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1. Wenn ich mich selbst aufmerksam durchforsche, lieber Seneca, so gewahre ich manche Fehler offen daliegend, so daß ich sie mit Händen greifen kann, manche aber verborgener und versteckt, wieder andere nicht anhaltend, sondern mit Unterbrechungen wiederkehrend; und diese möchte ich gerade die lästigsten nennen, herumschweifenden Feinden gleich, die nur gelegentlich anstürmen, so daß man weder gerüstet bleiben kann, wie im Kriege, noch sorglos, wie im Frieden. Besonders jedoch finde ich den Zustand an mir (warum sollte ich dir, als meinem Arzte, nicht die Wahrheit gestehen?) daß ich weder mit voller Sicherheit frei bin von dem, was ich fürchtete und haßte, noch auch wieder ihm unterworfen. Ich befinde mich in einem Zustande, der zwar nicht gerade der schlimmste, aber doch höchst kläglich und verdrießlich ist; ich bin weder krank, noch gesund.
Sage mir nicht, daß der Anfang aller Tugend unvollkommen sei, daß ihnen erst mit der Zeit Dauer und Stärke komme. Ich weiß recht gut, daß auch das, was nach äußerem Glanze ringt, wie Amtswürden und rednerischer Ruhm und alles, was fremdem Urteile unterworfen ist, erst mit der Zeit erstarkt. Mag es nun bei einer Sache auf inneren Gehalt abgesehen sein oder nur auf äußeren Anstrich, so gehören Jahre dazu, bis es allmählich die Farbe der Dauer annimmt: allein ich fürchte, daß die Gewohnheit, die den Dingen Beständigkeit verleiht, jenen fehlerhaften Zustand bei mir tiefer wurzeln läßt. Ein langer Umgang flößt uns Liebe mit dem Bösen sowohl, als mit dem Guten ein. Die eigentliche Beschaffenheit des zwischen beiden unschlüssigen Gemüts, das sich weder dem Rechten, noch dem Verkehrten entschieden zuneigt, kann ich dir nicht sowohl auf einmal, als vielmehr nur in einzelnen Teilen dartun. Ich will dir die Symptome angeben, du magst dann einen Namen für die Krankheit finden.
Mich erfüllt, ich gestehe es, eine große Liebe zur Sparsamkeit; mir behagt kein prunkhaftes Lager, kein aus dem Putzschrank hervorgeholtes Kleid, mit schweren Gewichten und tausend Pressen bearbeitet, sondern ein wohlfeiles Hauskleid, das weder mit Angst aufbewahrt, noch angelegt wird. Mir behagt eine Mahlzeit, die weder eine zahlreiche Dienerschaft zubereitet, noch begafft, die nicht viele Tage vorher bestellt ist und von den Händen vieler Diener serviert wird, sondern leicht zu beschaffen und einfach ist, die nichts Gesuchtes und Kostbares hat, die man überall haben kann, die weder der Kasse, noch dem Körper beschwerlich ist und nicht da wieder zurückkommen wird, wo sie hineinging. Als Diener gefällt mir ein ungeschmückter und einfacher Sklave, dazu massives Silber, wie es mein Vater auf dem Lande hatte, ohne den Namen irgend eines Künstlers, und ein Tisch, nicht durch Verschiedenheit der Maser ausgezeichnet und durch öfteren Wechsel seiner prachtliebenden Besitzer in der Stadt bekannt, sondern zum Gebrauche hingestellt, ohne daß er die Blicke eines Gastes durch Wohlgefallen fesselt oder von Neid entflammt.
Wenn mir nun auch dies gut behagt, so blendet doch meinen Geist eine glänzende Pagenschar, eine Dienerschaft, sorgfältiger als bei einem Aufzuge gekleidet und mit Gold geschmückt, und ein Schwarm glänzender Sklaven; dann ein Haus, kostbar, wohin man nur tritt, mit in allen Ecken ausgestreuten Reichtümern, selbst mit schimmerndem Plafond, und ein Volkshaufe, der das hinschwindende Erbgut überall umlagert und begleitet. Und dann die bis auf den Grund durchsichtigen und die Gastmähler selbst umflutenden Wasserbäche, welche die Tafel umfluten Kanäle mit kristallhellem Wasser waren der Kühlung wegen selbst in die Speisezimmer luxuriöser Römer geleitet., und die ihres Schauplatzes würdigen Schmausereien. Wenn ich nun so aus dem alten Moder meines ärmlichen Lebens hervorkomme, da umströmt mich die Üppigkeit mit großem Glanze und umlärmt mich von allen Seiten. Da flimmert mir's denn ein wenig vor den Augen, und ich erhebe gegen sie leichter den Mut als den Blick. Daher ziehe ich mich zurück, nicht schlechter, aber verstimmt, und trage in meiner Armseligkeit meinen Kopf nicht mehr so hoch, es nagt im stillen an mir und es beschleicht mich ein Zweifel, ob nicht jenes doch besser sei; nichts davon ändert meine Gesinnung, alles aber regt mich auf. Ich finde es gut, den kräftigen Ermahnungen meiner Lehrer zu folgen und mich in Staatsgeschäfte zu stürzen; ich finde es gut, Ehrenstellen und Ehrenzeichen anzunehmen, nicht dem Purpur oder den Rutenbündeln zu liebe, sondern um meinen Freunden und Verwandten und allen meinen Mitbürgern, ja am Ende der ganzen Menschheit dienstfertiger und nützlicher zu sein. Willig folge ich dann wieder dem Zeno, dem Kleanthes, dem Chrysippus, von denen sich doch keiner den Staatsgeschäften widmete, obwohl sie andere dazu veranlaßten. Hat etwas mein Gemüt, das der Stöße ungewohnt ist, erschüttert, ist mir etwas zugestoßen, das entweder meiner unwürdig ist, wie das im menschlichen Leben oft vorkommt, oder mir nicht leicht genug gelingen will, oder erfordern wertlose Dinge zu viel Zeit, so wende ich mich zu meiner Muße zurück, und so wie das Vieh, auch wenn es ermüdet ist, mit schnelleren Schritten dem Stalle zueilt, so behagt es mir, mein Leben wieder in seine vier Wände einzuschließen. Dann soll mir niemand einen Tag rauben; denn niemand kann mir etwas geben, was solchen Aufwand wert wäre. Meine Seele vertiefe sich in sich selbst, baue sich selbst an, treibe nichts Fremdartiges, nichts, was vor den Richter gehört; willkommen sei nur die Ruhe, die von den Angelegenheiten des Ganzen und der Einzelnen nichts weiß.
Aber wenn dann wieder eine kräftigere Lektüre meinen Mut erhoben hat und edle Beispiele mir einen Sporn gegeben haben, da möchte ich gleich vor auf das Forum rennen, dem einen meine Fürsprache, dem andern meine Dienste widmen, die, wenn sie auch nichts nützen sollten, doch den Versuch machen werden, zu nützen, oder den Übermut eines durch sein Glück hoffärtig Gemachten auf öffentlichem Markte in seine Schranken zurückweisen. Bei meinen Studien meine ich, es sei wahrhaftig besser, die Gegenstände selbst ins Auge zu fassen und ihretwegen zu sprechen, übrigens aber die Worte den Sachen selbst anheimzugeben, so daß der unstudierte Vortrag ihnen folge, wohin sie führen. Wozu ist es nötig, Reden auszuarbeiten, die Jahrhunderte durchdauern sollen? Willst Du etwa dafür sorgen, daß die Nachkommen nicht von dir schweigen sollen? Du bist zum Sterben geboren: wenig Umstände macht eine stille Leiche. Daher schreibe, um Zeit zu gewinnen, bloß für deinen Gebrauch, nicht des Ruhmes wegen, in einfachem Stile; geringe Anstrengungen braucht, wer immer nur für einen Tag studiert.
Wenn sich dann aber die Seele durch großartige Gedanken wieder erhoben hat, so ist sie auch ehrgeizig nach Worten, und es drängt sie, wie in ihren Hoffnungen, so auch im Ausdruck einen höhern Schwung zu nehmen und eine der Würde des Gegenstandes entsprechende Rede zu halten. Dann lasse ich mich, die Regeln und die beengende Kritik vergessend, zu höherem Fluge fortreißen und spreche nicht mehr mit meinem Munde.
Um nicht das einzelne weiter zu verfolgen: in allen Verhältnissen hängt mir diese Schwäche eines sonst guten Willens an, und ich fürchte, ich möchte ihm allmählich ganz untreu werden, oder, was noch ängstlicher ist, immer gleich einem, der fallen will, in der Schwebe hangen, und es möchte vielleicht noch Schlimmeres kommen, als ich selbst voraussehe. Denn unsre eignen Verhältnisse blicken wir immer sehr zärtlich an, und immer steht die Vorliebe einem richtigen Urteil im Wege. Ich glaube, viele hätten zur Weisheit gelangen können, wenn sie nicht gemeint hätten, sie wären schon zu ihr gelangt, wenn sie nicht manches sich verhehlt hätten, über manches mit offnen Augen hinweggegangen wären. Denn du darfst nicht glauben, daß wir mehr durch fremde, als durch eigene Schmeichelei zu grunde gehen. Wer wagt es, sich selbst die Wahrheit zu sagen? wer schmeichelt nicht, unter eine Schar von Lobrednern und Schmeichlern gestellt, sich selbst am allermeisten? Daher bitte ich dich, wenn du ein Mittel hast, diesem meinem Schwanken Einhalt zu tun, mich für wert zu halten, dir meine Ruhe verdanken zu dürfen. Daß dieses Wogen des Gemüts nicht gefährlich sei und nichts Stürmisches mit sich bringe, weiß ich; um dir aber das, worüber ich klage, durch ein passendes Gleichnis auszudrücken: nicht von einem Sturme werde ich geplagt, sondern von der Seekrankheit. Sei nun dies Übel, wie es wolle, befreie mich von ihm, und komme dem zu Hilfe, der im Angesicht des Landes in Not schwebt.
