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Aus den Briefen an Lucilius

Über den Wert der Zeit

Mache es so, mein Lucilius: rette dich dir selbst; sammle und erhalte dir die Zeit, die dir bisher entweder geraubt oder entwendet wurde oder entschlüpfte. Überzeuge dich selber, es ist so, wie ich dir schreibe: hier wird uns eine Stunde entrissen, dort eine heimlich entzogen, eine andere entschlüpft unvermerkt. Der schimpflichste Verlust jedoch ist der durch Nachlässigkeit; und wenn du die Sache genauer betrachtest, so verfließt der größte Teil des Lebens den Menschen, indem sie Böses tun, ein großer, indem sie nichts tun, das ganze Leben aber, indem sie immer etwas anderes tun, als was sie eigentlich sollten. Wen kannst du mir nennen, der einigen Wert auf die Zeit legt, der den Tag schätzt, der einsieht, daß er täglich stirbt? Denn darin irren wir, daß wir den Tod nur als etwas Zukünftiges erwarten: er ist zum großen Teile schon vorüber; alles, was von unserem Lebensalter hinter uns liegt, hat der Tod in Händen. Mache es demnach so, mein Lucilius, wie du schreibst, daß du es tust: halte deine Stunden zusammen; du wirst dann weniger von dem Morgen abhängen, wenn du das Heute erfassest. Indem man das Leben verschiebt, eilt es vorüber. Alles, mein Lucilius, ist fremdes Eigentum; nur die Zeit ist unser. Nur diese eine flüchtige und leicht entschlüpfende Sache hat uns die Natur zu eigen gegeben, und doch vertreibt uns daraus, wer da will. Und so groß ist die Torheit der Sterblichen, daß sie das Geringfügigste und Wertloseste, leicht Ersetzbare sich anrechnen lassen, wenn sie es erlangt haben, niemand aber etwas schuldig zu sein glaubt, wenn er Zeit empfangen hat, während doch diese das Einzige ist, was nicht einmal der Dankbare wieder erstatten kann. Du wirst vielleicht fragen, was ich selbst tue, der dir diese Lehren gibt. Ich will es dir ganz offen gestehen: was ein verschwenderischer, dabei aber sorgfältiger Mensch tut: die Rechnung über meine Ausgaben stimmt. Ich kann nicht sagen, daß ich nichts vertue, aber ich kann sagen, was ich vertue und warum und wie; ich kann die Ursachen meiner Armut angeben. Allein es geht mir, wie den meisten, die ohne ihre Schuld in Dürftigkeit geraten sind; alle verzeihen, aber niemand hilft ihnen. Wie also? Ich halte den nicht für arm, dem das wenige, was er etwa noch übrig hat, genügt. Du jedoch, wünsche ich, erhalte dir lieber das Deine und fange bei guter Zeit an. Denn, wie unsere Vorfahren meinten, »zu spät kommt die Sparsamkeit bei der Neige«. Nicht bloß das Wenigste nämlich, sondern auch das Schlechteste bleibt auf dem Boden zurück. Lebe wohl.

Über die zweckmäßigste Art des Lesens

Nach dem, was du mir schreibst, und nach dem, was ich höre, fasse ich eine gute Hoffnung von dir. Du ziehst nicht hin und her und störst dich nicht durch öfteren Wechsel des Aufenthaltsortes. Solch unstätes Herumtreiben ist das Zeichen eines kranken Gemüts. Festen Stand fassen und bei sich verweilen können, halte ich für den ersten Beweis eines zur Ruhe gelangten Geistes. Siehe aber zu, ob nicht das Lesen vieler Schriftsteller und von Büchern aller Art etwas Flatterhaftes und Unstätes an sich habe. Du mußt bei bestimmten einzelnen Geistern verweilen und aus ihnen dich nähren, wenn du etwas daraus ziehen willst, das treu in der Seele haftet. Nirgends ist, wer überall ist. Wer sein Leben auf Reisen hinbringt, hat viele Gastfreunde, aber keine Freunde. Ebenso ist es mit denen, die sich an keines Menschen Geist vertraulich anschließen, sondern hurtig und eilfertig bei allen vorübergehen. Keine Speise ist dienlich und geht in den Körper über, die, so bald sie genossen ist, gleich wieder ausgeschieden wird. Nichts hindert in dem Grade die Genesung wie der häufige Wechsel der Arzneimittel. Die Wunde kommt nicht zur Vernarbung, an der viele Heilmittel versucht werden; die Pflanze erstarkt nicht, die häufig versetzt wird; nichts ist so dienlich, daß es im Vorübergehen nützte. Die Menge der Bücher zerstreut. Da du also nicht so viel lesen kannst, als du haben möchtest, so genügt es, so viel zu haben, als du lesen kannst. »Aber, sagst du, ich mag gern bald in diesem, bald in jenem Buche blättern.« Es ist das Zeichen eines verdorbenen Magens, von vielem zu kosten; was zu verschiedener und entgegengesetzter Art ist, verunreinigt, aber nährt nicht. Daher lies immer nur bewährte Schriftsteller, und hast du einmal Lust gehabt, auch bei andern einzusprechen, so kehre bald wieder zu den früheren zurück. Verschaffe dir täglich etwas von Hilfsmitteln gegen die Armut, gegen den Tod und nicht minder gegen die übrigen Übel; und wenn du vieles durchlaufen hast, so lies eines heraus, das du an diesem Tage verdauen kannst. Das tue auch ich selbst; von mehrerem, was ich gelesen habe, halte ich etwas fest. Das Heutige ist folgender Ausspruch, den ich bei Epikur gefunden habe (denn ich pflege auch ins feindliche Lager Stoiker und Epikureer waren philosophische Gegner. hinüber zu gehen, nicht als Überläufer, sondern als Kundschafter): »Eine ehrenvolle Sache, sagt er, ist die vergnügte Armut.« Dann ist es aber keine Armut mehr, wenn sie vergnügt ist. Nicht, wer wenig hat, sondern wer mehr begehrt, ist arm. Denn was liegt daran, wie viel jener in seinem Kasten, in seinen Speichern liegen hat, wie viele Herden er werdet, wie viele Kapitale er ausleiht, wenn er nach Fremdem trachtet und zusammenrechnet, nicht was schon erworben ist, sondern was erst erworben werden soll? Du fragst, welches das Maß des Reichtums sei? Fürs erste, zu haben, was nötig ist, nächst dem, was genug ist.

Von dem Vertrauen zu Freunden

Du hast, wie du schreibst, deine Briefe einem Freunde zur Bestellung an mich übergeben. Sodann warnst du mich, ihm nicht alles dich Betreffende mitzuteilen, weil du das nicht einmal selbst zu tun pflegtest. So hast du in einem und demselben Briefe gesagt und geleugnet, daß er dein Freund sei. Du hast daher dieses Wort in dem allgemeinen Sinne gebraucht und ihn so deinen Freund genannt, wie wir alle Amtsbewerber »wackere Männer« nennen und die uns Begegnenden, wenn uns ihr Name nicht einfällt, als »Herren« begrüßen. Von dieser Seite betrachtet, mag es hingehen! Doch, wenn du einen für deinen Freund hältst, dem du nicht eben so viel vertraust als dir selbst, so irrst du gewaltig und kennst das Wesen der wahren Freundschaft nicht. Berate dich vielmehr über alles mit deinem Freunde, doch vorher über ihn selbst. Nach geschlossener Freundschaft muß man trauen, vor Abschluß der Freundschaft prüfen. Diejenigen aber vermengen die Pflichten auf verkehrte Weise, welche gegen die Vorschriften des Theophrast erst prüfen, wenn sie schon geliebt, und nicht vielmehr lieben, nachdem sie geprüft haben. Überlege lange, ob einer in deine Freundschaft aufzunehmen sei; hast du aber einmal beschlossen, daß es geschehe, dann nimm ihn mit deinem ganzen Herzen auf und sprich mit ihm eben so offen wie mit dir selbst. Du aber lebe so, daß du dir nichts vertraust, außer was du auch deinem Freunde vertrauen kannst. Doch weil dabei manches vorkommt, was die Gewohnheit zu Geheimnissen gemacht hat, so teile mit dem Freunde alle deine Sorgen, alle deine Gedanken. Hältst du ihn für treu, so wirst du ihn auch dazu machen. Denn manche schon haben hintergehen gelehrt, indem sie hintergangen zu werden fürchteten, und dem andern durch Argwohn ein Recht gegeben, sich an ihnen zu versündigen. Warum also sollte ich in Gegenwart meines Freundes irgendein Wort zurückhalten? Warum sollte ich in seiner Anwesenheit nicht allein zu sein glauben? Einige erzählen allen ihnen in den Weg Kommenden, was nur den Freunden zu vertrauen ist, und entladen sich alles dessen, was sie beschwert, in jedes Ohr; andere wieder scheuen sogar die Mitwissenschaft derer, die ihnen die Teuersten sind, und drängen, als Leute, die sogar sich selbst nichts vertrauen würden, wenn sie könnten, jedes Geheimnis tief in ihr Inneres zurück. Keins von beiden darf man hm; denn beides ist ein Fehler, sowohl allen zu trauen als keinem; doch das eine möchte ich einen edleren, das andere einen sicherer stellenden Fehler nennen.

Vermeide die Menge und trachte nicht nach ihrem Beifall

Du fragst, was du vor allem meiden sollst? Das Menschengewühl. Noch kannst du dich ihm nicht mit Sicherheit überlassen. Ich wenigstens will meine Schwäche gestehen. Nie bringe ich dieselbe sittliche Haltung, in der ich ausging, nach Hause zurück; immer wird etwas von dem, was ich geordnet, in Unordnung gebracht; manches von dem, was ich verscheucht hatte, kehrt wieder. Was Kranken begegnet, die eine lang anhaltende Schwäche so mitgenommen hat, daß sie nicht ohne Schaden ins Freie gebracht werden können, das widerfährt auch uns, deren Gemüter aus langer Krankheit sich erholen. Nachteilig ist der Verkehr mit der Menge. Da ist keiner, der uns nicht irgend einen Fehler empfiehlt oder aufdrängt oder unvermerkt anhängt. In der Tat, je größer die Volksmenge ist, in die wir uns mischen, desto größer ist auch die Gefahr. Nichts aber ist so schädlich für die guten Sitten, als bei irgendeinem Schauspiel zu sitzen; denn dann beschleichen uns bei der Ergötzung die Laster um so leichter. Dem großen Haufen entziehen muß man das zarte und noch zu wenig feste Gemüt; leicht tritt man zur Mehrheit über. Selbst einen Sokrates, Cato und Lälius hätte eine ihnen unähnliche Menge aus ihrer sittlichen Haltung herauszuwerfen vermocht; so wenig ist irgend einer von uns, die wir noch so sehr bemüht sind, unserem Geiste eine feine Bildung zu geben, den Andrang der Laster auszuhalten imstande, die mit so großem Gefolge heranziehen. Ein einziges Beispiel der Schwelgerei oder der Habsucht stiftet viel Unheil; ein weichlicher Lebensgefährte entnervt und verweichlicht uns allmählich; ein reicher Nachbar regt unsere Begierden auf; ein bösartiger Genoß reibt seinen Rost auch dem Reinsten und Schlichtesten an. Was, glaubst du, wird dem Gemüte begegnen, auf welches vom ganzen Volke ein Angriff erfolgt? Notwendig mußt du entweder nachahmen oder hassen. Beides aber ist zu vermeiden: daß du weder den Schlechten ähnlich werdest, weil ihrer viele sind, noch der Feind vieler, weil sie dir unähnlich sind. Ziehe dich in dich selbst zurück, so viel du kannst; verkehre mit denen, die dich besser machen werden, und verstatte solchen den Zutritt, die du besser machen kannst. Hierbei findet eine Wechselwirkung statt, und die Menschen lernen, indem sie lehren. Die Ruhmsucht, dein Talent zu offenbaren, darf dich nicht unter das Volk führen mit dem Wunsche, ihm Vorlesungen zu halten oder etwas mit ihm abzuhandeln. Allerdings wünschte ich, daß du dies tätest, wenn du eine für den Pöbel passende Ware hättest. So aber ist niemand, der dich zu verstehen vermöchte. Vielleicht wird dir einer und der andere aufstoßen; aber auch selbst diesen wirst du erst heranbilden und unterweisen müssen, daß er dich verstehen lerne. »Für wen also habe ich dies alles gelernt?« Du brauchst nicht zu fürchten, deine Mühe verloren zu haben, wenn du es für dich gelernt hast. – Doch um heute nicht für mich allein gelernt zu haben, will ich dir drei mir aufgestoßene herrliche Aussprüche ungefähr desselben Sinnes mitteilen. Demokrit sagt: »Einer gilt mir für das Volk und das Volk für einen.« Gut antwortete auch jener, als er von jemand gefragt wurde, was er mit so großem Fleiß in einer Kunst bezwecke, die nur bei sehr wenigen Eingang finden werde: »Mir genügen wenige, mir genügt einer, mir genügt auch gar keiner.« Vortrefflich ist auch dieser dritte Satz, den Epikur einem der Genossen seiner wissenschaftlichen Beschäftigungen schrieb: »Dies schreibe ich nicht für viele, sondern für dich: denn wir sind einer dem andern ein hinreichendes Publikum.« Dies, mein Lucilius, mußt du in deine Seele niederlegen, um das aus dem Beifall der Menge entspringende Vergnügen zu verachten. Viele loben dich; welchen Grund aber hast du, mit dir zufrieden zu sein, wenn du ein solcher bist, den die Menge versteht? Nach innen sollen deine Vorzüge schauen.

Der Weise ist auch in der Muße tätig

»Du rätst mir, sagst du, das Menschengewühl zu meiden, mich zurückzuziehen, und mir an meinem Bewutßsein genügen zu lassen. Wo bleiben nun jene unsere Vorschriften, welche gebieten, noch in Tätigkeit zu sterben?« Wie denn? Rate ich dir zur Untätigkeit? Wisse: ich habe mich verborgen und meine Türe verschlossen, um recht vielen nützen zu können. Kein Tag verfließt mir in Untätigkeit; einen Teil der Nächte sogar widme ich den wissenschaftlichen Beschäftigungen. Ich bleibe nicht ohne Schlaf, aber ich erliege ihm und halte noch meine vom Wachen ermatteten und zufallenden Augen auf die Arbeit geheftet. Ich habe mich nicht nur von den Menschen zurückgezogen, sondern auch von den Dingen und vor allem von meinen eigenen. Der Nachwelt gilt meine Sorge; für sie schreibe ich das und jenes nieder, was ihr vielleicht nützen kann; heilsame Ermahnungen, gleichsam Rezepte nützlicher Arzneimittel, übergebe ich dem Papiere; daß sie wirksam sind, habe ich an meinen eigenen Schäden erfahren, die, wenn sie auch noch nicht völlig geheilt sind, doch wenigstens aufgehört haben, weiter zu greifen. Den rechten Weg, den ich erst spät und ermüdet vom Herumirren kennen gelernt habe, zeige ich jetzt andern. Vermeidet alles, rufe ich, was dem großen Haufen gefällt und was der Zufall verleiht. Bei jedem zufälligen Gute bleibt argwöhnisch und schüchtern stehen. Das Wild und die Fische werden durch irgendeine lockende Hoffnung berückt. Ihr haltet jene Dinge für Geschenke des Glücks? Es sind Fallstricke. Wer nur immer von uns ein sicheres Leben führen will, der vermeide, so viel er nur kann, jene Leimruten. Bei ihnen täuschen wir uns auf die kläglichste Weise: wir glauben sie zu besitzen, und wir hangen nur daran fest. In Abgründe führt ein solcher Lauf; das Ende eines so hochgehenden Lebens ist der Fall. Ja, man kann dann nicht einmal Widerstand leisten, wenn das Glück uns in die Quere zu führen begonnen hat.

Halte also fest an dieser vernünftigen und heilsamen Lebensregel, daß du dem Körper nur so viel zugestehst, als für die Gesundheit genügt. Er muß etwas hart behandelt werden, damit er der Seele nicht ungehorsam sei: die Speise stille den Hunger, der Trank lösche den Durst, das Kleid halte die Kälte ab, das Haus sei eine Schutzwehr gegen alles dem Körper Feindliche. Ob es aus Rasen aufgeführt ist oder aus verschiedenem Gestein fremder Länder, ist gleichgültig; von einem Strohdach wird der Mensch ebenso gut bedeckt wie von einem goldenen. Verachtet alles, was überflüssige Bemühung zum Schmuck und zur Zierde aufgestellt hat. Bedenket, daß nichts als der Geist bewundernswürdig ist, für den es, ist er selbst groß, nichts Großes gibt. Wenn ich so mit mir selbst, so mit der Nachwelt rede, glaubst du nicht, daß ich nützlicher wirke, als wenn ich hinginge, um als Rechtsanwalt einen Termin abzuwarten, oder einem Testamente meinen Siegelring aufdrückte oder im Staate einem Amtsbewerber meine Hand und Stimme liehe? Glaube mir: die nichts zu tun scheinen, tun oft das Wichtigste; Menschliches und Göttliches betreiben sie zu gleicher Zeit.

Ist auch der Weise sich selbst genug, so wünscht er sich doch Freunde

Du wünschest zu wissen, ob Epikur diejenigen mit Recht tadelt, welche sagen, der Weise sei sich selbst genug und bedürfe deshalb keines Freundes. Diese Behauptung stellt Epikur gegen den Stilpon und diejenigen auf, denen eine unempfindliche Seele als das höchste Gut erscheint. Man muß aber notwendig in eine Zweideutigkeit verfallen, wenn man ἀπάδεια kurzweg durch ein Wort ausdrücken und impatientia sagen will. Denn man kann darunter gerade das Gegenteil von dem verstehen, was wir ausdrücken wollen. Wir wollen mit impatiens den bezeichnen, der die Empfindung jedes Leidens zurückweist, und man wird darunter den verstehen, der gar kein Übel ertragen könne. Siehe also zu, ob es nicht passender ist, von einer unverwundbaren Seele zu sprechen oder von einer Seele, die über allem Leiden steht. Das ist der Unterschied zwischen uns und jenen: unser Weiser besiegt zwar jedes Ungemach, aber er empfindet es; der ihrige empfindet es nicht einmal. Darin kommen wir mit jenen überein, daß der Weise sich selbst genug sei; dennoch aber wünscht er einen Freund, einen Nachbar, einen Hausgenossen zu haben, wiewohl er sich selbst genügt. Siehe, wie sehr er sich selbst genug ist: bisweilen genügt ihm schon ein Teil seiner selbst. Wenn ihn eine Krankheit oder ein Feind einer Hand beraubt, wenn ein Unfall ihm ein Auge ausgestoßen, so wird ihm das genügen, was ihm übrig geblieben, und er wird mit verletztem und verstümmeltem Körper ebenso vergnügt sein als er bei unverletztem war. Er vermißt nicht, was ihm fehlt, wenn er auch lieber wünscht, es möchte ihm nicht fehlen. Insofern ist der Weise sich selbst genug; nicht, daß er ohne Freund sein will, sondern daß er es kann; und dieses » er kann es« meine ich so: wenn er ihn verliert, erträgt er es mit Gleichmut. Ohne Freund wird er übrigens nie sein: er hat es in seiner Gewalt, wie schnell er ihn ersetzen will. Wie ein Phidias, wenn ihm eine Bildsäule verdorben ist, sofort eine andere verfertigen wird, so wird dieser, ein Meister in der Kunst, Freundschaften stiften, einen andern an die Stelle der Verlorenen setzen. Du fragst, wie er sich so schnell einen Freund verschaffen werde? Ich will es dir sagen mit Hecato: »Ich will dir ein Liebesmittel zeigen ohne einen Trank, ohne ein Kraut, ohne den Spruch irgend einer Zauberin: Willst du geliebt sein, so liebe.«

Jetzt laß uns zu unserm Hauptsatze zurückkehren. Der Weise wünscht, auch wenn er sich selbst genügt, doch einen Freund zu besitzen, wäre es auch aus keinem andern Grunde, als um die Freundschaft zu üben, damit eine so große Tugend nicht brach liege; nicht dazu, um, wie Epikur in eben jenem Briefe sagt, jemanden zu haben, der bei ihm sitze, wenn er krank, oder ihm beispringe, wenn er ins Gefängnis geworfen oder in Not sei, sondern um jemanden zu haben, an dessen Krankenlager er selbst sitzen, den er, von feindlichen Wachen umgeben, befreien könne. Wer nur sich berücksichtigt und deshalb eine Freundschaft schließt, denkt schlecht; wie er angefangen hat, so wird er enden. Er hat sich einen Freund verschafft, damit er ihm gegen Fesseln Hilfe bringen soll: sobald die fallende Kette geklirrt hat, wird er davon gehen. Wer des Nutzens wegen zum Freunde angenommen worden ist, wird so lange gefallen, als er sich nützlich machen wird. Daher umlagert ein Schwarm von Freunden die Glücklichen: um die Gestürzten her herrscht Einsamkeit, und da, wo sie auf die Probe gestellt werden, machen sich die Freunde davon. Daher kommt jene Menge abscheulicher Beispiele von solchen, die ihren Freund aus Furcht im Stiche ließen, oder von solchen, die ihn aus Furcht verrieten. Der Anfang und das Ende müssen einander notwendig entsprechen. Wer Freund zu sein anfing, weil es ihm nützte, dem wird, wenn ihm an der Freundschaft noch irgend etwas außer ihr selbst gefällt, auch irgend ein Preis gegen sie gefallen. »Wozu verschaffst du dir einen Freund?« fragst du. Um jemand zu haben, für den ich sterben, den ich in die Verbannung begleiten, für dessen Tod ich eintreten und mich opfern kann. Was du beschreibst, ist nicht Freundschaft, sondern Spekulation, die ihrem Vorteile nachgeht und berechnet, was sie gewinnen wird. Unzweifelhaft hat die Gemütsstimmung der Liebenden etwas Ähnliches mit der Freundschaft: man könnte sie eine rasende Freundschaft nennen. Liebt denn nun jemand des Gewinnes oder der Ehre und des Ruhmes wegen? Die Liebe an und für sich entflammt, alles andere hintansetzend, die Herzen zur Begierde nach dem schönen Gegenstände, nicht ohne Hoffnung gegenseitiger Zärtlichkeit. Wie denn also? Aus der edleren Ursache geht die unedle Empfindung hervor? Es handelt sich, sagst du, jetzt nicht darum, ob die Freundschaft um ihrer selbst willen wünschenswert sei; aber es kann zu ihr herantreten, auch wer sich selbst genug ist. Wie also wird er zu ihr herantreten? wie zu einem Gegenstande von höchster Schönheit, nicht von Gewinnsucht beherrscht, noch durch den Wechsel des Schicksals erschreckt. Es entkleidet die Freundschaft ihrer erhabenen Würde, wer sie nur für die Fälle des Glücks stiftet.

