmt mir alles vor meinen Augen. So muß ich gestehen, daß mir auch das Verhältnis, in dem ich zu meinem Geiste stehe, nicht gefallen will; es ist mir immer wieder eine Quelle tiefer, hoffnungsloser Verstimmung.
Dazu kommt, daß der Körper, in dem ich lebe, und der Geist, der in mir lebt, sich sehr schlecht mit einander vertragen. Einer ist so herrisch wie der andere; jeder beansprucht mich ganz; sie behandeln sich gegenseitig als quantité négligeable. Macht mir der Körper sein Leben zu meiner Lust und Qual, so erscheint mir (was kann ich dafür?) alle Aufmerksamkeit, die ich dem Geiste widme, als Verschwendung von Zeit und Kraft: der Körper ist doch unbestreitbare Realität, der Geist bloßes Phantom! Macht mir der Geist sein Leben zu meiner Lust und Qual, so erscheint mir (was kann ich dafür?) alle Mühe, die ich dem Körper widme, verächtlich: der Geist ist allein Realität, der Körper nur Erscheinung! Da sollte ich wohl der kluge Vermittler sein; denn ich sehe ja (ich bekomme es zu spüren), daß unter der Vernachlässigung des Körpers auch der Geist, unter der Vernachlässigung des Geistes auch der Körper leidet. Wenn ich nur in diesem wunderlichen Haushalt etwas gelten würde! wenn ich nur darin etwas gelten wollte!
Damit komme ich auf das Allerseltsamste: ich bin offenbar so ganz Sklave, daß ich nur zu leben glaube, wenn ich herrisch kommandiert werde. Sind Körper und Geist einmal so schläfrig, daß ich für keinen meiner Herren dringende Geschäfte zu besorgen habe, so ist mir ganz unbehaglich zu Mute. Ich weiß dann gar nicht, was ich mit mir anfangen soll, und komme mir nicht anders vor denn als lebendig tot. Ich lebe eben nur in der Leidenschaft, der sinnlichen oder der geistigen, – und ich muß leben, ich will leben! Ich will also namentlich nicht schwache, zahme Regungen des Geistes, die mir die freie Verfügung über mich selbst lassen, sondern sehne mich nach überwältigenden Ideen, die mir die Freiheit rauben! Vor denen ich doch wieder Angst habe: wohin werden sie mich wohl reißen?!
So werde ich gelebt. Eine wirklich tragikomische Geschichte! Nur daß es mir recht wenig hilft, daß ich sie komisch oder tragisch oder zugleich tragisch und komisch auffasse. Mein Körper und mein Geist haben Mittel zur Hand, mich darauf festzunageln, daß es mein Leben ist, das von ihnen gelebt wird. O, so brutal, so raffiniert grausame Mittel!
Ich werde nicht für mich allein, sondern mit andern Menschen zusammen gelebt. Mit diesen bringt mich das Leben teils in ein mechanisches Verhältnis, teils in organische Verbindung. Jenes ist immer schon und verschwindet niemals ganz; diese wird immer erst, ohne jemals vollkommen zu werden. Der Übergang von dem mechanischen Verhältnis zu der organischen Verbindung mit den Menschen ist die Geschichte des Menschen (auch die Geschichte, die er in seinem Leben mit sich selbst hat, ist immer nur eine Episode der Geschichte, die er als Teil der Menschheit hat), – eine lange, schwere Leidensgeschichte.
Der Mensch ist für mich immer eines der Objekte, unter denen ich lebe, die mein äußeres Dasein bedingen, mit denen ich, als eben solches, bedingendes Objekt für sie, in einem den Gesetzen der Mechanik unterworfenen Verhältnis stehe. Ich muß mit dem Nebenmenschen als einer Macht, die mir förderlich oder hinderlich werden kann, bei der Gestaltung meiner Lebensverhältnisse rechnen. So lange ich so mit ihm rechne, empfinde ich ihn auch bloß als Objekt, – d. h. es kommt für mich nicht in Betracht, es tritt mir auch nicht ins Bewußtsein, es bewegt mich nicht, daß er, gleich mir, ein für sich lebendes, empfindendes, verlangendes Subjekt ist. Doch kann das ja auf die Dauer nicht verborgen, nicht unberücksichtigt bleiben. Darum ist das mechanische Verhältnis des Menschen zum Menschen an sich unwahr, undurchführbar, trägt die Nötigung in sich, in eine organische Verbindung der Menschen überzugehen.
Diese setzt mit der Entdeckung ein (das ist immer eine wirkliche, sehr überraschende Entdeckung), daß der Mensch, der neben mir hinlebt, auch für sich lebt, empfindet, denkt, wünscht. Dadurch wird er mir sofort interessant: ich muß die Art, wie er für sich lebt, mit der vergleichen, wie ich für mich lebe. Das muß ich; das heißt: das tue ich ganz von selbst, in bloßer, durch jene Entdeckung hervorgerufener Reflexbewegung. Ist sie eingetreten, so folgt sofort, ganz von selbst, der Wunsch, daß ich mein Erlebtwerden mit ihm austausche, mein Lebenwollen mit dem seinigen verbinde. Es ist ganz unmöglich, neben einem Menschen, den man als für sich lebendes Subjekt empfunden hat, weiter bloß äußerlich dahinzuleben. Aber die Art, wie ich mich erlebe, ist mit der Art, wie er sich erlebt, doch nicht identisch; daß wir sie austauschen, erfordert also, daß wir uns über Verwandtschaft und Unterschied unseres Erlebtwerdens verständigen, uns zugleich als verwandt und verschieden anerkennen. Auch unser Lebenwollen weist nicht einfach auf dasselbe Eine Tun hin, in dem wir mit einander zugleich jeder für sich und jeder für den andern lebten. Darüber müssen wir uns ebenfalls erst verständigen. Die organische Verbindung muß das mechanische Verhältnis teils überwinden, teils sich dienstbar machen.
Mit typischer Klarheit vollzieht sich der Übergang von dem mechanischen Verhältnis zu der organischen Verbindung in den Beziehungen der Geschlechter und der Generationen zueinander, also in der Familie, die darum auch den wichtigsten Ort für die Geschichte des Menschen bildet.