2. Ich sinne wahrhaftig schon lange im stillen nach, lieber Serenus, womit ich deinen Gemütszustand vergleichen soll, und ich kann ihn mit keinem andern Beispiele in nähere Verwandtschaft bringen als mit dem von Menschen, die, von einer langen und schweren Krankheit befreit, noch mitunter von kleinen Fieberschauern und leichten Anfällen heimgesucht, und wenn sie auch noch diesen Überresten der Krankheit entflohen sind, doch noch von den Besorgnissen beunruhigt werden und, schon genesen, doch noch von den Ärzten ihren Puls fühlen lassen und jede Wärme ihres Körpers verdächtig finden. Bei diesen, mein Serenus, ist nicht etwa der Körper noch nicht völlig gesund, sondern er ist an die Gesundheit noch zu wenig gewöhnt, wie auch ein Meer oder ein See, wenn er sich nach einem Sturme wieder beruhigt hat, immer noch in zitternder Bewegung ist. Du brauchst daher nicht jene stärkeren Mittel, die ich auch übergehen will, daß du dir bisweilen selbst entgegentrittst, zuweilen über dich selbst in Zorn gerätst, zuweilen dir hart zusetzst, sondern nur, was freilich erst zuletzt kommt, daß du dir selbst vertraust und auf rechtem Wege zu wandeln glaubst, nicht davon abgelenkt durch die sich durchkreuzenden Fußstapfen vieler anderer, die bald hier-, bald dorthin laufen, und wieder anderer, die um den Weg selbst herum irren. Was du aber wünschest, ist freilich etwas Großes, Erhabenes und Götterähnliches: nicht erschüttert zu werden. Diesen stetigen Gemütszustand nennen die Griechen εὐϑυμία Wohlgemutheit, worüber ein herrliches Buch des Demokritus vorhanden ist; ich nenne ihn Gemütsruhe; denn es ist nicht nötig, die griechischen Worte nachzubilden und wörtlich zu übersetzen; die Sache selbst, um die es sich handelt, ist durch irgend einen Ausdruck zu bezeichnen, der bloß die Bedeutung, nicht die Gestalt der griechischen Benennung zu haben braucht.
Wir fragen also, wie das Gemüt sich immer gleich bleiben und seinen ungestörten Gang gehen, mit sich selbst zufrieden sein und seinen eigenen Zustand mit Vergnügen betrachten könne, und dabei diese Freude nicht unterbreche, sondern in ruhigem Zustande verbleibe, weder auf-, noch abwoge. Das ist die Gemütsruhe. Wie man zu derselben gelangen könne, laß uns jetzt im allgemeinen erforschen; nimm dir von dem allgemeinen Mittel, so viel dir beliebt. Indessen muß das ganze Übel ans Licht gezogen werden; daraus wird ein jeder seinen Teil erkennen. Zugleich wirst du einsehen, wieviel weniger Not dir dein Mißfallen an dir selbst macht als denen, die, an einen glänzenden Posten gebunden und unter der Last eines großen Namens seufzend, mehr aus Ehrgefühl als aus Neigung in ihrer Verstellung beharren. Alle sind in derselben Lage, sowohl die, welche ihr Leichtsinn und der Überdruß und beständiger Wankelmut plagt, und denen immer das besser gefällt, was sie aufgegeben haben, als auch die, welche träg und schläfrig sind. Dazu füge noch die, welche sich nicht anders als Leute, die schwer in Schlaf kommen können, herumwälzen und sich bald so, bald wieder anders zurecht legen, bis sie endlich vor lauter Müdigkeit zur Ruhe kommen. Dadurch, daß sie die Verhältnisse ihres Lebens von Zeit zu Zeit verändern, bleiben sie zuletzt in solchen, in welchen sie nicht ein Überdruß des Wechsels, sondern nur das zu Neuerungen träge Alter festhält. Nimm auch noch diejenigen hinzu, die nicht aus Charakterstärke, sondern aus Trägheit minder leichtsinnig sind. Sie leben nicht, wie sie eigentlich wollen, sondern wie sie nun einmal angefangen haben. Dabei gibt es noch unzählige Eigentümlichkeiten, aber nur eine Wirkung des Fehlers: Unzufriedenheit mit sich selbst. Dies entspringt aus Mangel an Selbstbeherrschung und aus ängstlichen oder nicht recht befriedigenden Begierden, wo sie entweder nicht wagen, was sie wünschen, oder es nicht erreichen und sich ganz der Hoffnung hingeben, und stets unbeständig und wankelmütig sind, was notwendig denen begegnen muß, die ihren Wünschen nachhängen. Ihr langes Leben lang sind sie in der Schwebe, sie lehren sich selbst unehrbare und schwierige Dinge und zwingen sich dazu; und wo die Mühe ohne Lohn ist, da peinigt sie die fruchtlose Entehrung, und sie trauern nicht über das Schlechte selbst, sondern darüber, es vergebens gewollt zu haben. Dann ergreift sie auch Reue über das schon Begonnene und Ängstlichkeit, etwas Neues zu beginnen, und es beschleicht sie jenes Schwanken der Seele, die keinen Ausweg findet, weil sie ihren Begierden weder zu gebieten, noch nachzugeben die Kraft hat, und jenes Zaudern eines sich nicht entfaltenden Lebens, und die Stumpfheit eines unter vereitelten Wünschen erstarrenden Gemüts. Das alles wird noch ärger, wenn sie aus Verdruß über Mißgeschick bei ihrer Tätigkeit ihre Zuflucht zu einem müßigen Leben nehmen und zu einsamen Studien, worein sich ihr zu öffentlichen Geschäften angeregtes, tatenlustiges und von Natur unruhiges Gemüt nicht finden kann, da es nämlich in sich selbst zu wenig Trostmittel hat; wenn daher der Reiz entschwunden ist, den die Geschäfte und das Hin- und Herlaufen gewähren, so kann er das Haus und die Einsamkeit in seinen vier Wänden nicht ertragen, und mit Widerwillen blickt er auf sich, wenn er sich selbst überlassen ist. Daher jener Überdruß und jenes Mißfallen an sich selbst, daher das Schwanken einer nirgends zur Ruhe kommenden Seele, die mit ihrer freien Zeit nichts Rechtes anzufangen weiß; ja wenn sie sich die Gründe ihrer Verstimmung zu gestehen schämen und das Ehrgefühl ihr Inneres foltert, so würgen sich ihre in einen engen Raum ohne Ausgang eingeschlossenen Leidenschaften einander selbst ab. Daher dann das Abhärmen und Hinwelken und die tausend Wogen eines unentschlossenen Gemüts, welches noch unerfüllte Hoffnungen in Spannung, Niedergeschlagenheit und Traurigkeit erhalten; daher jene Leute ihre Muße verwünschen und sich beklagen, daß sie nichts zu tun haben; daher ihr Neid, wenn andere emporkommen. Denn das heillose Nichtstun nährt die Scheelsucht, und man wünscht, daß alle gestürzt werden, weil man sich selbst nicht vorwärts bringen konnte; und aus dieser Abneigung gegen die Fortschritte anderer und der Verzweiflung an seinen eigenen zürnt dann das Gemüt auf sein Schicksal, klagt über den Weltlauf, zieht sich in die Verborgenheit zurück und brütet über seine eigene Bestrafung, unzufrieden und mißlaunig über sich selbst. Denn von Natur ist die menschliche Seele rührig und zur Tätigkeit geneigt; willkommen ist ihr jede Gelegenheit, sich anzuregen und von sich selbst abzuziehen, noch willkommener aber immer den unbedeutendsten Köpfen, die sich gern in Vielgeschäftigkeit aufreiben. Wie gewisse Geschwüre die Berührung und das Kratzen gern haben und wie der häßlichen Krätze alles Vergnügen macht, was sie reizt: nicht anders, möchte ich behaupten, gereicht solchen Seelen, in welchen die Leidenschaft wie böse Geschwüre zum Ausbruch gekommen sind, Anstrengung und Beunruhigung zum Vergnügen. Denn es gibt Dinge, die auch unserem Körper eine Art von schmerzlichem Genuß bereiten, z. B. sich umzuwenden auf die noch nicht ermüdete Seite und sich bald diese, bald jene Stellung zu geben. Wie Achilles bei Homer, der, bald vor-, bald rückwärts gebeugt, sich selbst in verschiedene Lagen bringt, wie es den Kranken eigen ist, daß sie nichts lange zu ertragen vermögen und Veränderungen als Heilmittel betrachten. Daher werden unstäte Reisen unternommen und Meeresküsten durchwandert, und der Wankelmut, stets dem Gegenwärtigen abhold, versucht sich bald zur See, bald zu Lande. Jetzt nach Campanien! – bald ist die liebliche Gegend zum Ekel geworden. Unkultivierte Länder wollen wir besehen: die bruttischen und lucanischen Waldgebirge wollen wir durchstreifen; etwas Angenehmes wird doch in jenen Wüsteneien zu finden sein, woran die verwöhnten Augen von dem Anblick so schauerlicher Gegenden sich erholen können. Tarent laß uns aussuchen und seinen gepriesenen Hafen, zum Winteraufenthalt unter milderem Himmel, eine Gegend, die selbst für ihre alte Bevölkerung reich genug ist Tarent hatte in früheren Zeiten eine weit größere Einwohnerzahl.. Jetzt wieder nach Rom! schon zu lange hörten unsre Ohren nichts von seinem Beifallklatschen und Gelärme; auch möchte man sich wieder einmal an Menschenblut ergötzen. So unternimmt man eine Reise nach der andern, und Schauspiele wechseln mit Schauspielen, wie Lukretius sagt: Also flieht vor sich selbst beständig ein jeder. Aber was hilft es, wenn er sich nicht entfliehen kann?. Er selbst folgt sich nach als der lästigste Begleiter. Nicht an den Orten liegt der Fehler, sondern in uns selbst. Wir sind zu kraftlos, um irgend etwas zu erdulden, und können weder Anstrengung noch Freudengenuß, weder Eigenes, noch Fremdes lange ertragen. Manche hat der Umstand in den Tod getrieben, daß sie bei öfterer Änderung ihrer Vorsätze wieder auf eben dieselben zurückgerieten und keinen Raum für etwas Neues hatten. Da fing ihnen das Leben und die Welt selbst zum Ekel zu werden an; und da kommt dann jener Gedanke rasender Genußsucht: »Wozu das ewige Einerlei?«