Der Weise ist sich selbst genug. Diesen Satz, mein Lucilius, pflegen die meisten falsch auszulegen; sie verdrängen den Weisen von allem Möglichen und beschränken ihn auf seine eigene Haut. Allein man muß unterscheiden, was jener Satz verspricht und wie weit sein Versprechen geht. Der Weise ist sich selbst genug, um glücklich zu leben, nicht, um überhaupt zu leben. Denn zu diesem bedarf er noch vieler anderer Dinge, zu jenem aber nur einer gesunden, erhabenen und das Glück verachtenden Seele. Ich will dich auch noch auf eine Unterscheidung des Chrysippus hinweisen. Er sagt, »dem Weisen mangele nichts, er bedürfe aber doch mancher Dinge; der Tor dagegen bedarf nichts, denn er weiß es nicht zu gebrauchen, aber es mangelt ihm alles.« Der Weise bedarf der Augen, Hände und vieler anderer zum alltäglichen Leben nötiger Dinge; aber es mangelt ihm nichts. Denn Mangel beruht auf Notwendigkeit, für den Weisen aber ist nichts notwendig. Mag er sich also auch noch so sehr selbst genug sein, so bedarf er doch der Freunde, und er wünscht deren möglichst viele zu haben, nicht um glücklich zu leben, denn er lebt auch ohne Freunde glücklich. Das höchste Gut sucht nicht Hilfsmittel von außen her; es wird daheim gepflegt, im Innern, es besteht ganz in sich selbst. Dem Zufall unterworfen zu sein beginnt, wer einen Teil seiner selbst außerhalb sucht. Wie jedoch wird sich das Leben des Weisen gestalten, wenn er, in Fesseln geschlagen oder einsam unter irgend einem fremden Volke hausend oder auf langwieriger Seefahrt zurückgehalten oder an ein ödes Gestade ausgeworfen, von Freunden verlassen wird? Wie das Leben Jupiters, wenn er nach Auflösung der Welt und Verschmelzung aller Götter in einen, bei einem kurzen Stillstand der Natur, seinen Gedanken dahingegeben in sich ruhen wird. Etwas der Art tut der Weise: er birgt sich in sich selbst, er ist mit sich allein. So lange er nun freilich seine Lage nach eigenem Gutdünken einrichten kann, ist er sich selbst genug; er heiratet – und ist sich selbst genug, er bekommt Kinder – und ist sich selbst genug; und doch wird er nicht leben mögen, wenn er ohne Menschen leben sollte. Zur Freundschaft zieht ihn nicht eigener Nutzen, sondern ein natürlicher Reiz. Denn wie uns ein süßes Verlangen nach andern Dingen angeboren ist, so auch nach der Freundschaft. Wie die Einsamkeit uns verhaßt ist und wie das Verlangen nach Geselligkeit von Natur den Menschen mit Menschen verbindet, so liegt darin auch ein Reizmittel, das uns nach Freundschaften trachten läßt. Nichtsdestoweniger wird er, obgleich er seine Freunde aufs innigste liebt, obgleich er sie sich gleichstellt, oft sogar sich vorzieht, dennoch all sein Gut auf sich selbst beschränken und sagen, was einst jener Stilpon sagte, welchen der Brief Epikurs verspottet. Als dieser nämlich nach Einnahme seiner Vaterstadt, nach Verlust seiner Frau und Kinder die allgemeine Brandstätte alleinstehend, aber doch glücklich verließ, und Demetrius ihn fragte, ob er etwas verloren hätte, sagte er: »Ich führe alle meine Habe mit mir.« Siehe da! ein starker und tapferer Mann! Selbst seinen siegenden Feind hat er besiegt. »Ich habe nichts verloren«, sprach er, und nötigte so jenen, zu zweifeln, ob er gesiegt habe. »Ich führe alle meine Habe mit mir«, die Gerechtigkeit, die Tugend, die Klugheit, und eben diesen Grundsatz, nichts für ein Gut zu halten, was mir entrissen werden kann. Wir bewundern einige Tiere, die ohne Schaden für ihren Körper mitten durch das Feuer hindurch gehen: um wie viel bewundernswürdiger ist dieser Mann, der durch Wasser, Trümmer und Flammen unverletzt und unbeschädigt entkam! Du siehst, wie viel leichter es ist, ein ganzes Volk, als einen Mann zu besiegen. Dies Wort aber hat er mit dem Stoiker gemein; auch dieser trägt eben so seine Güter unberührt durch eingeäscherte Städte. Er ist sich selbst genug: in diese Grenze schließt er seine Glückseligkeit ein. Und damit du nicht glaubst, daß nur wir mit so großartigen Worten um uns werfen: sogar Stilpons Tadler selbst, Epikurus, hat eine ähnliche Äußerung getan, die du noch freundlich hinnehmen mögest. »Wem das Seinige nicht das Herrlichste dünkt, sagt er, der ist, wäre er auch Herr der ganzen Welt, dennoch unglücklich.« Oder wenn es dir so besser ausgedrückt scheint (denn wir brauchen uns nicht sklavisch an die Worte zu binden, sondern nur an den Gedanken): »Unglücklich ist, wer sich nicht für den Glücklichsten hält, und wenn er die ganze Welt beherrschte.« Um dich aber zu überzeugen, daß diese Ansicht eine allgemeine sei, da sie nämlich die Natur selbst diktiert, so wirst du bei dem Dichter die Worte finden: Nicht glücklich ist, wer es zu sein nicht glauben will. Denn was liegt daran, wie dein Zustand wirklich beschaffen ist, wenn er dir ein schlimmer zu sein scheint? »Wie denn also? sagst du. Wenn jener Mensch, der mit Schande reich ist, oder jener, der Herr vieler, aber noch mehrerer Sklave ist, sich glücklich nennt: wird er durch seinen Ausspruch wirklich glücklich werden?« Es kommt nicht darauf an, was er sagt, sondern was er fühlt, auch nicht, was er eben heute, sondern was er beständig fühlt. Du brauchst aber nicht zu befürchten, daß ein so wichtiges Gut an einen Unwürdigen komme. Niemandem als dem Weisen gefällt das Seine; jeder Tor leidet an Selbstüberdruß.

Wie kann man ohne Schaden mit sich allein sein?

So ist es. Ich ändere meine Meinung nicht: fliehe die Menge, fliehe die Wenigen, fliehe selbst einen. Ich habe keinen, mit dem ich dich in Gemeinschaft gesetzt wünschte. Und siehe, in welcher Meinung du bei mir stehst: ich wage es, dich dir selbst anzuvertrauen. Als Krates, ein Zuhörer jenes Stilpon selbst, dessen ich in meinem vorigen Briefe gedachte, einen einsam herumspazierenden Jüngling erblickte, fragte er ihn: was er da so allein mache? »Ich spreche mit mir selbst«, antwortete er. Darauf Krates: »Gib acht, daß du mit keinem schlechten Menschen sprichst.« Über einen Trauernden und sich Fürchtenden pflegen wir zu wachen, damit er die Einsamkeit nicht mißbrauche; unter den Unverständigen gibt es keinen, der sich selbst überlassen werden dürfte. Dann sinnen sie auf böse Anschläge; dann bereiten sie entweder andern oder sich selbst zukünftige Gefahren; dann gehen sie ihren unreinen Gelüsten nach; dann malt sich das Herz alles das aus, was er vorher aus Furcht oder Scham geheim gehalten; dann steigert es die Verwegenheit, reizt es die Wollust, stachelt es die Zornsucht. Der einzige Vorteil endlich, den die Einsamkeit hat, keinem etwas anzuvertrauen und keinen Angeber fürchten zu müssen, geht für den Toren verloren: er verrät sich selbst. Siehe daher, was ich von dir hoffe, nein, was ich mir verbürge (denn Hoffnung ist der Name eines ungewissen Gutes): ich finde keinen, mit dem ich dich lieber zusammen sehen möchte, als mit dir selbst. Ich erinnere mich noch, mit welcher Seelengröße du Worte hinwarfst, voll von großer Stärke. Da wünschte ich mir sofort Glück und sprach: das kam nicht nur von dem Saume der Lippen; solche Äußerungen haben eine feste Grundlage; dieser Mensch ist nicht einer aus dem großen Haufen, er trachtet nach seinem Heil. So lebe, wie du sprichst.

Weiser Gebrauch der Zeit

Wohin ich mich wende, erblicke ich Beweise meines hohen Alters. Ich war auf mein Gut vor der Stadt gekommen und klagte über die Kosten des baufälligen Gebäudes. Der Verwalter sagte, nicht seine Nachlässigkeit trage die Schuld daran; er tue alles, aber das Landhaus sei alt. Dieses Landhaus aber ist unter meinen Händen emporgewachsen; was also wird mit mir werden, wenn Mauersteine meines Alters schon so morsch sind? Erzürnt auf jenen ergreife ich die erste beste Gelegenheit, meinen Ärger auszulassen. »Es ist ganz offenbar, sage ich, daß diese Platanen vernachlässigt werden. Sie haben kein Laub; wie knorrig und verdorrt sind die Äste, wie verkümmert und garstig die Stämme! Das würde nicht sein, wenn jemand den Boden um sie her auflockerte und sie begösse.« Er schwört bei meinem Schutzgeist, er tue alles, seine Sorgfalt fehle in keiner Hinsicht – aber die Bäume seien alt. Unter uns gesagt: ich selbst hatte sie gepflanzt, ich hatte ihr erstes Blatt gesehen. Ich wende mich zur Tür und frage: »Wer ist jener abgelebte Alte da, der mit Recht an die Türe gestellt ist? Denn er schaut schon zu ihr hinaus. Die Toten wurden mit dem Gesicht gegen die Haustüre gekehrt im Atrium ausgestellt. Wo hast du den aufgetrieben? Wie konnte dir's Vergnügen machen, einen fremden Leichnam aufzunehmen?« Jener aber fragte: »Erkennst du mich denn nicht? Ich bin ja Felicio, dem du so oft Bilderchen gebracht hast; ich bin der Sohn des Verwalters Philositus, dein Liebling.« »Der Mensch ist völlig verrückt, sprach ich. Noch als kleines Knäblein ist er mein Liebling geworden.« – »Das kann recht wohl sein; es fallen ihm gerade jetzt die Zähne aus.«

Das verdanke ich meinem Landgute, daß mir, wohin ich blicken mochte, mein Alter vor die Augen trat. Wir wollen es liebend umfassen und wert halten; es ist reich an Genuß, wenn man es nur zu benutzen weiß. Am angenehmsten sind Früchte, wenn sie zu Ende gehen; das Knabenalter hat an seinem Ende den größten Reiz; die Weintrinker ergötzt der letzte Trunk am meisten: jener, der ihn niederwirft und die Trunkenheit vollendet. Das Lieblichste, was die Lust des Menschen in sich schließt, verspürt sie auf das Ende. Das angenehmste Lebensalter ist das, welches sich schon abwärts neigt, aber doch nicht jählings stürzt; und selbst jenes auf der letzten Stufe stehende hat meinem Urteile nach seine Genüsse, oder es tritt an die Stelle der Genüsse eben das Gefühl, keiner mehr zu bedürfen. Wie süß ist es, seine Begierden müde gemacht und hinter sich gelassen zu haben! »Es ist lästig, sagst du, den Tod vor Augen zu sehen.« Ja, der Jüngling muß ihn so gut vor Augen haben als der Greis; denn wir werden nicht nach Altersklassen abgerufen. Sodann ist niemand so sehr Greis, daß es frech von ihm wäre, noch auf einen Tag zu hoffen. Ein Tag aber ist eine Stufe des Lebens; die ganze Lebenszeit besteht aus Teilen und enthält Kreise, von welchen die größeren die kleineren umschließen. Einer ist es, der alle umfaßt und einschließt: er zieht sich vom Geburts- bis zum Sterbetage. Ein zweiter schließt die Jahre des Jünglingsalters ein; wieder ein anderer faßt die ganze Kindheit in seinen Umfang zusammen; hierauf das einzelne Jahr, das alle Zeiten in sich faßt, aus deren Vervielfältigung das Leben sich zusammensetzt. Der Monat wird von einem engeren Kreise umgürtet und den engsten Umkreis hat der Tag; doch auch dieser gelangt vom Anfänge zum Ende, vom Aufgang bis zum Untergang. Daher hat man jeden Tag so einzurichten, als ob er die Reihe schlösse und die Summe der Lebenstage voll mache. Fügt Gott noch den morgenden Tag hinzu, so laß uns ihn froh annehmen. Der ist der glücklichste und sorgenfreieste Besitzer seiner selbst, der das Morgen ohne Unruhe erwartet. Jeder, der sagen kann: »Ich habe gelebt«, steht täglich zu seinem Gewinn auf.

Mittel gegen die Furcht

Ich weiß, daß du viel Mut hast. Denn auch schon, ehe du dich mit heilsamen und alles Schwere besiegenden Lehren ausrüstetest, warst du dem Schicksal gegenüber hinlänglich mit dir selbst zufrieden und noch weit mehr, nachdem du mit ihm handgemein geworden bist und deine Kräfte versucht hast, die nie ein sicheres Selbstvertrauen gewähren können, außer wenn viele Schwierigkeiten von da und dorther erschienen, und uns bisweilen wirklich recht nahe getreten sind. So wird jener wahre Mut, der nie unter fremde Willkür kommen wird, bewährt. Dies ist seine Feuerprobe. Kein Ringkämpfer kann großen Mut zum Kampfe mitbringen, der noch niemals braun und blau geschlagen worden ist. Der aber, der sein Blut schon fließen sah, dessen Zähne krachten unter Faustschlägen, der niedergerungen die ganze Last seines Gegners auf seinem Leibe trug und zu Boden geschleudert den Mut nicht verlor, der, so oft er fiel, trotziger wieder aufstand, der schreitet mit großer Hoffnung zum Kampfe hinab. Also, um dieses Gleichnis zu verfolgen, oft schon lag das Schicksal über dir und doch ergabst du dich nicht, sondern sprangst empor und stelltest dich noch beherzter wieder fest. Denn versuchte Tapferkeit steigert sich. Doch, wenn es dir gefällt, empfange von mir einige Hilfsmittel, durch die du dich verwahren kannst.

Zahlreicher, mein Lucilius, sind die Dinge, die uns schrecken, als die, welche uns drücken, und öfter leiden wir in der Einbildung als in der Wirklichkeit. Ich rede mit dir nicht die Sprache der Stoiker, sondern diese mehr herabgestimmte. Denn wir Stoiker sagen: alles das, was Seufzer und Gestöhn auspreßt, ist unbedeutend und verächtlich. Wir wollen diese großen und, bei den Göttern! wahren Worte bei Seite lassen. Nur diese Lehre gebe ich dir: sei nicht unglücklich vor der Zeit; denn das, was dich, als dir drohend, in Angst versetzt, wird vielleicht nie kommen, oder ist wenigstens noch nicht gekommen. Einiges also quält uns mehr, als es sollte anderes eher, als es sollte, wieder anderes, was uns überhaupt gar nicht quälen sollte. Wir vergrößern entweder unsern Schmerz, oder erdichten ihn, oder nehmen ihn voraus. Jener erste Punkt möge, weil die Sache noch streitig ist und gleichsam ein förmlich eingeleiteter Prozeß darüber schwebt, für den Augenblick noch ausgesetzt bleiben; denn von dem, was ich unbedeutend nenne, wirst du behaupten, es sei das Ärgste: ich weiß, daß einige unter Geißelhieben lachen und andere bei einem Backenstreich jammern. Wir werden später sehen, ob diese Dinge durch eigene Kraft oder durch unsere Schwäche stark sind; nur das versprich mir, daß du, so oft Leute um dich herstehen, die dich überreden wollen, du seiest unglücklich, nicht beachten willst, was du von ihnen hörst, sondern was du empfindest; daß du dein Gefühl zu Rate ziehen und, da du ja deine Verhältnisse am besten kennst, dich selbst fragen willst: Was ist der Grund, daß jene mich beweinen, daß sie so ängstlich tun, daß sie sogar meine Berührung fürchten, als ob mein Ungemach auf sie überspringen könnte? Ist denn hier ein Übel? oder ist die Sache mehr verrufen als schlimm? Frage dich selbst: Quäle und kümmere ich mich etwa ohne Grund, und mache ich vielleicht zu einem Übel, was keines ist? »Wie aber, fragst du, soll ich erkennen, ob das nichtig oder wahr ist, was mich ängstigt?« Vernimm darüber diese Regel: Wir werden entweder von Gegenwärtigem oder von Zukünftigem oder von beidem zugleich gequält. Aber das Gegenwärtige ist das Urteil leicht. Ist dein Körper frei, ist er gesund und wird ihm durch keine Verletzung Schmerz bereitet, nun, so sehen wir zu, was da kommen wird; für heute hat es nichts auf sich. »Aber es wird kommen.« Fürs erste untersuche, ob sichere Zeichen vorhanden sind, daß ein Abel kommen wird; denn meistens sorgen wir uns über Vermutungen ab, und, was Kriege zu beendigen pflegt, noch weit mehr aber einzelne aufreibt, das Gerücht, treibt sein Spiel mit uns. Ja, so ist es, mein Lucilius. Eiligst geben wir dem Wahne nach; wir prüfen und untersuchen nicht, was uns in Furcht setzt, sondern zittern und wenden den Rücken gleich wie die, welche eine durch eine Viehherde erregte Staubwolke aus dem Feldlager treibt oder die irgend ein Märchen, ohne Gewährsmann ausgesprengt, in Schrecken setzt. Ich weiß nicht, wie es kommt, daß Grundloses uns mehr in Bestürzung setzt; denn das Wahre hat sein Maß; alles aber, was aus ungewissen Quellen entspringt, ist der Vermutung und Willkür eines zagenden Gemüts dahingegeben. Keine Furcht ist daher so verderblich, so unheilbar als die eines Wahnsinnigen; denn jede andere ist unvernünftig, diese aber unsinnig. Untersuchen wir also die Sache genauer. Es ist wahrscheinlich, daß ein Übel eintreten wird; darum aber ist es nicht gleich wahr. Wie vieles ist unerwartet gekommen! wie vieles Erwartete ist nie erschienen! Und wenn es auch wirklich bevorsteht, was nützt es, seinem Schmerze entgegenzulaufen? Du wirst ihn früh genug empfinden, wenn er da sein wird; unterdessen versprich dir besseres. Was du dadurch gewinnen wirst? Zeit! Vieles wird dazwischen treten, wodurch die kommende Gefahr, wie nahe sie auch herangetreten ist, zum Stillstehen gebracht oder ganz beseitigt oder auf ein anderes Haupt abgeleitet werden kann. Schon manche Feuersbrunst ließ einen Weg zur Rettung offen; schon manchen trug ein einstürzendes Gebäude sanft auf den Boden hinab; manchmal wurde das Schwert vom Nacken selbst noch zurückgezogen, und mancher überlebte seinen Henker. Selbst das Unglück hat seinen Wankelmut. Vielleicht wird es eintreten, vielleicht aber auch nicht; inzwischen ist es wenigstens noch nicht da. Stelle dir also besseres vor. Zuweilen schafft sich die Seele falsche Bilder, ohne daß Zeichen erscheinen, die ein Unheil voraus verkündigten; oder sie faßt ein Wort von zweifelhafter Bedeutung in zu schlimmem Sinne auf, oder stellt sich den Groll eines andern größer vor, als er ist, und bedenkt nicht, wie sehr er erzürnt sei, sondern wie viel der Erzürnte vermöge. Es ist aber kein Grund mehr da, zu leben, und des Elendes kein Maß, wenn man alles fürchtet, was man nur immer fürchten kann. Hier muß die Klugheit helfen; hier weise durch Geistesstärke selbst die Furcht vor dem Augenscheinlichen zurück; wo nicht, so vertreibe eine Schwäche durch die andere und dämpfe die Furcht durch die Hoffnung. Von allem, was wir fürchten, ist nichts so gewiß, daß es nicht noch gewisser wäre, das Gefürchtete werde ausbleiben und das Gehoffte täuschen. Hoffnung und Furcht also prüfe genau, und so oft alles ungewiß ist, begünstige dich selbst und glaube, was dir lieber ist. Selbst, wenn du mehr Stimmen hast für die Furcht, so neige dich nichts destoweniger auf die andere Seite und höre auf, dich zu beunruhigen. Auch erwäge öfters, daß der größere Teil der Menschen, auch wenn weder irgend ein Übel da ist, noch sicher zu erwarten steht, sich abängstigt und unstät hin und her läuft. Denn niemand leistet sich selbst Widerstand, wenn er einmal angefangen hat, in Aufregung zu sein, noch führt er seine Furcht auf die Wahrheit zurück. Niemand spricht: »Der Gewährsmann verdient keinen Glauben; er hat es erdichtet oder nur geglaubt«. Wir geben uns den Erzählenden hin; wir zittern vor Zweifelhaftem als vor Gewissem, wir halten kein Maß in den Dingen, eine Bedenklichkeit wird sogleich zur Furcht. Ich schäme mich, so mit dir zu sprechen und dich mit so gelinden Heilmitteln zu behandeln. Ein anderer mag sagen: Vielleicht wird es nicht kommen; du sage: Was weiter, wenn es auch kommt? wir werden sehen, wer von beiden siegen wird. Vielleicht kommt es zu meinen Gunsten, und ein Tod, der mein Leben adeln wird. Ein Schirlingsbecher hat des Sokrates Größe vollendet. Entwinde dem Cato sein Schwert, den Schirmer seiner Freiheit, und du hast ihm einen großen Teil seines Ruhmes entzogen. Doch schon zu lange ermahne ich dich, da bei dir mehr eine Erinnerung als eine Ermahnung nötig ist. Ich führe dich nicht auf einen von deiner Natur abweichenden Weg; du bist geboren zu dem, was ich sage. Um so mehr erhöhe und verschönere dein Gutes.