Das sinnliche Verlangen macht dem Manne das Weib, dem Weibe den Mann nur zum bedeutenden Objekt; es ist eher ein Hindernis als ein Anreiz, daß Mann und Weib sich gegenseitig als je für sich lebendes Subjekt empfinden. Darum ist es an sich rücksichtslos, hat sogar eine Tendenz zur Grausamkeit. Mann und Weib sind, das drückt sich gerade in dem sinnlichen Verlangen aus, natürliche Feinde. So ist aber auch das Kind für die Eltern zuerst begehrtes und gefürchtetes Objekt; und für das Kind sind die Eltern die erste Macht, auf die es angewiesen und durch die es beschränkt ist. Auch Eltern und Kinder sind natürliche Feinde. Aber diese Beziehungen nötigen zugleich, sich gegenseitig als auch für sich lebendes Subjekt zu erkennen. Schon das sinnliche Verlangen erreicht eine befriedigende Befriedigung nur unter der Voraussetzung der Gegenseitigkeit. Daß die Befriedigung des Menschen durch die Befriedigung des sinnlichen Verlangens nicht nachträglich in ihr scharfes Gegenteil umschlage, ist dadurch bedingt, daß der Mann und das Weib, die sich verbunden haben, sich mehr und mehr als für sich lebende Subjekte empfinden, ihr Für-sich-leben unter sich austauschen, ihr Leben-wollen vereinigen. Die Fortdauer des sinnlichen Verlangens hindert einerseits, erzwingt andrerseits diese Entwicklung. Da Mann und Weib heterogene, anders- artige Wesen sind, erweist sich die Verständigung in ihrem Verhältnis als unbedingt notwendig (Mann und Weib haben kein unmittelbares Verständnis für einander) und als besonders schwierig. Sie ist darum auch immer nur Moment; und der Fortschritt der Entwicklung besteht nur darin, daß der Moment des Sich-verstehens immer häufiger eintritt. Das ist die Tragik jedes, auch des glücklichsten, erotischen Verhältnisses. Wird sie nicht empfunden, nicht verstanden, so ist sie darum doch da. – Auch daß die Eltern zu dem Kinde, dem begehrten und gefürchteten Objekt, das Kind zu den Eltern, der tragenden und beschränkenden Macht, ein befriedigendes Verhältnis erlangen, hängt immer davon ab, daß sie sich durch Verständigung erst organisch verbinden. Vater und Mutter müssen das Kind erst als Subjekt empfinden, anerkennen lernen. Das natürliche Verhältnis erschwert ihnen das ebenso sehr, als es sie dazu nötigt. Ermöglicht wird ihnen das Verständnis des Kindes dadurch, daß sie selbst auch Kinder waren, in dem Leben des Kindes ihre eigene frühere Entwicklung repetieren. Sie lernen die eigene Kindheit in dem Kinde selbst erst recht verstehen. Aber ein unmittelbares Verständnis des Kindes haben die Eltern trotzdem nicht. Noch viel weniger natürlich die Kinder für die Eltern. Während die Eltern in dem Kinde die frühere eigene Entwicklung repetieren, kann das Kind in den Eltern die künftige eigene Entwicklung nur ahnen. Das reicht aber zu einem wirklichen Verständnis der Eltern niemals hin. Verstehen kann das Kind weder, daß die Eltern doch auch für sich leben – das Kind ist als solches rücksichtslos gegen die Eltern; noch, daß die Eltern wirklich für es leben – das Kind ist als solches undankbar gegen die Eltern. So ist das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern wesentlich tragisch. Wird das nicht empfunden und verstanden, so ist es doch wahr. Und diese Tragik weicht niemals ganz. Auch Eltern und Kinder verstehen sich immer nur momentan; hoffentlich immer häufiger, aber über momentanes Verständnis kommen sie niemals hinaus.
Das gilt überhaupt: der Mensch versteht den Menschen immer nur momentan. Ganz allgemein gilt auch, was in dem Verhältnis von Mann und Weib, von Eltern und Kindern besonders klar hervortritt: daß der Mensch seine Geschichte nicht lebt, sondern gelebt wird.
Das sinnliche Verlangen der Geschlechter nach einander ist offenkundig bloßes Erlebnis. Auch das Kind erleben die Eltern nur, und die Eltern werden von dem Kind erlebt. Tritt die Feindschaft der Geschlechter gegen einander, die in dem sinnlichen Verlangen steckt, als Vergewaltigung und Verführung offenkundig hervor, so wird dadurch gerade auch das offenbar, wie das Verlangen den Verlangenden vergewaltigt und verführt. Wir dürfen solche Vorgänge doch auch auf die Formel bringen, daß das Verlangen sich eine Befriedigung erzwingt, die seinen Träger nur auch gar nicht befriedigt. Es leiden dabei immer zwei: nur vielleicht unter der trügerischen Form der Lust, einer Lust, die sogar im Augenblick des Gelüstes dem Schmerze furchtbar ähnlich sieht. Auch der Ausbruch unnatürlichen (o nein, höchst natürlichen!) Hasses zwischen Eltern und Kindern beweist vor allem, daß hier eine in Wesensverhältnissen begründete Spannung sich gewaltsam Luft macht. Wie schrecklich ist es auch, daß die Kinder die Erbschaft der Eltern antreten müssen ohne die Rechtswohltat des Inventars! Wie auch die Eltern sich auf die Kinder vererben müssen, ohne bestimmen zu dürfen, mit welcher Auswahl, in welcher Mischung ihrer Eigenschaften!
Die Menschen werden nicht nur als Einzelne für sich, sondern auch als Menschheit zusammen gelebt; und in einer Weise, die man nur als eine böse Sache bezeichnen kann. Ich könnte auch sie tragikomisch finden, nur scheint mir das Tragische hier so stark zu überwiegen, daß die Komik (die ich nicht verkenne) zur bloßen Steigerung desselben zu werden droht.
Der Übergang von dem mechanischen Verhältnis zu der organischen Verbindung mit dem Menschen vollzieht sich regelmäßig in der Form, daß ich zuerst zum Schuldner des betreffenden Menschen werde. Die Schuld ist ein notwendiges Stadium in der Geschichte des Menschen.
An jeden Menschen, mit dem ich mich berühre, knüpfe ich eine Erwartung; und ich sehe, daß die Menschen, mit denen ich mich berühre, geneigt sind, auch an mich Erwartungen zu knüpfen. Eine Verbindung wird dadurch eingeleitet, daß sich unsere Erwartungen begegnen. Können wir uns über die Erwartungen, die wir gegenseitig an einander knüpfen, verständigen, so wird die Verbindung geschlossen. Zu dieser Verständigung gehört wesentlich, daß wir den Glauben an die Erfüllung unserer Erwartungen gewinnen. Ihm helfen wir nach durch ein Versprechen, das, um eine wirkliche Verständigung zu gewährleisten, nach stillschweigender Übereinkunft als bindend erachtet wird.
Die Erwartung ist natürlich von einem Bedürfnis, einem Verlangen getragen. Wird sie enttäuscht, so beklagt sich der Enttäuschte darüber als über eine Art Betrug: es wurde ihm die Befriedigung eines Bedürfnisses in Aussicht gestellt und nicht gewährt. (Er ist in der Tat betrogen; die Frage ist nur: von wem?) Wurde die Erwartung durch ein Versprechen bekräftigt, so hat sich der Versprechende damit verpflichtet, sie zu erfüllen, und bleibt ihre Erfüllung schuldig, bis er seines Versprechens entbunden wird. Darauf hat er jedoch niemals einen Anspruch. Bleibt er also mit der Erfüllung der Erwartung über die billige Zeit hinaus, vielleicht sogar dauernd, im Rückstand, so hat er eine Schuld auf sich geladen. Der betrogene Gläubiger klagt ihn der Wortbrüchigkeit an.
Natürlich mit Recht. Es ist schändlich, in Erwartungen enttäuscht, gar durch Versprechen betrogen zu werden! Aber ist der Mensch denn auch wirklich in den Stand gesetzt, die Erwartungen, die er erregt, oder doch die Versprechen, die er bona fide ablegt (von anderen rede ich hier nicht), zu erfüllen?
Nein! Es ist jedesmal Glück, daß einer eine Erwartung, ein Versprechen erfüllen kann!
Ich habe es noch immer angenehmer gefunden, Verpflichtungen einzulösen, als sie aufzulösen, Erwartungen zu erfüllen, als sie zu enttäuschen. Das erstere entspricht an sich meinem Wunsche, auch wenn das letztere nicht stets mit großen Unbehaglichkeiten verbunden wäre. Darüber brauche ich also kein Wort zu verlieren. Aber mit diesem meinem Wunsche ist es leider gar nicht getan.