3. Du fragst, welches Heilmittel meiner Ansicht nach gegen solchen Lebensüberdruß anzuwenden sei? Das Beste wäre, wie Athenodorus sagt, sich mit amtlichen Verrichtungen, Staatsverwaltung und bürgerlichen Dienstleistungen zu beschäftigen. Denn, wie manche in der Sonnenhitze und mit Übungen und Pflege des Körpers den Tag hinbringen und wie es für die Athleten das Allernützlichste ist, ihre Arme und ihre Kraft, der sie sich allein gewidmet haben, den größten Teil ihrer Zeit über zu stärken: ist es nicht so auch für uns, die wir unsern Geist auf den Kampf des bürgerlichen Lebens vorbereiten, das Allerbeste, in steter Tätigkeit zu sein? Denn hat einer einmal den Vorsatz gefaßt, sich seinen Mitbürgern und der Menschheit überhaupt nützlich zu machen, so gewinnt er ja zugleich Übung und Fortschritt, wenn er sich mitten in das Geschäftsleben versetzt und öffentliche wie Privatgeschäfte nach besten Kräften verwaltet. Weil aber, sagt er weiter, bei dem so unsinnigen Ehrgeize der Menschen, indem so viele Rabulisten das Rechte zum Schlimmsten verdrehen, die schlichte Einfalt nicht gar sicher ist und sich immer mehr Hinderndes als Förderndes findet, so muß man sich vom Markte und vom öffentlichen Leben zurückziehen; eine große Seele aber findet auch im Privatleben genug Gelegenheit, sich frei zu entwickeln, und bei Menschen, deren Tätigkeit zumeist in der Zurückgezogenheit sich äußert, ist es nicht wie bei den Löwen und wilden Tieren, deren Kraftdrang durch einen Käfig gehemmt wird. Sie muß sich jedoch nur so weit zurück halten, daß sie, wo sich auch ihr stilles Wirken verborgen hat, sowohl den Einzelnen als dem Ganzen, durch Talent, Wort und Rat zu nützen entschlossen sei. Denn nicht bloß der ist dem Staate nützlich, der Amtsbewerber hervorzieht, Angeklagte in Schutz nimmt, und über Krieg und Frieden seine Stimme abgibt; wer die Jugend ermuntert, wer bei dem so großen Mangel guter Lehrer die Herzen in der Tugend unterweist, wer die dem Gelde und der Üppigkeit Nachrennenden ergreift, zurückzieht oder wenigstens aufhält: der wirkt auch als Privatmann für das Ganze. Oder leistet der, welcher unter Fremden und Bürgern oder als Stadtprätor den Parteien Recht spricht, mehr als derjenige, der lehrt, was Gerechtigkeit, was Frömmigkeit, was Geduld, was Charakterstärke, was Todesverachtung, was Göttererkenntnis, was für eine herrliche Sache ein gutes Gewissen sei? Wenn du also deine Zeit solchen Studien widmest, so wirst du ebensoviel nützen, als wenn du ein öffentliches Amt verwaltetest. Leistet ja doch auch nicht bloß derjenige Kriegsdienste, der in der Schlachtreihe steht und den rechten oder linken Flügel verteidigt, sondern auch der, welcher die Tore beschützt und auf einem, wenn auch minder gefährlichen, doch keineswegs unnötigen Posten steht und Wache hält und dem Zeughaus vorgesetzt ist: lauter Dienstleistungen, die, wenn sie auch kein Blut kosten, dennoch bei den Jahren des Kriegsdienstes mit in Rechnung kommen. Ziehst du dich zu den Studien zurück, so wirst du jedem Überdruß am Leben entgehen und nicht aus Ekel am Tageslicht wünschen, daß es Nacht werde; du wirst weder dir selbst zur Last fallen, noch dich andern überflüssig machen; viele wirst du zur Freundschaft heranziehen und die Besten werden dir zuströmen. Denn nie bleibt die auch im Dunkel geübte Tugend verborgen, sie hat ihre Erkennungszeichen, und wer ihrer würdig ist, findet ihre Spuren. Freilich, wenn wir allen Umgang aufheben, dem Menschengeschlecht entsagen, und nur in uns selbst hineingekehrt leben, so wird dieser alles Strebens baren Einsamkeit die Gelegenheit zur Tätigkeit fehlen. Wir werden anfangen, hier ein Gebäude zu errichten, dort eins einzureißen, das Meer zurückdrängen und Wasser trotz aller Terrainschwierigkeiten herleiten und schlecht haushalten mit der Zeit, die uns die Natur gibt. Einmal geizen wir mit ihr, ein andermal verschwenden wir sie; teils wenden wir sie so an, daß wir Rechenschaft davon geben können, teils so, daß wir nichts davon übrig behalten, was am schlimmsten ist. Oft hat ein hochbejahrter Greis keinen andern Beweis, wodurch er zeigen kann, lange gelebt zu haben, als eben die Zahl seiner Jahre.
Mir, mein teuerster Serenus, scheint Athenodorus den Zeitverhältnissen zu viel nachgegeben und zu schnell sich zurückgezogen zu haben. Ich will nicht leugnen, daß man zuweilen zurückgehen müsse, aber nur allmählich, schrittweise, so daß man seine Fahnen und seine Kriegsehre rettet. Sicherer ist den Feinden gegenüber, wer mit den Waffen zum Unterhandeln kommt. So, glaube ich, muß die Tugend verfahren, und wer sich ihrer befleißigt. Wenn aber das Schicksal übermächtig ist und die Gelegenheit zum Handeln abschneidet, so darf man nicht sogleich den Rücken kehren und wehrlos entfliehen, einen Schlupfwinkel suchend, als ob es irgend einen Ort gebe, wohin uns das Schicksal nicht verfolgen könne, sondern man muß sich nur spärlicher in Geschäfte einlassen, und man wird schon bei gehöriger Auswahl etwas finden, worin man dem Staate nützen kann. Ist einem nicht gestattet, Kriegsdienste zu tun, so sehe er sich nach Ehrenstellen um. Muß einer als Privatmann leben, so sei er ein Redner. Ist ihm Schweigen auferlegt, so helfe er seinen Mitbürgern als stummer Anwalt. Erscheint ihm selbst das Betreten des Forums gefährlich, so sei er in Häusern, in Theatern, bei Gastmählern ein guter Kamerad, ein treuer Freund, ein Maß haltender Tischgenosse. Hat er die Wirksamkeit des Bürgers verloren, so übe er die des Menschen. Deshalb haben wir uns in großherziger Gesinnung nicht in die Mauern einer einzigen Stadt eingeschlossen, sondern uns zum Verkehr mit dem ganzen Erdkreis hinausbegeben und die ganze Welt für unser Vaterland erklärt, um für die Tugend einen weiteren Spielraum zu gewinnen. Ist dir die Richtertribüne verschlossen, und wirst du von der Rednertribüne und den Volksversammlungen entfernt gehalten, so schaue hinter dich, wie viele der Landstriche dir aufgetan sind, wie zahlreiche Völkerschaften. Es wird dir niemals ein so großer Teil derselben verbaut sein, daß dir nicht noch ein größerer übrig bliebe. Doch siehe zu, daß dies nicht ganz deine eigene Schuld sei. Du willst vielleicht den Staat nicht anders verwalten denn als Konsul oder als Prytane oder als Ceryx oder als Sufes Lauter Namen der höchsten Staatsbeamten bei verschiedenen Völkern. Was in Rom der Konsul, war bei den Atheniensern der Prytane, bei den Karthagern der Sufes. Unter dem Ceryx versteht Seneca unstreitig das Oberhaupt solcher Staaten, in denen der Oberpriester zugleich die höchste Magistratsperson war.. Wie? ist das nicht gerade so, wie wenn du nur als Feldherr oder Oberst Kriegsdienste tun wolltest? Wenn auch andere das vorderste Glied einnehmen, und dich das Los ins dritte Glied gestellt hat, so diene da mit deinem Worte, deiner Aufmunterung, deinem Beispiel, deinem Mute. Auch nachdem ihm die Hände abgehauen sind Eine Anspielung auf den Athener Cynägyrus, der in der Schlacht bei Marathon ein fliehendes feindliches Schiff erst mit beiden Händen und als diese abgehauen worden waren, mit den Zähnen packte., findet einer noch Mittel, seiner Partei im Treffen zu nützen. Etwas dergleichen tue auch du: wenn dich das Schicksal von der ersten Stelle im Staate entfernt hält, so bleibe doch stehen und hilf durch dein Schreien; und selbst wenn dir einer die Kehle zusammenpreßt, so bleibe doch stehen und hilf durch dein Schweigen. Nie ist der Dienst eines guten Bürgers ohne Nutzen; er nützt schon, wenn man ihn nur hört oder sieht, durch seine Miene, seinen Wink, durch schweigende Hartnäckigkeit, selbst durch seinen Gang. So, wie manche Heilkräuter, die, ohne gekostet oder berührt zu werden, durch den bloßen Geruch nützen: so ergießt die Tugend auch aus der Ferne und verborgen ihre Segnungen, möge sie sich nun frei ergehen oder nur schüchtern sich zeigen dürfen, mag sie die Segel einzuziehen gezwungen sein, mag sie tatlos und stumm und in einen engen Kreis eingeschlossen sein oder offenen Spielraum haben: in jeder Lage schafft sie Nutzen. Wie? glaubst du, daß das Beispiel eines in edler Ruhe Lebenden wenig nütze? Daher ist es das Allerbeste, Tätigkeit abwechseln zu lassen mit Ruhe, so oft ein tätiges Leben durch zufällige Hindernisse oder die Verhältnisse im Staate gehemmt wird. Denn nie ist alles so ganz abgeschnitten, daß für keine edle Handlung mehr Raum wäre. Kann man einen beklagenswerteren Staat finden, als der der Athenienser war, da die dreißig Tyrannen an ihm herumrissen? Dreizehnhundert Bürger, die Edelsten, hatten sie ermordet und machten darum doch kein Ende, sondern ihre Grausamkeit steigerte sich immer mehr. Und in dem Staate, wo ein Areopag war, der ehrwürdigste Gerichtshof, wo ein Senat war und ein dem Senate ähnliches Volk, da versammelte sich täglich jenes schreckliche Henkerkollegium und die unglückselige Curie war zu eng für die Tyrannen. Konnte jener Staat in Ruhe bleiben, in dem es so viele Tyrannen gab, als Trabanten vorhanden waren Die im J. 404 v. Chr. in Athen herrschenden 30 Tyrannen hielten 3000 Trabanten.? Auch nicht einmal eine Hoffnung, die Freiheit wieder zu erlangen, konnten die Gemüter hegen, und einer solchen Masse von Elend gegenüber zeigte sich keine Aussicht zu irgendeiner Abhilfe; denn woher sollten dem unglücklichen Staate so viele Harmodius Harmodius und Aristogiton hatten 110 Jahre früher im Jahre 514 den Hipparchus, den Sohn des Pisistratus, getötet und dadurch den Grund dazu gelegt, Athen von dieser Tyrannenherrschaft zu befreien. kommen? Sokrates jedoch lebte in dessen Mitte, tröstete die trauernden Väter, ermunterte die an der Republik Verzweifelnden, warf den für ihre Schätze fürchtenden Reichen die zu späte Reue über ihre gefährliche Habsucht vor und stellte allen, die ihm nachahmen wollten, ein herrliches Muster auf, indem er unter dreißig Herrschern als ein freier Mann einherschritt. Diesen hat jedoch Athen selbst im Kerker getötet, und die Freiheit konnte nicht die Freiheit des Mannes ertragen, welcher der ganzen Tyrannenschar getrotzt hatte. Hieraus magst du lernen, daß auch in einem bedrängten Staate ein weiser Mann Gelegenheit hat, sich auszuzeichnen, und daß m einem blühenden und glücklichen das Geld, der Neid und tausend andere Fehler auch ohne Waffen die Herrschaft führen. Je nachdem sich also der Staat gestaltet, je nachdem das Geschick es gestattet, darnach werden wir unsere Tätigkeit entweder ausdehnen oder beschränken, jedenfalls aber uns in Bewegung erhalten und nicht, von Furcht gefesselt, untätig sein. Der ist ein wahrer Mann, der, wenn ihn auch Gefahren rings umdrohen, wenn Waffen und Ketten um ihn her klirren, seine Tugend nicht scheitern läßt, noch sich verkriecht. Denn sich vergraben heißt nicht sich erhalten. Curius Dentatus, glaube ich, war es, welcher sagte, »er wolle lieber ein Toter sein, als wie ein Toter leben«. Das größte aller Übel ist, aus der Zahl der Lebenden zu scheiden, ehe man stirbt. Ist dein Leben in eine Periode des Staats gefallen, wo sich wenig für ihn tun läßt, so muß es deine Aufgabe sein, dich mehr der Muße und den Wissenschaften hinzugeben, gerade so, wie du bei einer gefahrvollen Schiffahrt zur rechten Zeit dem Hafen zusteuerst und nicht wartest, bis die Umstände dich loslassen, sondern dich selbst von ihnen losreißest.
