Johanna Schopenhauer
Jugendleben und Wanderbilder
Johanna Schopenhauer

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Sechsunddreissigstes Kapitel.

Welche Thürme! welche Massen!
Welche Welt von Kalk und Stein,
So die Blicke kaum umfassen.
Heinrich Brockes.

Endlich sah ich Paris! Paris, das Wunder der Welt! Oxhöfte voll Tinte sind seitdem in Beschreibungen desselben konsumirt worden. Der Gegenstand ist erschöpft, was läßt ohne ermüdende Wiederholung sich weiter darüber sagen, wenn der Autor nicht seine eigene Person zum Mittelpunkt erheben will, um den die Welt sich dreht?

Madame est belle comme elle est bonne! rief ein altes Weib mir hohnlachend zu, dem ich nichts gegeben, weil ich nichts ihr zu geben hatte. Ich saß in meinem Wagen vor einem großen Hotel in der Rue des bons enfants, einer der gewühlreichsten pariser Straßen, und harrte der Entscheidung meines Mannes, der ins Haus gegangen war, um sich die Zimmer zeigen zu lassen, die man uns einräumen konnte.

Mit zwanzig Jahren und einem gewissen Bewußtsein, das in jenem glücklichen Alter selten auszubleiben pflegt, kann ein Witzwort, wie das, welches die Bettlerin im Zorn gegen mich ausgesprochen, keinen sehr großen Eindruck machen, ich fand im Gegenteil es sehr ergötzlich, echt französisch und war schon auf Mittel und Wege bedacht, sie vermittelst einiger Sous königlich dafür belohnen zu lassen, als plötzlich rings umher eine Menge Ritter mit großem Geräusch zur Vertheidigung meiner Schönheit aufstand; Lohnbediente, Lastträger, Commissionairs, die, ihrem Gewerb nachgehend, um den Wagen sich versammelt hatten, drangen mit zürnender Geberde, unter lautem Schreien, sogar mit drohenden Fäusten auf die Alte ein; die Vorübergehenden fingen an, teilnehmend stillzustehen, unser Bediente, der kein Wort Französisch verstand, zitterte und bebte, mir selbst verging Hören und Sehen über den Höllenlärm, den nur Pariser Kehlen bis zu dieser Höhe zu steigern vermögen.

Wie froh war ich, als mein Mann zu meiner Befreiung erschien und aus meiner ängstlichen Lage mich erlöste.

Das Entresol war besetzt, die Belle étageAuffälliger Weise gebraucht unsere doch gut französisch geschulte Verfasserin diesen noch heute sehr beliebten unfranzösischen Ausdruck. Grammatisch richtig wäre nur »Le bel étage,« wirklich französisch ist aber »Au premier«. ebenfalls, wir mußten eine dritte Treppe ersteigen; die Wirthin lief geschäftig an mir vorüber, um die Fenster des Zimmers, in das ich eben hineingeführt wurde, zu öffnen. Ich trat auf den Balkon und blieb vor dem überraschenden Anblick wie versteinert. Das Palais royal, in all' seinem damals entstehenden Glanz, lag gleich einer Feeninsel vor mir.

Vormals war dieser Zauberort der zum Palast des Herzogs von Orleans gehörende Garten gewesen; die hohen Alleen, die schattenreichen Bosquets, die alten prächtigen Bäume waren seit Kurzem der Zerstörungswuth und dem Eigennutz des Eigners derselben zum Opfer gefallen. – Ganz Paris hatte darüber ziemlich vernehmlich gemurrt, ganz Paris war jetzt über die neue Schöpfung entzückt, die aus jenem Chaos hervorging; Paris war in dieser Hinsicht immer Paris und wird es bleiben, so lange dort ein Stein auf dem andern ruht.

Wer kennt nicht das Palais royal,, wenigstens aus Beschreibungen? wer würde nicht mitleidig die Achsel zucken, wenn ich es unternähme, jenen vielen hier noch eine hinzufügen zu wollen? Nur so viel kann ich zu sagen mir erlauben, Alles, was man im Leben bedarf und nicht bedarf, umschloß es schon damals in seinen weitläufigen Bezirken; nur keine Kirche und keine Restauration, die letztere aus dem ganz einfachen Grunde nicht, weil die Erfindung dieser sehr heilsamen Institute einer etwas späteren Zeit vorbehalten worden war.