Der Vorgang nämlich, daß zwei Menschen sich in den Erwartungen, die sie aneinander knüpfen, begegnen, sich diese Erwartungen durch Versprechen bekräftigen, sich dadurch gegenseitig gegen einander binden, ist nicht so einfach, wie er aussieht. Es fragt sich erstens gar sehr, ob sich die Betreffenden im Augenblick des Versprechens in ihrem Versprechen verstehen, ob sich also ihre Erwartungen wirklich oder nur scheinbar in Einem Punkte, in dem sie sich vereinigen könnten, begegnen. Das ist nicht einmal in äußerlichen Geschäften immer ganz sicher festzustellen, – mancher schließt einen Handel ab, den er eigentlich nicht abschließen wollte. Richtet sich die Erwartung auf die Gesinnung des Menschen, so ist der Fall, daß sich zwei Menschen wirklich in einem Punkte begegnen, sogar der seltenere. Das aufrichtigste, heiligste Versprechen der Freundschaft und Liebe kann ein Mißverständnis sein: jeder wünscht von dem andern seine Art von Liebe, die er gewähren kann, auch zu erhalten, und ihre Liebe kann eben von verschiedener Art sein. Ob das der Fall ist, läßt sich gar nicht so leicht feststellen. Doch, setzen wir voraus, ihre Liebe sei von Einer Art. Nun, so ist sie jetzt von einer Art. Aber die beiden, die sich jetzt verstehen, bleiben auf diesem Jetzt nicht stehen; sie können sich an dieses Jetzt nicht festklammern.
Unwiderruflich dorrt die Blüte,
Unwiderruflich wächst das Kind;
Abgründe liegen im Gemüte,
Die tiefer als die Hölle sind.
So wachsen also die Menschenkinder; die Abgründe tun sich auf. Wohl ihnen, wenn sie, die sich an Einem Punkte wirklich getroffen haben, gleichmäßig wachsen dürften, wenn sie immer dieselben Abgründe zu gleicher Zeit durchwandern oder überspringen müßten! Aber Richtung und Geschwindigkeit ihrer Entwicklung liegt nicht in ihrer Macht. Und so wachsen sie eben vielleicht unaufhaltsam von einander weg. Die Erwartungen, die sie immer noch an einander knüpfen, begegnen sich immer seltener. Das Versprechen, das die Erfüllung dieser Erwartungen als gewiß in Aussicht stellte, müssen sie sich schuldig bleiben. Erfüllt kann es erst werden, wenn die Ungleichheit des Wachstums wieder ausgeglichen ist, so daß ihre Erwartung sich wieder in Einem Punkte begegnen kann.
So wird der Mensch schuldig. Das Versprechen ist ein Versuch des Menschen, den Entschluß eines Augenblicks (der ja zuvor Jahre lang überlegt sein kann) zum Willen seines ganzen künftigen Lebens zu machen. Daß dieser Versuch gelingt, muß immer als Glücksfall betrachtet werden. Ich bin nicht Herr meines Willens! Ich darf sogar (bei Todesstrafe!) nicht Herr meines Willens werden wollen. Denn der Wille hat nur Sinn und Wert als Ausdruck des Interesses an seinem Objekt. Alles gemachte Interesse aber ist eine Lüge, die an der Lebenskraft des Menschen zehrt; es ist sogar alles vermittelte Interesse ungesund und unbefriedigend. »Will« ich etwas aus Rücksicht auf einen Entschluß, den ich einmal gefaßt, so betrüge ich mich selbst und betrüge, wenn ich den Entschluß aus Rücksicht auf einen Dritten festhalte, diesen Dritten. Das kann diesem gleichgültig sein, wenn es sich um Geld und Geldeswert handelt. Dagegen würde der Betrug (hoffentlich!) sehr lebhaft empfunden, wenn sich jemand einfallen ließe, persönliches Interesse für jemanden aus Rücksicht auf ihn (oder eine heilige Pflicht) festhalten zu wollen. Interesse hat man oder hat man nicht: ein Drittes gibt es nicht.
»Versprechen macht Schulden!« Das ist eine wesentliche Wahrheit, die nur zufällig je und je nicht so merklich hervortritt. Ich sage noch schärfer: das Versprechen als solches stürzt in Schuld.
Also nicht versprechen, womöglich auch keine Erwartung erregen! Denn auch das kann in Situationen bringen, die von der Verschuldung kaum zu unterscheiden sind. Wenn nur der Mensch diese treffliche Regel nicht erst dadurch verstehen lernte, daß er die Erfüllung eines Versprechens schuldig bleiben muß! Wenn man nur unter den Menschen leben könnte, ohne Erwartungen zu erregen, ohne sich durch Versprechen zu binden!
Aber das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Und so ist die Schuld ein wesentlicher Bestandteil des Menschenlebens. Sie läßt sich nicht durch Vorsicht vermeiden; sie läßt sich nicht durch guten Willen geschwind wieder beseitigen. Der Ernst der Schuld liegt gerade darin, daß sie (wenigstens im Augenblick) nicht bezahlt werden kann. Ist die Schuld, so ist sie.
Und dann ist sie eine böse, böse Sache.
Das alles wäre nun wenigstens erträglich, wenn sich die Menschen darüber, wie es mit ihrem Leben eigentlich zugeht, verständigen könnten. Aber das ist noch nie in größerem Umfange geschehen (die großen Religionsgesellschaften sind ein bloßer Schein), und es liegt in der Natur der Sache, daß es niemals geschehen wird. Und so verbittern sich die Menschen das an sich schwere Leben durch notwendiges Mißverständnis.
Der charakteristische Widerspruch im Menschenleben ist, daß der Mensch einerseits offenbar gelebt wird, andererseits offenbar leben, sein Leben so oder so machen will. Durch die Stellung zu dieser Tatsache scheiden sich die Menschen in drei große Gruppen:
den einen ist der Widerspruch noch gar nicht zum Bewußtsein gekommen; gelebt werden und leben wollen fließt ihnen unmittelbar zusammen;
den andern ist dieser Widerspruch zum Bewußtsein gekommen; sie empfinden ihn als Aufforderung, sich als gegebenen Stoff frei zu formen, und glauben an die Möglichkeit, ihr Leben nach ihrem Sinn zu gestalten;
die dritten haben an dieser Möglichkeit verzweifelt und sehen in dem Leben-wollen die bloße charakteristisch-menschliche Form des Gelebt-werdens.
Daraus leiten sich noch manche bedeutsame Unterschiede in der Auffassung und Behandlung des Menschen ab. Ich weise nur auf die verschiedene Rolle hin, welche Pflicht und Schuld bei diesen drei Gruppen spielen.
Den einen ist die Gleichwertigkeit fremden Verlangens mit dem eigenen noch gar nicht offenbar worden, sie denken daher an eine Verpflichtung überhaupt nicht; die andern machen die Durchführung der Gleichberechtigung eigenen und fremden Verlangens zu einem Selbstzweck, der als solcher alle materiellen Lebensinteressen überwiegt; die dritten anerkennen die Gleichwertigkeit eigenen und fremden Verlangens, haben aber den Glauben an dessen Befriedigung verloren, wodurch ihnen auch das gleiche Recht eigenen und fremden Verlangens gleichgültig wird.
Die einen haben noch gar keinen Begriff von Verschuldung, weil ihnen die Gleichwertigkeit fremden Verlangens noch nicht ins Bewußtsein trat; die andern sehen in der Schuld bösen Willen: die leichtfertige Nichtberücksichtigung oder boshafte Verneinung fremden Rechts; die dritten sehen in der Schuld, die sie als Nichteinlösung aufgenommener Verbindlichkeit anerkennen, ein eigenes, schweres, aber unvermeidliches Leiden.