4. Zuerst aber müssen wir den Blick auf uns selbst werfen, sodann auf die Geschäfte, die wir beginnen wollen, endlich auf die, für welche oder mit welchen wir zu wirken haben. Vor allem aber ist es nötig, sich selbst zu prüfen, weil wir gewöhnlich mehr zu können glauben, als wir wirklich können. Der eine fällt im Vertrauen auf seine Beredtsamkeit; der andere mutet seinem Vermögen mehr zu, als es aushalten kann; ein dritter richtet seinen schwächlichen Körper durch übermäßige Anstrengung zugrunde. Manche eignen sich nicht zu öffentlichen Geschäften, weil sie zu schüchtern sind; sie erfordern eine eiserne Stirn. Andere wieder passen nicht an den Hof wegen ihrer Unbeugsamkeit. Manche haben den Zorn nicht in ihrer Gewalt, und jeder Unwille reißt sie zu unbesonnenen Worten hin. Manche wissen ihren Witz nicht zu beherrschen und enthalten sich nicht gefährlicher Spöttereien. Für diese alle ist Ruhe nützlicher als ein Geschäftsleben. Eine heftige und ungeduldige Natur muß den Versuchungen einer Freiheit, die schädlich werden kann, aus dem Wege gehen.
5. Sodann muß man das prüfen, worauf man sich einläßt, und seine Kräfte mit den Gegenständen vergleichen, an die man sich wagen will. Denn immer muß der Bewegende mehr Kraft haben als die Last; Lasten, die größer sind als ihr Träger, müssen ihn notwendig zu Boden drücken. Überdies sind manche Geschäfte nicht sowohl groß, als vielmehr folgenreich und machen sehr viel zu schaffen, und dergleichen muß man vermeiden, woraus eine neue und vielfache Beschäftigung entspringen wird. Auch muß man nichts anfangen, wovon der Rücktritt nicht freisteht; nur da muß man Hand anlegen, wo man das Ende entweder herbeiführen oder wenigstens hoffen kann. Was sich während der Arbeit weiter ausdehnt und nicht aufhören will, wo das Ende bestimmt war, das laß gehen.
6. Jedenfalls ist auch eine Auswahl der Personen zu treffen und zu fragen, ob sie es wert sind, daß wir ihnen einen Teil unseres Lebens opfern, ob ihnen der Verlust unserer Zeit auch wirklich zugute kommt. Denn manche bringen uns unsere Dienstleistungen noch obendrein in Rechnung, als ob wir ihnen noch zu Dank verpflichtet wären, daß sie sich von uns Dienste erweisen lassen. Athenodorus sagt: er möge nicht einmal zu Tische gehen bei einem, der ihm dafür keinen Dank wisse. Du siehst, glaube ich, ein, daß er noch viel weniger zu solchen gegangen sein würde, die ihrem Tische gleichen Wert mit Freundesdiensten beilegen und die Gänge ihrer Mahlzeit als Geschenke anrechnen, als ob sie andere dadurch ehrten, daß sie Aufwand machten. Nimm ihnen Zeugen und Zuschauer, und ihre Küche wird ihnen kein Vergnügen mehr machen, wenn niemand davon weiß. Auch das ist zu erwägen, ob deine Natur fürs Geschäftsleben oder für ruhiges Studium und Nachdenken geeigneter ist, und dahin mußt du dich neigen, wohin dich die Kraft deines Talents führen wird. Isokrates führte den Ephorus mit Gewalt vom Forum hinweg, weil er glaubte, daß er zur Abfassung von Geschichtswerken tauglicher sei. Erzwungene Geistesarbeit ist wertlos; eine Arbeit, die dir nicht gemäß ist, hat keinen Wert.
7. Nichts jedoch erquickt den Geist so sehr wie treue und innige Freundschaft. Welch' ein Glück ist es, wenn dir Herzen bereitet sind, in welchen jedes Geheimnis sicher verborgen ist, deren Mitwissen du weniger zu fürchten hast als dein eigenes, deren Wort keinen Kummer lindert, deren Ausspruch dir Rat bringt, deren Heiterkeit deine Traurigkeit verscheucht, deren Anblick schon dich erfreut? Dazu nun wollen wir solche wählen, die, so viel nur irgend möglich, frei von Leidenschaften sind. Denn die Laster schleichen, springen auf den nächsten Besten über und schaden schon durch Berührung. Wie man daher bei der Pest dafür sorgen muß, daß man sich nicht zu Personen setzt, die schon von der Krankheit ergriffen sind, weil wir da Gefahr laufen und durch das bloße Anhauchen leiden können: so müssen wir uns auch bei der Wahl unserer Freunde Mühe geben, daß wir nur solche nehmen, die so wenig als möglich mit Lastern behaftet sind. Gesundes mit Krankhaftem zu vermischen, ist der Anfang der Krankheit; doch will ich dir damit nicht die Vorschrift geben, du solltest keinem nachgehen oder an dich ziehen, als einen Weisen; denn wo wirst du den finden, den wir schon so viele Jahrhunderte lang suchen? Der am wenigsten Schlimme muß für den Besten gelten. Du würdest kaum Gelegenheit zu einer glücklichen Wahl finden, wenn du unter lauter Platonen und Xenophonten und jenem Nachwuchs sokratischer Zucht die Guten aufsuchen dürftest, oder wenn dir Catos Zeitalter zu Gebote stünde, das sehr viele hervorbrachte, die wert waren, in Catos Jahrhundert geboren zu sein, aber ebenso auch viele Schlechtere, als zu irgend einer andern Zeit lebten, und Urheber der größten Schandtaten. Denn beide Klassen von Leuten waren nötig, damit Cato verstanden werden konnte; er mußte ebensowohl treffliche Menschen haben, deren Beifall er sich erwerben konnte, als schlechte, an denen er seine Kraft zu erproben vermochte. Jetzt aber, bei einem solchen Mangel an Guten, wird wohl die Wahl etwas weniger bedenklich sein müssen. Besonders jedoch vermeide man Mürrische, die alles bejammern, denen jede Veranlassung zu Klagen willkommen ist. Mag ein solcher auch beständig sein in Treue und Wohlwollen, als ein stets beunruhigter und alles beseufzender Gefährte ist er doch ein Feind unserer Ruhe.
8. Laß uns nun zu den Vermögensverhältnissen übergehen, der reichsten Quelle menschlicher Mühsal. Denn, wenn du alles andere, wodurch wir geängstigt werden, Todesfälle, Krankheiten, Befürchtungen, Wünsche, Schmerzen und Mühen mit den Übeln vergleichst, die uns das Geld verursacht, so wird der letztere Teil den ersteren weit überwiegen. Daher muß man bedenken, wie viel geringer der Schmerz ist, nichts zu haben, als zu verlieren, und wir werden einsehen, daß bei der Armut um so weniger Verdruß ist, je weniger sie verlieren kann. Denn du bist im Irrtum, wenn du glaubst, daß die Reichen ihre Verluste mutiger ertrügen; den größten und den kleinsten Körpern macht eine Wunde gleichen Schmerz. Sehr fein sagt Bion: »es sei den Kahlköpfigen ebenso unangenehm wie den Starkbehaarten, wenn ihnen Haare ausgerissen würden.« Dasselbe gilt von den Armen und Reichen: ihre Qual ist gleich; denn beiden ist ihr Geld ans Herz gewachsen und kann nicht ohne schmerzliche Empfindung davon losgerissen werden. Erträglicher jedoch und leichter ist es, wie ich schon sagte, etwas gar nicht bekommen, als es verlieren; daher wirst du diejenigen vergnügter sehen, die das Glück nie berücksichtigt hat, als die, welche es verlassen hat. Das hat Diogenes, ein Mann von außerordentlichem Geiste, eingesehen, und er hat dafür gesorgt, daß ihm nichts entrissen werden konnte. Nenne dies Armut, Mangel, Dürftigkeit, lege diesem sicheren Zustande jeden schmachvollen Namen bei, den du nur willst: ich werde erst dann glauben, er sei nicht glücklich, wenn du mir einen andern aufgefunden hast, dem nichts verloren gehen kann. Entweder ich irre, oder es ist königlich, unter Geizigen, Betrügern, Räubern und Dieben der einzige zu sein, dem nicht zu schaden ist. Wer am Glücke des Diogenes zweifelt, der kann auch an dem Zustande der unsterblichen Götter zweifeln, ob sie etwa nicht glücklich genug leben, weil sie keine Landgüter und Gärten, keine durch fremde Pflanzer kostspielige Ländereien, keine großen, auf dem Forum wuchernde Kapitalien besitzen. Schämst du dich nicht, wer du auch seist, der du Reichtümer anstaunst? Ei, so blicke doch in das Weltall; ohne Besitz wirst du die Götter sehen, die alles geben, nichts besitzen. Hältst du den für arm oder nicht vielmehr den unsterblichen Göttern ähnlich, der sich aller zufälligen Dinge entledigt? Nennst du den Pompejaner Demetrius deshalb glücklicher, weil er sich nicht schämte, reicher als Pompejus zu sein? Täglich wurde ihm die Zahl seiner Sklaven wie einem Feldherrn die seines Heeres gemeldet, während schon zwei Untersklaven Bei dem Herrn beliebte Sklaven hatten nicht selten wieder andere Sklaven zu ihrer Bedienung, und diese hießen vicarii. und ein etwas geräumigeres Bedientenzimmer Reichtum genug für ihn hätte sein sollen. Dem Diogenes aber entlief sein einziger Sklave, und er hielt es nicht der Mühe wert, ihn zurückzuholen, als man ihm denselben zeigte. »Es wäre ja eine Schande, sagte er, wenn Manes ohne den Diogenes leben könnte, Diogenes aber nicht ohne den Manes.« Es scheint mir, er habe sagen wollen: »Tue, was du willst, Schicksal; bei Diogenes hast du nichts mehr zu suchen. Es ist mir ein Sklave entlaufen? Nein, er ist als Freier davongegangen. Die Sklaven verlangen Kleidung und Unterhalt; so viele Magen der gefräßigsten Tiere wollen versorgt sein; man muß ihnen Kleider kaufen, ihre diebischen Hände bewachen und sie ihre Dienste unter Heulen und Verwünschungen verrichten sehen. Wie viel glücklicher ist der, der keinem irgend etwas zu verdanken hat, außer sich selbst, dem er es am leichtesten versagen kann!« Doch weil wir nun einmal solche Stärke nicht besitzen, so müssen wir wenigstens unser Vermögen beschränken, damit wir den Schlägen des Schicksals weniger ausgesetzt sind. Tauglicher zum Kriege sind Körper, die sich in ihre Rüstung schmiegen können als solche, die darüber hinaus reichen und die ihre Größe von allen Seiten her den Wunden bloßstellt. Das beste Vermögensverhältnis ist das, welches weder bis zur Armut herabsinkt, noch weit von Armut entfernt ist.