Natürliche und blinde Begierden

»Wenn du nach der Natur lebst, wirst du nie arm sein, wenn nach dem Wahne, nie reich,« sagt Epikur. Wenig verlangt die Natur, der Wahn Ungemessenes. Man häufe auf dich, was viele Begüterte zusammen besaßen; das Glück erhebe dich über das Maß des Vermögens eines Privatmannes, es bedecke dich mit Gold und bekleide dich mit Purpur, es führe dich zu einer solchen Fülle von Herrlichkeiten und Schätzen, daß du die Erde bedeckst mit deinen Marmorgebäuden, es sei dir vergönnt, nicht bloß Reichtümer zu besitzen, sondern darauf zu treten; es mögen dazu noch Bildsäulen und Gemälde kommen und was sonst noch die Kunst für die Üppigkeit mühevoll bereitet hat, – du wirst von diesem allen nur lernen, noch Größeres zu begehren. Natürliche Bedürfnisse sind begrenzt; was aus dem Irrwahn entspringt, hat kein Ziel, wo es ende; denn das Falsche hat keine Grenze. Dem auf der Straße Wandernden ist irgend ein Ziel gesteckt; das Herumirren ist endlos. Daher ziehe dich zurück vom Eiteln, und wenn du wissen willst, ob das, was du begehrst, auf einer natürlichen oder blinden Begierde beruht, so betrachte, ob es irgendwo zum Stillstand kommen kann. Wenn dir, nachdem du schon weit vorgeschritten bist, noch immer ein Weiteres übrig bleibt, so wisse, daß es nichts Natürliches ist.

Die Philosophie soll einen festen Charakter bilden

Wenn du dich wohl befindest und dich für würdig hältst, einmal der deinige zu werden, so freue ich mich; denn mein Ruhm wird es sein, wenn ich dich den Wogen entzogen habe, aus denen du ohne Hoffnung herauszukommen herumtreibst. Nur darum aber, mein Lucilius, bitte und dazu ermahne ich dich, daß du die Philosophie in die Tiefen deines Herzens senkest und die Probe deiner Fortschritte nicht an einer Rede oder einer Schrift, sondern an der Festigkeit deines Willens und der Verminderung deiner Begierden machst. Bewähre deine Worte durch die Tat. Andrer Art ist die Aufgabe des Deklamators, der nach dem Beifall des Zuhörerkreises hascht, oder dessen, der die Ohren junger und müßiger Leute durch einen mannigfaltigen und leicht hinrollenden Vortrag unterhält. Die Philosophie lehrt handeln, nicht reden; sie fordert, daß jeder nach seinen Vorsätzen lebe, damit nicht das Leben der Rede widerspreche, und alle Handlungen eine Farbe haben. Das ist sowohl die größte Aufgabe, als das größte Kennzeichen der Weisheit, daß die Handlungen mit den Worten in Einklang stehen und der Mensch sich selbst überall gleich und derselbe sei. Wer wird das leisten? Wenige, aber doch einige. Es ist schwer; und ich sage nicht, daß der Weise stets in gleichem Schritte gehen werde, aber doch auf gleichem Wege. Beobachte also, ob deine Kleidung und Wohnung einander widersprechen, ob du etwa gegen dich freigebig, gegen die deinigen knauserig bist, ob du haushälterisch speisest, aber verschwenderisch bauest. Ergreife ein für allemal eine Richtschnur, nach der du lebst, und nach dieser bringe dein ganzes Leben ins gleiche. Einige schränken sich zu Hause ein, draußen aber machen sie sich breit und blähen sich auf. Diese Ungleichheit ist ein Fehler und das Zeichen eines schwankenden Gemüts, das noch nicht seine gehörige Haltung hat. Nun will ich auch noch sagen, woher jene Unbeständigkeit und Unähnlichkeit der Handlungen und Entschließungen kommt. Niemand setzt sich vor, was er will; oder wenn er es sich vorgesetzt hat, verharrt er nicht dabei, sondern springt zu etwas anderem über, und ändert nicht nur seinen Entschluß, sondern kommt von ihm zurück und verfällt wieder in das, was er aufgegeben und verdammt hat. Um daher die alten Begriffsbestimmungen der Weisheit zu verlassen und die ganze Regel für das menschliche Leben kurz zusammenzufassen, kann ich mich mit folgendem begnügen: Was ist Weisheit? Immer dasselbe wollen und nicht wollen. Du brauchst dabei nicht die Einschränkung beizufügen, daß das recht sein müsse, was du willst; denn niemandem kann immer eines und dasselbe gefallen, wenn es nicht eben das Rechte ist. Die Menschen wissen nicht, was sie wollen, außer in dem Augenblicke, wo sie wollen: fürs Ganze hat sich noch keiner über sein Wollen oder Nichtwollen entschieden. Täglich wechselt das Urteil und verwandelt sich in das Gegenteil; und die meisten führen ihr Leben wie zum Spiel. Halte also fest, womit du begonnen hast, und du wirst vielleicht zum Höchsten gelangen, oder doch zu dem, wovon du allein erkennst, daß es noch nicht das Höchste ist.

Weise leben, nicht lange leben, ist unsere Aufgabe

»Jeder geht so aus dem Leben, als wäre er eben erst in dasselbe eingetreten«, sagt Epikur. Nimm den ersten besten Jüngling, Greis oder Mann, und du wirst ihn in gleicher Furcht vor dem Tode, in gleicher Unkenntnis des Lebens finden. Keiner hat etwas fertig; denn immer verschieben wir unsere Geschäfte auf die Zukunft. Nichts ergötzt mich an jenem Ausspruch mehr, als daß den Greisen Kindheit vorgeworfen wird. »Niemand«, sagt er, »geht anders aus dem Leben, als wie er geboren wurde.« Dies aber ist falsch; wir sterben schlechter, als wir geboren werden, und dies ist unser eigener Fehler, nicht der der Natur. Diese muß sich über uns beklagen und sagen: Was soll das? ich habe euch ohne Begierden, ohne Furcht, ohne Aberglauben, ohne Treulosigkeit und ohne alle übrigen Gebrechen geschaffen; so geht doch hinaus, wie ihr hereingetreten seid! Der hat die Weisheit erfaßt, der ebenso sorglos stirbt, als er geboren wird. So aber zittern wir, wenn eine Gefahr sich naht; der Mut, die Farbe entweicht, unnütze Tränen entfliehen uns. Was ist schimpflicher, als just auf der Schwelle der Sorgenlosigkeit ängstlich zu sein? Die Ursache aber ist diese, daß wir leer an allem Guten und auf Fristung des Lebens ängstlich bedacht sind. Denn kein Teil desselben bleibt bei uns zurück; es ist vorüber und zerronnen. Aber niemand sorgt dafür, daß er weise, sondern daß er lange lebe, während doch allen gelingen kann, weise, keinem jedoch, lange zu leben.

Was wahre Freude ist und wie sie uns zu teil wird

Du meinst, ich werde dir schreiben, wie glimpflich diesmal der Winter mit uns verfahren, der sowohl gelind als kurz war, wie mißgünstig dagegen der Frühling, wie unzeitig die jetzige Kälte sei, und andere dergleichen Albernheiten, wie Leute, die nur nach Stoff zum Schreiben suchen. Ich will vielmehr etwas schreiben, was sowohl mir als dir nützen kann. Was aber wird dies anderes sein, als daß ich dich zu einer guten Gesinnung ermuntere? Welches die Grundlage einer solchen sei, fragst du. Freue dich nicht eitler Dinge. Die Grundlage nannte ich dies? Nein, es ist der Gipfel. Zum Höchsten ist gelangt, wer da weiß, worüber er sich freut, wer sein Glück nicht fremder Macht unterwirft. Besorgt und ungewiß über sich selbst ist, wen irgend eine Hoffnung reizt, wäre auch zur Hand, wäre auch nicht schwer zu erlangen, was er hofft, hätten ihn auch seine Hoffnungen noch nie betrogen. Dies betreibe vor allen Dingen, mein Freund: lerne dich freuen. Glaubst du, ich entziehe dir viele Genüsse, wenn ich das Zufällige entferne, wenn ich die Hoffnungen, diese süßesten Ergötzungen, gemieden wissen will? Im Gegenteil, ich will, daß es dir nie an Freude fehle; ich will, daß sie dir in deinem Hause erwachse; und sie erwächst auch, wenn sie in dir selbst wohnt. Die übrigen Erheiterungen füllen das Herz nicht; sie glätten nur die Stirn und sind flüchtig: du müßtest denn etwa meinen, wer lacht, freue sich. Die Seele muß frisch, voll Zuversicht und über alles erhaben sein. Glaube mir, wahre Freude ist eine ernste Sache. Oder meinst du, daß einer mit heiterer oder gar vergnüglicher Miene den Tod verachte? der Armut sein Haus öffne? seine Lüste im Zaume halte? auf geduldiges Ertragen der Schmerzen sinne? Wessen Herz solche Gedanken bewegen, der lebt in großer, aber wenig schmeichelnder Freude. Den Besitz dieser Freude wünsche ich dir; nie wird sie dir fehlen, wenn du einmal gefunden hast, woher sie zu gewinnen ist. Wertlose Metalle finden sich an der Oberfläche; das sind die köstlichsten, deren Adern die Tiefe birgt, sie werden den Wünschen des unablässig Grabenden immer vollständiger entsprechen. Woran sich der große Haufe ergötzt, das gewährt nur ein geringes und oberflächliches Vergnügen, und jede uns von außen zugeführte Freude entbehrt der Grundlage; diejenige aber, von der ich spreche und zu der ich dir zu verhelfen strebe, ist eine festbegründete und mehr nach innen gehende. Tue, ich bitte dich, mein Teuerster, was allein dich glücklich machen kann: wirf weg und zertritt jene Dinge, die von außen glänzen und von andern dir versprochen werden. Trachte nach dem wahren Gut und freue dich des Deinigen. Was heißt aber »des Deinigen«? Deiner selbst und des besseren Teiles deiner selbst. Auch diesen leidigen Körper halte, obgleich nichts ohne ihn geschehen kann, mehr für eine notwendige als wichtige Sache. Er gewährt nur eitle, kurze, Reue bringende, und wenn sie nicht mit großer Mäßigung geregelt werden, ins Gegenteil ausschlagende Genüsse. Ich sage dir: die Lust neigt sich, an einem jähen Abhang stehend, dem Schmerze zu, wenn sie nicht Maß hält; schwer aber ist es, Maß zu halten in dem, was man für ein Gut ansieht. Begierde nach dem wahren Gute jedoch ist sicher. Du fragst, was dieses sei oder woher es uns komme? Ich will dir's sagen: aus einem guten Gewissen, aus edeln Entschlüssen, aus rechtschaffenen Handlungen, aus der Verachtung alles Zufälligen, aus dem ruhigen und stetigen Gange eines immer einen und denselben Weg verfolgenden Lebens. Denn die, welche von einem Vorsatze zum andern überspringen, oder nicht einmal überspringen, sondern durch irgend einen Zufall sich hinüberwerfen lassen, wie können sie, so in der Schwebe hangend und unstet, irgend etwas gewiß und bleibend besitzen? Wenige gibt es, die sich und das ihrige nach einem festen Plane ordnen; die übrigen gehen nicht, sondern lassen sich herumtreiben nach Art von Dingen, die auf den Wogen schwimmen. Von ihnen trägt den einen eine ruhigere Welle zögernd und sanfter dahin, einen andern reißt eine ungestümere fort, wieder einen setzt eine Woge in schon ermattendem Laufe am nächsten Ufer ab, einen andern wirft eine reißende Strömung ins hohe Meer hinaus. Daher müssen wir fest bestimmen, was wir wollen, und dabei beharren.

Manche fangen wirklich erst dann zu leben an, wenn sie aufhören sollen. Wenn du dies für wunderbar hältst, so will ich etwas hinzufügen, worüber du dich noch mehr verwundern wirst. Manche haben zu leben aufgehört, ehe sie anfingen. Lebe wohl!

Über den Selbstmord

Epikur tadelt nicht weniger die, welche den Tod wünschen, als die, welche ihn fürchten, und sagt: »Lächerlich ist es, aus Überdruß am Leben in den Tod zu rennen, wenn man es durch seine Lebensweise dahin gebracht hat, in ihn rennen zu müssen.« Ebenso sagt er an einer andern Stelle: »Was ist so lächerlich, als nach dem Tode zu verlangen, nachdem du dir durch Furcht vor dem Tode ein unruhiges Leben bereitet hast?« Diesen Aussprüchen magst du auch folgendes Wort desselben Gepräges beifügen: »Die Unklugheit, ja der Unsinn der Menschen ist so groß, daß manche sich durch Furcht vor dem Tode zum Tode zwingen lassen!« Mit welchen von diesen Aussprüchen du dich auch beschäftigst, du wirst deinen Geist kräftigen zur ruhigen Ertragung des Todes wie des Lebens. Wie? Zu beidem sind wir zu ermutigen und zu kräftigen, daß wir das Leben weder zu sehr lieben, noch zu sehr hassen. Selbst wenn die Vernunft uns rät, ihm ein Ende zu machen, dürfen wir doch nicht unbesonnen und mit hastiger Eile den Anlauf dazu nehmen. Der mutige und weise Mann darf nicht aus dem Leben fliehen, sondern gehen. Und vor allem werde auch jene Stimmung vermieden, die schon viele ergriffen hat: die Wollust, zu sterben. Denn, mein Lucilius, es gibt wie zu vielen andern Dingen, so auch zum Sterben einen unüberlegten Hang des Herzens, der oft edelgesinnte Männer vom kräftigsten Charakter ergreift, oft freilich auch feige und kleinmütige. Jene verachten das Leben, diese sind seiner müde. Einige beschleicht ein Überdruß, immer dasselbe zu tun und zu sehen, und nicht sowohl ein Haß gegen das Leben, als ein Ekel an ihm, in den wir, von der Philosophie selbst getrieben, leicht verfallen, indem wir sagen: »Wie lange doch dies Einerlei! Nun ja, ich werde erwachen und schlafen, hungern und mich sättigen, frieren und schwitzen. Lein Ding hat ein Ende, sondern alles ist zu einem Kreislauf verknüpft, flieht und verfolgt sich. Den Tag verdrängt die Nacht, die Nacht den Tag, der Sommer endigt in den Herbst, dem Herbste sitzt der Winter auf den Fersen, der wieder vom Frühling beschränkt wird. Alles geht vorüber, um wiederzukehren, ich tue nichts Neues, ich sehe nichts Neues; am Ende wird auch dies zum Ekel.« Viele gibt es, die es nicht für lästig halten, zu leben, aber für überflüssig.

Über den Wechsel des Aufenthaltsortes

Du glaubst, das sei dir allein begegnet, und wunderst dich darüber als über etwas Neues, daß du durch eine so lange Reise und so vielfachen Wechsel des Ortes dennoch den Trübsinn und die Schwermut deines Gemüts nicht verscheucht hast. Den Sinn mußt du wechseln, nicht den Himmelsstrich. Magst du über das weite Meer schiffen, mögen dir, wie unser Virgilius sagt, Länder und Städte entschwinden: wohin du auch immer kommst, deine Fehler werden dir folgen. Zu einem, der über ganz dasselbe klagte, sagte Sokrates: »Was wunderst du dich, daß deine. Reisen dir nichts nützen, da du dich selbst mit herumschleppst?« Derselbe Umstand, der dich forttrieb, verfolgt dich. Was kann dir die Neuheit der Länder frommen? was das Bekanntwerden mit Städten und Gegenden? Vergeblich ist dieses Umhertreiben. Du fragst, warum dir diese Flucht nichts hilft? Du fliehst mit dir selbst. Die Last deiner Seele muß erst abgelegt werden; eher wird dir kein Ort gefallen. Denke dir deinen jetzigen Zustand als einen solchen, wie ihn unser Virgilius als den der schon aufgeregten und entflammten und von einem Geiste, der nicht der ihrige ist, erfüllten Seherin schildert:

Rasend tobt die Prophetin, ob etwa der Brust sie entschütteln
Könne den mächtigen Gott.

Du wanderst bald dahin, bald dorthin, um die auf dir lastende Bürde abzuwerfen, welche durch dieses Umherwerfen selbst immer lästiger wird; so wie auch auf einem Schiffe Lasten, die unbewegt bleiben, weniger drücken; wenn sie aber ungleichmäßig durcheinander gewälzt werden, so versenken sie die Seite, aus welcher sie lasten, schneller in die Fluten. Was du auch tust, tust du gegen dich, und durch die Bewegung selbst schadest du dir, denn du rüttelst einen Kranken. Hast du aber jenes Übel von dir hinweggenommen, dann wird jeder Wechsel des Ortes dir angenehm werden. Magst du in die entlegensten Länder verschlagen werden, in irgend einen Winkel des Barbarenlandes, wirtlich wird dir der Wohnsitz werden, mag er sein, welcher er will. Es kommt mehr darauf an, wie du kommst, als wohin du kommst, und daher sollen wir unser Herz an keinen Ort hängen. Man muß der Überzeugung leben: Nicht für einen Winkel bin ich geboren, mein Vaterland ist diese ganze Welt. Wäre dir dies klar, so würdest du dich nicht darüber wundern, daß dir der Wechsel der Gegenden, in die du von Zeit zu Zeit aus Überdruß an früheren wanderst, nichts nutzt; die erste beste würde dir gefallen haben, wenn du jede für die deinige hieltest. Du reisest nicht, sondern du irrst umher, treibst dich herum und wechselst Ort mit Ort, da doch das, was du suchst, das Glücklichleben, an jedem Orte zu finden ist. Kann etwas anderes so geräuschvoll als der Marktplatz sein? Selbst da kann man ruhig leben, wenn es nötig ist. Doch wenn es erlaubt ist, frei über mich zu verfügen, so werde ich auch schon dem Anblick und der Nachbarschaft des Marktes weit entfliehen; denn wie ungesunde Orte auch die festeste Gesundheit angreifen, so gibt es auch einige, die einem zwar guten, aber noch nicht vollkommenen und gekräftigten Gemüte wenig zuträglich sind. Ich bin nicht einverstanden mit denen, die sich mitten in die Fluten begeben und, ein sturmbewegtes Leben vorziehend, täglich mit den Schwierigkeiten der Verhältnisse hochherzig ringen. Der Weise wird solches ertragen, aber nicht aufsuchen, und lieber im Frieden leben, als im Kampfe. Es hilft nicht viel, seine eigenen Fehler von sich geworfen zu haben, wenn man mit fremden hadern muß. »Dreißig Tyrannen, sagst du, standen um den Sokrates her und konnten seinen Mut nicht brechen.« Was kommt darauf an, wieviele Herren es sind? Die Knechtschaft ist nur eine; wer sie verachtet, ist unter einem noch so großen Haufen von Tyrannen frei.

Ziehe dich in dich selbst zurück

Ich forsche nach dir und erkundige mich bei allen, die aus jener Gegend kommen, was du machst, wo und mit wem du lebst. Du kannst mich nicht hintergehen; ich bin bei dir. Lebe so, als ob ich hörte, was du tust, ja als ob ich es sähe. Du fragst, was mir unter allem, was ich von dir höre, die meiste Freude macht? Daß ich nichts von dir höre, daß die meisten von denen, die ich befrage, nicht wissen, was du treibst. Das ist gut, mit Unähnlichen, die ganz andere Ziele verfolgen, nicht zu verkehren. Ich habe zwar die Zuversicht, du könnest nicht abgelenkt werden und werdest bei deinen Grundsätzen bleiben, auch wenn ein Schwarm von Verführern dich umringt. Was also? Ich fürchte nicht, daß sie dich umwandeln, ich fürchte aber, daß sie dich hindern. Viel aber schadet auch, wer uns aufhält, zumal bei dieser Kürze des Lebens, das wir durch unsere Unbeständigkeit noch mehr verkürzen, indem wir immer bald dieses, bald jenes zu seinem Anfang machen. Wir zerreißen es in kleine Teilchen und zerstückeln es. Eile also, mein teuerster Lucilius, und bedenke, wie sehr du deine Schritte beschleunigen würdest, wenn dich ein Feind vom Rücken her bedrängte, wenn du besorgtest, die Reiterei sprenge heran und setze dem Fliehenden auf dem Fuße nach. Und dies geschieht wirklich; man setzt dir nach; beeile dich und entwische; bringe dich in Sicherheit und betrachte öfters, welch eine schöne Sache es ist, sein Leben noch vor dem Tode zu vollenden und dann den Rest seiner Zeit ruhig zu erwarten und im Besitz eines glücklichen Lebens – das, wenn auch länger, doch nicht glücklicher wird – nichts Widerwärtiges fürchten zu müssen. O wann wirst du jene Zeit schauen, wo du einsehen wirst, daß die Zeit dich nichts angeht; wo du in vollkommener Selbstgenügsamkeit ruhig, heiter und unbekümmert um den morgenden Tag sein wirst. Du wünschest zu wissen, was die Menschen so begierig nach dem Künftigen macht? Niemand gehört sich selbst an. Deine Eltern freilich wünschten dir etwas ganz anderes; ich dagegen wünsche dir Verachtung alles dessen, was sie dir erflehten. Ihre Wünsche plündern viele, um dich zu bereichern; alles, was sie dir zuwenden, muß einem andern entzogen werden. Ich aber wünsche dir den Besitz deiner selbst, damit dein von unsteten Gedanken umhergetriebener Geist endlich einmal festen Fuß fasse und sicher stehe, damit er an sich selbst Gefallen finde und nach Erkenntnis der wahren Güter, die man besitzt, sobald man sie erkannt hat, eines Zuwachses an Jahren nicht bedürfe. Der ist über alle Notwendigkeit hinaus, hat ausgedient und ist frei, der mit dem Leben abgeschlossen hat.