Herr und Madame P . . . aus Hamburg bewohnten die Belle étage in unserem Hotel; in Gesellschaft dieser Freunde, zum Theil unter ihrer Leitung, benutzte ich unermüdlich die mir spärlich gemessene Zeit von vier Wochen. Doch daß ich dadurch meinem Zweck, Paris kennen zu lernen, bedeutend näher gekommen wäre, darf ich nicht behaupten; im Gegentheil, wie in einem Ameisenhaufen wirbelte in meinem Kopfe Alles durcheinander; der Gegenstände waren zu viele, der Tage, die ich ihnen widmen konnte, zu wenige. Aber hätte ich auch so viele Monate in Paris verweilen dürfen, als mir Wochen vergönnt waren, ich wäre doch nicht zu vollkommen klarer Anschauung dessen, was ich erblickte, gelangt. Wie neugeborne Kinder das Sehen durch Übung erst lernen müssen, so will auch das Sehen auf Reisen erst erlernt werden, wenn man etwas Besseres mit nach Hause bringen soll, als etwa einige Anekdoten aus den häuslichen Zuständen jetzt berühmter Schriftsteller, deren man nach höchstens zwanzig Jahren nicht mehr gedenken wird; ein Surrogat, mit welchem die Mehrzahl unserer Reisebeschreiber sich einstweilen behilft.

Abends ruhte ich in einem der vielen Theater aus, deren in Paris, mehrere den Schaulustigen täglich offen standen, und kam fast immer befriedigt nach Hause. Nur eines einzigen derselben, und zwar eines der kleineren will ich hier erwähnen: les petits comédiens du Roi. Die Schauspieler waren Kinder von vierzehn bis sechzehn Jahren, die im Bezirk des Palais royal in einem eleganten kleinen Schauspielhause ihr lustiges Wesen trieben. Sie spielten zur allgemeinen Zufriedenheit eines leicht zu amüsierenden Publikums Sprichwörter, Operetten, kleine Lustspiele, Vaudevilles, alle jene zierlichen Blüetten, in denen die Franzosen alle anderen Nationen weit hinter sich zurücklassen.

»Das einzige Merkwürdige hier ist, daß einer dieser jungen Schauspieler kein Wort spricht, er spielt, während ein anderer in der Koulisse seine Rolle für ihn deklamirt; könnten Sie ihn unter den Uebrigen wohl herausfinden?« flüsterte Jemand aus unserer Gesellschaft mir zu. Ich gab genauer Acht, glaubte den Stummen entdeckt zu haben, und vernahm zu meinem größten Erstaunen, daß der Knabe, den ich bezeichnete, nur ein etwas ungeschickter Anfänger sei, daß aber in der That kein einziger der jungen Schauspieler und Schauspielerinnen ein Wort spräche, daß das ganze Stück eigentlich hinter der Scene aufgeführt würde und die Schauspieler hier vor uns nur eine pantomimische Darstellung desselben gäben.

Die Täuschung war vollkommen, selbst als ich davon unterrichtet war, kostete es mir Mühe daran zu glauben; kein Blick, keine zu früh oder zu spät eintretende Miene oder Geberde verrieth sie; auch nicht beim Gesange, wo man deutlich die Anstrengung zu bemerken glauben mußte, mit welcher die jungen Sänger etwas schwierige Kolleraturen herausgurgelten.

Der Nutzen dieser gewiß für Lehrer und Schüler gleich lästigen Abrichtung der armen Kinder blieb mir indessen eben so unbegreiflich als das Gelingen derselben; auch wußte Niemand mir etwas Befriedigendes darüber zu berichten. In den Stürmen der Revolution ist das ganze Gaukelspiel seitdem verweht und liegt zu sehr außer dem Geschmack der Zeit, um wieder hervorgesucht zu werden.

Das unverhoffte Wiedersehen der Gemahlin des russischen Gesandten in Danzig, der Frau von P . . ., die wir in Paris wiederfanden, freute und betrübte mich zugleich; persönlich fand ich sie fast unverändert, doch wie war es um sie her so gar anders geworden, als es früher gewesen! Ihr fehlte augenscheinlich Alles, was Gewohnheit ihr sonst unentbehrlich gemacht. Sie bewohnte das niedrige Entresol eines sehr bürgerlich aussehenden Hauses, ohne Vorhof, ohne Thorfahrt. Dicht unter ihrem Fenster rasselten Karren und Wagen vom grauenden Morgen bis tief in die Nacht in ununterbrochener Folge vorbei, und jede Art ohrenzerreißenden Straßenlärms tönte betäubend zu ihr hinauf.

Ein Fenster zu öffnen, um frische Luft ins Zimmer dringen zu lassen, verwehrte der in dicken Wolken hochaufwirbelnde Staub und das wilde Getöse draußen, bei dem es unmöglich war, sich im Zimmer einander verständlich zu machen. Nur harte Nothwendigkeit konnte die erwähnte Frau gezwungen haben, aus ökonomischen Gründen diese Wohnung zu wählen.

Kein Kammerdiener, keine bunt galonirten Lakaien harrten in ihrer verödeten Antichambre ihrer Befehle; von ihrer ganzen zahlreichen Dienerschaft war nur eine einzige russische Kammerfrau ihr geblieben, die ihr schon von Petersburg nach Danzig gefolgt war, von ihren übrigen Umgebungen nur das von Darbes gemalte Pastellbild einer geliebten Jugendfreundin, das ich in Danzig in ihrem Kabinette oft bewundert, und – Gilard, der alte treue Gilard. Mit unbeschreiblichem Zartgefühl suchte er durch verdoppelte Aufmerksamkeit und jede nur ersinnliche Schonung die herbe Veränderung ihrer Lage sie vergessen zu lassen, der er doch immer selbst mit tiefem Schmerze gedachte, und die sie mit unbesiegbarem Gleichmuth und Ehrfurcht gebietender Würde zu ertragen verstand.

Dem niederschlagenden Bilde dieser durchaus verfehlten, zerrissenen Existenz eines von der Natur zu den schönsten Erwartungen berechtigten, liebenswürdigen Wesens reiht hier in meiner Erinnerung das eines der edelsten Greise, des Abbé de L'EpéeDieser sich aufopfernde Freund und Lehrer der Taubstummen war 1712 geboren und starb 1789. Erst nach seinem Tode wurde eine von ihm längst ersehnte öffentliche Taubstummen-Lehranstalt unter dem Abbé Sicard auf Staatskosten errichtet. sich trostbringend an, zu welchem ein Freund desselben mich führte; denn jene öffentlich, theatralisch pomphaften Schaustellungen, welche unter dem Abbé Sicard, seinem Nachfolger, Zeit und Umstände seitdem als nothwendig bedingt haben, fanden vor fünfzig Jahren noch nicht statt.

Von einem einzigen großen Gedanken ergriffen hatte der Abbé de L'Epée sein Leben, sein Denken und Wirken der Ausführung desselben zugewandt. Mit einem sehr mäßigen, für das Ziel, das er sich erwählt, sogar dürftigen Einkommen, hatte er das große segensreiche Werk begonnen und durchgeführt, unglückliche taubstumme Kinder aus tiefster an Thierheit grenzender Versunkenheit zu menschlicher Würde zu erheben. Ganz allein, unter Entbehrungen jeder Art, die er sich freiwillig auferlegte, hatte er die ihm später gebotenen Geschenke fremder Monarchen verschmäht, hatte nie die Aufmerksamkeit seines eigenen Hofes zu erregen gesucht, und war folglich in jener frivolen Epoche, in welche sein Leben fiel, von diesem unbeachtet geblieben. Sein ganzes Streben ging nur darauf hinaus, so viel Gegenstände seines wohlthätigen Wirkens, als er erreichen konnte, in seinem Hause zu versammeln und in ihrer Mitte zu leben, wie ein angebeteter Vater unter seinen geliebten Kindern.

So fand ich ihn in seinem nur mit den unentbehrlichsten Bequemlichkeiten einfach bürgerlich ausgestatteten Zimmer, ein milder ehrwürdiger Greis von fünfundsiebenzig Jahren mit schneeweißen Locken, die sich einzeln unter dem schwarzen Käppchen hervordrängten, das seine Scheitel deckte. Sein ganzes Wesen trug den Ausdruck herzgewinnender Freundlichkeit und unaussprechlichen Wohlwollens. Meine warme ungeheuchelte Theilnahme, die ich nicht verbergen konnte noch mochte, wandte seine Aufmerksamkeit mir zu, er sprach viel mit mir über den Anfang und glücklichen Fortgang seines gewagten Unternehmens und erwähnte dabei, wie eigne Harthörigkeit und das daraus entstehende Bemühen, durch die Augen den Mangel des Gehörs zu ersetzen, ihm schon früher den Weg angewiesen, auf dem er seitdem mit Gelingen vorwärts schritt.


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