Ich habe deutlich in der dritten Lebensauffassung Stellung genommen und beschränke mich darauf, zu beschreiben, wie sich das Leben unter den Menschen auf diesem Boden macht.
Da leidet man erstens das schwere, obgleich unvermeidliche Leiden der Schuld, muß sich die Schuld zweitens als bösen Willen anrechnen lassen, muß sich drittens darüber verlachen lassen, daß man an der Schuld schwer trägt.
Da leidet man erstens darunter, daß menschliches Wollen nichts Reelles vermag; muß sich zweitens den Vorwurf gefallen lassen, daß man Wollen und Sollen im Leichtsinn oder Mutwillen entnerve; muß sich drittens darüber verlachen lassen, daß man nicht einfach frisch darauf los lebt.
Das ist bitter und ist lustig. Vor allem aber: es ist das ein wesentlicher, also notwendiger Bestandteil des Menschenloses. Indem der Mensch endlich Mensch wird, wird er seinen Mitmenschen zum Unmenschen. Wer das noch nicht zu erleben bekam, hat noch nicht ganz gelebt.
Ich bin von der ersten Lebensform aus durch die zweite (eine Lebensanschauung) hindurch in die dritte (die für eine Lebensanschauung nicht mehr gelten will, also nur wieder Lebensform ist) hineingedrängt worden, unter Schwankungen zwar, aber doch mit so unheimlicher Folgerichtigkeit, daß ich gerade daran erkennen mußte, daß ich nicht lebe, sondern gelebt werde. Ich weiß daher auch, daß kein Mensch seine Lebensanschauung (wenn er überhaupt eine hat) kraft freier Wahl hat; gerade seine Lebensanschauung wird ihm angelebt. (In der ersten Lebensform, da der Mensch noch gar nicht getrieben ist, sich eine Lebensanschauung zu bilden, sieht er das Leben ganz selbstverständlich eben so, wie sich's aus der Beziehung seines Auges zur Wirklichkeit ergibt.)
Die Art aber, wie der Mensch das Leben sieht, enthält bereits das Urteil über den Menschen, der ihm begegnet, in sich. Namentlich sieht bösen Willen, wer sich die Schuld aus bösem Willen erklären muß: da kann auch er gar nichts machen. Und natürlich kann dann auch der nichts machen, der sich seine Schuld als bösen Willen deuten lassen muß. Die Art, wie sich die Menschen gegenseitig beurteilen, wird jedem durch die Art, wie er das Leben bis dahin erlebte, mit einer Notwendigkeit aufgedrängt, der er gar nicht ausweichen wollen kann, von der man ihn auch nicht ablenken kann noch schließlich mag.
Menschen verschiedener Art müssen sich mißverstehen. Und da durch den Aufbau der Menschheit dafür gesorgt ist, daß immer Menschen verschiedener Art untereinander leben, so müssen sich die Menschen mißverstehen. Das ist Menschenlos, – und ist freilich eine bitterböse Sache.
Ich lebe nicht; ich werde gelebt.
Durch diese Formel habe ich mir den furchtbaren Widerspruch, der sich unter der oft glänzenden Oberfläche des Menschenlebens verbirgt, zu verdeutlichen gesucht. Ich habe alle einzelnen Schwierigkeiten des Lebens, alles Häßliche, Böse am Leben, als bloße Offenbarung dieses Grundwiderspruchs zu verstehen geglaubt. Ach, eine zermalmende Erkenntnis!
Da ja gegen diese einfache Tatsache, die sich immer deutlicher erwies, gar nichts zu machen war, rieselte der Schmerz, den sie mir verursachte, allmählich ruhiger durch die Adern. Da geschah mir das Seltsame, daß sich mir meine ganze Situation allmählich umgestaltete. Langsam, aber sicher, veränderte sich der Anblick des Lebens.
Die Wahrnehmung, daß ich unwiderstehlich gelebt wurde, hatte mich mein Leben erst recht als mein Leben empfinden lassen. Ich hatte zu spüren bekommen, wie unentrinnbar ich an mich gebunden war, wie unzerreißbar ich in den Organismus der Menschheit eingeflochten war. Ich habe keine Freizügigkeit, nicht die freie Wahl der Personen, mit denen ich in wirklichen Lebensaustausch treten kann, nicht die freie Wahl des Berufs, nicht die freie Wahl der Lebensstimmung: alles kommt über mich, – und immer handelt sich's in der empfindlichsten Weise um mich! Dadurch wurde mein Interesse an meinem Leben ins Ungeheure gesteigert. Bewußtermaßen nur gelebt werdend, wollte ich gerade leben, wollte ich – leben!
Zugleich aber löste mich die Wahrnehmung, daß ich doch nur gelebt werde, von mir los, stellte mir mein Leben als etwas Objektives gegenüber. Die schmerzhaften Vorgänge in meinem Körper als etwas Objektives zu betrachten, ist mir nicht so schwer geworden. Aber auch das habe ich schließlich gelernt, Stimmungen, Gedanken, Wünsche als etwas Objektives hinzunehmen. Kommen sie, so kommen sie; gehen sie, so gehen sie. Bleiben sie aus, so kann ich sie nicht erzeugen; sind sie da, so kann ich sie nicht vernichten. Was in mir vorgeht, hat genau genommen dieselbe unabhängige Objektivität, wie was außer mir vorgeht.
So wurde ich zugleich ganz subjektiv und höchst objektiv, – zugleich ein Ich und ein Ding.
Auch dieser Widerspruch trägt wieder seine Spannung, seine Qual in sich, die mir allmählich alles materielle Lebensinteresse entwertete und mich nötigte, meine ganze Aufmerksamkeit der Frage zuzuwenden, was das eigentlich zu bedeuten habe, daß ich so gelebt werde. Und diese Frage wuchs mir über den Kopf hinaus, richtete sich an die Macht, von der ich gelebt wurde, die sich mir, indem ich von ihr gelebt wurde, immer mächtiger, schärfer, als konkrete, obgleich unerklärliche Einheit gegenüberstellte. Welchen Sinn verbindet sie mit der Art, wie sie mich lebt? – Nachdem ich mich erst mit manchem unnützen Kunstgriff in ihr Vertrauen einzuschleichen versucht hatte, stellte ich mich ihr mit der einfachen, kühlen, scharfen Frage gegenüber: was denn das alles heißen solle, was ich nun erlebt habe, weiter erleben muß. Das darf ich doch wohl fragen, wenn ich das Leben, das ich gelebt werde, als mein Leben empfinden muß!
Ich habe bis jetzt keine Antwort erhalten. Überrascht hat mich das nicht. Liebenswürdig, in dem Sinne, wie ich in meiner menschlichen Bedürftigkeit mirs wünschen möchte, hatte ich diese Macht eigentlich nie gefunden.
Aber kann sie mit der Antwort warten, so kann ich auf meiner Frage beharren. Das allerdings kann ich nicht hindern, daß ich materiell weiter gelebt werde, wie's ihr beliebt. Aber dazu kann sie mich nicht zwingen, daß ich ein Leben, das ich nicht verstehe, als mein Leben anerkenne.
Ich stehe also mit der Macht, von der ich gelebt werde, in einem bewußt gespannten Verhältnis.