9. Dieses Maß aber wird uns gefallen, wenn wir vorher schon an der Sparsamkeit Gefallen gefunden haben, ohne welche kein Reichtum genügt, noch groß genug ist, besonders da das Hilfsmittel in der Nähe ist, und die Armut sich in Reichtum verwandeln kann, wenn man die Mäßigkeit zu Hülfe ruft. Gewöhnen wir uns, allen Prunk von uns zu entfernen und die Dinge nach ihrem Nutzen, nicht nach ihrer Zierde zu schätzen. Die Speise werde Herr über den Hunger, der Trank über den Durst, die Sinnenlust nehme ihren Lauf, so weit es nötig ist. Lernen wir unsere Glieder kräftig gebrauchen, Kleidung und Nahrungsmittel nicht nach den Beispielen der Mode einrichten, sondern wie es die Sitten der Vorfahren raten. Lernen wir die Enthaltsamkeit steigern, die Üppigkeit beschränken, den Gaumen beherrschen, den Jähzorn besänftigen, die Armut mit gleichgültigen Blicken betrachten, die Mäßigkeit ehren (auch wenn wir uns schämen, für die natürlichen Bedürfnisse wohlfeil erworbene Mittel zu verwenden), ungezügelte Hoffnungen und das in die Zukunft hinausstrebende Gemüt gleichsam in Fesseln halten und darauf denken, daß wir den Reichtum mehr von uns selbst als vom Glücke fordern. Nie kann die große Wandelbarkeit und Unbilligkeit des Schicksals in dem Grade abgewendet werden, daß nicht, wenn wir große Segel ausspannen, viele Stürme auf sie hereinbrechen sollten; man muß sich ins Enge ziehen, damit die Geschosse des Schicksals unwirksam vorbeifliegen. Daher sind Verbannung und Unglücksfälle bisweilen zu Heilmitteln ausgeschlagen und durch kleinere Widerwärtigkeiten größere beseitigt worden, wo die Seele auf Vorschriften nicht hörte und durch mildere Mittel sich nicht heilen ließ. Warum sollte es nicht rätlich sein, auch Armut, Schmach und Vernichtung des Wohlstandes als Mittel anzuwenden? Ein Übel muß das andere vertreiben. Gewöhnen wir uns also, daß wir unsere Mahlzeit ohne große Gesellschaft halten können, uns von wenigen Sklaven bedienen lassen, Kleider zu dem Zwecke anschaffen, zu dem sie erfunden sind, daß wir in einer engern Behausung wohnen können. Nicht nur beim Lauf und Wettrennen im Zirkus, sondern auch auf dieser Lebensbahn muß man einlenken können. Auch der Aufwand für wissenschaftliche Studien, der noch der edelste ist, hat nur so lange Berechtigung, als er vernünftiges Maß hält. Wozu unzählige Bücher und Bibliotheken, deren Besitzer sein ganzes Leben lang kaum die Titelverzeichnisse durchlieft? Ihre Menge belästigt den Lernenden, statt ihn zu unterrichten, und viel besser ist es, wenn du dich wenigen Schriftstellern hingibst, als wenn du unter vielen herumirrst. Viermalhunderttausend Bücher verbrannten zu Alexandria. Ein anderer mag das loben als das schönste Denkmal königlichen Reichtums, wie z. B. Livius, welcher sagt, »es sei dies ein herrliches Werk des Geschmacks und der Fürsorge der Könige gewesen.« Das war kein Geschmack, keine Fürsorge, sondern wissenschaftliche Prachtliebe, ja, nicht einmal wissenschaftliche, da sie jene Bibliothek nicht der Wissenschaft zu Liebe, sondern zur Schaustellung zusammengebracht hatten, so wie sehr viele, die nicht einmal so viel wissen wie manche Sklaven, die Bücher nicht als Hilfsmittel für Studien, sondern nur als Zierden ihrer Speisesäle betrachten. Man schaffe sich daher so viele Bücher an, als genug sind, aber keines des bloßen Prunkes wegen. Anständiger, sagst du, ist doch immer dieser Aufwand, als wenn sie das Geld für korinthische Gefäße und Gemälde verschwendet hätten. Was zu viel ist, ist immer vom Übel. Welchen Grund hast du, einem Menschen zu verzeihen, der nach Schränken von Zedernholz und Elfenbein angelt, der die Gesamtwerte unbekannter und verrufener Schriftsteller zusammensucht und mitten unter so vielen tausend Büchern gähnt, der seine Hauptfreude an den Rücken- und Titelschildern seiner Bücher hat? Du kannst gerade bei den geistlosesten Menschen alles finden, was von Reden und Geschichtwerken vorhanden ist, und bis an die Decke aufgetürmte Bücherschränke. Schon wird in Badezimmern und Prachtbädern eine Bibliothek als notwendige Zierde des Hauses glänzend hergerichtet. Ich würde das gelten lassen, wenn es aus übertriebener Liebe für die Wissenschaften entspränge: so aber werden jene auserlesenen und mit den Bildnissen ihrer Verfasser gezierten Werke der ehrwürdigsten Geister nur zum Schein und zum Schmuck der Wände angeschafft.
10. Setzen wir den Fall, du seist in irgend eine mißliche Lage des Lebens geraten und es habe dir, ohne daß du es wußtest, das Schicksal entweder in öffentlichen oder in häuslichen Angelegenheiten eine Schlinge gelegt, die du weder lösen, noch zerreißen kannst. Bedenke, daß Gefesselte ihre Last und die Hemmnisse ihrer Füße anfangs schwer ertragen, hernach aber, wenn sie sich vorgesetzt haben, darüber nicht entrüstet zu sein, sondern es zu dulden, so lehrt sie die Notwendigkeit, es mit Kraft, die Gewohnheit, es mit Leichtigkeit ertragen. Bei jeder Lebensweise wirst du Ergötzlichkeiten, Erholungen und Vergnügungen finden, wenn du anders dein Leben nicht lieber für ein unglückliches halten, als beneidenswert machen willst. In keiner Hinsicht hat sich die Natur um uns mehr verdient gemacht als dadurch, daß sie, wohl wissend, zu welchen Drangsalen wir geboren werden, als Linderungsmittel unserer Unfälle die Gewohnheit erfunden hat, die uns schnell mit dem Schwersten vertraut macht. Niemand würde aushalten, wenn die Fortdauer des Unglücks dieselbe Kraft hätte wie der erste Schlag. Wir alle sind ans Schicksal gefesselt: die Kette der einen ist von Gold und weit, die der andern kurz und rostig. Aber was liegt daran? Derselbe Gewahrsam umgibt alle und angefesselt sind selbst die, welche andere angefesselt haben; du müßtest denn etwa die Kette an der Linken für leichter halten Bei den Römern waren der sicheren Bewachung wegen die Wachen mit den Gefangenen zusammen gekettet. Der Gefangene trug die Kette an der rechten, die Wache dieselbe Kette an der linken Hand.. Den einen fesseln Ehrenstellen, den andern Reichtümer; manche drückt die vornehme Geburt, manche die Niedrigkeit; manchen hängt fremde Herrschaft über dem Haupte, manchen die eigene. Manche hält Verbannung, manche ein Priesteramt Die Flamines oder Priester einer bestimmten Gottheit und eines bestimmten Tempels (z. B. des Jupiter, des Mars, des Quirinus) durften keine Nacht außerhalb ihres Wohnorts zubringen. immer an demselben Orte. Das ganze Leben ist eine Knechtschaft. Deshalb muß man sich an seine Lage gewöhnen und so wenig als möglich darüber klagen, was sie aber angenehmes an sich hat, ergreifen. Nichts ist so bitter, daß ein gelassenes Gemüt nicht einen Trost dabei fände. Kleine Bezirke haben oft durch die Kunst des Verteilens vielen Raum gewährt, und geschickte Anordnung hat oft ein fußbreites Stück Land bewohnbar gemacht. Rechne mit den Schwierigkeiten; auch das Harte läßt sich erweichen, das Enge erweitern, und das Schwere drückt einen, der es geschickt trägt, weniger. Außerdem darf man den Begierden nicht ins Weite hinausschweifen, sondern nur in die Nähe hinaustreten lassen, weil sie sich nun einmal nicht ganz einschließen lassen. Geben wir auf, was entweder gar nicht oder nur schwierig ausgeführt werden kann, und halten wir uns an das Naheliegende und unsern Hoffnungen Entgegenkommende, und bedenken dabei, daß alles gleich unbedeutend ist, von außen zwar verschiedene Gestalten zeigt, von innen aber gleich nichtig ist. Auch wollen wir die Höherstehenden nicht beneiden: wo große Höhe ist, da ist auch jähe Tiefe. Jene dagegen, die ein ungünstiges Geschick auf einen bedenklichen Platz gestellt hat, werden sicherer sein, wenn sie den an sich stolzen Verhältnissen den Stolz benehmen und ihr Schicksal so viel als möglich aufs Ebene herabheben. Viele zwar gibt es, die sich notgedrungen auf ihrem hohen Standpunkte halten müssen, von dem sie nicht anders als im Sturze herabkommen können: aber sie werden auch bezeugen, das eben sei ihre größte Last, daß sie andern lästig zu fallen gezwungen werden, und nicht in die Höhe gehoben, sondern in die Höhe gebannt sind. Durch Gerechtigkeit, durch menschenfreundliche Milde, durch wohlwollende Freigebigkeit mögen sie sich viele Hilfsmittel zu einem glücklichen Herabkommen bereiten, so daß sie in ihrer schwebenden Lage sorgloser sein können. Nichts jedoch wird uns in gleichem Grade vor diesen Wogen der Seele sicher stellen, als wenn wir ihrem Steigen immer ein gewisses Ziel setzen, und es nicht der Willkür des Schicksals überlassen, ihnen ein Ende zu machen; sondern sie sollen sich selbst mahnen, noch weit vor dem äußersten stehen zu bleiben. So werden auch manche Begierden den Geist schärfen; aber sie müssen eine Grenze haben und ihn nicht ins Maß- und Ziellose fortreißen.