Über die beste Art des philosophischen Unterrichts

Mit Recht dringst du darauf, daß wir diesen brieflichen Verkehr unter uns häufig pflegen. Am meisten nützt eine Rede, die sich in kleinen Abschnitten in die Seele einschleicht; vorher ausgearbeitete und vor dem zuhörenden Volke sich ergießende Vorträge haben mehr Geräuschvolles als Vertrauliches. Die Philosophie ist ein guter Rat: einen Rat aber gibt niemand schreiend. Zuweilen zwar muß man sich auch jenes – um mich so auszudrücken – Volksrednertons bedienen, wo es einen, der noch unentschlossen ist, anzutreiben gilt; wo es sich aber nicht darum handelt, daß einer lernen wolle, sondern daß er lerne, hat man sich zu dieser gelassenen Sprache zu wenden. Sie geht leichter ein und haftet besser; denn es bedarf dann nicht vieler, aber wirksamer Worte. Sie müssen wie Samenkörner ausgestreut werden, die, obgleich klein, dennoch, wenn sie geeigneten Boden gefunden haben, ihre Kräfte entwickeln und aus dem kleinsten Anfange das größte Wachstum entfalten. Dasselbe tut die Vernunftlehre; sie erstreckt sich nicht weit, wenn man sie anblickt, aber sie wächst im Wirken. Nur Weniges ist es, was gesagt wird, aber wenn es die Seele gehörig aufgenommen hat, erstarkt es und wächst empor. Das Verhältnis der Lehren, sage ich, ist dasselbe wie das der Samenkörner; sie wirken Großes und sind doch klein; nur muß sie, wie ich schon bemerkte, ein geeignetes Gemüt auffangen und in sich aufnehmen. Vieles wird dieses dann hinwiederum selbst erzeugen und mehr wiedergeben, als es empfangen hat.

Vom Maß und Übermaß

Die schönste Eigenschaft eines edlen Gemütes ist die, daß es sich zur Tugend erregen läßt. Keinen Mann von erhabenem Sinne ergötzt das Niedrige und Gemeine; nur die Vorstellung großartiger Dinge zieht ihn an und erhebt ihn. Wie sich eine Flamme stets gerade in die Höhe erhebt, und ebensowenig seitwärts liegen und niedergehalten werden, als ruhen kann: so ist auch unser Geist in steter Bewegung, und desto rühriger und tätiger, je feuriger er ist. Glücklich aber, wer diesen Drang auf das Bessere richtete; er wird sich der Gewalt und Botmäßigkeit des Schicksals entziehen, das Glück mäßigen, das Unglück mindern und auf das, was andere bewundern zu müssen glauben, geringschätzig herabsehen. Einem großen Geiste kommt es zu, das Große zu verachten und das Mäßige dem Unmäßigen vorziehen; denn jenes ist nützlich und der Lebensdauer förderlich, dieses aber schadet durch seinen Überfluß. So drückt ein allzu üppiges Wachstum die Saat zu Boden, so brechen die Zweige durch ihre Last, so läßt allzu fruchtbares Land die Frucht nicht zur Reife gelangen. Dasselbe begegnet auch den Gemütern, die ein übermäßiges Glück aus den Fugen treibt, indem sie davon nicht nur zu anderer, sondern auch zu ihrem eigenen Schaden Gebrauch machen. Welcher Feind hat wohl je einen so mißhandelt, als so manchen seine Lüste? Ihrer ungezügelten Leidenschaft, ihren wahnsinnigen Begierden könnte man nur insofern nachsehen, als sie leiden, was sie selbst getan. Und nicht mit Unrecht quält sie diese Wut; denn notwendig muß eine Begierde ins Unermeßliche ausschweifen, die das natürliche Maß einmal übersprungen hat. Dieses nämlich hat seine Grenzen, eitle und aus leidenschaftlicher Begierde hervorgegangene Gelüste aber sind ohne Schranken. Das Notwendige bemißt der Nutzen; das Überflüssige aber – worauf willst du es beschränken? Daher versenken sie sich in Lüste, die ihnen, zur Gewohnheit geworden, unentbehrlich sind, und sind deshalb die Unglücklichsten, weil sie nun so weit gekommen, daß ihnen das notwendige geworden ist, was früher überflüssig gewesen. So frönen sie denn den Lüsten, aber genießen sie nicht, und – was das schlimmste aller Gebrechen ist – lieben ihre Gebrechen. Dann aber ist das Maß des Unglücks voll, wenn das Schändliche nicht nur ergötzt, sondern sogar gefällt; und da hört die Anwendung jedes Heilmittels auf, wo, was lasterhaft war, zur Gewohnheit geworden ist.

Der Gott in uns

Du tust das Beste und dir Heilsamste, wenn du, wie du schreibst, dabei beharrst, nach einer edeln Gesinnung zu streben, die jedoch zu wünschen töricht ist, da du sie von dir selbst erlangen kannst. Nicht zum Himmel braucht man die Hände zu erheben, nicht den Tempelhüter anzuflehen, daß er uns, als könnten wir so mehr erhört werden, zum Ohre des Götterbildes hintreten lasse: die Gottheit ist dir nahe, sie ist bei dir, sie ist in dir. Ja, mein Lucilius, das behaupte ich: es wohnt in uns ein heiliger Geist, ein Beobachter und Wächter alles Guten und Bösen an uns. Dieser behandelt uns so, wie wir ihn behandelt haben. Niemand aber ist ein guter Mensch ohne Gott. Oder kann sich jemand anders, als von ihm unterstützt, über das Glück erheben? Er verleiht große und erhabene Entschließungen. In einem jeden tugendhaften Manne wohnet ein Gott, doch welcher, ist ungewiß.

Wenn du einen Mann siehst, unerschrocken in Gefahren, unberührt von Leidenschaften, im Unglück glücklich, in Stürmen ruhig, die Menschen hier unter sich, die Götter aber neben sich erblickend: wird dich nicht Verehrung gegen ihn ergreifen? wirst du nicht sagen: Ein solches Wesen ist größer und höher, als daß es dem armseligen Körper, in dem es wohnt, ähnlich sein könnte. Eine göttliche Kraft waltet in ihm. Diese erhabene, sich stets gleich bleibende Seele, die alles Irdische als zu klein für sie übersieht und alles, was wir fürchten und wünschen, verlacht, bewegt eine himmlische Macht. Eine solche Größe kann ohne Mitwirkung der Gottheit nicht bestehen; daher ist sie ihrem größeren Teile nach dort, von wo sie herabgestiegen ist. Wie die Strahlen der Sonne zwar die Erde treffen, aber dort sind, von wo sie entsendet werden: so ist eine große und heilige und zu dem Zwecke herabgesandte Seele, daß wir das Göttliche näher erkennen, zwar in Verkehr mit uns, wurzelt aber unzertrennlich an ihrem Ursprung; von dort hängt sie ab, dorthin blickt, dorthin strebt sie; in unser Treiben mischt sie sich nur wie ein höheres Wesen. Welche Seele also ist dies? Eine solche, die nur durch Güter glänzt, die ihr eigen sind. Denn was ist törichter, als an einem Menschen zu loben, was nicht sein eigen ist? wer ist unsinniger als der, welcher bewundert, was augenblicklich auf einen andern übergehen kann? Goldene Zügel machen ein Roß nicht besser. Anders tritt im Zirkus ein Löwe mit goldgeschmückter Mähne auf, der so lange ermüdet wird, bis er sich streicheln und seinen Schmuck geduldig anlegen läßt, anders ein ungeschmückter von ungebrochenem Mute. Dieser nämlich, voll feurigen Ungestüms, wie die Natur ihn wollte, schauerlich-schön, dessen Schmuck ist, daß man ihn nicht ohne Angst ansehen kann, wird jenem ermatteten und mit Goldflitter behangenen weit vorgezogen. Jeder soll sich nur des Seinigen rühmen. Wir loben die Rebe, wenn sie die Schößlinge mit Früchten belastet, wenn ihr eigenes Gewicht sie samt der Stütze zu Boden zieht. Wird ihr wohl jemand eine Rebe vorziehen, an welcher goldene Trauben, goldene Blätter hängen? Die ihm eigene Tugend ist beim Weinstock die Fruchtbarkeit: auch am Menschen ist nur das zu loben, was sein eigen ist. Er hat eine schmucke Dienerschaft, ein schönes Haus, er besäet weite Acker und leiht große Summen aus; aber nichts von diesem ist in ihm, sondern alles nur um ihn. Lobe an ihm, was ihm weder entrissen, noch gegeben werden kann, was des Menschen wahres Eigentum ist. Was das sei? fragst du. Sein Geist und die im Geiste vollkommen ausgebildete Vernunft. Denn der Mensch ist ein mit Vernunft begabtes Wesen, und dieser Vorzug desselben wird vollkommen, wenn er den Zweck erfüllt, wozu er geboren wird. Was aber fordert diese Vernunft von ihm? Das Leichteste von der Welt: seiner Natur gemäß zu leben. Doch dies macht eben die allgemeine Narrheit schwer; wir stoßen einander gegenseitig in Fehler hinein. Wie aber können die zum Heile zurückgeführt werden, die niemand aufhält, die Menge aber forttreibt?

Die Weisheit verleiht den wahren Adel

Abermals machst du dich klein gegen mich und sagst, erst habe dich die Natur, dann das Glück mißgünstiger behandelt, während du dich doch dem großen Haufen zu entziehen und zu der höchsten Glücksstufe der Menschen emporzuklimmen vermagst. Ist irgend etwas Gutes an der Philosophie, so ist es das, daß sie auf keinen Stammbaum sieht. Alle Menschen stammen, wenn wir auf den ersten Ursprung zurückgehen, von den Göttern her. Du bist römischer Ritter, und zu diesem Range hat deine Tätigkeit dich erhoben; aber beim Himmel! sehr vielen sind jene vierzehn Sitzreihen Die im Theater blos für die Ritter bestimmt waren. verschlossen, nicht alle läßt die Kurie Der Versammlungsort des Senats; also – nicht alle sind Senatoren. zu; selbst das Feldlager ist heikel in der Wahl derjenigen, die es zu Mühsalen und Gefahren aufnimmt – aber ein edler Sinn steht allen offen; dazu sind wir alle von Adel. Die Philosophie weist niemanden zurück, wählt niemanden aus; sie leuchtet allen. Sokrates war kein Patrizier; Kleanthes schleppte Wasser und verdingte seine Arme zum Bewässern eines Gartens; den Plato empfing nicht die Philosophie als einen Adeligen, sie machte ihn dazu. Welchen Grund hast du, zu verzweifeln, diesen gleich werden zu können? Diese alle sind deine Ahnen, wenn du dich ihrer würdig zeigst; du wirst dies aber, wenn du dich vor allem überzeugst, daß du an Adel von niemandem übertroffen wirst. Wir alle haben gleich viel Ahnen vor uns, der Ursprung eines jeden von uns liegt über alle Erinnerung hinaus. Plato sagt, es gebe keinen König, der nicht von Sklaven, keinen Sklaven, der nicht von Königen abstamme. Das alles hat ein langer Wechsel vermischt und das Schicksal zu unterst und oberst gekehrt. Wer also ist ein Edelgeborener? Der von der Natur zur Tugend wohl Ausgerüstete. Nur hierauf hat man zu schauen; im übrigen stammt, wenn man sich aufs Alter beruft, niemand aus einer Zeit her, vor welcher nichts war. Vom ersten Anfang der Welt ist uns bis auf diesen Tag eine abwechselnde Reihe von Vornehmen und Niedrigen vorangegangen. Nicht ein mit verräucherten Ahnenbildern gefüllter Vorsaal macht zum Adeligen; niemand hat für unsern Ruhm gelebt, und was vor uns war, ist nicht unser Eigentum. Die Gesinnung adelt den, dem es vergönnt ist, sich aus jedem Stande über das Glück zu erheben. Denke dich daher nicht als einen römischen Ritter, sondern als einen Freigelassenen, und du kannst es erreichen, daß du der einzige Freie unter den Freigeborenen bist. Wie? fragst du. Wenn du Böses und Gutes nicht nach dem Vorgang der Menge unterscheidest. Man muß nicht darauf sehen, woher die Dinge kommen, sondern wohin sie gehen. Gibt es etwas, was das Leben glücklich machen kann, so ist dies mit vollem Rechte ein Gut; denn es kann nicht ins Schlechte ausarten. Was ist es also, worin man irrt, da doch alle ein glückliches Leben wünschen? daß man die Mittel dazu für das glückliche Leben selbst hält und dieses, während man ihm nachstrebt, flieht. Denn während eine vollständige Sorglosigkeit und eine unerschütterliche Zuversicht das Wesentlichste eines glücklichen Lebens ist, sammelt man sich Veranlassungen zur Bekümmernis und trägt nicht nur, sondern schleppt seine Last auf der von Ränken umlagerten Straße des Lebens dahin. So entfernt man sich immer mehr von der Erreichung dessen, was man wünscht, und je mehr Mühe man anwendet, desto mehr hindert man sich und kommt rückwärts. Dasselbe begegnet den in einem Irrgange schnell vorwärts Eilenden; ihre Hast selbst verwirrt sie.

Behandle die Sklaven menschlich

Gern höre ich von denen, die von dir kommen, daß du mit deinen Sklaven freundlich bist. Das erwarte ich nicht anders von deiner Einsicht, deiner Bildung. Es sind Sklaven? nein: Menschen. Sklaven? nein: Hausgenossen. Sklaven? nein, vielmehr Freunde niederen Standes. Sklaven? nein: unsere Mitsklaven, wenn wir bedenken, daß dem Schicksal beide durchaus gleich gegenüber stehen. Ich will mich nicht in einen so überaus umfänglichen Gegenstand einlassen und von der Behandlung der Sklaven sprechen, die wir so hochmütig, so grausam und schimpflich behandeln. Das jedoch ist der Hauptinhalt meiner Vorschriften: Gehe so mit dem Niederen um, wie du wünschest, daß der Höhere mit dir umgehe.

Wie der ein Tor ist, der, wenn er ein Pferd kaufen will, nicht dies selbst besieht, sondern nur die Reitdecke und das Riemenzeug, so ist derjenige der allergrößte Tor, der den Menschen nach seinem Kleide schätzt oder nach seinem Stande, der uns gleich einem Kleide umgibt. Er ist ein Sklave: aber vielleicht im Geiste ein freier Mensch! Er ist ein Sklave: was kann ihm das schaden? Zeige mir einen, der es nicht ist: der eine ist Sklave der Wollust, ein anderer Sklave der Habsucht, ein Dritter Sklave des Ehrgeizes, alle sind Sklaven der Furcht. Und schimpflicher ist doch keine Sklaverei als eine freiwillige.

Erkenne dich selbst, um dich bessern zu können

Du weißt, daß Harpaste, die blödsinnige Sklavin meiner Frau, als lästiges Erbstück in meinem Hause zurückgeblieben ist; denn ich selbst bin solchen Mißgeburten sehr abgeneigt. Will ich mich einmal an einem Narren belustigen, so brauche ich ihn nicht weit zu suchen: ich lache über mich selbst. Diese Blödsinnige nun hat plötzlich das Gesicht verloren. Ich erzähle dir eine unglaubliche Sache, und dennoch ist sie wahr. Sie weiß nicht, daß sie blind ist, und bittet einmal ums andre ihren Aufseher, daß er mit ihr ausziehen möge: das Haus, sagt sie, sei finster. Möge es dir klar werden, daß, was wir an jener belachen, uns allen begegnet. Niemand weiß, daß er geizig, daß er leidenschaftlich ist. Die Blinden suchen doch wenigstens einen Führer, wir aber irren ohne Führer herum und sagen: »Ehrsüchtig bin ich nicht, aber es kann einmal niemand in Rom anders leben; den Aufwand liebe ich nicht, aber schon die Stadt selbst verlangt große Ausgaben; es ist nicht meine Schuld, daß ich jähzornig bin, daß ich mir noch keine fest geregelte Lebensweise angeeignet habe: das macht die Jugend.« Warum betrügen wir uns selbst? Nicht außer uns ist unser Gebrechen; es ist in uns, es haftet in unseren Eingeweiden. Und deswegen gelangen wir schwer zur Genesung, weil wir nicht wissen, daß wir krank sind. Fingen wir auch an, uns heilen zu lassen, wann endlich würden wir so viele Krankheiten oder so große Leiden zerteilend beseitigen? Nun aber suchen wir nicht einmal einen Arzt, der weit weniger Mühe haben würde, wenn er bei noch frischem Schaden herbeigezogen würde: die noch zarten und unerfahrenen Herzen würden dem, der ihnen den rechten Weg zeigte, willig folgen. Niemand läßt sich schwerer zur Natur zurückführen, als wer von ihr abfiel. Wir erröten, Vernunft erst zu erlernen; aber wahrhaftig, wenn es schimpflich ist, einen Lehrer dafür zu suchen, so gebe man nur auch die Hoffnung auf, ein so großes Gut könne uns durch ein Ungefähr zufliehen. Nein, wir müssen arbeiten; und um die Wahrheit zu sagen, die Arbeit ist nicht einmal sehr groß, wenn wir nur, wie ich schon sagte, mit der Bildung und Besserung unseres Gemüts anfangen, ehe seine Verkehrtheit sich verhärtet hat. Doch auch an der verhärteten verzweifle ich nicht: es gibt nichts, was nicht beharrlicher Fleiß, aufmerksame und gewissenhafte Sorgfalt überwinden könnte. Baumstämme, wenn auch noch so sehr gekrümmt, kann man wieder gerade machen; gebogene Balken dehnt die Wärme aus, und ganz anders gewachsen, werden sie zu dem umgeformt, was unser Bedürfnis erheischt. Um wieviel leichter nimmt unsere biegsame, jede Flüssigkeit an Nachgiebigkeit übertreffende Seele eine Form an! Denn was ist die Seele anders als ein eigentümlich beschaffener Äther? Du siehst aber, daß der Äther um so leichter ist als jeder andere Stoff, je feiner er ist. Der Umstand aber, daß die Bösartigkeit uns schon in Händen hat, schon lange im Besitz unserer Person ist, darf dich, mein Lucilius, nicht hindern, gute Hoffnungen von uns zu fassen. Niemandem kommt die gute Gesinnung eher als die schlechte: wir alle sind im voraus von letzterer eingenommen. Tugenden lernen heißt Fehler verlernen. Doch mit um so größerem Mute müssen wir zur Besserung unserer selbst schreiten, weil der Besitz des uns einmal zu teil gewordenen Guten ein beständiger ist. Die Tugend wird nicht verlernt. Denn das widerstrebende Böse wurzelt auf fremdem Boden und kann daher vertrieben und ausgerottet werden; aber fest sitzt, was die ihm entsprechende Stelle gefunden hat. Die Tugend ist der Natur entsprechend; das Laster ist ihr widerstrebend und feindlich. Doch, wie einmal aufgenommene Tugenden nicht wieder ausziehen können und ihre Bewahrung leicht ist, so ist der erste Weg zu ihnen steil, weil die erste Regung des schwachen und schwankenden Herzens die ist, daß es vor dem noch Unversuchten zurückschreckt. Man muß es daher zwingen, daß es beginne. Dann ist die Arznei nicht herbe; denn sie schmeckt sofort gut, wenn sie heilt. An andern Heilmitteln findet man erst nach erlangter Gesundheit Gefallen; die Philosophie ist heilsam und süß zugleich.

Über die Trauer

Ein Jahr haben unsere Vorfahren den Frauen zur Trauer festgesetzt, nicht damit sie solange, sondern damit sie nicht länger trauerten; für die Männer gibt es keine gesetzmäßige Trauerzeit, weil keine ihrer würdig ist. Jedoch auch von jenen Weiberchen, die kaum vom Scheiterhaufen wegzuziehen, kaum vom Leichname loszureißen waren, welche kannst du mir nennen, deren Tränen einen ganzen Monat lang flossen? Nichts wird schneller verhaßt als der Gram, der, so lange er neu ist, einen Tröster findet und manchen anzieht, aber, ist er veraltet, verlacht wird, und das nicht mit Unrecht; denn er ist entweder erheuchelt oder töricht. Dies schreibe ich dir, der ich meinen teuersten Annäus Serenus Ein Präfekt der Leibwache des Kaisers Nero und vertrauter Freund Senecas, derselbe, dem er seine Schrift von der Gemütsruhe widmete. so unmäßig beweint habe, daß ich ganz gegen meinen Willen zu den Beispielen derer gehöre, die der Schmerz überwältigt hat. Jetzt aber verurteile ich mein Benehmen und weiß nun, daß der Hauptgrund meiner Trauer der war, daß ich nie daran gedacht hatte, daß er vor mir sterben könne. Nur das eine kam mir in den Sinn, daß er jünger, und zwar viel jünger sei als ich; als ob das Verhängnis eine Ordnung beobachtete! Daher wollen wir beständig sowohl an unsere eigene, als an die Sterblichkeit aller derer denken, die wir lieben. Damals hätte ich zu mir sagen sollen: »Mein Serenus ist jünger als ich; was kommt darauf an? Er sollte nach mir sterben, aber er kann es auch vor mir.« Weil ich es nicht getan, hat das Schicksal den Unvorbereiteten plötzlich so erschüttert. Jetzt bedenke ich, daß alles sterblich ist, und zwar nach einem unbestimmten Gesetze sterblich. Auch heute kann geschehen, was überhaupt irgend einmal geschehen kann. Laß uns also bedenken, mein teuerster Lucilius, daß auch wir schnell dahin kommen werden, wohin der gekommen ist, den wir deshalb betrauern. Und vielleicht, wenn anders die Sage der Weisen wahr ist und uns irgend ein Ort aufnimmt, ist der, den wir verloren glauben, uns nur vorausgesandt.