In einem solchen hat man Zeit, sich zu besinnen. Das habe ich denn auch getan. Und ich bin dabei auf mancherlei Gedanken gekommen.
Indem ich das Leben, das ich freilich erleben mußte, als eine mich doch eigentlich nichts angehende Sache betrachtete, fiel mir zunächst der ungeheure Verstand auf, der in seiner Einrichtung steckt. Die Zusammensetzung des Menschen, die Organisation der Menschheit kann ich nur raffiniert nennen. Allerdings ist sie mir in einzelnen Stücken höchst widerwärtig, im großen Ganzen, was ja wieder unbehaglich ist, mindestens unverständlich. Aber das kann und will ich nicht leugnen, daß ich mir ihre Sinnlosigkeit für mich ehrlicherweise nur aus der Stumpfheit meines Verstandes erklären kann. Und das hat etwas Beruhigendes in sich. Es ermutigt mich zu dem Gedanken, daß die von mir unmittelbar empfundene Unbehaglichkeit des Daseins im Zusammenhange des Lebens, den ich freilich nicht sehe, einen andern, ja gerade den entgegengesetzten Sinn haben möchte. Auch bei dem, was ich absichtlich wirke, erhält ja das Einzelne seinen wahren Sinn erst durch den Zusammenhang, in dem ich es will.
Sodann konnte ich mit dem Resultat meiner bisherigen Entwicklung, seltsamerweise, eigentlich nicht unzufrieden sein. Die gesperrte Stellung zum Dasein, die ich einzunehmen gezwungen worden war, gewährt eine eigentümliche Ruhe, einen seltsamen Genuß seiner selbst. Behaglich ist sie nicht; das ist wahr: es friert mich manchmal. Trotzdem möchte, könnte ich mit keinem Zeugen menschlicher Behaglichkeit, auch nicht mit der Unschuld kleiner und großer Kinder, tauschen. Nein! Ich bin, der ich bin … Auch diese seltsame Stimmung verstehe ich eigentlich nicht; aber sie ist eine Wirklichkeit in mir.
Indem ich dies konstatierte, kam mir die alte Sage in Erinnerung, daß die Macht, von der der Mensch mit der ganzen Welt gelebt werde, Liebe sei. Eine sonderbare Liebe, hatte ich früher oft gedacht; deshalb hatte ich diesen phantastischen, überschwänglichen Gedanken immer wieder, als leer und unbrauchbar, beiseite geschoben. Eine sonderbare Liebe, denke ich jetzt noch; denn sie entspricht gar nicht meinem gefühlsmäßigen Bedürfnis nach Liebe. Nein, ich hätte so, wie ich geliebt worden sein müßte, nie geliebt zu werden gewünscht. Wenn aber dies Resultat meines Lebens, das ich doch nicht verwünschen kann, ein Ziel dieser Liebe gewesen sein sollte? So dürfte ich ja erwarten, daß ich von ihr noch zu manchen ähnlichen Resultaten geführt werde, die ich natürlich ebenso teuer bezahlen müßte, die ich aber, einmal erreicht, ebenso wenig verwünschen könnte?! Hätte es dann nicht einen wirklichen, guten Sinn, daß ich von der Macht, von der ich gelebt werde, auch geliebt werde?
Also müßte ich mich zunächst nur darein finden, mit einer Liebe geliebt zu werden, die ich nicht verstehe. Also dürfte ich nur den Gedanken wagen, daß die Unverständlichkeit dieser Liebe aus ihrer Größe fließe, in der Höhe ihrer Absichten begründet sei. Also müßte ich, um mein Leben zu verstehen, es von der Voraussetzung aus betrachten, daß es gerade so, wie es wurde, von der Liebe bestimmt worden sei.
Das leuchtete mir ein. Und ich sah auch bald, daß ich, um den Sinn einer überlegenen Liebe zu enträtseln, gerade von den paradoxen Äußerungen derselben ausgehen müsse. Sympathisch an ihr kann mir doch nur sein, was meiner Auffassung von Liebe schon entspricht; was über diese hinausgeht, muß ihr auch widersprechen.
Ich fand es der Mühe wert (hatte auch gar keine andere Wahl), es mit dieser Idee als einem Schlüssel zum Verständnis meines rätselhaften Lebens ernsthaft zu versuchen.
Da ward ich zunächst genötigt, den ganzen Apparat meines Empfindens, Begehrens, Denkens, Beschließens als bloßen modus vivendi zu betrachten (eine Form, nicht des Lebens, sondern des Gelebtwerdens), dessen wesentliche Bedeutung in der Wirkung und Absicht liegt, mir das Leben, das ich gelebt werde, zu meinem Leben zu machen und mich zugleich zu nötigen, mich diesem meinem Leben (und der Macht, von der ich darin gelebt werde), es mir objektivierend, gegenüberzustellen.
Das Gelüste meines Gaumens, das Knurren meines Magens lockt und nötigt mich, meinen Körper als meinen Körper anzuerkennen und für dessen Erhaltung Sorge zu tragen. Er bildet nun einmal die sinnliche Grundlage meiner Existenz. Aber darauf, daß mir meine sinnliche Existenz behaglich werde, ist wenig Rücksicht genommen; es scheint mir sogar die bestimmte Absicht zu walten, sie mir zu entleiben, damit ich mich, an sie gefesselt, doch von ihr unterscheide und loslöse.
Der sinnliche und der geistige Eros bringen mir zum Bewußtsein, daß ich nur als Glied eines Organismus gelebt werde, locken und nötigen mich, aus dem bloßen Nebeneinanderleben mit meinen Mitmenschen heraus in eine organische Verbindung mit ihnen hineinzustreben. Darauf, daß ich die organische Verbindung mit der Menschheit als ein Glück erlebe, scheint mir wenig Rücksicht genommen; eher scheint mir beabsichtigt, mich, indem ich sie erlebe, verwirkliche, zugleich darüber hinauszudrängen.
Daß ich schuldig gemacht werde, bindet mich vollends unauflöslich an die Menschen; daß mir die Schuld als böser Wille zugerechnet wird, isoliert mich wieder innerhalb der Menschheit, stellt mich auf mich selbst, drängt mich zu einer Abrechnung mit der Macht, von der ich gelebt werde. Der Schmerz des Schuldigwerdens ist freilich sehr berücksichtigt – es soll mich schmerzen, damit es diese seine Absicht erreiche. Denn nur durch den schärfsten Schmerz kann ich gezwungen werden, mich gegen die Macht, von der ich gelebt werde, zu stellen.
Die Art und Weise aber, wie ich im einzelnen gelebt werde, muß ich als richtig anerkennen, gleichgültig, ob sie mir irgend welches (sinnliche, ästhetische, moralische) Behagen oder Unbehagen schafft. Daß mir mein Leben angenehm oder unangenehm, schön oder häßlich, gut oder böse erscheint, unterrichtet mich bloß über das jeweilige Verhältnis zu mir und andern, durch das ich gerade hindurchgelebt werde, ist zugleich die Kraft, die mich weitertreibt, verwandelt (indem es sich in Entschlüsse umsetzt) mein Weitergelebtwerden in die für den Menschen charakteristische Form des Weiterlebenwollens, – aber damit ist seine Bedeutung auch erschöpft. Aufschluß über den eigentlichen, wirklichen Sinn des Lebens geben mir diese angenehmen und unangenehmen Empfindungen nicht. Wird er mir je, so gewiß erst von dem Rückblick auf das durchlaufene Leben, wenn mich die Macht, die mich lebt, bis zu dem Ziele gebracht hat, das jetzt nur sie weiß. Bis dahin muß ich mein Urteil über mein eigenes Leben aufschieben; und dieses Leben beschäftigt mich auch in dem Grade, daß mir nur je und je empfindlicher wird, wie wenig ich es verstehe.