11. Diese meine Worte sind an die noch Unvollkommnen, nur mittelmäßig Gebildeten und Geistesschwachen, nicht an den Weisen gerichtet. Dieser braucht nicht ängstlich und Schritt vor Schritt zu wandeln; denn er besitzt soviel Selbstvertrauen, daß er nicht Bedenken trägt, dem Schicksal entgegenzutreten, dem er nie das Feld räumen wird; und er braucht es nicht zu fürchten, weil er nicht bloß Sklaven, Besitztümer und Ehrenstellen, sondern auch seinen Körper, seine Augen und Hände und alles, was das Leben teurer machen kann, und auch sich selbst unter die vom Zufall abhängigen Dinge rechnet und so lebt, als sei er sich selbst nur geliehen und müsse sich ohne Murren zurückgeben, wenn man ihn zurückfordert. Doch ist er deshalb in seinen Augen nicht wertlos, weil er weiß, daß er nicht sich selbst gehört; sondern er wird alles so sorgfältig und umsichtig tun, wie ein gewissenhafter und unsträflicher Mann das seiner Treue Anvertraute zu behüten pflegt. Jederzeit jedoch, wo der Befehl an ihn ergehen wird, sich zurückzugeben, wird er nicht gegen das Schicksal Klage erheben, sondern sprechen: »Ich danke für das, was ich in Besitz bekommen und gehabt habe. Zwar habe ich dein Besitztum um großen Pachtzins bebaut, doch, weil du es befiehlst, gebe ich es zurück und weiche dankbar und willig. Solltest du wollen, daß ich noch etwas von dir behalte, so will ich's auch jetzt noch bewahren; gefällt dir's anders, so gebe ich das verarbeitete und geprägte Silber, mein Haus und meine Dienerschaft zurück und setze dich wieder in ihren Besitz.« Spricht uns die Natur um das an, was sie uns zu allererst geliehen hat, so wollen wir auch zu ihr sprechen: »Nimm zurück den Geist, edler, als du ihn gegeben hast; ich suche keine Ausflüchte und fliehe nicht. Da hast du, willig, was du gabst, ohne daß ich's merkte; nimm es hin!« Zurückzukehren, woher man gekommen ist, was ist denn daran Schweres? Schlecht lebt, der nicht gut zu sterben weih. Daher muß man vor allem dieser Sache ihren Wert entziehen und das Leben unter die Sklavendienste rechnen. »Wir nehmen es den Gladiatoren übel, sagt Cicero, wenn sie auf alle Art sich das Leben zu erhalten suchen; wir sind ihnen geneigt, wenn sie Verachtung desselben an den Tag legen.« Wisse, daß uns dasselbe begegnet; denn oft ist Todesfurcht gerade die Ursache des Todes. Dasselbe Schicksal, das sich mit uns ein Schauspiel bereitet, sagt zu dir: »Wozu soll ich dich aufsparen, du feiges und zitterndes Geschöpf? Um so mehr wirst du mit Wunden bedeckt und zerhauen werden, weil du deinen Nacken darzubieten unfähig bist. Du hingegen wirst nicht nur länger leben, sondern auch leichter sterben, der du das Schwert nicht mit zurückgezogenem Nacken, noch mit vorgehaltenen Händen, sondern mutvoll auffängst.« Wer den Tod fürchtet, wird nie etwas für den Lebenden tun: wer aber weih, daß es ihm sogleich bei seinem Entstehen so bestimmt gewesen, der wird danach leben, und es mit derselben Geistesstärke dahin bringen, daß ihm nichts von dem, was sich ereignet, unerwartet kommt. Denn eben dadurch, daß er alles, was geschehen kann, schon im voraus so ansieht, als ob es in der Tat geschehen werde, wird er den Anfall eines jeden Übels schwächen. Was den Vorbereiteten und Erwartenden nichts Neues bringt, kommt den Sorglosen und nur an Glück Denkenden sehr ungelegen. Denn Krankheit, Gefangenschaft, Einsturz, Brand – nichts von allem kommt urplötzlich. Ich wußte es schon, in welche sturmbewegte Behausung die Natur mich eingeschlossen hatte; so oft schon hat sich in meiner Nähe ein Jammergeschrei erhoben, so oft schon ist die zu frühen Leichen vorangetragene Fackel und Wachskerze an meiner Schwelle vorübergeschritten; oft schon ertönte in der Nachbarschaft das Krachen eines einstürzenden Gebäudes; viele von denen, die das Forum, die Kurie, der Umgang mit mir verbunden hatte, hat die Nacht hinweggerafft, und oft schon hat der Tod die zum Freundesbund geschlungenen Hände auseinandergerissen. Darf ich mich wundern, daß zuweilen Gefahren an mich herantreten, die mich beständig umschwebt haben? Es gibt eine große Zahl von Menschen, die, im Begriff, zur See zu gehen, an den Sturm nicht denken. Bei einer guten Sache werde ich auch einen schlechten Gewährsmann nicht verschmähen. Publius, der bedeutender als manches tragische und komische Genie wirkt, so oft er seine possenhaften Albernheiten und auf die obersten Reihen im Theater berechneten Ausdrücke unterläßt, sagt unter anderem: »Jeden kann treffen, was einen trifft.« Wenn einer sich dies tief zu Herzen nimmt, wird er auch alle Unfälle anderer, von denen täglich eine ungeheure Menge vorkommt, so ansehen, als ob sie auch zu ihm freien Weg hätten: er wird sich viel eher waffnen, als er angegriffen wird. Zu spät wird der Geist zum Bestehen der Gefahr erst nach der Gefahr gerüstet. »Ich hätte nicht gedacht, daß dies geschehen werde.« Warum aber nicht? Wo ist der Reichtum, dem nicht Armut, Hunger und Bettelstab folgen könnte? wo ein Ehrenamt, dessen purpurverbrämtes Gewand und Augurstab und patrizische Ehrenkette nicht Entbehrung, Verbannung, Brandmarkung und tausenderlei Schandflecke und die äußerste Verachtung begleiten könnte? Wo ist ein Königsthron, für den nicht Umsturz, Zertrümmerung, ein Usurpator und Henker bereit stände? Und der Zwischenraum ist nicht groß; eine kurze Spanne Zeit liegt zwischen dem Throne und dem Knien vor einem andern. Erkenne also, daß jeder Zustand wandelbar ist, und daß alles, was irgendeinem zustößt, auch dir zustoßen kann. Du bist reich? etwa reicher als Pompejus? dem Caligula, als ein eigenartiger Gastfreund, den Palast des Kaisers öffnete, um sein eignes Haus zu schließen, und ihm Brot und Wasser fehlen ließ. Er, dem so viele Flüsse gehört hatten, die auf seinem Grund und Boden entsprangen und mündeten, bettelte jetzt um ein paar Tropfen Wassers. An Hunger und Durst verschied er im Palaste seines Verwandten, während ihm der Erbe ein öffentliches Leichenbegängnis veranstaltete. Du hast die höchsten Ehrenämter verwaltet? etwa so große oder so unverhoffte oder so ausgedehnte als Sejanus? An dem Tage, wo ihm der Senat noch das Ehrengeleit gegeben hatte, riß ihn das Volk in Stücke. Von dem Mann, auf den Götter und Menschen alles gehäuft hatten, was nur zusammengebracht werden konnte, blieb nichts übrig, was der Henker hätte fortschleifen können. Du bist König? Ich will dich nicht auf Krösus verweisen, der auf Befehl den Scheiterhaufen bestieg und auch wieder auslöschen sah, um nicht nur sein Königreich, sondern auch seinen Tod zu überleben; nicht auf Jugurtha, der dem römischen Volke in demselben Jahre, wo es ihn noch gefürchtet hatte, ein Schauspiel wurde. Den afrikanischen König Ptolemäus, den armenischen Mithridates haben wir zwischen den Wachen des Casus gesehen: der eine wurde in die Verbannung geschickt, der andere wünschte wohl, unter besserem Schutze entlassen zu werden. Wenn du bei einem so großen Wechsel der auf- und abflutenden Ereignisse nicht alles, was geschehen kann, als einst wirklich geschehend annimmst, so gibst du dem Schicksal eine Gewalt über dich, die derjenige bricht, der das Zukünftige voraussieht. Das Nächste nun wird sein, daß wir uns mit nichts Überflüssigem oder nicht unnützer Weise abmühen, das heißt, daß wir nicht entweder nach etwas trachten, was wir nicht erlangen können, oder daß wir, wenn wir es erlangt haben, die Eitelkeit unserer heißen Wünsche zu spät nach vieler Scham erkennen; ich meine, daß unsere Mühe nicht umsonst oder der Erfolg nicht der Mühe wert sei. Denn, daraus folgt meist Betrübnis, wenn etwas nicht gelingt oder wenn man sich des Gelingens schämt.
12. Auch dem Hin- und Herrennen muß man Einhalt tun, welches einem großen Teile der Menschen eigen ist, die Häuser, Theater und Marktplätze durchschweifen. Sie bieten sich zu Geschäften für andere an, und sehen aus wie Leute, die immer etwas tun wollen. Wenn du einen solchen beim Ausgehen aus dem Hause fragst: Wo willst du hin? was hast du vor? so wird er dir antworten: »Wahrhaftig, ich weiß es selbst nicht; aber ich werde diesen oder jenen sehen, dieses oder jenes verrichten.« Ohne Zweck und Ziel schweifen sie umher, nach Geschäften suchend, und tun nichts, was sie sich vorgenommen, sondern auf was sie eben stoßen. Ihr Treiben könnte man nicht mit Unrecht eine rastlose Untätigkeit nennen; manche, die wie zu einer Feuersbrunst hinstürzen, könnte man wirklich bemitleiden so rennen sie an die ihnen Begegnenden an und stürzen sich und andere zu Boden, während sie doch bloß dahin rennen, um einen zu begrüßen, der sie nicht wieder begrüßen wird, oder um die Leiche irgend eines unbekannten Menschen zu begleiten oder dem Gerichte eines viel Prozessierenden, der Verlobung einer sich oftmals Vermählenden beizuwohnen oder einer Sänfte zu folgen, die sie an manchen Stellen sogar selbst tragen. Dann in unnötiger Ermüdung nach Hause zurückkehrend, schwören sie, sie wüßten nicht, warum sie ausgegangen, wo sie gewesen wären, und machen doch am folgenden Tage wieder dieselben Irrfahrten. Jede Arbeit muß irgend einen Zweck, irgend eine Absicht haben. Nicht Tätigkeitstrieb, sondern falsche Vorstellungen von den Dingen sind es, die sie in Unruhe und Unverstand umhertreiben; denn auch sie regen sich nicht ohne Hoffnung auf irgend einen Erfolg; aber es treibt sie nur ein Scheinbild irgendeiner Sache, dessen Nichtigkeit ihre befangene Seele sie nicht erkennen läßt. Auf gleiche Weise führen einen jeden, der nur ausgeht, um den Volkshaufen zu vergrößern, nichtige und geringfügige Ursachen in der Stadt umher, und ohne daß er etwas hat, worauf sich seine Mühe richtet, treibt ihn das anbrechende Morgenlicht aus dem Hause. Wenn er dann an vielen Türen vergebens geklopft und die anmeldenden Diener begrüßt hat, trifft er, von vielen abgewiesen, doch keinen von allen schwerer zu Hause als sich selbst. Mit diesem Übel hängt jener abscheuliche Fehler zusammen, das Horchen und Nachspüren nach öffentlichen und geheimen Vorgängen und das Wissen von vielen Dingen, die man weder ohne Gefahr erzählt, noch ohne Gefahr hört. Mit Rücksicht darauf, glaube ich, hat Demokrit also begonnen: »Wer ruhig leben will, der treibe sich nicht viel um, weder in Privat- noch in öffentlichen Angelegenheiten.« wobei er nämlich an unnötige Dinge denkt. Denn, wenn sie nötig sind, so muß man sowohl im Privatleben als im öffentlichen, nicht bloß viele, sondern unzählige betreiben; wo aber keine heilige Pflicht uns ruft, da ist Einhalt geboten.