Über Ursache und Materie

Den gestrigen Tag teilte ich mit meiner Krankheit: den Vormittag nahm sie für sich in Anspruch, am Nachmittage wich sie mir. Daher versuchte ich zuerst meinen Geist mit Lesen; hernach, als er dies vertrug, wagte ich es, ihm etwas mehr zuzumuten oder vielmehr zu gestatten. Ich schrieb etwas, und zwar mit größerer Anstrengung, als ich sonst pflege, da ich mit einem schwierigen Stoffe kämpfte und mich nicht von ihm besiegen lassen wollte; bis einige Freunde dazwischen kamen, die Gewalt gegen mich brauchten und mir wie einem unbesonnenen Kranken Einhalt taten. An die Stelle des Schreibgriffels trat jetzt die mündliche Unterhaltung, aus welcher ich dir den noch streitigen Punkt mitteilen will. Dich haben wir zum Schiedsrichter bestellt: du hast mehr Mühe dabei, als du glaubst. Die Sache ist eine dreifache. Unsere Stoiker behaupten, wie du weißt, es gebe in der Natur der Dinge zwei Prinzipien, aus denen alles entstehe: die Ursache und den Stoff. Der Stoff liegt untätig da, eine zu allem bereite Masse, die aber müßig bleibt, solange sie niemand in Bewegung setzt. Die Ursache aber, d. i. die Vernunft, gestaltet den Stoff, dreht und wendet ihn, wie sie will und, bringt aus ihm mannigfaltige Werke hervor. Es muß also erst etwas da sein, woraus ein Ding wird, sodann etwas, wodurch es wird; dieses ist die Ursache, jenes der Stoff. Alle Kunst ist Nachahmung der Natur; was ich also vom Weltganzen sagte, trage ich über auf das, was der Mensch zu schaffen hat. Die Bildsäule hat einen Stoff, der sich vom Künstler behandeln ließ, und einen Künstler, welcher dem Stoffe eine Gestalt gab. So war also bei der Bildsäule das Erz der Stoff, der Künstler die Ursache. Ebenso verhält es sich mit allen andern Dingen: sie bestehen aus dem, was wird, und aus dem, was wirkt. Die Stoiker nehmen an, daß es nur eine Ursache gebe: das Wirkende; Aristoteles aber glaubt, man spreche von der Ursache in dreifachem Sinne. Die erste, sagt er, ist der Stoff selbst, ohne welchen nichts hervorgebracht werden kann, die zweite der Meister, die dritte die Form, die jedem Werke, wie einer Bildsäule, gegeben wird. Denn diese nennt Aristoteles das Eidos. Dazu aber, meint er, kommt noch eine vierte, der Zweck des ganzen Werkes. Was dies bedeuten soll, will ich jetzt auseinandersetzen. Das Erz ist die erste Ursache der Bildsäule; denn nie wäre sie entstanden, wenn nicht das vorhanden gewesen wäre, woraus sie gegossen oder geformt wurde. Die zweite Ursache ist der Künstler: denn jenes Erz hätte nicht zur Gestalt einer Bildsäule geformt werden können, wenn nicht kunsterfahrene Hände hinzugekommen wären. Die dritte Ursache ist die Form; denn jene Bildsäule würde nicht der Doryphoros oder Diadumenos heißen, wenn ihr nicht diese Gestalt gegeben worden wäre. Die vierte Ursache ist der Zweck ihrer Verfertigung, denn wäre kein solcher vorhanden gewesen, so wäre sie eben nicht verfertigt worden. Was ist denn nun der Zweck? Was den Künstler zur Verfertigung einlud, was er bei derselben beabsichtigte. Das aber ist entweder das Geld, wenn er für den Verkauf arbeitete, oder der Ruhm, wenn er nach einem Namen dabei rang, oder Gottesfurcht, wenn er ein Geschenk für einen Tempel schuf. Also auch dies ist eine Ursache, um dessen willen etwas geschieht. Oder meinst du nicht, daß unter die Ursachen eines geschaffenen Werkes auch das zu rechnen sei, ohne welches es nicht entstanden wäre? Plato fügt diesem noch eine fünfte Ursache bei, das Urbild, das er selbst die Idee nennt; sie ist nämlich das, worauf hinblickend der Künstler das beabsichtigte Werk verfertigte. Es kommt aber nichts darauf an, ob er dieses Urbild, worauf er seine Blicke richtet, außerhalb hat, oder in sich, wo er es sich selbst geschaffen und aufgestellt hat. Diese Urbilder aller Dinge hat die Gottheit in sich, sie umfaßt mit dem Geiste die Zahl und das Maß aller zu schaffenden Gegenstände, sie ist voll jener Formen, welche Plato die unsterblichen, unveränderlichen, unerschöpflichen Ideen nennt. So vergehen zwar die Menschen; aber die Menschheit selbst, nach welcher der einzelne Mensch geschaffen wird, dauert fort, und indem die Menschen kämpfen und untergehen, erleidet sie nichts. So gibt es also, wie Plato sagt, fünf Ursachen, das, woraus, das, wodurch, das, wozu, das, wonach, und das, weswegen etwas gebildet wird; dazu kommt endlich noch das, was aus allen diesen Ursachen entsteht. So ist an der Bildsäule (weil ich einmal von dieser zu sprechen begonnen habe) das » woraus« das Metall, das » wodurch« der Künstler, das » wozu« die Form, die jener gegeben wird, das » wonach« das Urbild, welches der Künstler nachahmt, das » weswegen« der Zweck des Verfertigers; was aus diesem allem entsteht, ist die Bildsäule selbst. Alles dies hat, wie Plato sagt, auch die Welt: einen Werkmeister, dieser ist Gott; etwas, woraus sie wird, dies ist der Stoff; eine Form, dies ist die Gestaltung und Einrichtung der Welt, die wir vor uns sehen; ein Urbild, wonach nämlich Gott dies große, prächtige Werk erschuf, einen Zweck, um dessen willen er es erschuf. Du fragst, was der Zweck Gottes sei? Das Gute. So wenigstens spricht Plato: »Welche Ursache hatte Gott, die Welt zu schaffen? Er ist gut: bei einem Guten aber findet sich kein Neid wegen irgend eines Gutes. Daher schuf er die Welt so gut, als er's vermochte.« Fälle also nun als Schiedsrichter dein Urteil und sage, wer dir das Wahrscheinlichste zu lehren scheine, nicht, wer das Wahrste lehre; denn dieses steht so hoch über uns wie die Wahrheit selbst. Jener Haufe von Ursachen, den Plato und Aristoteles aufstellen, enthält entweder zu viel oder zu wenig. Denn wenn sie alles das, ohne welches eine Sache nicht zustande kommen kann, für eine Ursache des Schaffens erklären, so haben sie zu wenig gesagt. Sie mögen dann auch die Zeit unter die Ursachen setzen, denn nichts kann ohne Zeit geschehen; ebenso den Raum; denn wenn es nichts gibt, wo etwas geschehen soll, so kann es überhaupt nicht geschehen; ferner die Bewegung: nichts entsteht, nichts vergeht ohne sie; ohne Bewegung gibt es keine Kunst, keine Tätigkeit. Wir aber suchen jetzt eine erste und allgemeine Ursache; diese muß eine einfache sein, denn auch der Stoff ist einfach. Fragen wir, welches die Ursache sei? Die wirkende Vernunft, d. h. Gott. Denn alles, was ihr da aufgezählt habt, bildet nicht viele und einzelne Ursachen, sondern hängt von einer einzigen, nämlich von der wirkenden, ab. Die Form, sagst du, sei eine Ursache? Diese gibt der Künstler dem Werke; sie ist ein Teil der Ursache, nicht die Ursache selbst. Auch das Urbild ist nicht die Ursache, sondern ein der Ursache nötiges Werkzeug. Es ist dem Künstler ebenso nötig wie der Meißel, die Feile; ohne diese kann das Kunstwerk nicht vorwärtskommen, und doch sind sie nicht Teile oder Ursachen des Kunstwerks. Auch der Zweck, sagt er, um dessen willen der Künstler zu einer Arbeit schreitet, ist eine Ursache. Mag es eine Ursache sein; es ist wenigstens nicht die wirkende, sondern eine Nebenursache. Diese aber sind unzählig: wir fragen nach der allgemeinsten. Wenn sie aber die ganze Welt und das vollendete Werk selbst eine Ursache nennen, so sprechen sie nicht mit ihrer gewohnten Genauigkeit; denn ein großer Unterschied ist zwischen dem Werke und der Ursache des Werkes. Hierüber gib entweder dein Urteil ab, oder – was in solchen Dingen das Leichtere ist – erkläre, die Sache sei dir noch nicht klar, und heiß mich ein andres Mal wiederkommen. Du fragst: »Was macht es dir für Freude, deine Zeit mit Dingen hinzubringen, die dir keine Leidenschaft entreißen, keine Begierde verbannen?« Ich beachte und betreibe allerdings zuerst das, wodurch mein Geist zur Ruhe kommt, und erforsche zuerst mich selbst, sodann diese Welt; aber selbst jetzt vergeude ich meine Zeit nicht, wie du meinst. Denn werden nur alle diese Untersuchungen nicht ins Kleinste und zu jenen unnützen Spitzfindigkeiten ausgedehnt, so erheben und erleichtern sie den Geist, der, von seiner schweren Bürde gedrückt, sich loszumachen und zu den Wesen zurückzukehren strebt, zu denen er einst gehörte. Dieser Körper nämlich ist eine Last und Strafe für die Seele; unter seinem Druck ist sie bedrängt und in Banden, wenn nicht die Philosophie hinzutritt, sie an dem Schauspiel der Natur sich erholen heißt und vom Irdischen zum Göttlichen emporhebt. Dies ist ihre Freiheit, dies ihre Erlösung; sie entzieht sich zuweilen der Haft, in der sie gehalten wird, und stärkt sich durch das Himmlische. So wie Künstler nach Betrachtung irgend eines feineren Gegenstandes, welche die Augen durch Anstrengung ermüdet, besonders wenn sie dabei ungünstiges und spärliches Licht haben, ins Freie gehen und an irgend einem der Erholung des Volks gewidmeten Orte ihre Augen am vollen Lichte erquicken: so sucht auch unser in diese traurige und finstere Behausung eingeschlossener Geist, so oft er kann, das Freie und ruht aus bei der Beschauung der Natur. Der Weise und der Jünger der Weisheit ist zwar an seinen Körper gefesselt, allein mit seinem bessern Teile ist er fern von ihm und richtet seine Gedanken auf das Höhere. Gleichsam durch einen Fahneneid gebunden, hält er dieses Leben für einen Kriegsdienst und ist in einer solchen Verfassung, daß er weder Liebe noch Hatz gegen das Leben hegt und das Menschliche sich gefallen läßt, obgleich er weiß, daß noch Höheres vorhanden sei. Du untersagst mir die Betrachtung der Natur, ziehst mich von dem Ganzen ab und beschränkst mich auf den Teil? Ich soll nicht fragen, was der Anfang des Weltalls, wer der Bildner der Dinge sei? wer alles in eine einzige träge Masse Verschmolzene und Zusammengehäufte gesondert habe? Ich soll nicht fragen, wer der kunstreiche Werkmeister dieser Welt sei? auf welche Weise dies so ungeheure Ganze zu Gesetz und Ordnung kam? wer das Zerstreute gesammelt, das Vermischte gesondert, dem in einer ungestalteten Masse Verborgenen unterscheidende Formen verliehen hat? woher dieser Strom von Licht sich ergießt? ob es Feuer oder etwas noch Helleres als Feuer ist? Nach dem allen soll ich nicht fragen? soll nicht wissen, woher ich selbst gekommen bin? ob ich diese Welt nur einmal erblicken oder öfter geboren werden soll? wohin ich von hier gehen werde? welcher Aufenthaltsort meine Seele erwartet, wenn sie von den Gesetzen der menschlichen Knechtschaft entbunden ist? Du verbietest mir, im Himmel heimisch zu sein, d. h. du befiehlst mir, gesenkten Hauptes zu leben? Ich bin größer und zu Größerem geboren, als um ein Sklave meines Körpers zu sein, den ich nicht anders betrachte, denn als eine meiner Freiheit angelegte Fessel. Daher gebe ich ihn dem Schicksal preis, damit es sich auf ihn beschränke, und lasse keine Wunde durch ihn hindurch bis zu mir selbst dringen. Was an mir einen Schaden nehmen kann, ist nur dieser; in dieser der Gefahr ausgesetzten Behausung wohnt meine Seele frei. Nie soll mich dieses Fleisch zur Furcht, nie zu einer des edeln Mannes unwürdigen Vorstellung verleiten, nie werde ich lügen diesem armseligen Körper zu Liebe. Wenn mir's gut dünkt, werde ich die Gemeinschaft mit ihm auflösen, und auch jetzt, solange wir zusammenhängen, werden wir nicht zu gleichem Recht verbunden sein; der Geist wird alles Recht für sich in Anspruch nehmen. Die Verachtung seines Körpers ist für den Menschen die gewisse Freiheit.

Die Tugend

Eine Seele, die das Wahre erkennt, die weiß, was zu fliehen und zu erstreben ist, die den Wert der Dinge nicht nach dem Wahne, sondern nach ihrem wahren Wesen bestimmt, die in das Weltganze eindringt und jedem Teile desselben ihre Betrachtung widmet, aufs Denken wie aufs Handeln gleich bedacht, gleich groß und kräftig, vom Widrigen wie vom Angenehmen gleich unbesiegt, keinem Geschicke sich beugend, über alles erhaben, was ihr begegnet und widerfährt, schön mit Würde, bei aller Kraft besonnen und nüchtern, unbeunruhigt und unverzagt, durch keine Macht gebrochen, durch kein Ereignis gehoben noch niedergedrückt – so ist die Tugend; dies wäre ihre Gestalt, wenn sie einem Blick sich zeigte und mit einem Male ganz sich offenbarte. Allein es gibt viele Formen derselben, die sich nach der Mannigfaltigkeit des Lebens und der Handlungen entfalten, ohne daß sie selbst deshalb kleiner oder größer wird. Denn abnehmen kann ja das größte Gut nicht, noch die Tugend rückwärts gehen; wohl aber ändert sie sich in immer andern Erscheinungen, indem sie sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände ihre Wirksamkeit gestaltet. Was sie immer berührt, führt sie zur Ähnlichkeit mit sich und gibt ihm ihre Farbe; Handlungen, Freundschaften, bisweilen ganze Häuser, die sie betritt und in Ordnung bringt, verschönert sie; was sie immer behandelt, macht sie liebenswürdig, ausgezeichnet, bewundernswert.

Von der Tugend, als dem höchsten Gute

Du fragst mich zuweilen über einzelnes um Rat, ohne daran zu denken, daß ein weites Meer uns trennt. Da nun ein guter Teil des Rates auf der rechten Zeit beruht, so muß es geschehen, daß meine Ansicht über manche Dinge erst dann zu dir gelangt, wenn schon die entgegengesetzte besser ist. Denn unsere Ratschläge richten sich nach den Umständen: unsere Umstände aber wechseln, ja verkehren sich. Der Rat muß also mit dem Tage kommen, und fast dies ist schon zu spät, er muß vielmehr, wie man zu sagen pflegt, uns unter den Händen entstehen. Wie er aber zu finden ist, will ich dir zeigen. So oft du zu wissen wünschest, was du zu fliehen oder zu erstreben hast, so fasse nur das höchste Gut und den Zweck des ganzen Lebens ins Auge. Mit diesem muß alles, was wir tun, übereinstimmen. Niemand wird das einzelne richtig ordnen, außer wer sich schon einen höchsten Zweck seines Lebens vorgesetzt hat. Niemand wird, auch wenn er alle Farben in Bereitschaft hat, ein Bild zustande bringen, wenn er nicht schon mit sich einig ist, was er malen will. Deshalb fehlen wir, weil wir alle nur über einzelne Teile des Lebens Betrachtungen anstellen, niemand aber über das Ganze. Wer einen Pfeil absenden will, muß wissen, worauf er zielt, und dann mit der Hand dem Geschosse die Richtung geben. Unsere Ratschläge aber irren, weil sie kein bestimmtes Ziel haben. Für einen, der nicht weiß, nach welchem Hafen er steuern will, gibt es keinen günstigen Wind. Notwendig ist es, daß der Zufall viel in unserem Leben vermag, weil wir so sehr nach dem Zufalle leben. Manche aber wissen nicht, daß sie etwas wissen. Wie wir oft Leute suchen, neben denen wir stehen, so wissen wir meistens nicht, daß das höchste Gut als Zweck neben uns steht. Es bedarf keiner wortreichen und weitläufigen Untersuchung, um zu erfahren, was das höchste Gut sei; ich brauche sozusagen nur mit dem Finger darauf hinzuzeigen, ohne mich in Einzelheiten zu verlieren. Denn was kommt darauf an, es in Teilchen zu zerlegen, da man ganz einfach sagen kann: das höchste Gut ist das Sittlichgute? ja, worüber du dich noch mehr wundern wirst: das einzige Gut ist das Sittlichgute; die übrigen sind falsche und unechte Güter. Wenn du dich davon überzeugt und die Tugend innig lieb gewonnen hast (denn sie einfach zu lieben, ist zu wenig), so wird alles, was dich durch sie trifft, wie es auch immer andern erscheinen mag, für dich glücklich und erwünscht sein, selbst die Folter zu leiden, wenn du nur mit größerer Seelenruhe auf ihr liegst, als dein Peiniger selbst hat, und krank zu sein, wenn du dein Schicksal nicht verwünschest und der Krankheit nicht nachgibst. Kurz alles, was andere für Übel halten, mildert sich und verwandelt sich in Gutes, wenn du erhaben darüber bist. Das aber sei dir klar, daß es kein Gut gibt als das Sittlichgute, und alles Ungemach wird mit vollem Recht ein Gut genannt, wenn nur die Tugend es geadelt hat.

So wenig du das Richtscheit biegen kannst, womit man das Gerade zu prüfen pflegt – was du an ihm änderst, ist eine Verletzung der Geradheit –, so wenig läßt die Tugend eine Biegung zu; sie kann zwar immer mehr gehärtet, aber nicht gesteigert werden. Sie richtet über alles, nichts über sie. Wenn sie aber selbst nicht gerader werden kann, so ist auch von dem, was durch sie geschieht, nicht das eine gerader als das andere; denn alles muß ihr entsprechen, und ist somit gleich. »Wie?« fragst du, »so ist es also gleich, bei einem Gastmahle zu liegen oder sich foltern zu lassen?« Das scheint dir wunderbar? Darüber magst du dich noch mehr wundern, wenn ich behaupte: bei einem Gastmahle zu liegen, ist ein Übel, auf der Folterbank gemartert zu werden, ein Gut, wenn jenes auf schimpfliche, dieses auf tugendhafte Weise geschieht. Nicht die Sache selbst, sondern die Tugend macht jene Dinge zu Gütern oder Übeln; wo diese erscheint, hat alles gleiche Größe, gleichen Wert. Da streckt drohend seine Hand nach meinen Augen aus, wer die Gesinnung aller nach seiner eigenen beurteilt, weil ich behaupte, die Güter des Mannes, der sein Unglück standhaft erträgt, und dessen, der sein Glück würdig beurteilt, seien gleich, weil ich behaupte, gleich seien die Güter dessen, der einen Triumph hält, und dessen, der ungebeugten Geistes vor dem Wagen des Triumphierenden hergeht. Solche Leute glauben nämlich, niemals geschehe, was sie nicht zu tun vermögen; nach ihrer eigenen Schwäche urteilen sie über die Tugend. Was wunderst du dich, wenn es einem beliebt, ja bisweilen sogar gefällt, sich brennen, verwunden, fesseln, töten zu lassen? Dem Schwelger ist schon Mäßigkeit eine Strafe, dem Faulen gilt Arbeit der Todesstrafe gleich, dem Verzärtelten gilt Tätigkeit für Elend, dem Trägen das Studieren für eine Marter; ebenso halten wir das, wozu wir alle schwach sind, für hart und unerträglich, indem wir vergessen, für wie viele es schon eine Folter ist, den Wein zu entbehren, oder bei Sonnenaufgang geweckt zu werden. Dergleichen Dinge sind nicht von Natur schwer, wir aber sind schlaff und entnervt. Großes muß auch mit großem Geiste beurteilt werden; sonst wird der Fehler, welcher der unsrige ist, als Fehler jener Dinge erscheinen. So gewähren die geradesten Gegenstände, wenn sie ins Wasser gesteckt sind, den Blicken den Schein des Krummen und Geknickten. Es kommt also nicht bloß darauf an, was man sieht, sondern wie man es sieht: unser Geist ist zu blödsichtig, um das Wahre zu durchschauen. Denke dir einen unverdorbenen Jüngling von gewecktem Geiste: er wird sagen, daß ihm der Mann glücklicher erscheine, der alle Lasten widriger Verhältnisse mit starkem Nacken erträgt und über sein Schicksal erhaben steht. Es ist nichts Wunderbares, bei völliger Ruhe nicht erschüttert zu werden; das aber bewundere, wenn einer sich aufrichtet, wo alle niedergeschlagen sind, wenn er steht, wo alle zu Boden liegen. Was ist denn das Üble bei Folterqualen und bei allem andern, was wir widrig nennen? Das, glaube ich, daß der Geist davon gelähmt, gebeugt, überwältigt wird; wovon aber einem weisen Manne nichts begegnen kann. Er steht aufrecht unter jeder schweren Last; nichts macht ihn kleiner, nichts von allem, was zu ertragen ist, mißfällt ihm. Denn er beklagt sich nicht, daß ihn betroffen hat, was irgend den Menschen treffen kann. Er kennt seine Kräfte und weiß, daß er eine Last zu tragen imstande ist. Ich nehme den Weisen nicht aus der Zahl der Menschen heraus und behaupte nicht, daß er keinen Schmerz empfinde, wie ein keiner Empfindung zugänglicher Felsen; es ist mir bewußt, daß er aus zwei Teilen zusammengesetzt ist: der eine ist vernunftlos, dieser wird gebissen, gebrannt, empfindet Schmerz; der andere ist vernünftig, dieser hat unerschütterliche Ansichten, ist unerschrocken und unbezwinglich. In diesem wohnt jenes höchste Gut des Menschen; ehe es vollständig ist, herrscht noch ein unsicheres Schwanken der Gesinnung; ist es aber zur Vollendung gelangt, so besitzt er eine unerschütterliche Festigkeit. Daher hat ein erst beginnender und noch im Fortschreiten zu dem Höchsten begriffener Verehrer der Tugend, wenn er auch dem höchsten Gute bereits nahe gekommen ist, doch noch nicht die letzte Hand an dasselbe gelegt; er wird bisweilen stillstehen und in der Anstrengung seines Geistes etwas nachlassen; denn er ist noch nicht über das Ungewisse hinausgekommen, er verweilt noch immer auf schlüpfrigem Boden. Der Glückliche aber und der Mann von vollendeter Tugend liebt sich dann am meisten, wenn er die Probe aufs mutigste bestanden hat und das, was andern furchtbar ist, nicht nur erträgt, sondern willkommen heißt, wenn es der Preis irgend einer edlen Pflicht ist, und will lieber von sich sagen hören: er ist um so viel besser, als: er ist um so viel glücklicher. Ich komme nun auf das, wozu deine Erwartung mich ruft. Damit es nicht scheine, als schwebe unsere Tugend außerhalb der Natur der Dinge: der Weise kann zittern, Schmerz empfinden und erbleichen; denn das alles sind Empfindungen des Körpers. Wo also ist der Anfang des Unglücks? wo das wahre Übel? Da ist es vorhanden, wenn jene Empfindungen den Geist niederziehen, wenn sie ihn zum Geständnis der Unterwürfigkeit bringen, wenn sie ihn Reue über sich selbst empfinden lassen. Der Weise aber überwindet das Schicksal durch Tugend. »Dennoch haben sich viele Bekenner der Weisheit bisweilen durch die geringfügigsten Drohungen schrecken lassen.« Hier ist der Fehler auf unserer Seite, da wir dasselbe von einem Anfänger wie von einem vollendeten Weisen fordern. Ich suche mich noch zur Befolgung von dem zu überreden, was ich lobe, habe mich aber noch nicht überredet, und selbst wenn ich mich überredet hätte, würde ich es noch nicht so in Bereitschaft und eingeübt haben, daß es sich mir für alle Fälle sogleich darböte. Wie die Wolle manche Farben gleich auf das erste Mal annimmt, andere aber nicht anders einsaugt, als mehrmals darin eingeweicht und gesotten, so betätigt auch der Geist einige Lehren, sobald er sie in sich ausgenommen hat; diese aber leistet nichts von dem, was sie versprochen hat, wenn sie nicht tief eingedrungen ist, schon lange festsitzt und den Geist nicht bloß oberflächlich gefärbt, sondern mit Farbstoff gesättigt hat. Dies läßt sich schnell und mit wenigen Worten lehren, wenn wir sagen: das einzige Gut sei die Tugend, wenigstens keins ohne die Tugend, die Tugend selbst aber habe ihren Sitz in unserem bessern, d. h. dem vernünftigen Teile. Was wird nun diese Tugend sein? Ein wahres und unveränderliches Urteil; denn aus diesem werden die Regungen des Gemüts kommen, von ihm wird jene Vorstellung, welche die Regung hervorbringt, geklärt. Diesem Urteile wird es entsprechen, alle Dinge, die mit der Tugend in Berührung stehen, für gut und einander gleich zu erklären. Güter des Körpers sind zwar für den Körper gut, aber im ganzen sind sie es nicht. Sie werden zwar einen gewissen Wert haben, aber keine Würde; sie werden in weiten Zwischenräumen voneinander abstehen und einige kleiner, andere größer sein. Wir werden auch zugeben müssen, daß sich unter den Anhängern der Weisheit selbst große Verschiedenheiten finden. Der eine hat es bereits so weit gebracht, daß er die Augen gegen das Schicksal aufzuschlagen wagt, aber nicht ausdauernd, denn sie senken sich, von dem zu großen Glanze geblendet; ein anderer ist schon so weit, daß er ihm offenen Gesichts begegnen kann, wenn er schon auf die höchste Stufe gelangt und voll Selbstvertrauens ist. Das noch Unvollkommene muß notwendig schwanken und bald vorwärtsgehen, bald straucheln und niedersinken. Es wird aber straucheln, wenn es nicht beharrlich fortfährt, weiterzuschreiten und sich zu stemmen. Wer an Eifer und treuem Streben nur etwas nachläßt, muß rückwärts gehen. Niemand findet den Fortschritt da, wo er ihn verlassen hatte. Laß uns daher eifrig sein und beharrlich bleiben! Mehr, als wir schon vollbracht haben, ist noch übrig, aber ein großer Teil des Fortschritts ist es schon, fortschreiten zu wollen. Dessen bin ich mir bewußt; ich will und will von ganzem Herzen. Ich sehe, daß auch du von Eifer erfüllt bist und mit großem Drange dem Besten zueilst. Laß uns denn eilen: so erst wird uns das Leben eine Wohltat sein; sonst ist es ein Verzug, und zwar ein schimpflicher, wenn wir unter Häßlichem verweilen. Laß uns dahin trachten, daß die ganze Zeit unser sei; sie wird es aber nicht sein, wenn wir nicht zuvor unser eigen zu sein begonnen haben. Wann wird es uns so wohl werden, Glück und Unglück zu verachten? Wann wird es uns so wohl werden, mit Unterdrückung aller Leidenschaften und Unterwerfung derselben unter unsern Willen ausrufen zu können: Ich habe gesiegt? Du fragst: »wen soll ich besiegt haben?« Nicht die Perser, noch die äußersten Stämme der Meder, noch was von kriegerischen Völkern jenseit des Kaspischen Meeres wohnt, sondern die Habsucht, den Ehrgeiz, die Todesfurcht, die selbst über die Besieger der Völker siegt.