Das gespannte Verhältnis zu der Macht, die mich lebt – ein Verhältnis, das natürlich so lange fortdauert, als ich ihre Liebe nicht verstehe und darum nicht erwidere: es ist ja wohl die »Sünde«, die den Frommen so viel zu schaffen macht. Für mich gehört sie zu dem modus vivendi, nach dem ich eben gelebt werde: sie ist nur die Sprödigkeit, von der sich die rechte, große Liebesleidenschaft erst losringen muß. Andererseits ist diese Sünde, wesentlich betrachtet, ein Nichts: denn die Liebe jener Macht ist unabhängig davon, ist erhaben darüber, daß sie erkannt oder verkannt, hingenommen oder verschmäht, mit Liebe oder mit Haß erwidert wird. Die Sprödigkeit ist nur in dem Sünder zugleich die unerträgliche Spannung. Geht sie in die Liebe über, so geht sie auch in der Liebe unter. Und dann wirkt sie in der Liebe nur noch nach als Anreiz, sich der Seligkeit der Liebe immer mehr bewußt zu werden.
Wenn diese Gedanken in mir erwachen (das gehört zum Gelebt-werden); wenn ich mich ihnen zu überlassen wage (die einzige Tat der Freiheit, die ich vollziehen zu können – zu müssen glaube): so verändern sie die Art, wie ich mich empfinde, vollständig. Daß nur auch so leicht zu sagen wäre, wie!
Sie zerstören mein Selbstgefühl, und sie geben mir erst Selbstgefühl. Sie machen mich mir fremd und bekannt, unheimlich und vertraut. Sie lassen mich mir selbst als etwas Objektives, Dingliches erscheinen, und geben mir erst das volle, durchdringende Gefühl subjektiven Daseins. Sie machen mir alles Wollen-Wollen unmöglich, und erzeugen in mir den stärksten Willen.
Ist das ein glücklicher Zustand? Nein – dazu bin ich mir zu unheimlich. Ist es ein unglücklicher Zustand? Nein – denn so liebe ich mich doch. Bin ich, in diesem Zustande, gut? Ich mache keinen Anspruch darauf. Bin ich darin böse? Es ist mir gleichgültig. Was gehe ich denn mich an? Die Macht, von der die Welt gelebt wird, hat auch an Kröten, Hyänen, Klapperschlangen, Aasgeiern und Faultieren ihre Freude. Wenn sie mich als eines dieser Wesen, in menschlicher Einkleidung, gelebt haben will, so ist das ihre Sache. Für die von ihr beliebte Art, das Leben gelebt werden zu lassen, braucht sie offenbar auch solche häßliche, nichtsnutzige, böse Geschöpfe. Manchmal glaube ich sogar sehen zu können, wie notwendig sie ihr sind. Dann kann es mir auch recht sein, daß ich eine Klapperschlange oder ein Aasgeier bin. Dann schmeckt mir das Aas, das ich fressen muß; dann freue ich mich meines Giftzahns.
Ob das Leben, das aus diesem Glauben fließt, angenehm ist oder unangenehm, gut oder böse, darauf kann ich mich also nicht einlassen. Ich habe darauf ja auch keinen Einfluß. Denn ich werde eben fortgelebt, nicht wie ich will, sondern wie es der Macht beliebt, von der ich gelebt werde. Aber schön ist dieses Leben, das wage ich zu sagen, – schön wie das ruhelos wogende Meer, schön wie die jähen Abhänge und starrenden Gipfel und blendenden Schneeflächen des Hochgebirgs, schön wie der lautlose, sichere Gang der nächtlichen Gestirne, – schön wie die große, wilde, geheimnisvolle Natur!
Wenn diese Gedanken in mir erwachen (darin bin ich ganz leidend), wenn ich mich ihnen hinzugeben wage (das ist meine Tat): so verändern sie die Art, wie ich den andern Menschen empfinde, durchaus. Nur ist nicht eben leicht zu sagen, wie.
Sie vernichten das unmittelbare Mitleid mit den Menschen. Daß der Mensch unter sinnlichem oder geistigem Schmerz leidet; daß ihn die Art bedrückt, wie er in den Organismus der Menschheit eingegliedert wird; daß er von der Schuld in heftigen Zwiespalt mit sich selbst gebracht wird; daß ihm die Schuld als böser Wille angerechnet wird: es gehört zu der Art, wie er von der liebenden Macht gelebt wird, von der wir alle gelebt werden. Soll ich aber einen Menschen darüber bemitleiden, daß er von einer Liebe geliebt wird, unter der er, wegen der Größe ihrer Absichten, zunächst nur leiden kann? Nein, das kann ich doch nicht! Und so kann ich – ja, ich kann das! – mit schweigender Kälte auf das qualvolle Leiden meiner Mitgeschöpfe hinschauen. Der Glaube an die furchtbare Liebe Gottes hat mein Mitgefühl eingefrieren lassen.
Er erstickt auch die Entrüstung über die Menschen. Sinnliche Begierde, Haß, Neid lassen es unmittelbar erkennen, daß der betreffende »böse« Mensch nicht lebt, sondern gelebt wird. Aber auch bewußte Rachgier, Hinterlist, Heuchelei erweisen sich dem geübteren Blick als allerdings täuschende Einkleidung des Gelebtwerdens in die Form des Lebenwollens. Und wenn der böse Mensch mit seiner Bosheit renommiert, zeigt er gerade am allerdeutlichsten, daß er nicht lebt, sondern gelebt wird. Der böse Mensch weiß nie, was er eigentlich tut, denn eigentlich tut er überhaupt nichts, sondern wird durch eine der unheimlicheren Formen des Gelebtwerdens hindurchgelebt, hindurchgezwängt, wird dabei zugleich zu einer oft unbehaglichen, unheimlichen Einwirkung auf andere gebraucht. Was soll ich mich über ihn entrüsten? Ich weiß schon längst, daß meine Entrüstung nicht bei dem Menschen Halt machen kann, daß sie durch den Menschen hindurchgeht und sich gegen die Macht wendet, von der auch der böse Mensch gelebt wird. Ihr aber will ich nicht darein reden, da sie wohl besser wissen muß, wie sie die Welt lebt.
Mit der Entrüstung hört natürlich auch die Bewunderung auf. Was man so Tugend heißt, ist eine der für das menschliche Auge gefälligeren Formen, in der der Mensch gelebt wird. Die sogenannte große Tat ist nicht dem Menschen zuzuschreiben, sondern nur eine eingreifendere Folge, die von der die ganze Welt lebenden Macht an ein Lebensmoment des Einzelmenschen geknüpft wird. Dabei scheint diese mir es sogar zu lieben, die heroischen Entschlüsse ohne Wirkung zu lassen und durch fast gedankenloses Tun der Menschen die bedeutendsten Veränderungen im Weltlauf zu bewirken. Und da weder der Charakter, noch die Bedeutung menschlichen Tuns im Augenblick sicher zu erkennen ist, so bin ich zur Bewunderung nicht leicht versucht. Wenn sie mir – wie die Entrüstung – einmal kommt, so lasse ich sie durch mich hindurchgehen.