13. Denn wer vieles betreibt, räumt oft dem Schicksal Gewalt über sich ein; und doch ist es am sichersten, dasselbe nur selten auf die Probe zu stellen, übrigens aber stets daran zu denken und sich nichts von seiner Zuverlässigkeit zu versprechen. Ich werde zur See gehen, es müßte denn etwas vorfallen; ich werde Prätor werden, es müßte denn ein Hindernis eintreten; das Unternehmen wird mir wohl gelingen, es müßte denn etwas dazwischen kommen. Das nun eben ist es, weshalb wir behaupten, dem Weisen begegne nichts wider Vermuten: wir nehmen ihn nicht von den Zufällen, wohl aber von den Verirrungen der Menschen aus; und es geht ihm nicht alles, wie er es wollte, aber wie er sich's dachte; vor allem aber bedachte er, daß seinen Plänen etwas in den Weg treten könne. Notwendig aber berührt der Schmerz über einen vereitelten Wunsch das Gemüt minder hart, wenn man sich seine Erfüllung nicht auf jeden Fall versprochen hat.
14. Wir müssen uns aber auch so nachgiebig machen, damit wir dem, was wir uns vorgenommen, nicht allzusehr nachhängen; gehen wir leicht zu dem über, wozu das Geschick uns hinführt, und seien wir nicht in Furcht vor Veränderungen unserer Pläne oder unserer Lage, nur daß nicht Wankelmut, der größte Feind unserer Ruhe, uns befalle. Denn ist auf der einen Seite die Hartnäckigkeit eine ängstliche und traurige Sache, da ihr das Schicksal so oft etwas abtrotzt, so ist auf der andern der Leichtsinn noch viel drückender, da er nirgends einen festen Punkt hat. Beides ist der Gemütsruhe hinderlich, sowohl nichts ändern als in nichts sich fügen. Jedenfalls muß die Seele von allem Äußerlichen abgezogen werden und sich in sich selbst versenken; sie vertraue sich selbst, finde ihre Freude an sich selbst, beachte ihre eigenen Güter; sie ziehe sich, so viel möglich, von allem Fremdartigen zurück, schließe sich an sich selbst an, fühle nicht ihre Verluste und gebe auch dem Widerwärtigen eine milde Deutung. Als unserem Zeno ein Schiffbruch gemeldet wurde, und er vernahm, daß seine ganze Habe im Meer verloren sei, sagte er: »Das Schicksal heißt mich ungehinderter philosophieren.« Dem Philosophen Theodorus drohte ein Tyrann den Tod und zwar ohne Begräbnis. »Hier hast du, sprach er, was dir so sehr gefällt. Diese paar Tropfen Blut stehen dir zu Diensten. Und was das Begräbnis betrifft, o, wie einfältig bist du, wenn du glaubst, daß mir etwas daran liege, ob ich über oder in der Erde verwese.« Nachdem sich Canus Julius mit dem Cajus Caligula lange herumgestritten, und dieser zu dem Weggehenden gesagt hatte: »Damit du dir nicht etwa mit einer falschen Hoffnung schmeichelst: ich habe schon den Befehl gegeben, dich zum Tode zu führen«, erwiderte jener: »Ich danke, gnädigster Fürst.« Was er dabei dachte, ist mir zweifelhaft; denn viele Deutungen bieten sich mir dar. Wollte er vielleicht den Fürsten beschimpfen und ihm zu verstehen geben, wie groß die Grausamkeit seiner Regierung sei, unter welcher der Tod eine Wohltat war? Oder war es ein Hieb auf den Unsinn des Zeitalters? Denn auch diejenigen sagten Dank, deren Kinder getötet und deren Güter weggenommen waren. Oder hat er den Tod als eine Befreiung mit Freuden hingenommen? Was es auch war, er hat eine hochherzige Antwort gegeben. Es wird vielleicht einer sagen: Cajus konnte ja darauf befehlen, daß er am Leben bleiben sollte. Das fürchtete Canus nicht: die Festigkeit des Cajus in solchen Befehlen war bekannt. Du glaubst es nicht, daß jener die zehn Tage bis zu seiner Hinrichtung ohne allen Kummer hingebracht habe? Es ist kaum für wahr zu halten, was jener Mann sagte, was er tat, wie ruhig er war. Er spielte Schach Das Spiel mit latrunculis glich weit mehr unserem Schach- als unserem Brettspiel. Daher ist auch im folgenden latrunculi nicht durch Steine, sondern durch Figuren übersetzt, da sie nicht bloß zweierlei Farbe, sondern auch verschiedene Geltung und Bewegung hatten., als der Hauptmann, der die Schar der zum Tode Verurteilten fortschleppte, auch ihm befahl, sich aufzumachen. Auf diesen Ruf zählte er die Figuren und sagte zu seinem Spielgenossen: »daß du mir ja nicht nach meinem Tode lügst, du habest gesiegt.« Dann nickte er dem Hauptmann zu und sprach: »Du wirst bezeugen, daß ich um eine Figur voraus bin.« Du glaubst, Canus habe auf jenem Brette ein Spiel getrieben? Spott trieb er. Traurig waren die Freunde, daß sie einen solchen Mann verlieren sollten. »Warum seid ihr betrübt? sprach er. Ihr forschet noch, ob die Seele unsterblich sei; ich werde es gleich wissen.« Und selbst am Ende seines Lebens hörte er nicht auf, nach Wahrheit zu forschen und aus seinem Tode den Gegenstand einer Untersuchung zu machen. Es begleitete ihn sein Philosoph, und schon war der Hügel nicht mehr fern, auf welchem dem Kaiser, unserm Gott, sein tägliches Opfer gebracht wurde. Jener sagte: »Was denkst du jetzt, mein Canus? oder wie ist dir zu Mute?« »Ich habe mir vorgenommen, antwortete Canus, in jenem schnellsten aller Momente zu beobachten, ob die Seele merken wird, daß sie ausscheidet«; und er versprach, wenn er darüber etwas erforscht habe, so wolle er bei seinen Freunden herum gehen und ihnen Kunde bringen, wie der Zustand der Seelen sei. Siehe, welche Ruhe mitten im Sturme! siehe, ein Geist, der Unsterblichkeit würdig, der seinen Tod zur Feststellung der Wahrheit benutzt, der, im Begriff, jenen letzten Schritt zu tun, der scheidenden Seele Fragen vorlegt, und nicht nur bis zum Tode, sondern auch aus dem Tode selbst noch etwas lernt. Niemand hat länger philosophiert als er. Doch nicht eilfertig wollen wir den großen und mit Bedacht so zu nennenden Mann verlassen; wir wollen dich einem ewigen Andenken übergeben, ruhmwürdiges Haupt du, des Cajus größtes Opfer.
15. Doch es nützt nichts, bloß die Ursachen der Traurigkeit im Privatleben zu entfernen; denn es ergreift uns zuweilen ein Haß gegen das ganze menschliche Geschlecht. Es bietet sich uns ein Schwarm so vieler vom Glück gekrönter Schandtaten dar, während man bedenkt, wie selten die Ehrlichkeit ist und wie unbekannt die Unschuld, wie sich kaum je die Treue zeigt, außer wo es nützt, dagegen aber die gleich verhaßten Vorteile und Nachteile böser Lüste und der Ehrgeiz, der sich bereits so gar nicht in seinen Schranken hält, daß er durch Schändlichkeit glänzt. Da versinkt der Geist in Nacht, und es bricht Finsternis herein, als ob die Tugenden zugrunde gegangen wären, die man weder hoffen darf, noch mit Vorteil besitzen kann. Wir müssen daher unserm Gefühle eine solche Richtung geben, daß uns alle Laster des großen Haufens nicht verhaßt, sondern lächerlich erscheinen, und lieber dem Demokrit als dem Heraklit nachahmen. Denn dieser weinte, so oft er auf die Straße gegangen war, jener aber lachte; dem einen schien alles, was wir tun, ein Jammer, dem andern eine Posse. So muß man sich denn alles leichter machen und mit leichtem Sinne ertragen; es ziemt dem Menschen mehr, das Leben zu belachen, als es zu beweinen. Nimm noch hinzu, daß sich derjenige, welcher lacht, auch um das Menschengeschlecht mehr verdient macht als der, welcher trauert. Jener läßt doch noch einige gute Hoffnung übrig; dieser aber beweint törichter Weise, was er verbessern zu können verzweifelt; und einen größeren Geist zeigt, wer bei Betrachtung des Ganzen lacht, als wer die Tränen nicht halten kann; er läßt sich durch nichts aufregen und hält nichts für groß, nichts für wichtig, ja, nicht einmal für ernsthaft. Jeder stelle sich nur alles einzelne vor, weshalb wir froh oder traurig sind, und er wird Bion recht geben, wenn er sagt: »Das Leben des Menschen ist eine Komödie und ein unausgeführt gebliebener Gedanke.« Es ist jedoch besser, die Sitten der Menge und die Fehler der Menschen mit Gelassenheit aufzunehmen und weder darüber zu lachen noch zu weinen. Denn sich fremder Mängel wegen zu quälen, ist ewiges Elend, sich an fremden Übeln zu ergötzen, ein des Menschen unwürdiges Vergnügen, sowie es eine unnütze Höflichkeit ist, zu weinen und ein betrübtes Gesicht zu machen, weil einer seine Tochter begräbt. Auch bei deinen eigenen Unfällen mußt du dich so benehmen, daß du dem Schmerz nur so viel einräumst, als er wirklich verlangt, nicht soviel die Gewohnheit fordert. Denn sehr viele vergießen Tränen nur, um es sehen zu lassen, und haben so lange trockene Augen, als ein Zuschauer fehlt, weil sie es für eine Schande halten, nicht mit zu weinen, wenn alle es tun. So tief ist der Abelstand eingewurzelt, sich nach anderer Meinungen zu richten, daß selbst die natürlichsten Gefühle, wie der Schmerz, Sache der Verstellung werden.