Alles wandelt sich

Was ist von der Gefahr einer Umgestaltung ausgenommen? Nicht die Erde, nicht der Himmel, nicht dieses ganze Weltgebäude, wiewohl es von Gottes Führung geleitet wird. Nicht immer wird es diesen geregelten Gang behaupten, irgend ein Tag wird es einmal aus dieser Bahn herausstoßen. Alles geht nach bestimmten Zeiten; es muß entstehen, wachsen, vergehen. Alle die Weltkörper, welche du über dir ihre Bahn dahinziehen siehst, und auch der, auf welchen wir, wie auf den festesten Grund, gesetzt und mit dem wir gleichsam verwachsen sind, alle werden einst zertrümmert werden und vergehen. Jedes Ding hat sein Greisenalter; bei ungleicher Dauer führt doch die Natur alles an dasselbe Ziel. Alles, was ist, wird einst nicht mehr sein, und zwar nicht untergehen, aber aufgelöst werden. Für uns aber ist dieses Aufgelöstwerden ein Untergehen. Denn wir richten unsere Blicke nur auf das Nächste; weiter hinaus blickt unser stumpfsinniger Geist nicht, der sich ganz dem Körper ergeben hat. Sonst würde er sein und der Seinigen Ende standhafter ertragen, wenn er hoffte, daß alles in stetem Wechsel von Leben und Tod sich bewege, daß das Verbundene aufgelöst, das Aufgelöste wieder verbunden werde, und daß in diesem Werke die ewige Kunst der alles ordnenden Gottheit walte. Daher wird er, wie Cato, wenn er die vergangene Zeit an seinem Geiste vorübergehen ließ, sagen: das ganze Menschengeschlecht, sowohl das jetzt, als das künftig lebende, ist zum Tode verurteilt; alle Städte, die irgendwo im Besitz der höchsten Macht und die Zierde großer Reiche sind, werden einst auf verschiedene Weise ihren Untergang finden, und man wird die Stätte suchen, wo sie gestanden haben. Manche wird der Krieg vernichten, andere wird Untätigkeit, ein in träge Ruhe ausartender Friede und ein großer Macht höchst verderblicher Umstand, die Üppigkeit, aufreiben. Alle diese fruchtbaren Fluren wird eine Überschwemmung durch Meeresfluten bedecken, oder ein Einsturz des zusammensinkenden Bodens in einen plötzlich entstandenen Abgrund begraben. Warum sollte ich also Unmut und Kummer fühlen, wenn ich um wenige Augenblicke dem allgemeinen Verhängnis vorangehe? Eine große Seele muß der Gottheit gehorchen und alles, was das Gesetz der Weltordnung gebietet, ohne Bedenken sich gefallen lassen. Sie wird entweder zu einem besseren Leben entlassen, um unter göttlichen Wesen in hellerem Lichte und größerer Ruhe zu weilen, oder sie wird wenigstens ohne irgend ein Ungemach fortdauernd wieder mit der Natur vermischt werden und in das Ganze zurückkehren.

Stufen der sittlichen Vervollkommnung

»Wie aber? Gibt es keine Stufen unterhalb des Glücklichen? ist gleich unterhalb des Weisen eine unendliche Kluft?« Ich glaube nicht; wer fortschreitet, ist zwar noch unter der Zahl der Törichten, aber dennoch durch einen großen Abstand von ihnen getrennt. Auch unter den Fortschreitenden selbst sind große Unterschiede; sie werden, wie es einigen beliebt, in drei Gattungen geteilt. Die ersten sind die, welche die Weisheit zwar noch nicht besitzen, aber doch schon in ihrer Nähe angelangt sind. Aber was einem Orte nahe ist, ist doch immer noch außer demselben. Du fragst, wer diese sind? Die schon alle Leidenschaften und Fehler abgelegt, die schon alles gelernt haben, was sie in sich aufzunehmen hatten; aber ihr Selbstvertrauen ist noch nicht erprobt: sie haben ihr Gut noch nicht in der Übung. Dennoch können sie schon in das, was sie abgelegt haben, nicht wieder geraten: sie sind schon so weit, daß ein Rückfall unmöglich ist. Dies aber ist ihnen von selbst noch nicht klar; wie ich mich erinnere, einmal in einem Briefe gesagt zu haben: »sie wissen nicht, daß sie wissen.« Es ist ihnen zwar schon das Glück geworden, ihres Gutes zu genießen, aber noch nicht, darauf zu bauen. Einige bestimmen diese Gattung von Fortschreitenden, von denen ich bisher gesprochen habe, so, daß sie sagen, sie wären den Krankheiten der Seele bereits entgangen, aber nicht den Affekten, und ständen noch auf schlüpfrigem Boden, weil niemand außerhalb der Gefahr der Schlechtigkeit sei, außer wer sie schon ganz abgelegt habe; niemand aber hat sie abgelegt, als wer statt ihrer die Weisheit in sich ausgenommen hat. Welcher Unterschied zwischen Krankheiten der Seele und ihren Affekten sei, habe ich schon oft gesagt, will es aber auch jetzt in Erinnerung bringen. Krankheiten sind veraltete und verhärtete Gebrechen, wie Habsucht und übertriebener Ehrgeiz; haben sie sich einmal des Gemüts bemächtigt, so haben sie auch angefangen, beständige Übel desselben zu sein. Um es kurz zu bezeichnen: Krankheit ist ein in der verkehrten Ansicht beharrendes Urteil, als ob sehr begehrenswert sei, was nur wenig begehrenswert ist; oder wir wollen sie, wenn du lieber willst, so bestimmen: ein zu großes Streben nach wenig oder überhaupt gar nicht begehrenswerten Dingen, oder auch: Wertschätzung von Dingen, die nur wenig oder gar keinen Wert haben. Affekte sind verwerfliche, plötzliche und heftige Bewegungen des Gemüts, die, häufig eintretend und vernachlässigt, eine Krankheit erzeugen; wie ein einziger Katarrh, der, noch nicht stehend geworden, einen Husten erzeugt, ein anhaltender und veralteter aber die Schwindsucht. Daher sind die am weitesten Fortgeschrittenen von Krankheiten frei, Affekte aber empfinden auch die der Vollendung ganz nahe Stehenden. Die zweite Gattung besteht aus denen, die zwar die größten Übel und Affekte des Gemüts abgelegt haben, jedoch nur so, daß sie noch nicht im sichern Besitz der Sorglosigkeit hinsichtlich ihrer selbst sind: denn sie können noch in den früheren Zustand zurück verfallen. Die dritte Gattung ist frei von vielen und großen Gebrechen, aber nicht von allen; sie hat sich z. B. der Habsucht entäußert, fühlt aber den Zorn; sie wird nicht mehr von der Wollust angefochten, wohl aber noch vom Ehrgeiz; sie begehrt nichts mehr leidenschaftlich, aber sie fürchtet noch, und bei dieser Furcht selbst ist sie zwar gegen einiges fest genug, schwach aber gegen anderes; sie verachtet den Tod, und doch graust ihr vor dem Schmerze. Aber diesen Punkt laß uns etwas weiter nachdenken. Es steht wohl um uns, wenn wir auch nur in diese Zahl ausgenommen werden. Bei sehr glücklicher Naturanlage, bei großem, anhaltendem und angestrengtem Eifer wird auch die zweite Stufe erreicht; doch auch schon jene dritte Klasse ist nicht zu verachten. Bedenke, wie viel Böses du um dich her erblickst, siehe, wie kein Frevel ohne Beispiel ist, welche Fortschritte das Verderbnis täglich macht, wie viel im öffentlichen und Privatleben gesündigt wird, und du wirst einsehen, daß wir schon genug erreichen, wenn wir nicht zu den Schlechtesten gehören. »Ich aber«, sagst du, »hoffe es auch zu einem höheren Grade zu bringen.« Ich wünsche uns dies mehr, als ich es versprechen möchte. Wir sind zum voraus in Beschlag genommen: wir ringen nach der Tugend, rings von Lastern umstrickt; ich schäme mich, es zu sagen, wir pflegen das Sittlichgute nur, wenn wir gerade Zeit übrig haben. Aber welch ein herrlicher Lohn erwartet uns, wenn wir uns von unsern Geschäften und den so fest haftenden Übeln losreißen! Nicht Begierde, nicht Furcht wird uns dann berühren; unangefochten von Schrecknissen, unverdorben von Lüsten, werden wir weder vor dem Tode, noch vor den Göttern erbeben, wir werden erkennen, daß der Tod kein Übel und die Götter nicht böse sind. Ebenso schwach ist das, was schadet, als der, der Schaden leidet; das Beste hat keine schadende Kraft. Uns erwartet, sind wir einmal aus diesem Schlamme heraus auf jene erhabene Höhe gelangt, Seelenruhe und nach Verbannung aller Irrtümer vollkommene Freiheit. Welche dies sei? fragst du. Sich nicht zu fürchten, weder vor Menschen, noch vor Göttern, weder Schimpfliches, noch Unmäßiges zu wollen, über sich selbst die vollkommenste Gewalt zu haben. Ein unschätzbares Gut ist es, sein eigener Herr zu sein.

Standhaftigkeit in Krankheit

Jede Krankheit läßt sich geduldig ertragen, wenn man das Äußerste, was sie droht, verachtet. Mache dir deine Leiden nicht selbst noch schwerer und belaste dich nicht mit Klagen. Leicht ist der Schmerz, wenn die Einbildung ihn nicht vergrößert; wenn du vielmehr anfängst, dich zu ermuntern und zu sagen: »Es ist nichts«, oder wenigstens: »Es ist unbedeutend, ich will aushalten«, so wird er sogleich aufhören. Du wirst ihn leicht machen, wenn du ihn dafür hältst. Alles hängt von der Einbildung ab: nicht bloß der Ehrgeiz, die Üppigkeit und die Habsucht richten sich nach ihr, wir leiden auch Schmerzen nach der Einbildung. Jeder ist in dem Grade elend, als er es zu sein glaubt. Ich meine, alle Klagen über vorübergegangene Schmerzen sind zu unterlassen, desgleichen Äußerungen wie: »Nie ging es einem schlechter. Welche Qualen, welche Leiden habe ich durchgemacht! Niemand glaubte, daß ich wieder aufkommen würde. Wie oft schon ward ich von den Meinigen beweint, wie oft schon von den Ärzten aufgegeben! Selbst auf der Folter Liegende werden nicht so gepeinigt.« Auch wenn dies alles wahr ist: es ist vorüber. Was frommt es, vergangene Schmerzen wieder aufzufrischen und noch elend zu sein, weil man es gewesen ist? Außerdem, macht nicht jeder sein Leiden gern viel größer und belügt sich selbst? Ferner ist es angenehm, zu erzählen, was man Bitteres zu erfahren hat; es ist so natürlich, sich über das Ende seines Übels zu freuen. Zwei Dinge also sind zu verbannen, sowohl die Furcht vor einem künftigen, als das Andenken an ein vergangenes Ungemach; jenes berührt mich noch nicht, dieses nicht mehr. Unter den Widerwärtigkeiten selbst spreche man: Künftig vielleicht ist's Freude, der jetzigen Leiden zu gedenken. Mit ganzer Seele kämpfe man dagegen; man wird besiegt werden, wenn man weicht; man wird siegen, wenn man gegen seinen Schmerz ankämpft. Jetzt aber handeln die meisten so, daß sie den Einsturz, dem sie wehren sollten, selbst auf sich herabziehen. Beginnst du, dich dem zu entziehen, was dich drückt, was über dir hängt, was dich drängt, so wird es dir nachsinken und nur um so schwerer auf dir lasten; wenn du aber Widerstand leistest und den Willen hast, dich dagegen zu stemmen, so wird es zurückgedrängt werden. Wie viele Streiche erhalten nicht die Athleten ins Gesicht, wie viele auf den ganzen Körper! dennoch ertragen sie jede Qual aus Begierde nach Ruhm, und erdulden solches nicht nur, weil sie kämpfen, sondern um zu kämpfen; schon die Vorübung ist eine Qual. So wollen denn auch wir in allem den Sieg davontragen, dessen Preis nicht ein Kranz, ein Palmenzweig oder ein Herold ist, der für unseren Namen Stille schafft, sondern Tugend, Seelenstärke und ein für alle Zukunft erworbener Friede, wenn wir einmal in irgend einem Kampfe das Schicksal überwunden haben. »Aber ich fühle großen Schmerz.« Wie denn? fühlst du ihn nicht, wenn du ihn wie ein Weib erträgst? Wie der Feind für Fliehende verderblicher ist, so dringt auch jedes zufällige Ungemach auf den Nachgebenden und Weichenden heftiger ein. »Aber es ist so schwer.« Wie? sind wir darum stark, um Leichtes zu ertragen? Willst du lieber, daß eine Krankheit langwierig, oder daß sie heftig und von kurzer Dauer sei? Ist sie langwierig, so hat sie Unterbrechungen, läßt der Erholung Raum, gestattet viel freie Zeit, muß notwendig wachsen und wieder abnehmen. Eine kurze und jähe Krankheit aber tut eins von beiden: entweder sie erlischt, oder sie macht erlöschen. Was nun liegt daran, ob sie nicht mehr ist, oder ich nicht mehr bin? In beidem liegt das Ende des Schmerzes.

Von der Dankbarkeit

Du beklagst dich, an einen undankbaren Menschen geraten zu sein. Begegnet dir dies jetzt zum ersten Male, so danke es deinem Glück oder deiner Vorsicht. Doch in diesem Falle kann die Vorsicht dich nur übelwollend machen; denn wenn du diese Gefahr vermeiden willst, wirst du keine Wohltaten mehr erweisen, und so werden diese, um nicht bei einem andern verloren zu sein, bei dir selbst verlorengehen. Lieber mögen sie der Erwartung nicht entsprechen, als gar nicht erwiesen werden. Auch nach einer schlechten Ernte muß man wieder säen. Oft hat der reiche Ertrag eines einzigen Jahres wieder eingebracht, was durch die anhaltende Unfruchtbarkeit eines ungünstigen Bodens ausgefallen war. Es verlohnt sich der Mühe, um einen Dankbaren zu finden, auch den Undank zu erfahren. Niemand hat beim Spenden seiner Wohltaten eine so sichere Hand, daß er sich nicht oft getäuscht sähe; mögen sie immerhin das Ziel verfehlen, wenn sie es nur einmal treffen. Nach einem Schiffbruch versucht man die See aufs neue; den Geldwucherer vertreibt ein in Zahlungsunfähigkeit geratener Schuldner noch nicht vom Markte. Das Leben würde schnell in trägem Müßiggang erstarren, wenn man alles aufgeben müßte, was einmal mißlang. Dich aber soll dieser Umstand nur noch wohltätiger machen; denn eine Sache, deren Erfolg unsicher ist, muß oft versucht werden, damit sie endlich einmal gelinge. Nicht alle Dankbaren verstehen es, für eine Wohltat den rechten Dank zu wissen; auch der Ungebildete und Rohe und der gemeine Mann kann dankbar sein, zumal bald nach Empfang der Wohltat: aber er weiß nicht, wie viel er schuldet. Nur dem Weisen ist es bekannt, wie hoch eine jede Sache anzuschlagen ist. Aber der Unkluge, von dem ich eben sprach, erstattet, auch wenn er guten Willen hat, entweder weniger, als er sollte, oder zu unrechter Zeit und an unrechtem Orte; was er erstatten soll, schüttet er aus und wirft es hin. Wunderbar ist es, wie treffend bei manchen Dingen die Wortbezeichnung ist; der alte Sprachgebrauch bezeichnet manches durch die ausdrucksvollsten, ihre Bestimmung klar aussprechenden Benennungen. So pflegen wir zu sagen: Ille illi gratiam retulit Wörtlich: »er hat Dank zurückgebracht«, d. h. sich durch Erwiderung einer Gefälligkeit dankbar gezeigt.. Denn referre heißt ultro, quod debeas, afferre D. i. von selbst darbringen, was man schuldig ist.. Wir sagen nicht gratiam reddidit D. h. »er hat Dank zurückgegeben«. – denn reddere sagt man von denen, die etwas auf Verlangen, oder ungern, oder wann es ihnen gerade beliebt, oder durch einen andern zurückgeben. Wir sagen nicht reposuit beneficium oder solvit D. h. »er hat eine Wohltat zurückgestellt oder gezahlt«.; denn uns gefiel hier kein Wort, das von Geldschulden gebraucht wird. Referre aber heißt: eine Sache dem wiederbringen, von dem man sie empfangen hat; dieses Wort bezeichnet ein freiwilliges Wiederbringen; wer wiederbrachte ( retulit), hat sich selbst gemahnt. Der Weise wird alles bei sich selbst abwägen: wieviel er empfangen hat, von wem, wann, wo, auf welche Art. Daher behaupte ich, daß niemand Dank zu erwidern verstehe als der Weise, so wie auch niemand eine Wohltat zu erweisen versteht als dieser, indem er nämlich sich mehr freut zu geben, als ein anderer zu empfangen. Denn es irrt, wer lieber Wohltaten annimmt, als erweist. Um wie viel heiterer ist, wer Schulden bezahlt, als wer Geld borgt, um so froher muß auch der sein, der sich von der großen Schuld einer empfangenen Wohltat befreit, als der, welcher sich eben erst verpflichtet. Denn auch darin irren die Undankbaren, daß sie zwar einem Gläubiger außer dem Kapital auch noch Zinsen zahlen, den Genuß von Wohltaten aber für zinsfrei halten. Auch jene Schuld wächst durch den Verzug, und man hat um so mehr zu zahlen, je später man zahlt. Undankbar ist, wer eine Wohltat ohne Zinsen zurückzahlt. So wird man denn auch hierauf Rücksicht nehmen, wenn man Einnahme und Ausgabe vergleicht. Man muß alles tun, um so dankbar als möglich zu sein; denn dies kommt uns selbst zugute, wie auch die Gerechtigkeit nicht, wie man gewöhnlich glaubt, sich bloß auf andere erstreckt; ein großer Teil derselben wirkt auf sich selbst zurück. Jeder, der einem andern nützt, nützt sich selbst. Ich sage das nicht in dem Sinne, daß der Unterstützte stets bereit sein wird, dich wieder zu unterstützen, der Verteidigte, dich wieder zu verteidigen, weil ein gutes Beispiel auf den zurückwirkt, der es gibt, wie böse Beispiele auf ihre Urheber zurückfallen, und denen kein Mitleid zuteil wird, die Beleidigungen erfahren, hinsichtlich derer sie durch die Tat gelehrt haben, daß man sie andern zufügen könne; sondern ich meine, daß alle Tugenden ihren Lohn in sich selbst haben. Denn man übt sie nicht des äußern Lohnes wegen; sie getan zu haben, ist der Lohn der guten Tat. Ich bin dankbar, nicht, damit der andere, durch mein früheres Beispiel aufgemuntert, wir desto lieber Gutes erweise, sondern um zu tun, was an sich schon eine höchst angenehme und schöne Sache ist. Ich bin dankbar, nicht, weil es nützt, sondern weil es mir Freude macht. Und um dich zu überzeugen, daß dies so sei, so vernimm: sollte es mir nicht gestattet sein, mich anders dankbar zu zeigen, als so, daß ich undankbar erschiene; sollte ich eine Wohltat nicht anders als durch den Schein einer Beleidigung erwidern können: so werde ich mit der größten Seelenruhe den sittlich guten Zweck auch mitten durch die übelste Nachrede hindurch verfolgen. Niemand scheint mir die Tugend höher zu schätzen, niemand ihr mehr ergeben zu sein, als wer den Ruf eines rechtschaffenen Mannes verloren gibt, um nicht sein gutes Gewissen zu verlieren. So bist du, wie ich sagte, mehr zu deinem, als zu des andern Vorteil dankbar. Denn diesem widerfährt das Gewöhnliche und Alltägliche, wieder zu erhalten, was er gegeben hat: dir das Wichtige und aus dem glückseligsten Seelenzustande Hervorgegangene, – dankbar gewesen zu sein.

Alles zu Eigenem machen

Die Speisen, die wir zu uns nehmen, belästigen, so lange sie in ihrer Eigentümlichkeit beharren und als feste Masse im Magen schwimmen; erst dann, wenn sie aus ihrem früheren Zustande in einen andern übergegangen sind, verwandeln sie sich in Blut und Kräfte. Ebenso laß uns mit dem, wodurch unser Geist genährt wird, verfahren, daß wir nämlich nichts von allem, was wir darin aufgenommen haben, in seinem unveränderten Zustande lassen, damit es nicht Fremdartiges bleibe. Wir müssen es verdauen, sonst wird es nur ins Gedächtnis, nicht in den Geist eingehen. Wir müssen ihm mit fester Überzeugung beistimmen und es uns aneignen, so daß aus dem Vielen ein Ganzes wird, wie aus mehreren einzelnen Zahlen eine wird, wenn die Berechnung kleinere und getrennte Summen in eine zusammenfaßt. Dies sei das Geschäft unseres Geistes: alles, was ihn unterstützt hat, halte er verborgen, nur was er selbst geschaffen, zeige er. Auch wenn sich dir eine Ähnlichkeit mit irgend einem Gegenstande zeigt, den die Bewunderung einen tiefen Eindruck auf dich machen ließ, so wünsche ich, daß du ihm ähnlich seiest, wie ein Sohn dem Vater, nicht wie eine Bildsäule; eine Bildsäule ist ein lebloses Ding. »Wie?« fragst du, »man soll es nicht merken, wessen Stil, wessen Beweisführung, wessen Gedanken man nachahmt?« Ich glaube, bisweilen wird man es nicht einmal merken können, wenn das Talent eines großen Mannes allem, was er, aus irgend einem Original entlehnt, gleichsam zusammen baute, sein Gepräge aufgedrückt hat, so daß es zu einer zusammenstimmenden Einheit wird. Siehst du nicht, aus wie vielen Stimmen ein Chor besteht? und doch geben alle zusammen nur einen Ton. Die eine ist hoch, eine andere tief, eine dritte von mittlerer Höhe; zu den Männern gesellen sich Frauen, dazwischen ertönen Flöten; die Stimmen der einzelnen verschwinden, nur die Gesamtstimme aller vernimmt man. Ich spreche von dem Chore, wie ihn die alten Philosophen kannten. Bei unsern jetzigen Prunkaufführungen sind ja der Musiker mehr, als sonst in den Theatern Zuschauer waren. Obgleich alle Gänge mit Reihen von Sängern angefüllt sind, der Zuschauerraum mit Bläsern von Blechinstrumenten umgeben ist, und von der Bühne herab Flöten und Instrumente aller Art ertönen, entsteht doch aus den verschiedenartigsten Tönen Einklang. So soll, wünsche ich, auch unser Geist sein; es sollen ihm viele Künste, viele Lehren, Beispiele vieler Zeitalter innewohnen, aber alles zu einem harmonischen Ganzen vereinigt.

Von der Einteilung der Philosophie

Du verlangst etwas sehr Nützliches und für den der Weisheit Zueilenden Unentbehrliches, eine Einteilung der Philosophie und eine Zerlegung ihres gewaltigen Körpers in seine Glieder. Denn leichter gelangen wir durch die Teile zur Kenntnis des Ganzen. Könnte doch, wie die ganze Gestalt der Welt zur Anschauung kommt, so auch die ganze Philosophie uns vor Augen treten, ein Schauspiel, dem des Weltalls ähnlich! Denn wahrlich, sie würde alle Sterbliche zur Bewunderung hinreißen, so daß sie alles hinter sich ließe, was wir jetzt aus Unkenntnis des Großen für groß halten. Doch weil uns dies nicht zuteil werden kann, so werden wir sie so betrachten müssen, wie man einzelne Teile der Welt beschaut. Der Geist des Weisen umfaßt zwar ihre ganze Masse und durchläuft sie mit einem Blicke ebenso schnell, als unsere Augen den Himmel; uns anderen aber, die noch die Finsternis durchbrechen müssen und deren Gesicht schon für das Nächste nicht ausreicht, kann alles leichter einzeln gezeigt werden, da wir das Ganze noch nicht zu erfassen vermögen. Ich will also tun, was du verlangst, und die Philosophie in Teile, nicht in Stücke zerlegen; denn es ist nützlich, sie einzuteilen, nicht sie zu zerschneiden, da es eben so schwer ist, das sehr Kleine wie das sehr Große zu fassen. Das Volk wird in Tribus, das Kriegsheer in Centurien geteilt. Alles, was ins Große gewachsen ist, wird leichter erkannt, wenn es in Teile zerfällt, die, wie ich eben sagte, nicht unzählige und sehr kleine zu sein brauchen. Eine gar zu weitgehende Einteilung ist eben so fehlerhaft wie gar keine. Was bis zu Pulver zerklopft ist, gleicht einem Mischmasch.

Zuerst also glaube ich dir sagen zu müssen, was für ein Unterschied zwischen der Weisheit und der Philosophie sei. Die Weisheit ist das vollendete Gut der menschlichen Seele; die Philosophie ist die Liebe zur Weisheit und das Streben nach ihr. Diese zeigt, wohin jene gelangt ist. Woher die Philosophie ihren Namen hat, ist klar; das Wort selbst spricht es aus. Einige haben die Weisheit so definiert, daß sie sagten, sie sei die Wissenschaft der göttlichen und menschlichen Dinge. Andere wieder so: Weisheit ist die Kenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge und ihrer Ursachen. Dieser Zusatz aber scheint mir überflüssig zu sein, weil die Ursachen der göttlichen und menschlichen Dinge ein Teil des Göttlichen sind. Auch die Philosophie hat man bald so, bald so definiert: die einen sagten, sie sei das Streben nach der Tugend, andere, sie sei das Streben nach Besserung des Gemüts. Einige nannten sie das Verlangen nach richtiger Vernunft. Das steht fest, daß ein Unterschied ist zwischen der Philosophie und der Weisheit; denn unmöglich kann das Erstrebte und das Erstrebende ein und dasselbe sein. Gleich wie ein großer Unterschied ist zwischen der Habsucht und dem Gelde, da jene begehrt, dieses aber begehrt wird, so auch zwischen der Philosophie und der Weisheit. Denn diese ist die Wirkung und der Lohn von jener; jene kommt, zu dieser geht man. Weisheit ist, was die Griechen σοφία nennen. Dieses Wortes bedienten sich auch die Römer, wie sie sich noch jetzt des Wortes Philosophie bedienen. Dies beweisen dir sowohl die alten römischen Nationaldramen, als auch die Inschrift auf dem Grabe des Dossennus: Hospes resiste et sophiam Dossenni lege (Steh' still, Fremdling, und lies die sophia des Dossennus). Einige der unsrigen haben, obgleich die Philosophie das Streben nach Tugend sei, und diese begehrt werde, jene aber begehre, dennoch beide für unzertrennbar gehalten; denn es gibt weder eine Philosophie ohne Tugend, noch eine Tugend ohne Philosophie. Die Philosophie ist das Streben nach Tugend, aber vermöge der Tugend selbst; es kann aber weder eine Tugend geben ohne das Streben nach ihr selbst, noch ein Streben nach der Tugend ohne diese selbst. Denn es ist hier nicht wie bei denen, die aus der Entfernung nach etwas zielen, wo sich der Zielende an einem andern Orte befindet, als das Ziel; noch auch wie bei einer Straße, die zwar nach einer Stadt führt, aber außerhalb derselben ist. Zur Tugend gelangt man nur durch sie selbst. Philosophie und Tugend hängen also eng zusammen.

Die meisten und bedeutendsten Gewährsmänner stellen drei Teile der Philosophie auf, den moralischen, physischen und rationalen. Der erste regelt das Gemüt; der zweite erforscht die Natur der Dinge; der dritte prüft die eigentümlichen Bedeutungen der Ausdrücke, ihre Zusammenstellung und die Beweisgründe, damit sich nicht Falsches statt Wahrem einschleiche. Übrigens finden sich auch einige, welche die Philosophie in wenigere, andere, die sie in mehrere Teile zerlegen. Einige Peripatetiker fügten einen vierten Teil hinzu, den politischen, weil er ein eigentümliches Studium erfordere und sich mit einem andern Gegenstande beschäftige. Manche fügten diesem noch einen Teil bei, den sie den ökonomischen nennen, die Wissenschaft, das Hauswesen zu verwalten. Einige haben auch einen besondern Abschnitt »über die Lebensarten« ausgeschieden. Allein alles dies findet sich in jenem moralischen Teile. Die Epikureer glaubten, es gebe nur zwei Teile der Philosophie, den physischen und moralischen; den rationalen beseitigten sie. Da sie aber später durch die Gegenstände selbst genötigt wurden, Zweideutiges auszuscheiden und das Falsche, das sich unter dem Scheine des Wahren birgt, zu entlarven, so führten auch sie einen Abschnitt, dem sie den Titel »von dem Urteil und der Regel« geben und somit nur unter anderem Namen den rationalen Teil wieder ein, betrachten ihn aber nur als einen Anhang zu dem physischen Teile. Die Cyrenaiker hoben die Natur- und Vernunftlehre auf und begnügten sich mit der Moral; allein auch diese führen auf andere Weise wieder ein, was sie beseitigen. Sie teilen nämlich die Moral in fünf Teile, so daß der eine von den Dingen handelt, welche man fliehen und suchen soll, der zweite von den Affekten, der dritte von den Handlungen, der vierte von den Ursachen, der fünfte von den Beweisgründen. Die Ursachen der Dinge aber gehören in den physischen Teil, die Beweisgründe in den rationalen und die Handlungen in den moralischen. Ariston von Chios behauptete, der physische und rationale Teil seien nicht nur überflüssig, sondern auch zweckwidrig; selbst den moralischen Teil, den einzigen, den er übrig ließ, beschnitt er. Denn er entfernte den ganzen Abschnitt, der die Verhaltungsmaßregeln enthält, und behauptete, er gehöre für den Erzieher, nicht für den Philosophen; als ob der Weise etwas anderes wäre als ein Erzieher des Menschengeschlechts!

Da also die Philosophie aus drei Teilen besteht, so wollen wir zuerst den moralischen Teil nach Abschnitten zu ordnen beginnen. Auch ihm beliebte man wieder drei Abteilungen zu geben, von welchen die erste eine Untersuchung ist, welche einem Jeden das Seine anweist und beurteilt, was jedes Ding wert sei, eine sehr nützliche Lehre; denn was ist so nötig, als den wahren Wert der Dinge zu bestimmen? Die zweite handelt von den Trieben, die dritte von den Handlungen. Das erste nämlich ist, daß du beurteilst, wie hoch jede Sache zu schätzen sei; das zweite, daß du den Trieb darnach regelst und mäßigst; das dritte, daß zwischen deinen Trieben und Handlungen Übereinstimmung herrsche, damit du in dem allen mit dir selbst harmonierst. Alles, was von diesen drei Stücken fehlt, stört auch die übrigen. Denn was nützt es, ein richtiges Urteil über alles im Kopfe zu haben, wenn du in deinen Trieben zu heftig bist? was hilft es, die Triebe unterdrückt und die Begierden in deiner Gewalt zu haben, wenn du beim Handeln selbst die rechte Zeit verkennst und nicht weißt, wann, wo und wie ein jedes geschehen muß? Denn ein anderes ist es, die Wichtigkeit und den Wert der Dinge, ein anderes, die rechten Augenblicke zu kennen, und wieder ein anderes, die Triebe zu zügeln und zum Handeln zu schreiten, nicht zu stürzen. Dann also ist das Leben mit sich im Einklang, wenn die Handlung dem Triebe nicht widerspricht und der Trieb sich nach der Wichtigkeit einer jeden Sache bald schwächer, bald heftiger regt, je nachdem diese begehrt zu werden verdient.

Der physische Teil der Philosophie wird in zwei Abschnitte zerlegt, in die Lehre von den körperlichen und unkörperlichen Dingen. Beide teilten sich wieder sozusagen in ihre Stufen ein. Der Abschnitt von den körperlichen in folgende: erstens in solche, die hervorbringen und die von jenen hervorgebracht werden; hervorgebracht aber werden die Elemente. Die Lehre von den Elementen selbst ist, wie einige glauben, einfach; nach andern teilt sie sich in die Abschnitte von der Materie, von der alles bewegenden Ursache und von den Urstoffen.

Es bleibt noch übrig, daß ich auch den rationalen Teil der Philosophie einteile. Jede Rede ist entweder eine fortlaufende, oder eine zwischen Fragen und Antworten geteilte. Diese beliebte man Dialektik, jene Rhetorik zu nennen. Die Rhetorik hat es mit den Worten, ihrem Sinn und ihrer Anwendung zu tun. Die Dialektik teilt sich in zwei Teile, in Worte und Begriffe, d. h. in die Sachen, wovon man spricht, und in die Ausdrücke, womit man spricht. Hieraus aber folgt eine unendliche Abteilung beider. Daher will ich hier schließen, das Bemerkbarste nur sei berichtet; sonst würde, wenn ich Teile aus Teilen machen wollte, aus diesem Briefe ein Buch von Untersuchungen werden.

Über die Kürze des Lebens

In dem Briefe, worin du den Tod des Philosophen Metronax beklagtest, als ob er länger hätte leben können und sollen, vermisse ich deine Billigkeit, die dir in jeder Rolle des Lebens und bei jedem Geschäfte eigen bleibt, und nur in dem einen Falle fehlt, worin sie allen abgeht. Ich habe viele gefunden, die gerecht waren gegen die Menschen, aber keinen, der es gegen die Götter gewesen wäre. Wir schelten täglich das Verhängnis: »Warum ist dieser mitten in seiner Laufbahn hinweggerafft worden? warum wird es jener nicht? weshalb verlängert sich sein Greisenalter, das ihm und andern zur Last ist«? Ja – was hältst du denn für billiger: daß du der Natur gehorchst oder sie dir? Was aber liegt daran, wie bald du von da weggehst, von wo du doch einmal weggehen mußt? Nicht lange, sondern genug zu leben, sei unsere Sorge. Denn um lange zu leben, bedarfst du das Schicksal, um genug zu leben, deinen Entschluß. Lang ist das Leben, wenn es vollständig ist, es wird aber vollständig, wenn die Seele sich ihr Gut wiedergegeben und die Herrschaft über sich selbst zu eigen gemacht hat. Was helfen jenem seine achtzig in Müßiggang hingebrachten Jahre? Er hat nicht gelebt, sondern nur im Leben verweilt und ist nicht spät, sondern langsam gestorben. Er hat achtzig Jahre gelebt. Es kommt darauf an, von welchem Tage an du seinen Tod rechnest. Aber jener ist in seiner Blüte gestorben; er ist den Pflichten eines guten Bürgers, eines guten Freundes, eines guten Sohnes nachgekommen: er hat es in keinem Stücke an sich fehlen lassen. Mag auch sein Lebensalter unvollendet geblieben sein, sein Leben ist vollendet. Er hat achtzig Jahre gelebt. Nein, er hat achtzig Jahre existiert, du müßtest denn in dem Sinne von ihm sagen, er habe gelebt, wie man von Bäumen sagt, daß sie leben. Laß uns, ich beschwöre dich, mein Lucilius, darauf denken, daß unser Leben gleich einem Kleinod nicht viel Raum einnehme, aber viel wiege. Nach unserm Wirken laß es uns messen, nicht nach der Zeit. Willst du wissen, welcher Unterschied ist zwischen einem rüstigen Manne, der das Schicksal verachtet, allen Dienstpflichten des menschlichen Lebens nachgekommen ist, und sich zu dem höchsten Gute desselben erhoben hat, und einem, dem viele Jahre dahingeschwunden sind? Jener lebt auch nach seinem Tode noch, dieser ist schon vor seinem Tode untergegangen. Laß uns also den preisen und unter die Zahl der Glücklichen rechnen, der die Zeit, die ihm zuteil geworden, mag sie noch so kurz gewesen sein, gut angewendet hat. Denn er hat das wahre Leben erblickt; er war nicht einer von den vielen; er hat gelebt und gewirkt; bisweilen hat er heitern Himmel gehabt, bisweilen leuchtete, wie es zu gehen pflegt, der Glanz des mächtigen Gestirnes nur aus Wolken hervor. Wozu fragst du, wie lange er gelebt habe? Er hat gelebt; er ist auf die Nachwelt übergegangen und hat sich dem Gedächtnis überliefert. Ich würde es deshalb nicht verschmähen, daß mir noch mehrere Jahre zugelegt würden, würde jedoch auch nicht sagen, daß zu meinem glücklichen Leben etwas gefehlt habe, wenn seine Dauer beschnitten würde. Denn ich habe mich nicht bloß für jenen Tag eingerichtet, den mir die begehrliche Hoffnung als den letzten versprochen hatte, sondern habe jeden als den letzten betrachtet. Wozu fragst du mich, wann ich geboren sei? ob ich noch zu den Jüngeren gerechnet werde? Ich habe das meinige. Wie ein Mensch auch bei kleinerer Statur vollständig sein kann, so kann auch das Leben bei kürzerer Dauer ein vollständiges sein. Das Alter gehört zu den Außendingen. Wie lange ich sein soll, unterliegt fremder Bestimmung, wie lange ich aber ein Mann sein will, hängt von mir ab. Das verlange von mir, daß ich nicht ein unrühmliches Dasein gleichsam im Dunkeln durchmesse, daß ich mein Leben wirklich führe, nicht bloß hindurch getragen werde. Du fragst, was der weiteste Raum fürs Leben sei? Bis zur Weisheit zu leben. Wer bis zu ihr gelangt ist, hat nicht das entfernteste, aber das höchste Ziel erreicht. Der aber mag sich dreist rühmen und den Göttern danken und unter ihnen weilend es auch sich selbst und der Natur anrechnen, daß er gelebt hat. Und mit Recht wird er es ihr anrechnen; denn er hat ihr das Leben besser zurückgegeben, als er es empfangen hatte. Er hat das Muster eines guten Mannes aufgestellt; er hat gezeigt, wer und wie groß ein solcher ist; hätte er noch etwas Weiteres hinzugefügt, so würde es nur dem Vorhergegangenen ähnlich gewesen sein.

Die Glückseligkeit hängt nicht von äußeren Gütern ab.

Halte nie einen für glücklich, der von äußeren Dingen abhängt. Auf Zerbrechliches stützt sich, wer seine Freude an Dingen hat, die von außen kommen; jede Freude, die von dort eingezogen ist, wird auch wieder hinausziehen. Aber das, was aus sich selbst entsprungen, ist treu und fest, nimmt zu und begleitet uns bis ans Ende; das übrige, was dem großen Haufen Bewunderung erregt, ist nur dann fruchtbringend und angenehm, wenn derjenige, der es besitzt, auch sich selbst in Besitz hat, und nicht in der Gewalt seiner Habseligkeiten ist. Denn diejenigen irren, mein Lucilius, welche glauben, daß das Schicksal uns irgend ein Gut oder Übel zuerteile; dieses gibt uns nur den Stoff zu Gütern und Übeln und den Keim von Dingen, die bei uns zu einem Gut oder Übel erwachsen sollen. Denn mächtiger als alles Schicksal ist die Seele! sie wendet ihre Begegnisse selbst nach beiden Seiten hin und ist sich selbst die Ursache zu einem glücklichen oder unglücklichen Leben. Der Schlechte wendet alles zum Schlechten, auch was mit dem Scheine des Besten gekommen war; der Rechtschaffene und Redliche verbessert das Schlimme des Schicksals, mildert das Harte und Herbe, indem er es geschickt erträgt, und nimmt das Angenehme dankbar und bescheiden, das Widerwärtige aber standhaft und tapfer hin. Mag er aber auch noch so klug sein, mag er alles mit reifer Überlegung tun, mag er nichts über seine Kräfte Gehendes versuchen: es wird ihm doch jenes vollkommene und außerhalb des Bereichs aller Drohungen liegende Gut nicht zuteil werden, wenn er nicht sicher gegen das Unsichere ist. Magst du nun andere beobachten (denn in fremden Sachen ist das Urteil freier), oder dich selbst mit Beseitigung aller Parteilichkeit: so wirst du erkennen und eingestehen, daß keins von diesen begehrenswerten und schätzbaren Dingen nützlich sei, wenn du dich nicht gegen die Flüchtigkeit des Zufalls und der Dinge, die dem Zufall folgen, vorsiehst, wenn du nicht oft und ohne Klage bei jedem einzelnen Verluste sagst: »den Göttern hat es anders gefallen.« Oder vielmehr, um einen kräftigen und richtigem Spruch zu suchen, durch den du deinen Mut noch besser stützen kannst: du mußt, so oft etwas anders gegangen ist, als du dachtest, sagen: »Die Götter haben es besser verstanden.« Wer so gefaßt ist, dem wird nichts Widriges begegnen. Eine solche Fassung aber wird gewinnen, wer bedacht hat, was der Wechsel menschlicher Dinge vermag, noch ehe er ihn erfährt, wer Kinder, Gattin und Erbvermögen so besitzt, als werde er sie nicht immer besitzen, und als werde er nicht deshalb unglücklicher werden, wenn er aufgehört hat, sie zu besitzen. Unglücklich ist die Seele, die des Zukünftigen wegen ängstlich ist, und elend ist schon vor dem Elend, wer in Sorgen schwebt, ob das, woran er sich erfreut, ihm auch bis ans Ende verbleiben werde. Denn zu keiner Zeit wird er Ruhe haben und über der Erwartung des Kommenden auch das Gegenwärtige, das er genießen konnte, verlieren. Gleich aber stehen der Verlust einer Sache und die Furcht, sie zu verlieren. Doch schreibe ich dir deshalb keine Fahrlässigkeit vor. Wende immerhin ab, was zu fürchten ist; was irgend durch Überlegung vermieden werden kann, das vermeide; was irgend dich verletzen kann, das erforsche und entferne es, lange bevor es eintritt. Dazu aber wird dir Zuversicht und ein zur Ertragung von allem gestählter Sinn am meisten dienlich sein. Der kann sich vor dem Schicksal hüten, der es zu ertragen vermag; wenigstens gerät er, von Stille umgeben, nicht in Unruhe. Nichts ist elender und törichter, als sich vorher zu fürchten. Was für ein Unsinn ist es, seinem Übel vorauszuschreiten! Um kurz zusammenzufassen, was ich denke, und dir jene sich abängstigenden und sich selbst lästigen Leute zu schildern, die im Unglück selbst so wenig Maß halten als vor demselben: mehr leidet, als nötig ist, wer eher leidet, als nötig ist. Denn aus derselben Schwäche, aus der er sein Leiden nicht erwartet, schätzt er es auch nicht. Aus demselben Mangel an Mäßigung bildet er sich ein, sein Glück werde ein beständiges sein, und alles, was ihm zuteil geworden, müsse zunehmen, nicht bloß fortdauern, und uneingedenk jenes Schwungrades, das alles Menschliche hin und her wirft, verspricht er sich allein die Beständigkeit des Zufälligen. Vortrefflich erscheint mir daher Metrodorus in jenem Briefe, worin er seiner Schwester nach Verlust eines Sohnes von den herrlichsten Anlagen Trost zuspricht, gesagt zu haben: »Sterblich ist jedes Gut der Sterblichen.« Er spricht aber von den Gütern, nach welchen alles rennt; denn jenes wahre Gut stirbt nicht, es ist sicher und unvergänglich, die Weisheit und die Tugend; dieses allein wird den Sterblichen als etwas Unsterbliches zuteil. Übrigens sind sie so unbillig und vergessen so sehr, wohin sie gehen und wohin jeder einzelne Tag sie drängt, daß sie sich wundern, wenn sie etwas verlieren, da sie doch an einem Tage alles verlieren werden. Was es auch ist, dessen Herr du heißest, es ist nur bei dir, ist nicht dein: für den Wankenden gibt es nichts Festes, für den Hinfälligen nichts Ewiges und Unbezwingliches. Das Vergehen ist eben so notwendig wie das Verlieren, und eben dies ist, wenn wir es einsehen, ein Trost, daß wir mit Gleichmut verlieren, was zum Verlieren bestimmt ist. Was für eine Hülfe nun finden wir gegen diese Verluste? Diese, daß wir das Verlorene im Gedächtnis behalten und uns mit demselben nicht auch die Frucht entgehen lassen, die wir davon genossen haben. Das Besitzen wird uns entrissen, das Besessenhaben nie. Sehr undankbar ist, wer nach dem Verluste für das Empfangene nichts zu schulden glaubt. Die Sache entreißt uns der Zufall, den Gebrauch und Genuß läßt er uns, und nur durch ungerechte Sehnsucht verlieren wir ihn. Warum lassen wir den Mut sinken? warum verzweifeln wir? Alles, was einst geschehen konnte, kann auch noch geschehen. Reinigen wir nur unsere Seele und folgen wir der Natur; wer von ihr abirrt, muß wünschen, fürchten und dem Zufälligen dienen. Es steht uns frei, auf den Weg zurückzukehren und in den vorigen Stand zurückversetzt zu werden. Lassen wir uns zurückversetzen, damit wir Schmerzen, auf welche Art sie auch den Körper befallen, ertragen und zum Schicksal sagen können: »Du hast es mit einem Manne zu tun; suche dir einen andern, den du besiegen kannst.«

Homo homini lupus

Weshalb siehst du dich nach dem um, was dir vielleicht begegnen, aber auch nicht begegnen kann? ich meine den Einsturz zusammenbrechender Gebäude. Einiges stürzt auf uns herein, aber stellt uns nicht nach; siehe vielmehr auf das, was uns beobachtet, uns zu fangen sucht. Seltenere, wenn auch schwere Zufälle sind es, Schiffbruch zu leiden, mit dem Wagen umzuwerfen; von dem Menschen aber droht dem Menschen tägliche Gefahr. Gegen diese rüste dich, diese beobachte mit gespannten Blicken: kein Übel ist häufiger, keins hartnäckiger, keins schmeichlerischer. Ein Unwetter droht, ehe es heraufzieht; die Häuser krachen, ehe sie zusammenstürzen; der Rauch verkündet einen Brand voraus; aber plötzlich kommt das vom Menschen ausgehende Verderben und verbirgt sich um so sorgfältiger, je näher es herantritt. Du irrst, wenn du den Gesichtern derer traust, die dir begegnen. Sie haben die Gestalt von Menschen, aber die Seele von wilden Tieren, nur daß der erste Anlauf dieser verderblicher ist; an wem sie aber vorübergegangen sind, den suchen sie nicht weiter; denn niemals treibt sie etwas anderes als die Not, zu schaden. Sie werden durch Hunger und Furcht zum Kampfe genötigt; nur dem Menschen macht es Freude, den Menschen zu verderben. Du jedoch bedenke die Gefahr, die vom Menschen ausgeht, so, daß du zugleich bedenkest, was des Menschen Pflicht sei. Das eine fasse ins Auge, um nicht verletzt zu werden, das andre, um nicht zu verletzen. Erfreue dich an dem Glücke aller, laß dich von ihrem Ungemach rühren, und erinnere dich, was du leisten und wovor du dich hüten mußt. Was wirst du durch ein solches Leben erreichen? Nicht, daß sie dir nicht schaden, wohl aber, daß sie dich nicht hintergehen.

Wie die Philosophie zu erlernen ist

Das, worüber du mich befragst, gehört zu den Dingen, die zu wissen nur dazu dient, daß man sie eben weiß. Nichtsdestoweniger aber bist du, weil es dazu dient, eilfertig und willst die Bücher nicht erwarten, die ich eben ordne und die den ganzen moralischen Teil der Philosophie enthalten. Ich werde die Sache sogleich erledigen, vorher jedoch dir schreiben, wie du jene Lernbegierde, von der ich dich brennen sehe, zu regeln hast, damit sie sich nicht selbst hindere.

Man darf weder einzelnes hier und da herausgreifen, noch begierig über das Ganze herfallen: durch die Teile gelangt man zum Ganzen. Wir müssen die Last den Kräften anpassen und nicht mehr auf uns nehmen, als dem wir zu genügen imstande sind. Nicht so viel du willst, sondern so viel du fassen kannst, mußt du schöpfen. Sei nur guten Mutes: du wirst auch fassen, so viel du willst. Je mehr die Seele aufnimmt, desto mehr erweitert sie sich; diese Lehre gab uns, wie ich mich erinnere, Attalus, als wir seine Schule belagerten und zuerst kamen und zuletzt weggingen und ihn auch auf Spaziergängen zu Unterredungen aufforderten, da er den Lernenden sich nicht nur bereitwillig zeigte, sondern auch entgegen kam. »Dasselbe Ziel«, sagte er, »muß sowohl der Lehrende als der Lernende haben, jener, daß er nützen, dieser, daß er Nutzen ziehen wolle.« Wer zu einem Philosophen kommt, soll täglich etwas Gutes mit sich nehmen: er soll entweder gesunder oder doch heilbarer nach Hause zurückkehren. Er wird aber so zurückkehren; denn das ist die Kraft der Philosophie, daß sie nicht nur denen, die sich ihrer befleißigen, sondern selbst denen, die bloß mit ihr umgehen, nützt. Wer in die Sonne kommt, wird, wenn er auch nicht deshalb gekommen ist, gebräunt werden; wer sich in einem Salbenladen niedergelassen und etwas länger darin verweilt hat, nimmt den Geruch des Ortes mit sich, und wer bei einem Philosophen gewesen ist, der muß etwas mitnehmen, was ihm nützlich ist, auch wenn er gleichgültig dagegen ist. Bemerke wohl, was ich sage: gleichgültig, nicht widerspenstig. Wie denn? Kennen wir nicht manche, die viele Jahre hindurch bei einem Philosophen saßen und nicht einmal eine andere Farbe annahmen? Wie sollte ich sie nicht kennen? und zwar äußerst beharrliche und stets anwesende, die ich nicht Schüler, sondern Mietsleute der Philosophen nenne. Einige kommen, um zu hören, nicht um zu lernen, so, wie wir uns des Vergnügens wegen ins Theater ziehen lassen, um unsere Ohren an der Rede oder der Stimme oder dem Stücke zu ergötzen. Sehr zahlreich sind die Zuhörer, welchen die Schule des Philosophen als ein Ort des Zeitvertreibs dient. Nicht das betreiben sie, daß sie diesen oder jenen Fehler darin ablegen, daß sie ein Gesetz für das Leben empfangen, wonach sie ihre Sitten prüfen können, sondern daß sie einen Ohrenschmaus genießen. Einige jedoch kommen sogar mit Schreibtafeln, nicht um die Gedanken aufzuzeichnen, sondern nur die Worte, die sie mit eben so wenig Nutzen für andere nachsprechen, als mit eigenem hören. Einige werden bei herrlichen Aussprüchen aufgeregt und versetzen sich, lebhaft erregt in Mienen und Seele, in die Gemütsstimmung des Sprechenden; und doch werden sie nicht anders in Aufregung gesetzt als die phrygischen Halbmänner, die auf Befehl in Begeisterung geraten durch den Ton der Flöte. Was jene hinreißt und aufregt, ist allerdings die Schönheit der Gedanken, nicht der Schall der leeren Worte. Ist ein mutiges Wort gegen den Tod gefallen oder ein trotziges gegen das Schicksal, so freut es sie, sogleich zu tun, was sie hören. Sie werden von jenen Äußerungen ergriffen und sind, wie man ihnen zu sein befiehlt. Wenn nur diese Gemütsverfassung Dauer hätte! Wenn nur nicht das Volk, welches das Gute widerrät, den herrlichen Trieb sofort wieder aus ihnen verscheuchte! Wenige können den Vorsatz, den sie gefaßt haben, mit bis nach Hause bringen. Es ist leicht, den Zuhörer zu der Begierde nach dem Guten anzuregen; denn allen hat die Natur die Grundlagen und den Keim der Tugenden verliehen; wir alle sind zu dem allen geboren. Kommt eine Anreizung hinzu, so werden jene Güter der Seele gleichsam gelöst, hervorgelockt. Siehst du nicht, wie einmütig der Beifall im Theater gespendet wird, so oft etwas gesagt wird, was wir allgemein anerkennen und durch unsere Übereinstimmung als wahr bezeugen?

Der Armut mangelt Vieles, Alles fehlt dem Geiz.
Der Geiz'ge meint's mit Keinem gut, ganz schlecht mit sich.

Bei diesen Versen klatscht der schmutzigste Geizhals und freut sich, daß seine Laster gescholten werden. Um wie viel mehr glaubst du, daß dies der Fall sei, wenn solches von einem Philosophen gesagt wird, wenn heilsamen Vorschriften Verse eingemischt werden, welche eben diese dem Gemüte Unerfahrener wirksamer einprägen? »Denn«, sagt Kleanthes, »wie unser Hauch einen helleren Ton gibt, wenn ihn die Trompete, durch die Enge des langen Kanals gezogen, endlich durch die weitere Mündung ausströmen läßt, so macht der enge Zwang des Verses unsere Gedanken klarer.« Dasselbe wird unaufmerksamer gehört und macht geringern Eindruck, so lange es in ungebundener Rede gesagt wird: kommt aber das Versmaß hinzu und halten bestimmte Versfüße den trefflichen Sinn zusammen, so wird derselbe Gedanke wie mit nervigem Arm geschwungen und fortgeschleudert. Über die Verachtung des Geldes wird vieles gesprochen und in übermäßig langen Reden die Lehre vorgetragen, daß die Menschen glauben sollen, ihr Reichtum liege in der Seele, nicht im ererbten Vermögen; derjenige sei wohlhabend, der sich in seine Armut schickt und mit Wenigem sich reich macht. Stärker jedoch werden die Gemüter getroffen, wenn sich Verse, wie folgende, vernehmen lassen:

Am wenigsten bedarf, wer am wenigsten begehrt.
Wer, was genug ist, wollen kann, hat, was er will.

Wenn wir dieses und Ähnliches hören, so werden wir zur Anerkennung der Wahrheit gebracht. Denn sogar jene, denen nichts genug ist, bewundern es, rufen Beifall und erklären dem Gelde ihren Haß. Wenn du diese Stimmung an ihnen siehst, so setze ihnen zu und dringe und drücke auf das eine, alle Doppelsinnigkeit, alle Vernunftschlüsse, alles Schlingenlegen und die übrigen Spiele eines unnützen Scharfsinns beiseite lassend. Sprich gegen den Geiz, sprich gegen die Üppigkeit, und wenn du siehst, daß du etwas ausgerichtet und einen Eindruck auf die Gemüter der Zuhörer gemacht hast, so gehe ihnen noch stärker zu Leibe! Es ist unglaublich, wie viel eine solche Rede ausrichtet, die auf ein Heilmittel abzielt und ganz auf das Wohl der sie Hörenden gerichtet ist. Denn sehr leicht werden junge Gemüter der Liebe zum Guten und Rechten gewonnen, und an noch Bildsame und nur wenig Verdorbene legt die Wahrheit die Hand, wenn sie einen tüchtigen Anwalt gefunden hat. Ich wenigstens habe, wenn ich den Attalus gegen die Laster, gegen die Irrtümer, gegen die Übel des Lebens sprechen hörte, oft das menschliche Geschlecht bemitleidet, und jenen für erhaben und übermenschlich groß gehalten. Er selbst nannte sich einen König: aber mehr als ein König schien mir der zu sein, der Könige seinem Urteil unterwerfen durfte. Wenn er aber anfing, die Armut zu empfehlen und zu zeigen, welch eine überflüssige und dem Träger beschwerliche Last alles sei, was über das Bedürfnis hinausgehe, so wünschte ich oft arm aus der Schule zu gehen. Wenn er anfing, unsere Lüste durchzuziehen, einen keuschen Leib, eine nüchterne Tafel, einen nicht bloß von unerlaubten, sondern auch von überflüssigen Lüsten reinen Sinn zu preisen, so bekam ich Lust, den Gaumen und Magen zu beschränken. Davon nun ist mir einiges geblieben, mein Lucilius; denn mit einem großen Triebe zu allem war ich gekommen; darauf zu dem Staatsleben zurückgeführt, habe ich von dem guten Anfang einiges Wenige bewahrt. Von da an habe ich auf Austern und Pilze für das ganze Leben verzichtet, denn es sind nicht Speisen, sondern Leckereien, die den schon Gesättigten zum Essen nötigen und, was freilich den Gefräßigen, die mehr in sich hineinstopfen, als sie fassen können, höchst erwünscht ist, eben so leicht hinabgleiten, als wieder zurückkommen. Von jener Zeit an enthalte ich mich für mein ganzes Leben der Salben, weil der beste Geruch am Körper keiner ist. Das übrige, was ich weggeworfen, ist zurückgekehrt, jedoch so, daß ich in dem, worin ich die Enthaltsamkeit aufgegeben habe, Maß halte, und zwar der Enthaltsamkeit ziemlich nahe komme, was selbst vielleicht noch schwerer als diese ist, weil man nämlich leichter etwas ganz aus der Seele entfernt, als es mäßigt.

Über den Stil. Preis der Tugend und Philosophie

Ich will nicht, daß du allzu ängstlich um die Worte und den Stil seist, mein Lucilius; ich habe Größeres, wofür du sorgen sollst. Frage dich, was du schreiben sollst, nicht wie; und selbst dies nicht, um zu schreiben, sondern um zu denken, damit du das, was du denkst, dir mehr zu eigen machst und gleichsam einprägst. Findest du irgend jemandes Rede ängstlich und gefeilt, so wisse, daß auch seine Seele nicht weniger mit kleinlichen Dingen beschäftigt ist. Der große Mann spricht freier und sorgloser; alles, was er sagt, zeigt mehr Zuversicht als Sorgfalt. Du kennst viele junge Männer mit glänzendem Bart und Haar, ganz wie erst aus dem Kästchen genommen; von ihnen darfst du nichts Kräftiges, nichts Tüchtiges erwarten. Die Rede ist die Kleidung der Seele; ist sie geschoren, geschminkt und mit Kunst gefertigt, so zeigt sie, daß auch die Seele nicht echt ist und irgend einen Schaden hat. Stutzerhaftigkeit ist keine Zierde des Mannes. Wäre es uns vergönnt, einen Blick in die Seele eines tugendhaften Mannes zu tun, o welche schöne, ehrwürdige, in stiller Hoheit glänzende Gestalt würden wir erblicken, indem hier die Gerechtigkeit, dort die Tapferkeit, hier wieder die Mäßigung und Klugheit leuchten! Außerdem würden auch die Mäßigkeit, die Enthaltsamkeit, die Geduld, die Freigebigkeit, die Milde und – bei dem Menschen ein seltenes Gut – die Menschenfreundlichkeit über jene ihren Glanz ergießen. Sodann die Vorsicht und der feine Geschmack und die Hochherzigkeit, die hervorragendste von jenen Eigenschaften, welchen Schmuck, ihr guten Götter, welches Gewicht und welche Würde würden sie ihr verleihen! wie groß wäre ihr Ansehen, mit Anmut vereint! Niemand würde sie liebenswürdig nennen, ohne daß er sie auch ehrwürdig nennte. Wollen wir aber, wie man die Sehkraft der Augen durch gewisse Heilmittel zu schärfen und zu reinigen pflegt, so auch die Sehkraft des Geistes von den Hindernissen befreien, so werden wir die Tugend deutlich erschauen können, wenn sie auch vom Körper umhüllt ist, wenn auch Armut entgegensteht, wenn auch Niedrigkeit und Schmach im Wege liegen. Wir werden, sage ich, jene Schönheit schauen, wenn sie auch von Schmutz bedeckt wäre. Gleicherweise aber werden wir auch wieder die Bosheit und den Schmutz einer unglücklichen Seele erblicken, wenn auch ein heller Glanz um sie her strahlender Reichtümer das Sehen verhindert, und hier ein falsches Licht von Ehrenstellen, dort von großer Macht den Schauenden blendet. Dann werden wir einzusehen vermögen, wie Verachtungswertes wir bewundern, den Knaben ähnlich, für die jedes Spielzeug wertvoll ist. Seitdem aber dieses Ding, welches so viele Beamte und Richter fesselt, das selbst Beamte und Richter macht, das Geld, in Ehren zu stehen anfing, hat die wahre Ehre der Dinge aufgehört; und zu Käufern und hinwiederum selbst käuflich geworden, fragen wir nicht, wie etwas beschaffen ist, sondern wieviel es kostet. Um Lohn sind wir gewissenhaft, um Lohn gewissenlos, und folgen dem Sittlichguten, so lange einige Hoffnung dabei ist, bereit, zum Gegenteile überzugehen, wenn Freveltaten mehr versprechen. Unsere Eltern haben uns zu Bewunderern des Goldes und Silbers gemacht, und die dem zarten Alter eingeflößte Begierde hat sich tiefer festgesetzt und ist mit uns gewachsen. Das ganze Volk, in allem andern uneinig, stimmt hierin überein; dies achten sie hoch, dies wünschen sie den Ihrigen, dies weihen sie, gleich als wäre es das Größte unter den menschlichen Dingen, den Göttern, wenn sie dankbar sein wollen. Kurz, es ist mit den Sitten dahin gekommen, daß Armut für eine Schmähung und einen Schimpf gilt, von den Reichen verachtet, den Armen verhaßt.

O möchten doch alle, welche sich Reichtum wünschen, mit den Reichen sich beraten, und die, welche sich um Ehrenstellen bewerben möchten, mit den Ehrgeizigen und denen, die zur höchsten Stufe der Würden gelangt sind! Wahrlich sie hätten bald ihre Wünsche geändert, während jene unterdessen neuen Raum geben, nachdem sie die früheren verworfen. Denn es gibt keinen, dem sein Glück genügte, auch wenn es im Laufe gestürzt kommt. Sie klagen über ihre Pläne und Erfolge und wollen immer lieber das, was sie aufgegeben haben. Daher wird dir die Philosophie gewähren, was ich wenigstens für das Größte halte: du wirst nie Reue über dich selbst empfinden. Zu einem so gediegenen Glücke, das kein Unwetter erschüttern kann, werden dich geschickt zusammengefügte Worte und eine sanft dahinfließende Rede nicht führen, sondern nur eine Seele, die ihre Haltung bewahrt, die groß, unbekümmert um die Meinungen, und gerade um dessen willen mit sich zufrieden ist, was andern mißfällt, indem sie ihren Fortschritt nach dem Leben mißt und so viel zu wissen glaubt, daß sie nichts mehr wünscht und nichts mehr fürchtet.

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