Dagegen regt der Gedanke, daß der Mensch in so schmerzlicher Weise von einer liebenden Macht gelebt werde, ein anderes Gefühl gegen die Menschen in mir auf: ich finde sie rührend. In dem Kinde entdeckt man leichter das Rührende: mit welchem Ernst lebt es, leidet es, »schafft« es! Es vollbringt die bedeutungsvollsten Aktionen, wagt sich auf einen Stuhl, einen Baum hinauf, überwindet sich, dem Gespielen einen Apfel abzutreten, begeht mit klopfendem Herzen, vielleicht auch mit triumphierender Bosheit, das schwere, heldenmütige Verbrechen, die Schule zu schwänzen und eine Tracht Prügel zu riskieren. Der Vater, die Mutter aber weiß, daß diese Taten nur symbolische, nicht wirkliche Bedeutung haben; daß die bunte Fülle kindlichen Erlebens nur die unterhaltende Einkleidung, die ungewollte Vermittlung seines langweiligen eigentlichen Lebens ist: des langsamen körperlichen und geistigen Heranwachsens; daß das Kind in seiner unmittelbaren Ernsthaftigkeit eigentlich immer tragikomisch ist. Wie rührend, daß das Kind das nicht weiß, daß es schmerzlich leidet, sich herzlich freut, sich feierlich entschließt! Und wie rührend, daß Vater und Mutter ihr eigenes Leben wieder mit demselben unmittelbaren, tragikomischen Ernst leben, wie das Kind! Sie erschauern unter dem Gedanken ihrer elterlichen Verantwortung; sie kämpfen den schweren Kampf ums Glück, vielleicht den schrecklichen Kampf ums Dasein, leiden unter ihren Wunden, freuen sich ihrer Erfolge; sie quälen sich durch den Vorwurf, daß sie sich ihr Leben durch ihre Schuld gefährdet, zerstört haben, – und die reiche Fülle ihres Lebens hat auch nur eine symbolische, hat gar nicht die wirkliche Bedeutung, die sie ihm beimessen, ist nur die bunte Verhüllung, die mannigfaltige Vermittlung ihres wirklichen Lebens: des langsamen Heranwachsens eines zweiten Ichs.
Wenn ich die Menschen so sehe, wenn ich zugleich des Glaubens lebe, daß sie von einer ihres Zieles sicheren Liebe so gelebt werden: so ergreift mich ein inniges Mitgefühl mit ihnen, das ich doch nicht Mitleid nennen möchte. Ich habe sie ja nicht zu bemitleiden; ich bin mir auch zu gut bewußt, daß mein Mitleid auf den langsamen, sicheren Gang ihres eigentlichen Lebens – darauf, wie sie letztlich gelebt werden – von gar keinem Einfluß ist. So kann mein Mitgefühl nicht den Ernst des unmittelbaren Mitleids bekommen; oder der Ernst des unmittelbaren Mitleids mildert sich immer wieder, wenn ich die Menschen richtig, als von der unendlichen Liebe gelebt, zu sehen glaube.
Zugleich werden die Menschen, wenn ich sie so sehe, interessant und schön. Der Mensch als Produkt seiner selbst, dessen Bedeutung also in dem aufginge, was er von sich versteht und mit sich will, könnte im allgemeinen nur als fader Witz seiner selbst aufgefaßt werden. Tritt aber hinter den Menschen als Akteur seines Lebens noch ein Dichter desselben, den ich für wirklich groß halten kann; steht also der Mensch zu seinem Leben in demselben Verhältnis wie der Schauspieler zu seiner Rolle, die er immer nur annähernd versteht und zum Ausdruck bringt, auch wenn sie ihm auf den Leib gedichtet ist: so gewinnt zugleich der Stoff des Lebens und die Art, wie der Mensch sich damit abfindet, eine Bedeutung, die einer unendlichen Vertiefung fähig ist. Auf keine andere Weise wird der Mensch dauernd interessant und wirklich schön. Daß der Dichter des Lebens die Geschöpfe seiner Phantasie (wie ich voraussetze) liebt, erlaubt uns endlich, die peinlichen Situationen, in die er sie bringt, mit nicht bloß ästhetischer, sondern wirklicher Gleichmütigkeit sich abrollen zu lassen. Schließlich erweist sich doch alles als groß und schön, und die Schauspieler, die sich auf der Szene anschnaubten, beleidigten, Gewalt antaten, reichen sich hinter der Szene kameradschaftlich die Hand.
Durch den Glauben, daß ich mit allen Menschen von einer ewigen Liebe gelebt werde, wird zugleich die Art, wie ich mein Verhältnis zu anderen Menschen empfinde, gänzlich geändert. Aber es ist wieder nicht so leicht zu sagen, wie.
Es steht nicht in meiner Macht, willkürlich in dein Leben einzugreifen; es steht nicht in deiner Macht, willkürlich in mein Leben einzugreifen. Ich kann dir weder Böses noch Gutes tun wollen; du kannst mir weder Böses noch Gutes tun wollen. Ich kann dich weder lieben noch hassen wollen; du kannst mich weder lieben noch hassen wollen. Wollen wir derartiges, so sind wir Toren. Wie wir einer in des andern Leben eingreifen, ob wir einander Angenehmes oder Unangenehmes zufügen, ob wir uns anziehen oder abstoßen, liegt ganz und gar in der Weise begründet, wie wir in dem Augenblick der Begegnung gerade gelebt werden. Harmoniert, wie wir gerade gelebt werden, nach Form und Inhalt, so ziehen wir uns an, berühren uns angenehm, greifen »freundlich« einer in des andern Leben ein. Stimmt, wie wir gerade gelebt werden, nach Form und Inhalt nicht zusammen, so stoßen wir uns ab, sind uns unbehaglich, stören einander das Leben. Das geschieht alles mit uns. Daß wir etwas dazu tun können, ist bloßer Schein.
Das wäre schrecklich, wenn wir nicht glauben dürften, daß wir zusammen von einer Liebe gelebt werden. Im Lichte dieses Gedankens aber ist unser Verhältnis, wie ich es beschrieb, sogar sehr bequem.
Die Liebe verliert, wenn wir eigentlich so zu einander stehen, alle Wichtigtuerei. Wirken kann sie ja nichts, als was durch sie bewirkt werden soll; daß sie sich viel Mühe machte, ist auch nicht notwendig. So zerlegt sie sich in das einfache, natürlich-angenehme Gefühl, angezogen zu werden, und in die einfache, absichtslose Freude, seine Zuneigung kund zu geben. Ergibt sich Gegenseitigkeit: wie schön! Bleibt sie aus: auch gut! Der Haß aber verliert als bloßes Mißverständnis seine Bedeutung für den Gehaßten (– denn der Hasser selbst ist dem Glauben unzugänglich, daß er mit dem Gehaßten zusammen von ewiger Liebe gelebt werde). Er ist ja nur Liebe in paradoxer Form – Liebe der Macht, von der wir geliebt werden, Liebe also auch des Menschen, der mich zu hassen glaubt. Das dürfte sogar nicht bloß metaphysisch, sondern auch psychologisch richtig sein. Es ist nun freilich behaglicher, daß wir über die paradoxe Form unseres Liebesverhältnisses einmal hinüberkommen; aber wir müssen wohl warten können, bis wir zu diesem Punkt unseres Gelebtwerdens gelangen.