Es gibt aber auch Fälle, die nicht ohne Grund traurig machen und in Kummer versetzen, wenn nämlich das Gute einen schlimmen Ausgang nimmt: wie wenn ein Sokrates im Kerker sterben muß, ein Rutilius in der Verbannung leben, ein Pompejus und Cicero ihren Schutzbefohlenen den Nacken darbieten müssen, ein Cato, das lebendige Abbild aller Tugenden, sich ins Schwert stürzt mit dem Ausruf, daß es mit ihm und der Republik zugleich aus sei. Das muß uns in der Tat quälen, wenn das Schicksal so ungleiche Belohnungen gewährt; und was soll nun ein jeder für sich hoffen, wenn er sieht, daß die Besten das Schlimmste erleiden? Was also ist zu tun? Betrachte, wie jeder von ihnen sein Geschick ertragen hat, und wenn sie standhaft waren, so sehne dich nach einer Seele, wie die ihrige war; starben sie aber weibisch und feig, so ist nichts an ihnen verloren. Entweder sind sie wert, daß ihre Seelenstärke dich entzückt, oder unwert, daß ihre Feigheit dir Sehnsucht erweckt. Denn was wäre schimpflicher, als wenn uns die größten Männer durch ihr unverzagtes Sterben mutlos machten? Beständig wollen wir den preisen, der des Preisens wert ist, und sprechen: Je standhafter, desto glücklicher! Du bist den Unfällen des Menschenlebens entronnen, dem Neide, der Krankheit; du bist aus dem Kerker entlassen; du schienst den Göttern nicht eines schlimmen Loses wert zu sein, sondern nicht zu verdienen, daß das Schicksal dir noch etwas anhaben könnte. An die aber, die sich ihm entziehen und sich sozusagen noch im Tode nach dem Leben umschauen, muß es seine Hand anlegen. Keinen will ich beweinen, der freudig, keinen, der weinend stirbt; jener hat meine Tränen schon selbst getrocknet, dieser hat durch seine Tränen gemacht, daß er keiner wert ist. Soll ich den Herkules beweinen, weil er sich lebendig verbrennt, oder den Regulus, weil so viele Nägel ihn durchbohren, oder den Cato wegen seiner Wunde? Sie alle haben in einem kurzen Augenblick einen Weg gefunden, verewigt zu werden, und sind durch ihren Tod zur Unsterblichkeit gelangt. –
Auch das ist keine geringe Quelle der Bekümmernis, wenn du dich ängstlich zustutzest und dich niemandem in deinem natürlichen Wesen zeigst, wie denn das Leben vieler ein verstelltes und auf den Schein berechnetes ist. Denn es martert das beständige Achthaben auf sich selbst, indem man fürchtet, anders angetroffen zu werden, als man sich gewöhnlich zeigt; und nie werden wir die Sorge los, wenn wir eben so oft beurteilt zu werden glauben, als man uns ansieht. Denn einesteils tritt vieles ein, was uns wider unsern Willen in unserer wahren Gestalt zeigt, andernteils ist, auch wenn eine so große Aufmerksamkeit auf sich selbst gelingt, das Leben solcher, die beständig eine Maske tragen, doch keineswegs ein angenehmes, sorgenfreies. Jene reine und an sich selbst schöne Natürlichkeit dagegen, die ihren Sitten keinen Mantel umhängt, wie viel Vergnügen gewährt sie! Doch ein solches Leben läuft Gefahr, in Verachtung zu kommen, wenn alles allen offen daliegt: denn es gibt Leute, die einen Widerwillen gegen alles haben, mit dem sie in nähere Berührung gekommen sind. Die Tugend jedoch läuft keine Gefahr, daß sie, näher vor Augen gebracht, an Wert verliere, und es ist besser, seiner Natürlichkeit wegen verachtet, als durch beständige Verstellung gequält zu werden. Doch wollen wir in dieser Sache Maß halten: es ist ein großer Unterschied, ob man natürlich lebt oder nachlässig. Vielfältig muß man sich auch hier in sich selbst zurückziehen; denn der Umgang mit Unähnlichen bringt das Wohlgeordnete in Unordnung, weckt die Leidenschaften wieder auf und bildet aus allem, was in der Seele noch schwach und noch nicht vollkommen heil ist, einen neuen Schaden. Doch muß man beides verbinden und damit abwechseln, Einsamkeit und Geselligkeit. Jene wird in uns Sehnsucht nach Menschen, diese nach uns selbst erwecken, und eins wird ein Heilmittel des andern sein. Den Haß gegen das Weltgewühl wird die Einsamkeit heilen, den Überdruß an der Einsamkeit das Weltgewühl. Auch in derselben Anspannung darf man die Seele nicht stets auf gleiche Weise halten, sondern sie auch zuweilen Zum Scherz abrufen. Sokrates schämte sich nicht, mit Knaben zu spielen; Cato ließ seinen von Staatssorgen ermatteten Geist sich beim Weine erholen, und Scipio bewegte seinen im Triumphzug getragenen Heldenkörper nach dem Takte des Tanzes, nicht weichlich sich biegend, wie jetzt die Sitte mancher Leute, die noch über die Weichlichkeit der Frauen hinausgehen, selbst beim Gange ist, sondern wie jene Männer des Altertums zu tanzen pflegten, die bei Spiel und Fest nach Männerweise den Boden stampften und nichts verloren haben würden, wenn sie dabei auch von ihren Feinden gesehen worden wären. Man muß dem Geiste Erholung gönnen; ausgeruht, wird er sich kräftiger und frischer erheben. Wie man fruchtbaren Ackern nicht Gewalt antun darf, (denn ein nie ausgesetztes Fruchttragen würde sie schnell erschöpfen), so muß auch beständige Anstrengung den Schwung des Geistes brechen. Wenn er ein wenig frei gelassen und abgespannt gewesen, wird er wieder neue Kraft gewinnen. Aus beständiger Anstrengung entsteht eine gewisse Abstumpfung und Schlaffheit des Geistes: und wenn nicht Spiel und Scherz ein gewisses natürliches Vergnügen enthielte, würde nicht eine so heftige Begierde der Menschen darnach streben; obgleich freilich ihr häufiger Genuß der Seele allen Gehalt und alle Kraft rauben würde. Auch der Schlaf ist zur Erholung nötig; wenn man ihn aber Tag und Nacht ununterbrochen fortsetzte, so wäre er Tod. Es ist ein großer Unterschied, ob man mit etwas nachläßt oder es aufgibt. Die Gesetzgeber haben Feiertage angeordnet, damit die Menschen von Staatswegen zur Fröhlichkeit gezwungen würden, indem sie zwischen die Arbeiten gleichsam eine notwendige Erholung einschoben. Auch große Männer haben sich jeden Monat an gewissen Tagen Ferien gegeben; manche teilten jeden Tag zwischen Muße und Geschäftssorgen. So erinnern wir uns z. B. des Asinius Pollio, jenes großen Redners, den kein Geschäft über die zehnte Stunde D. h., da die Römer die Tagesstunden von Sonnenaufgang an zählten, etwa die vierte Nachmittagsstunde, bei den Römern die gewöhnliche Zeit der Hauptmahlzeit. zurückhielt; nicht einmal Briefe las er mehr nach dieser Stunde, damit nicht etwa ein neues Geschäft erwüchse; aber in diesen zwei Tagesstunden legte er auch die Müdigkeit des ganzen Tages ab. Manche machen um die Mittagszeit eine Pause und verschieben auf die Nachmittagsstunden irgend eine leichtere Arbeit. Unsere Vorfahren verboten, daß nach der zehnten Stunde noch ein neuer Vortrag im Senate gehalten werden dürfe. Der Soldat teilt seine Wachen ein, und für die von einer Unternehmung Zurückkehrenden ist die Nacht dienstfrei. Man muß der Seele etwas zu Liebe tun und ihr bisweilen Muße geben, die ihr als Nahrung und Stärkung dienen soll. Auch auf Spaziergängen im Freien muß man umherschweifen, damit der Geist unter freiem Himmel und in der freien Luft sich stärke und erhebe. Zuweilen wird auch eine Spazierfahrt, eine Reise, Ortsveränderung, ein geselliges Mal und ein anständiges Trinkgelage neue Regsamkeit geben; ja, mitunter darf es wohl gar bis zu einem Räuschchen kommen, nicht daß es uns ersäufe, aber doch untertauche. Denn das verscheucht die Sorgen, rüttelt die Seele von Grund in ihren Tiefen auf und ist wie gegen manche Krankheiten, so auch gegen die Traurigkeit ein Mittel. Und Liber, d. h. der Freie, ist der Erfinder des Weins genannt worden, nicht wegen Ungebundenheit der Zunge, sondern weil er die Seele von der Knechtschaft der Sorgen frei macht, sie aus der Sklaverei entläßt, sie belebt und zu allen Unternehmungen kühner macht. Doch wie in der Freiheit, so ist auch beim Weine Mäßigung heilsam. Man glaubt, daß auch Solon und Arcesilaus dem Weine ergeben waren. Dem Cato ist Trunkenheit vorgeworfen worden; mag ihm das vorwerfen, wer da will, er wird diesen Fehler dadurch eher zu Ehren, als den Cato in Schande bringen. Aber es darf auch nicht oft geschehen, damit nicht die Seele eine üble Gewohnheit annehme; zuweilen jedoch mag sie sich herausreißen zur Lustigkeit und Ungebundenheit und die mürrische Nüchternheit ein Weilchen entfernt werden. Denn, mögen wir nun einem griechischen Dichter glauben: »es ist zu Zeiten süß, ein wenig toll zu sein« oder dem Plato: »vergebens klopft, wer ganz bei sich selbst ist an die Pforte der Poesie« oder dem Aristoteles: »kein großes Genie war ohne eine Dosis Tollheit,« nur ein begeisterter Mensch kann etwas Großes und über das Gewöhnliche Erhabene aussprechen. Wenn er das Gemeine und Alltägliche verachtet und in heiliger Begeisterung sich höher schwingt, dann erst verkündet er Größeres, als ein sterblicher Mund. Nichts Erhabenes und Hohes kann er erreichen, so lange er bei sich selbst ist; abweichen muß er vom Gewöhnlichen, sich aufwärts schwingen, in die Zügel knirschen und seinen Lenker mit sich reißen und ihn dahin führen, wohin zu steigen er für sich selbst wohl nicht gewagt hätte.
Da hast du denn, mein teuerster Serenus, was deine Gemütsruhe sichern, was sie wiederherstellen, was den sich einschleichenden Fehlern Widerstand leisten kann. Doch wisse, daß nichts von allem stark genug ist für die, welche ein schwaches Wesen beibehalten, wenn nicht gespannte und beständige Aufmerksamkeit um das leicht wankende Herz die Runde macht.