Damit ist freilich aller unmittelbaren Leidenschaft der Menschen für und wider einander der Lebensnerv abgeschnitten. Aber sie wird durch etwas Tieferes und Höheres ersetzt: wir erkennen in uns gegenseitig unser Schicksal; wir verständigen uns darüber, daß wir in uns gegenseitig unser Schicksal sehen. Welche wohltuende Kühle liegt in dieser objektiven Auffassung der Liebe! Und gibt es denn eine innigere Beziehung als die des Menschen zu seinem ( seinem!) Schicksal? Wie weitherzig weiß diese Deutung der Liebe auch das Unbegreiflichste begreiflich, bedeutungsvoll, schön zu machen! Wie zart stellt sie das notwendige Gleichgewicht in dem Verhältnis der Liebe her! Ich sehe gerne in einem Menschen ein Stück meines Schicksals, während mich wohlwollende Patrone und gehorsame Diener gleichmäßig anwidern. Und ich mag weder eines Menschen Patron, noch Diener sein, während ich mich freue, im Großen oder Kleinen eines Menschen Schicksal geworden zu sein, – das ja, wie ich voraussetze, an sich schön und gut ist.
Ja, im Lichte dieses Gedankens erweisen sich die mannigfachen Verbindungen, worin die Menschen zusammen gelebt werden, erst in ihrer wahren Schönheit. So lange die Menschen ihren Wert für einander nach ihren Leistungen gegen einander bestimmen zu müssen glauben, behält ihr Verhältnis zu einander etwas Geschäftliches, Unfeines, Schmutziges. Anders, wenn sie sich, in Lust und Schmerz, als ihr Schicksal erkennen, als die zeitliche Form ihres Gelebtwerdens. Das Heikelste bietet mir das beste Beispiel. Wie bedeutsam ist es, daß der Mann die Liebe des Weibes mit seiner äußeren und inneren Freiheit bezahlen muß! Wie tiefsinnig, daß das Verlangen des Mannes Ehre und Leben des Weibes gefährdet! Beruht nicht die wahre Heiligkeit der Verbindung von Mann und Weib darauf, daß sie sich über diese ihre Schicksalsbedeutung für einander verständigen? Oder liegt sie etwa in der Unterzeichnung des Ehekontrakts? oder in dem Segen des Priesters? oder in dem Ernst ihrer guten Vorsätze?
So verstehe ich mich in dem Leben, das ich gelebt werde. Aber dieses hat die unverlierbare Form eigenen Lebenwollens. Dadurch ist mir die Frage aufgedrängt, was ich wollen soll. Sie bedarf einer Antwort.
Was ich wollen soll? Ich soll mich leben lassen! Was anderes kann ich denn wollen, wenn ich immer nur gelebt werde!
Aber das ist doch kein Wollen! kein Sollen!
Probiere es, und du wirst das Sollen darin zu fühlen, das Wollen darin zu erleben bekommen! – Mein Leben durch eigene Projekte, deren Durchführung ich mir aufgebe, machen zu wollen, habe ich freilich verlernt. Aber die Versuchung zu aller leidenschaftlichen oder pflichteifrigen Projektmacherei zu überwinden, das soll ich lernen. Und im selben Maße, als ich sie abtue, erlebe ich einen Willen in mir: eine innere Regsamkeit, die mich als Auge und Hand beschäftigt. Ich habe nie mehr zu denken, zu tun, als wenn ich keine Vorsätze habe. Der Anreiz, mir Vorsätze zu machen, stellt sich immer nur dann ein, wenn der echte Wille zur Tat mir spärlicher zufließt. Statt mich der Muße zu erfreuen, die mir so gewährt wird, glaube ich dann selbstherrlich handeln zu sollen, – um meine selbstherrlichen Bestimmungen, als untauglich, nachher regelmäßig wieder aufgeben zu müssen.
Die innere Regsamkeit aber des Denkens und Handelns wird in freundlicher, kräftiger Weise hervorgelockt und angeeifert durch die Schuld. Zwar bin ich schuldig gemacht worden, aber die Schuld ist doch durch mich gemacht worden. Sie ist meine Schuld, ist als solche die Unruhe meines Lebens. Sowie ich die Schuld als meine mir unverständliche, aber doch freie Tat schaue, lähmt sie mich; erkenne ich sie als mein Schicksal, so belebt sie mich. Sie bestimmt mir den Ort meiner Arbeit. In welcher Verlegenheit wäre ich, wenn ich diesen mir selbst wählen müßte! Dieser Wahl und Qual bin ich durch die Schuld überhoben. Sie spornt mich an, alle Kraft einzusetzen. Ich glaube, daß ich ein sehr bequemer Geselle würde, wenn ich nicht arbeiten müßte. Dieser Gefahr zuvorzukommen, hat mich die ewige Liebe schuldig gemacht.
Doch, was soll ich mich in diesem unfreundlichen Wort festbohren? Indem ich mit andern Menschen zusammengelebt werde, werde ich immer zugleich in einer gewissen Spannung mit ihnen gelebt. Sie erreicht oft einen schmerzlich hohen Grad, – und erfüllt dann ihren Zweck um so besser, mich in Bewegung zu erhalten. Und da sie in der ewigen Liebe ewig ausgeglichen ist, wird sie sich auch zwischen uns wieder ausgleichen.
Wenn das aber nicht geschehen würde?
Es wird geschehen; die Frage ist nur: wann? wo? wie?
Denn, um es einfach herauszusagen: ich glaube nicht an den Tod, sondern an das Leben. Ich werde gelebt; ich werde gelebt: schaue ich diese beiden Erfahrungstatsachen in ihrer höheren Einheit, so sehe ich, daß der Tod nicht Vernichtung sein kann, nicht Auflösung, nur Umwandlung. Welches die nächste Einkleidung des Wesens sein wird, das in mir lebt, wie könnte ich das wissen? Daß sie irgendwie der Ertrag dieses Lebens sein wird, das ich jetzt lebe, ist mir nach den allgemeinen Gesetzen der Entwicklung des Lebens wahrscheinlich. Und ich traue der Macht, von der das Leben gelebt wird, deren Kunst im Rätselschürzen ich bewundern gelernt habe, nachgerade auch zu, daß sie die von ihr geschürzten Rätsel auch aufzulösen verstehe …
Doch was rede ich von Schürzung und Lösung von Rätseln? Wie wenn es sich in dem Leben bloß um ein Spiel des Witzes handeln würde! Während mich doch der Teil meiner Existenz, den ich überschauen kann, bereits erkennen läßt, daß ich in einer erzwungen-freien Entwicklung begriffen bin zu einem immer umfangreicheren, zugleich verwickelteren und einfacheren, bewußteren und dinglicheren, gespannteren und schöneren Dasein! Was tut es, daß ich über einen bestimmten, hinter mir liegenden Knotenpunkt dieser Entwicklung nicht zurück-, über einen bestimmten, vor mir liegenden, nicht hinwegschauen kann? Ist es nicht auch innerhalb »dieses« Lebens ein allgemeines Gesetz meiner Bewegung, daß ich durch jede »Entscheidung« mit geschlossenen Augen gedrängt werde?
So ist mir für mich selbst nicht bange. Und da ich mit allen anderen Wesen von Einer Macht gelebt werde, so ist mir auch dafür nicht bange, daß alle Differenzen zwischen uns sich in Harmonie auflösen werden, daß sie sich je nach dem Grade ihrer Dauer und Spannung, als höhere Schönheiten in der großen Symphonie des Lebens erweisen werden …
Doch, dem sei, wie ihm wolle. Ich kann warten. Inzwischen aber will ich das Einzige tun, das zu tun mir überhaupt frei steht: