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Von der Kürze des Lebens

An Paullinus

1. Die Mehrzahl der Sterblichen klagt über die Ungunst der Natur, weil wir nur für eine kurze Lebensdauer geboren würden, weil die Frist der uns verliehenen Zeit so schnell, so reißend verlaufe, daß, sehr wenige ausgenommen, die Meisten das Leben mitten unter den Zubereitungen für das Leben verlasse. Und über dieses allgemeine Übel, wofür man es hält, pflegt nicht nur der große Haufe und die unverständige Menge zu jammern; auch berühmten Männern hat dieser Zustand Klagen entlockt. So ruft der größte der Ärzte (Hippokrates) aus: »Das Leben ist kurz, die Kunst lang.« Und Aristoteles, mit der Natur hadernd, tut die einem Weisen sehr wenig angemessene Äußerung: die Natur habe die Tiere so sehr begünstigt, daß sie es bis zu fünf oder zehn Jahrhunderten brächten, dem Menschen aber, zu so vielem und Großem geboren, sei ein so viel näheres Ziel gesteckt. Wir haben nicht zu wenig Zeit, aber wir verschwenden zu viel davon. Auch zur Vollbringung der größten Dinge ist das Leben lang genug, wenn es nur gut angewendet wird. Wenn es aber in Üppigkeit und Nachlässigkeit dahinfließt, ohne daß es zu irgend etwas Gutem verwendet wird, so merken wir erst, wenn die letzte Not drängt, daß es vorüber ist; während es dahinfloß, merkten wir es nicht. Ja, so ist es: wir haben das Leben nicht knapp empfangen, sondern verschwenderisch. So wie große und königliche Reichtümer, wenn sie an einen schlechten Herrn gekommen sind, im Augenblicke verschleudert werden, solche aber, die einem guten Haushalter übergeben sind, durch den Gebrauch sich vergrößern: so hat unser Leben für einen, der es haushälterisch verwendet, einen weiten Spielraum.

2. Was klagen wir über die Natur? Sie hat sich ja freigebig gezeigt; das Leben ist lang, wenn man es zu gebrauchen versteht. Den einen aber hält unersättliche Habsucht gefangen, einen andern geschäftige Emsigkeit in überflüssigen Arbeiten; der eine ersäuft im Weine, der andere erstarrt in Untätigkeit; der eine müdet sich ab, ehrsüchtig und stets auf fremdes Urteil gespannt, den andern treibt in Hoffnung auf Gewinn fortreißende Handelsbegierde in allen Ländern, auf allen Meeren umher. Manche foltert die Lust am Kriegsdienste, indem sie stets entweder auf fremde Gefahr gespannt oder wegen eigener in Angst sind; andere verzehrt undankbarer Herrendienst in freiwilliger Sklaverei. Viele hält entweder das Streben nach dem Glücke anderer oder der Unmut über ihr eigenes Los befangen. Die Meisten jagt, kein sicheres Ziel verfolgend, unstäte, unbeständige, sich selbst mißfallende Unbeständigkeit von einem Plan zum andern. Einigen gefällt nichts, worauf sie ihre Lebensweise richten könnten; matt und gähnend werden sie vom Tode überfallen, so daß ich nicht zweifeln kann an dem, was bei dem größten der Dichter gleich einem Orakelspruch zu lesen ist: Wir leben nur des Lebens kleinsten Teil; denn freilich, unsere ganze übrige Dauer ist nicht Leben, sondern Zeit. Auf allen Seiten umringen uns drängende Laster und verstatten nicht, uns aufzuraffen und den Blick zur Erkenntnis des Wahren zu erheben, sondern halten ihn gesenkt und an Begierden gefesselt. Nie ist es solchen vergönnt, zu sich selbst zu kommen, wenn ihnen etwa einmal eine zufällige Ruhe zuteil ward; wie auf einem tiefen Meere, wo auch nach dem Sturme noch ein mächtiges Wogen sich zeigt, schwanken sie hin und her, und nie lassen ihnen ihre Begierden Ruhe. Du glaubst wohl, ich spreche von solchen, über deren schlimme Lage nur eine Stimme ist? O betrachte doch die, zu deren Glückseligkeit alles herbeiströmt: sie ersticken in ihrem Glücke. Wie vielen wird ihr Reichtum lästig! wie viele macht ihre Beredtsamkeit, die sie täglich bewundern lassen, brustkrank! wie viele sehen übel aus infolge von ununterbrochenen wollüstigen Genüssen! wie vielen läßt der sie umringende Klientenschwarm keinen freien Augenblick? Kurz, gehe sie alle, von dem Niedrigsten bis zum Höchsten, durch: der eine sucht einen Anwalt, der andere ist es selbst; der eine ist in Gefahr, der andere verteidigt ihn, ein Dritter spielt den Richter. Keiner gehört sich selbst; einer reibt sich auf für den andern. Frage nach jenen, deren Namen man auswendig lernt: der eine lebt diesem, der andere jenem. Keiner gehört sich selbst. Der Unwille mancher ist ganz widersinnig; sie klagen über die Vornehmtuerei der Höhergestellten, weil sie keine Zeit für sie hatten, wenn sie ihnen ihren Besuch machen wollten. Wagt es jemand, der für sich selbst nie Zeit hat, über den Stolz eines andern zu klagen? Jener, wer er auch sei, hat doch wenigstens zuweilen, wenn auch mit übermütiger Miene, nach dir hingeblickt und sein Ohr zu deinen Worten herabgelassen; er hat dich an seine Seite genommen; du aber hast dich noch nie für wert gehalten, dich selbst anzuschauen, dich selbst anzuhören.

3. Du hast also keinen Grund, diese Dienste irgend jemandem als etwas anzurechnen, weil du ja eigentlich nicht einem andern angehören wolltest, sondern nur mit dir selbst nichts anzufangen wußtest. Wenn auch alle großen Geister, die jemals glänzten, sich zur Betrachtung dieses einzigen Umstands vereinigten, so würden sie sich doch niemals über diese Verblendung des menschlichen Geistes genugsam verwundern können. Ihre Landgüter lassen sie von niemandem in Besitz nehmen, und wenn nur der geringste Streit über die Grenzen sich erhebt, so laufen sie nach Steinen und Waffen; aber in ihr Leben lassen sie andere eingreifen, ja, sie führen sogar selbst diejenigen herbei, welche es in Beschlag nehmen werden. Niemand findet sich, der sein Geld verteilen möchte: sein Leben dagegen teilt ein jeder aus, und an wie Viele! Genau sind sie im Zusammenhalten ihres Vermögens; sobald es sich aber um die Zeit handelt, sind sie die größten Verschwender mit dem, wobei allein der Geiz eine Tugend ist. Laß uns also einen aus dem Haufen der Bejahrteren herausnehmen: »Wir sehen, sagen wir zu ihm, daß du auf die höchste Stufe menschlichen Alters gelangt bist, – hundert Jahre und mehr lasten auf dir – wohlan, stelle eine Berechnung deiner Jahre an! Sage, wieviel von jener Zeit dir der Gläubiger, wieviel die Geliebte, wieviel der König, wieviel der Klient entzogen hat, wieviel der Zank mit deiner Frau, wieviel die Züchtigung deiner Sklaven, wieviel das Umherlaufen in der Stadt. Nimm dazu die Krankheiten, die wir uns selbst geschaffen, und was ohne Benutzung brach liegen geblieben, und du wirst sehen, daß du weniger Jahre hast, als du zählst. Rufe dir ins Gedächtnis zurück, wann du fest in deinen Entschlüssen warst, wie wenige Tage dir so verflossen sind, wie du beschlossen hattest, wann du den Genuß deiner selbst hattest, wann deine Miene ihre eigentlichen Züge hatte und dein Gemüt unverzagt war, welche Werke du in einem so langen Lebensalter verrichtest hast, wieviele dein Leben geplündert haben, ohne daß du merktest, was du verlorst, wieviel dir vergeblicher Kummer, törichte Freude, gierige Leidenschaft, zärtliche Unterhaltung gestohlen haben, wie wenig dir von deinem Eigentume geblieben ist: und du wirst einsehen, daß du vor erlangter Reife stirbst.«

4. Wie also steht die Sache? Ihr lebt, als würdet ihr immer leben; niemals kommt euch in den Sinn, wie karg ihr bedacht seid; ihr verschwendet sie, als hättet ihr sie in Hülle und Fülle, während vielleicht gerade der Tag, den ihr einem Menschen oder einer Sache opfert, euer letzter ist. Ihr fürchtet alles wie Sterbliche und begehrt alles wie Unsterbliche. Man kann die meisten sagen hören: »Vom fünfzigsten Jahre an will ich mich in den Ruhestand zurückziehen« oder: »das sechzigste Jahr soll mich von allen Geschäften losmachen.« Und wen bekommst du denn zum Bürgen für ein längeres Leben? wer soll machen, daß es gerade so geht, wie du es anordnest? Schämst du dich nicht, bloß den Rest des Lebens für dich aufzusparen und für den edlen Geist nur die Zeit zu bestimmen, die zu nichts mehr verwendet werden kann? Wieviel zu spät ist es doch, dann erst zu leben anzufangen, wenn man aufhören soll! welch törichtes Vergessen der Sterblichkeit ist es, vernünftige Vorsätze auf das fünfzigste oder sechzigste Jahr hinauszuschieben und das Leben erst da beginnen zu wollen, bis wohin es nur wenige bringen! Du wirst wahrnehmen, wie sehr mächtige und hoch gestiegene Männer zuweilen Äußerungen tun, in denen sie die Muße wünschen, preisen, allen ihren Herrlichkeiten vorziehen. Sie wünschen so manchmal von ihrer Höhe, wenn es sicher geschehen könnte, herabzusteigen. Denn, wenn auch nichts von außen sie beunruhigt und erschüttert, in sich selbst trägt das Glück seinen Sturz.

5. Der göttliche Augustus, dem die Götter mehr als irgendeinem gewährten, hörte nie auf, sich Ruhe zu erflehen und um Befreiung von der Staatsverwaltung zu bitten. Seine Rede kam stets darauf zurück, daß er Muße hoffe. Mit diesem, wenn auch irrigem, doch süßem Troste, daß er einst sich selbst leben werde, erleichterte er sich seine Mühen. In einem an den Senat gerichteten Schreiben finde ich, nachdem er versprochen hat, daß seine Ruhe nicht ohne Würde sein und nicht im Widerspruch mit seinem früheren Ruhme stehen werde, folgende Worte: »Doch dies läßt sich eher auf rühmliche Weise ausführen als versprechen. Mich hat die Begierde nach der von mir so ersehnten Zeit vorwärts geschoben, so daß ich, weil die Freude an der Wirklichkeit noch zögert, mir zum Voraus einen süßen Genuß verschaffe, indem ich davon rede.« Etwas so Herrliches schien ihm die Muße, daß er sie, weil er es nicht in der Wirklichkeit konnte, in Gedanken voraus genoß. Er, der alles von sich allein abhängen sah, den einzelnen Menschen und ganzen Völkern ihr Geschick bestimmte, dachte voll heller Freude an den Tag, wo er seiner Grüße sich entäußern würde. Er hatte erfahren, wievielen Schweiß jenes alle Länder durchstrahlende Glück erpreßte, wieviele geheime Bekümmernis es verdeckte. Zuerst gegen seine Mitbürger, dann mit seinen Amtsgenossen, zuletzt gegen seine Verwandten mit den Waffen zu kämpfen genötigt, hat er zur See und zu Lande Blut vergossen; durch Mazedonien, Sizilien, Ägypten, Syrien und Kleinasien und fast an allen Küsten im Kriege umhergetrieben, hat er die von Römermord ermüdeten Heere zu auswärtigen Kriegen geführt. Während er die Alpen zur Ruhe brachte und mitten in friedliche Länder, mitten ins Reich hinein gesäte Feinde bezwang, während er die Grenzen über den Rhein, den Euphrat und die Donau vorschob, wurden in der Stadt selbst die Dolche eines Murena, Cäpio, Lepidus, der Egnatier gegen ihn geschliffen. Noch war er ihren Nachstellungen nicht entgangen, da setzten seine Tochter und so viele vornehme Jünglinge, durch Unzucht wie durch einen Eid an sie gefesselt, sein schon entkräftetes Alter in Schrecken, jenes Weib, das in der Verbindung mit einem Antonius abermals und noch mehr zu fürchten war. Diese Geschwüre hatte er samt den Gliedern selbst abgeschnitten; andere wuchsen nach; immer wieder brachen, wie an einem mit zu vielem Blut beschwerten Körper, einzelne Stellen auf. Deshalb wünschte er Ruhe; in ihrer Hoffnung und im Gedanken an sie ließen seine Anstrengungen nach. Das war der Wunsch dessen, der Wünsche erfüllen konnte.

Marcus Cicero, unter Leuten wie Catilina und Clodius, Pompejus und Crassus sich herumtreibend, teils offenbaren Feinden, teils zweifelhaften Freunden, während er mit der Republik schwankt und die Sinkende hält, zuletzt ihr entfremdet, weder im Glück zufrieden, noch im Unglück geduldig, – wie oft verwünschte er gerade sein Konsulat, das zwar nicht ohne Grund, aber ohne Maß gepriesen wird? Wie kläglich spricht er sich in einem Briefe an den Atticus aus, als Pompejus, der Vater, bereits besiegt war, der Sohn aber noch bemüht war, die zerbrochenen Waffen in Hispanien wieder herzurichten? »Was ich hier tue? schreibt er. Ich verweile in meinem Tuskulanum, ein Halbfreier.« Dann fügt er noch anderes hinzu, worin er teils die frühere Zeit bejammert, teils über die gegenwärtige klagt und an der zukünftigen verzweifelt. Einen Halbfreien nennt sich Cicero: aber wahrhaftig, nie wird ein Weiser zu einem so niedrigen Namen herabsteigen, nie wird er ein Halbfreier sein, stets in vollkommener und ungeschmälerter Freiheit, ungebunden, selbständig und über die anderen erhaben. Denn was kann über dem sein, der über dem Schicksal steht?

6. Livius Drusus, ein tätiger und heftiger Mann, einem gewaltigen Haufen von Leuten in ganz Italien beigesellt, trug sich mit neuen Gesetzen und Gracchischem Unheil, und da er nicht absah, wie es mit der Sache enden sollte, die er weder durchführen konnte, noch, einmal angefangen, wieder aufzugeben freie Hand hatte, soll sein von Jugend auf unruhiges Leben verflucht und gesagt haben: »Ihm allein seien niemals, nicht einmal als Knaben, Feiertage beschieden gewesen.« Er hatte nämlich schon als kleiner Knabe und noch das Knabenkleid tragend sich unterfangen, Angeklagte den Richtern zu empfehlen und seine Verwendung auf dem Forum so nachdrücklich geltend zu machen, daß, wie bekannt ist, einige Entscheidungen von ihm durchgesetzt wurden. Wozu mußte nicht ein so unzeitig früher Ehrgeiz führen? Man konnte wissen, daß eine so unreife Keckheit zu großem Unheil, sowohl für ihn selbst, als für den Staat ausschlagen müßte. Zu spät also klagte er, es seien ihm keine Ferien beschieden gewesen, er, der vom Knabenalter an ein unruhiger Kopf und dem Forum lästig gewesen war. Es ist ungewiß, ob er selbst Hand an sich gelegt habe; er stürzte nämlich plötzlich nach einer in den Unterleib empfangenen Wunde zusammen. Mancher zweifelte, ob das ein freiwilliger Tod gewesen, niemand aber, daß er zu rechter Zeit gekommen sei.

Es ist überflüssig, noch mehrere zu erwähnen, die, während sie andern überaus glücklich erschienen, gegen sich selbst ein wahres Zeugnis ausgestellt haben, da ihnen der ganze Verlauf ihrer Jahre verhaßt war. Doch durch solche Klagen haben sie weder andere geändert, noch sich selbst. Denn nachdem dergleichen Worte hervorgebrochen sind, fallen die Leidenschaften in ihre alte Gewohnheit zurück. Wahrhaftig, euer Leben, und wenn es über tausend Jahre hinausginge, wird sich sehr ins Enge zusammenziehen. Jene Fehler werden ein Jahrhundert nach dem andern verschlingen; diese Lebenszeit aber, die, obgleich sie ihrer Natur nach verrinnt, doch durch Vernunft erweitert wird, muß euch freilich schnell entfliehen. Denn ihr ergreift sie ja nicht und haltet sie nicht fest; ihr sucht die flüchtigste aller Sachen nicht zurückzuhalten, sondern laßt sie entschwinden wie etwas Überflüssiges und Wiederherstellbares. Hierher rechne ich aber besonders auch die, welche für nichts Zeit haben als für Wein und Wollust; denn niemand ist auf schimpflichere Weise beschäftigt. Die übrigen haben, obgleich sie von einem Trugbilde des Ruhmes gefesselt gehalten werden, bei ihren Verirrungen doch noch einen Schein für sich. Geizige oder Jähzornige, oder solche, die ungerechten Haß oder Feindseligkeiten üben: ihre Fehler haben doch alle etwas Männliches; die Seuche der in Wollust und Lüsternheit Versunkenen aber ist ganz häßlich. Prüfe die ganze Zeit jener Menschen; betrachte, wie lange sie rechnen, wie lange sie nachstellen, wie lange sie fürchten, wie lange sie den Hof machen oder sich machen lassen, wie viel Zeit ihre eigenen und fremden Bürgschaften, wie viel ihre Gastmähler in Anspruch nehmen, die ihnen schon selbst zu einer Dienstpflicht geworden sind: du wirst sehen, wie sie ihre – soll ich sagen Übel oder Güter? – nicht zu Atem kommen lassen. Man ist endlich allgemein darüber einig, daß von einem sonst schon in Anspruch genommenen Mann nichts mit Glück betrieben werden könne, nicht die Beredsamkeit, nicht die edeln Wissenschaften, da der zerstreute Geist nichts tief in sich aufnimmt, sondern alles, wie ihm eingestopft, wieder auswirft. Nichts ist weniger die Sache eines in Anspruch genommenen Menschen, als zu leben, und doch gibt es keine schwerere Kunst, als diese.

7. Lehrer der andern Künste gibt es überall und viele; manche von diesen schienen selbst kleine Knaben schon so erfaßt zu haben, daß sie sogar andere lehren konnten; leben aber muß man das ganze Leben hindurch lernen, und worüber du dich vielleicht noch mehr verwundern wirst: auch sterben muß man das ganze Leben lernen. So viele gar große Männer haben, nachdem sie alle Hindernisse bei seite gesetzt und Reichtümern, Dienstleistungen, Genüssen entsagt hatten, bis in das höchste Alter nur das eine betrieben: daß sie zu leben verständen; die Mehrzahl von ihnen aber ist mit dem Geständnis aus dem Leben gegangen, daß sie es noch nicht verständen; wie könnten es nun vollends jene anderen verstehen? Es ist, glaube mir, die Sache eines großen und über menschliche Irrtümer erhabenen Mannes, sich nichts von seiner Zeit nehmen zu lassen, und deshalb ist sein Leben das längste, weil es, so weit es sich ausdehnt, ganz ihm selbst gehört. Nichts davon hat brach und müßig gelegen, nichts davon ist einem andern unterworfen gewesen; denn er hat nichts gefunden, was wert gewesen wäre, gegen seine Zeit vertauscht zu werden, die er so haushälterisch hütete. Daher genügte sie ihm; denen aber muß sie notwendig fehlen, von deren Leben die Leute so vieles hinwegtragen. Du darfst aber deshalb nicht glauben, daß diese ihren Verlust nicht irgend einmal einsähen; sehr viele wenigstens von denen, die ein großes Glück belästigt, kannst du mitten unter der Schar ihrer Schützlinge, oder unter ihren Rechtshändeln, oder den übrigen in Ehren stehenden Erbärmlichkeiten bisweilen ausrufen hören: »Es ist mir nicht vergönnt, mir selbst zu leben!« Warum sollte es dir nicht vergönnt sein? Alle jene, die dich um Beistand anrufen, entführen dich dir selbst. Jener Angeklagte, wie viele Tage hat er dir entzogen? wie viele jener Amtsbewerber? wie viele jenes alte Weib, das die Begräbnisse ihrer Erben ermüdet haben? wie viele jener, der sich krank stellte, um die Habsucht der Erblaurer zu reizen? wie viele jener mächtige Freund, der euch nicht aus Freundschaft, sondern zum Prunke um sich hat? Gehe sie doch durch, ich bitte dich, und zähle sie auf, die Tage deines Lebens: du wirst sehen, daß nur sehr wenige und solche, die andere nicht mochten, dir selbst geblieben sind. Jener Mann, der die Fasces Die Rutenbündel mit Beilen darin, das Zeichen der konsularischen Würde, also das Konsulat selbst., die er begehrte, erlangt hat, wünscht sie wieder niederzulegen und sagt wiederholt: Wann wird endlich dies Jahr vorübergehen? Ein anderer veranstaltet Spiele Als Prätor. Zur Kaiserzeit fiel dem einen Prätor die Veranstaltung der Spiele, dem andern die Rechtspflege in den Provinzen zu, worüber das Los entschied., auf deren Erlangung durchs Los er hohen Wert gelegt hatte: Ach, ruft er: wann werde ich ihnen wieder entgehen? Jener wird als Schutzherr auf dem ganzen Forum fast zerrissen und füllt alle Räume durch großen Zusammenlauf, mehr, als anzuhören ist: Wann, fragt er, wird es zur Vertagung kommen? Jeder drängt sein Leben vorwärts und leidet an Sehnsucht nach der Zukunft, an Überdruß der Gegenwart. Wer jedoch alle Zeit zu seinem Gebrauch verwendet, wer jeden Tag so ordnet, als wäre er sein ganzes Leben, der wünscht weder den folgenden, noch fürchtet er ihn. Denn was für neuen Genuß könnte ihm noch irgend eine Stunde bringen? Alles ist ihm bekannt, alles bis zur Sättigung genossen. Das Übrige mag das Schicksal fügen, wie es will; sein Leben ist bereits in Sicherheit. Hinzugefügt kann ihm noch etwas werden, entzogen nichts, und zwar hinzugefügt, wie einem, der schon satt und voll ist, noch etwas Speise, die er zu sich nimmt, ohne ein Bedürfnis darnach zu fühlen.

8. Der grauen Haare und Runzeln wegen darfst du nicht glauben, daß einer lange gelebt habe; nicht lange gelebt hat er, sondern nur lange existiert. Denn, glaubst du wohl, es sei einer weit geschifft, wenn ihn, kaum aus dem Hafen heraus, ein schrecklicher Sturm empfangen und dahin und dorthin getragen und durch wechselnde Winde, die von entgegengesetzten Richtungen her tobten, immer auf demselben Raume im Kreise herumgetrieben hat? Er ist nicht weit geschifft, sondern viel umhergeworfen worden. Ich wundere mich immer, wenn ich sehe, daß manche Leute andere um Zeit ansprechen und die, welche darum gebeten werden, so bereitwillig sind. Das, weshalb die Zeit erbeten wird, haben beide im Auge, sie selbst aber keiner von beiden. Als wenn um ein Nichts gebeten, ein Nichts gewährt würde, wird mit der allerkostbarsten Sache ein Spiel getrieben. Sie täuscht sie aber, weil sie etwas Unkörperliches ist, weil sie nicht vor Augen tritt, und daher wird sie sehr gering geschätzt, ja sie hat ihnen fast gar keinen Wert. Jährliche Geschenke nimmt man sehr gern an und opfert ihnen seine Anstrengung, seine Dienste, seine Sorgfalt; niemand aber achtet den Wert der Zeit; man gebraucht sie verschwenderisch, als ob sie nichts koste. Betrachte aber dieselben Leute, wenn sie krank sind, wenn ihnen die Gefahr des Todes näher gerückt ist, wenn sie die Kniee der Ärzte umfassen, wenn sie die Todesstrafe fürchten und bereit sind, ihre ganze Habe zu opfern, um fortleben zu können. So ein Widerspruch! Könnte nun gleichwie der vergangenen, so auch der zukünftigen Jahre Zahl einem jeden bestimmt werden: wie würden die, welche sähen, daß ihnen nur noch wenige übrig wären, erzittern, wie sparsam mit ihnen umgehen! Und doch ist es so leicht, etwas bestimmt Zugemessenes, sei es auch nur wenig, einzuleiten; das gerade muß sorgfältiger bewahrt werden, wovon man nicht weiß, wann es aufhören werde. Du darfst jedoch nicht glauben, daß sie nicht wüßten, wie kostbar die Sache sei. Sie pflegen zu denen, welche sie am meisten lieben, zu sagen, sie seien bereit, ihnen einen Teil ihrer Jahre zu schenken. Sie schenken und verstehen es doch nicht, wie man schenken soll; sie schenken nämlich so, daß sie ohne Gewinn für jene sich etwas entziehen; aber eben das wissen sie nicht, ob sie sich etwas entziehen; daher erscheint ihnen der Schaden erträglich, weil der Verlust ihnen verborgen bleibt. Niemand wird dir die Jahre wieder schaffen, niemand dich dir selbst zurückgeben. Hingehen wird deine Lebenszeit, wie sie angefangen hat, und ihren Lauf weder zurückrufen, noch hemmen; sie wird keinen Lärm machen, sie wird dich nicht an ihre Eile erinnern: schweigend wird sie dahinfließen. Nicht auf Befehl eines Fürsten, nicht durch Volksgunst wird sie sich verlängern: wie sie vom ersten Tage angetreten, wird sie ihre Bahn dahinlaufen; nirgends wird sie einkehren, nirgends sich aufhalten. Was wird geschehen? Du bist geschäftig, das Leben eilt dahin; inzwischen wird der Tod erscheinen, für den du, magst du wollen oder nicht, Zeit haben mußt.

9. Kann das einer von denen, die sich ihrer Klugheit rühmen, die aber allzu eifrig beschäftigt sind, als daß sie besser leben könnten? Auf Kosten ihres Lebens richten sie ihr Leben ein und entwerfen Pläne auf lange Zeit hinaus. Das Hinausschieben ist der größte Verlust fürs Leben; es verzettelt immer den nächsten Tag, es entreißt die Gegenwart, indem es auf die Zukunft verweist. Das größte Hindernis des Lebens ist die Erwartung, die vom Morgen abhängt. Du verlierst den heutigen Tag; was in der Hand des Schicksals liegt, ordnest du, was in der deinigen, lässest du fahren. Wohin richtest du deine Blicke, wohin deine Gedanken? Alles, was kommen wird, steht unsicher; lebe für die Gegenwart! Siehe, der größte Dichter ruft dir zu und singt dir, wie von der Gottheit begeistert, den Spruch: »Immer der beste Tag aus dem Leben der armen Sterblichen fliehet zuerst!« Was zauderst du? was zögerst du? Wenn du nicht zugreifst, entflieht er, und auch wenn du zugegriffen hast, wird er doch entfliehen. Daher muß man mit der Eile der Zeit durch Schnelligkeit der Benutzung wetteifern und, wie aus einem reißenden Waldbache, der nicht immer strömen wird, rasch schöpfen. Auch das ist ein sehr treffender Tadel gegen das endlose Pläneschmieden, daß er nicht sagt: »Immer das beste Lebensalter«, sondern »der Tag«. Wie sorglos und bei der so raschen Flucht der Zeit phlegmatisch breitest du Monate und Jahre und ihre lange Reihe, wie es gerade deiner Begehrlichkeit beliebt, vor dir aus! Und er spricht mit dir von einem Tage, und zwar von einem schon entfliehenden. So ist es also nicht zweifelhaft, daß immer der beste Tag den unglücklichen, d. h. den vielgeschäftigen Sterblichen zuerst entflieht, da das Alter, zu dem sie unvorbereitet und ungerüstet gelangen, ihre Seelen noch in der Kindheit stehend überfällt. Denn für nichts haben sie gesorgt; plötzlich und unvermutet sind sie hineingeraten; sie merkten nicht, daß es Tag für Tag heranrückte. Gleichwie ein Gespräch oder eine Lektüre, oder irgend ein tieferer Gedanke die Reisenden täuscht und sie mit Staunen bemerken, daß sie schon angelangt sind: so werden die Vielgeschäftigen diese ununterbrochene und so ungemein rasche Lebensreise, die wir wachend und schlafend mit gleichem Schritte fortsetzen, nicht eher gewahr als am Ziele.

10. Wollte ich das, was ich mir zu zeigen vorgesetzt habe, im Einzelnen und mit Beweisen vortragen, so würde sich vieles darbieten, wodurch ich beweisen könnte, daß das Leben der Vielgeschäftigen ein sehr kurzes ist. Fabianus, nicht einer der Kathederphilosophen, sondern einer der echten und alten, pflegte zu sagen: »Gegen die Leidenschaften muß man mit Nachdruck, nicht mit zarter Schonung kämpfen, und ihre ruchlose Schar nicht durch leichte Wunden, sondern durch rasches Anstürmen verscheuchen; denn ihre Neckereien müssen zu Boden geschlagen, nicht durch Neckereien erwidert werden.« Doch wenn ihnen ihr Irrtum vorgehalten werden soll, so müssen sie belehrt, nicht bloß beklagt werden.

Das Leben teilt sich in drei Zeiten: die, welche war, die welche ist und die, welche sein wird. Die wir verleben, ist kurz, die wir verleben werden, zweifelhaft, die wir verlebt haben, gewiß. Denn diese ist es, an welche das Schicksal sein Anrecht verloren hat, die in keines Menschen Willkür zurückgebracht werden kann. Diese verlieren die Vielgeschäftigen; denn sie haben ja keine Zeit, in die Vergangenheit zurückzublicken, und wenn sie auch Zeit haben, so ist doch die Erinnerung an etwas, das man bereuen muß, unangenehm. Daher wenden sie nur ungern ihre Gedanken zu der schlecht verbrachten Zeit zurück und wagen nicht, dasjenige wieder aufzuregen, dessen Fehlerhaftigkeit, wenn sie sich auch durch irgendeinen Reiz augenblicklichen Vergnügens der Wahrnehmung entzog, jetzt ans Licht tritt. Niemand, außer wer alles mit strenger Aufmerksamkeit auf sich selbst tat, die sich niemals täuschen läßt, versetzt sich gern in die Vergangenheit zurück. Wer vieles mit Ehrgeiz begehrt, in Übermut verachtet, durch Unbändigkeit errungen, mit Hinterlist erschlichen, aus Habsucht an sich gerissen und in Verschwendung durchgebracht hat, muß notwendig sein Gedächtnis fürchten. Und doch ist dies der geheiligte und geweihte Teil unseres Lebens, der alle Unfälle der Menschheit überschritten hat und der Herrschaft des Schicksals entzogen ist, den nicht Mangel, nicht Furcht, nicht ein Krankheitsanfall beunruhigt. Er kann nicht gestört, nicht entrissen werden, sein Besitz ist ein beständiger und ruhiger. Nur einzelne Tage, und auch diese nur in Augenblicken, sind gegenwärtig; aber die der vergangenen Zeit werden sich alle, sobald du es verlangst, dir stellen und sich nach deinem Belieben beschauen und festhalten lassen; dies aber zu tun, fehlt es den Vielgeschäftigen an Zeit. Die Sache eines sorglosen und ruhigen Gemütes ist es, alle Teile seines Lebens zu durchlaufen; die Seelen der Vielgeschäftigen können sich, als ob sie unter dem Joche wären, nicht wenden und zurückschauen. Ihr Leben ist also in die Tiefe entschwunden, und so wie es nichts hilft, wenn du auch noch so viel hineingießest, wenn nicht unten etwas ist, was es aufnehme und halte: so kommt auch nichts darauf an, wieviel Zeit gegeben wird, wenn nichts da ist, wo sie haften bleibt; durch schadhafte und durchlöcherte Seelen rinnt sie hindurch. Die Gegenwart ist überaus kurz und zwar so, daß sie manchem wie gar nichts vorkommt; denn stets ist sie im Laufe, sie fließt und stürzt dahin; sie hört eher auf, als sie kam, und sie duldet ebensowenig einen Stillstand als das Weltall oder die Gestirne, deren beständige und rastlose Bewegung niemals auf demselben Standpunkt verharrt. Dem Vielgeschäftigen gehört also bloß die Gegenwart, die so kurz ist, daß man sie nicht erfassen kann, und gerade sie entzieht sich den nach so vielen Seiten hin Zerstreuten.

11. Willst du endlich wissen, inwiefern sie nicht lange leben? so sieh nur, wie lange sie zu leben wünschen. Abgelebte Greise erbetteln mit Gelübden die Zulage weniger Jahre; sie machen sich selbst jünger; sie schmeicheln sich durch eine Lüge und täuschen sich selbst mit solchem Behagen, als ob sie zugleich auch das Schicksal betrögen. Wenn sie aber einmal eine körperliche Schwäche an ihre Sterblichkeit erinnert, wie zaghaft sterben sie, nicht als ob sie hinaus gingen aus dem Leben, sondern als ob sie hinausgezerrt würden. Sie schreien, Toren seien sie gewesen, daß sie nicht gelebt hätten, und wenn sie nur bei dieser Krankheit davonkämen, so wollten sie in Muße leben. Dann bedenken sie, wie vergebens sie bereitet hätten, was sie nicht genießen würden, wie fruchtlos alle ihre Mühe gewesen. Ein Leben aber, das man fern von solchem Umtrieb führt, warum sollte es nicht lang genug sein? Nichts davon wird weggeschickt, nichts bald dahin, bald dorthin verstreut, nichts dem Zufall überlassen, nichts geht durch Nachlässigkeit zugrunde, nichts wird durch Verschenkung entzogen, nichts ist überflüssig; es ist, so zu sagen, ganz auf Zinsen angelegt. Wie kurz es daher auch immer sei, es ist überflüssig lang genug, und daher wird der Weise, mag der letzte Tag kommen, wann er will, nicht zaudern, festen Schrittes in den Tod zu gehen.

Du fragst vielleicht, welche Leute ich Vielgeschäftige nenne? Glaube nicht, daß ich bloß diejenigen meine, die erst durch auf sie losgelassene Hunde aus der Börsenhalle (Basilika) vertrieben werden, die du entweder in Mitten ihres Begleiterschwarmes mit Glanz oder unter dem Schwarme eines andern in Verachtung sich hinausdrängen siehst, die ihre Dienstfertigkeit aus dem Hause treibt und an fremde Türen klopfen heißt, welche eine öffentliche Versteigerung schimpflichen und zuweilen auch übel auslaufenden Gewinnes wegen beunruhigt. Bei manchen ist selbst die Muße eine geschäftvolle; in ihrem Landhause oder auf ihrem Ruhebette, mitten in der Einsamkeit, wenn sie sich von allem zurückgezogen haben, sind sie sich selbst zur Last; ihr Leben ist kein müßiges zu nennen, sondern eine geschäftige Müßigkeit.

12. Den nennst du einen in Muße Lebenden, der Corinthische Gefäße, die durch den Wahnsinn weniger Leute in hohem Werte stehen, mit ängstlicher Sorgfalt ordnet und den größten Teil seiner Zeit mit dergleichen rostigen Metallstückchen zubringt? der auf dem Ringplatze als Zuschauer ringender Knaben sitzt? der die Scharen seiner Sklaven in Paare nach Alter und Farbe einteilt? der die berühmtesten Athleten hält? Die nennst du in Muße lebend, die den größten Teil ihres Lebens mit Kamm und Spiegel beschäftigt sind? Und wie steht es mit jenen, die sich mit dem Dichten, Anhören und Vortragen von Liedchen beschäftigen, indem sie die Stimme, deren schlichten Gang die Natur so schön und einfach gebildet hat, durch die Windungen von Melodien auf müßigste Weise verdrehen? deren Finger, indem sie den Takt eines Liedes messen, sich beständig hören lassen? die, wenn sie zu ernsten, oft sogar traurigen Dingen zugezogen werden, eine leise Melodie vor sich hinsummen? Sie haben keine Muße, sondern eine untätige Geschäftigkeit. Wahrlich selbst ihre Gastmähler möchte ich nicht zur geschäftsfreien Zeit rechnen, wenn ich sehe, mit wie ängstlicher Sorge sie ihr Silbergerät ordnen, wie aufmerksam sie die Leibröcke ihrer Lustknaben aufschürzen, wie gespannt sie sind, in welcher Gestalt der Eber vom Koche kommen wird; mit welcher Eile ihre Sklaven auf das gegebene Zeichen zum Aufwarten herbeirennen. Solche Dinge müssen ihnen zu dem Ruhme eines geschmackvollen und glänzenden Hauswesens verhelfen, und ihre Verkehrtheit folgt ihnen so weit an jedes stille Plätzchen ihres Lebens nach, daß sie ohne eitle Gefallsucht weder essen noch trinken. Auch die wirst du nicht unter die in Muße Lebenden rechnen, die sich in Tragsesseln und Sänften hierhin und dahin schleppen lassen und den Stunden ihrer Motion so pünktlich obliegen, als dürften sie nicht davon abgehen; die ein anderer daran erinnert, wann sie sich baden, wann sie schwimmen, wann sie speisen sollen, und die durch allzu große Erschlaffung ihres verweichlichten Geistes in dem Grade abgespannt sind, daß sie durch sich selbst nicht wissen können, ob sie hungrig sind. Ich höre, daß einer von jenen Genußsüchtigen (wenn man es anders einen Genuß nennen darf, menschliches Leben und menschliche Gewohnheit zu verlernen), als er auf den Händen aus dem Bade getragen und auf den Tragsessel gesetzt worden war, gefragt habe: »Sitze ich jetzt?« Glaubst du, daß dieser Mensch, der nicht wußte, ob er sitze, wisse, ob er lebe, ob er sehe, ob er Muße habe? Es würde mir schwer werden, zu sagen, ob ich ihn mehr bedauerte, wenn er es wirklich nicht wußte, oder wenn er sich nur stellte, als wisse er es nicht. Bei vielen Dingen ist es ja wirklich ihre Vergeßlichkeit, bei vielen aber äffen sie dieselbe auch bloß nach; manche Verkehrtheiten machen ihnen Vergnügen als wären sie Beweise ihrer glücklichen Lage. Es scheint ihnen die Sache eines gemeinen und verächtlichen Menschen, zu wissen, was er tue. Da gehe nun hin und glaube, die mimischen Künstler machten sich einer Übertreibung schuldig, wenn sie in ihrer Art die Üppigkeit verhöhnen. Wahrlich, sie übergehen mehr, als sie darstellen, und die Menge unglaublicher Laster ist in diesem nur hierin erfinderischen Zeitalter so hoch gestiegen, daß wir den mimischen Künstlern Nachlässigkeit zum Vorwurf machen können. Sollte es denn einen geben, der so ganz in Weichlichkeit untergegangen wäre, daß er erst einen andern fragen müßte, ob er sitze?

13. Ein solcher ist also kein in Muße Lebender; gib ihm einen andern Namen: ein Kranker, nein, ein Toter ist er. In Muße lebt, wer ein Bewußtsein seiner Muße hat; der aber ist nur ein Halblebender, welcher zur Erkenntnis seines körperlichen Zustandes erst eines Entdeckers bedarf. Wie kann ein solcher jemals Herr seiner Zeit sein? Es wäre zu weitläufig, alle einzeln aufzuführen, die ihr Leben mit Brett- oder Ballspiel, mit dem Sömmern ihres Körpers in der Sonnenhitze hingebracht haben. Nicht in Muße leben die, denen die Vergnügungen viel zu schaffen machen. Wer sich mit den Studien unnützer Wissenschaften befaßt, der tut bei aller Geschäftigkeit nichts; und solcher gibt es auch bei den Römern bereits eine große Zahl. Früher war nur den Griechen die Schwachheit eigen, zu untersuchen, welche Zahl von Ruderknechten Ulysses gehabt habe, ob die Ilias oder die Odyssee früher geschrieben sei, und ob sie von demselben Verfasser herrührten; sodann noch andere Sachen desselben Schlages, die, wenn man sie für sich behält, das Wissen des sie Verschweigenden nicht fördern, wenn man sie aber andern mitteilt, einen nicht gelehrter, wohl aber lästiger erscheinen lassen. Aber siehe, auch die Römer hat die Sucht ergriffen, Überflüssiges zu erlernen. Dieser Tage hörte ich einen, der einen Vortrag darüber hielt, was jeder der römischen Feldherren zuerst vollbracht habe. Duilius war der erste, der in einer Seeschlacht siegte, Curius Dentatus der erste, der Elephanten im Triumphzuge aufführte. Obgleich dies nun zum wahren Ruhme nichts beiträgt, so bezieht es sich doch noch auf Beispiele von Taten unserer Mitbürger. Nutzen wird solche Kenntnis freilich nicht bringen, doch zieht sie uns wenigstens durch den äußern Glanz an sich nichtiger Dinge an. Wollen wir auch das erkunden, wer die Römer zuerst überredet hat, ein Schiff zu besteigen? Das war Claudius, welcher gerade deshalb Caudex genannt wurde, weil eine Zusammenfügung mehrerer Bretter bei den Alten caudex hieß, weshalb die Staatsschriften den Namen codices führen, und die Schiffe, die nach aller Gewohnheit Zufuhr auf dem Tiber bringen, auch jetzt noch caudicariae genannt werden. Immerhin möge auch das von einiger Wichtigkeit sein, daß Valerius Corvinus zuerst Messana besiegte und als der erste aus der Familie der Valerier, der den Namen einer eroberten Stadt auf sich übertrug, Messana genannt wurde, später aber, da das Volk allmählich die Buchstaben verwechselte, Messala hieß. Willst du einen sich auch darum kümmern lassen, daß Lucius Sulla zuerst Löwen im Zirkus sehen ließ, weil ihm König Bocchus Wurfspießschützen gesendet hatte, die sie erlegten? Hat es wohl irgendeinen Nutzen, zu wissen, daß Pompejus zuerst einen Kampf von achtzehn Elefanten im Zirkus zeigte, indem nach Art eines Treffens Verbrecher auf sie losgehen mußten? Der erste Mann im Staate und unter den großen Männern des Altertums, wie die Sage meldet, durch Gutherzigkeit ausgezeichnet, hielt es für eine merkwürdige Art von Schauspiel, Menschen auf eine ganz neue Weise ums Leben zu bringen. Sie kämpfen auf Leben und Tod? das genügt nicht; sie werden zerfleischt? das genügt nicht; sie müssen von der ungeheuern Last der Bestien zertreten werden. Besser wäre es gewesen, daß dergleichen in Vergessenheit gekommen, damit es nicht später irgendein Machthaber lerne und eine so ganz unmenschliche Handlung nachahme.

14. O welche Verblendung bringt ein großes Glück über unsere Herzen! Jener hielt sich damals erhaben über die Natur der Dinge, als er so viele Scharen unglückseliger Menschen den unter einem andern Himmelsstrich geborenen Bestien vorwarf, als er einen Krieg zwischen so ungleichen Geschöpfen führen ließ, als er vor den Augen des römischen Volkes so viel Blut vergoß, er, der es bald zwingen wollte, selbst noch mehr zu vergießen. Und derselbe Mann bot sich später, durch die Treulosigkeit der Alexandriner getäuscht, dem niedrigsten Sklaven dar, damit er ihn durchbohre; jetzt erst erkannte er den eiteln Prunk seines Beinamens. Doch um darauf zurückzukommen, wovon ich abgeschweift bin, so will ich noch eine andere überflüssige Sorgfalt mancher Menschen zeigen. Eben derselbe oben erwähnte Philosoph erzählte, Metellus habe, als er nach seinem Siege über die Karthager in Sizilien einen Triumphzug hielt, als der einzige unter allen Römern hundert und zwanzig erbeutete Elefanten vor seinem Wagen herführen lassen; Sulla aber sei der letzte unter den Römern gewesen, der das Stadtgebiet von Rom weiter hinausgerückt habe, das nach alter Sitte nie bei einer Erwerbung von Provinzialgebiet, sondern nur von italienischem Boden hinausgerückt zu werden pflegte. Solches zu wissen, nützt noch etwas mehr, als daß, wie jener versichert, der Aventinische Hügel sei außerhalb des Stadtgebietes, entweder weil der Bürgerstand dahin ausgezogen wäre, oder weil bei den Auspizien des Remus die Vögel nicht für diesen Ort gestimmt hätten; und so noch unzählige andere Dinge, die entweder Lügen oder ihnen ähnlich sind. Denn auch zugegeben, daß sie das alles in gutem Glauben erzählen und sichern Gewährsmännern nachschreiben: wessen Irrtümer werden denn dadurch verringert? wessen Leidenschaften unterdrückt? wen wird es tapferer, wen gerechter, wen wohltätiger machen? Unser Fabianus pflegte bisweilen zu sagen, er wisse nicht, ob es nicht besser sei, sich überhaupt auf gar keine Studien einzulassen, als sich in solche zu verwickeln. Nur die allein von allen leben in Muße, die ihre Zeit der Weisheit widmen; sie allein leben wirklich; denn nicht nur ihre eigene Lebenszeit hüten sie gut, sondern sie fügen auch jedes Zeitalter dem ihrigen bei. Sämtliche Jahre, die vor ihnen verlebt worden sind, gewinnen sie für sich. Wenn wir nicht die undankbarsten Leute sind, so sind die berühmten Religionsstifter für uns geboren, so haben sie uns den Weg gebahnt. Zu den herrlichsten Dingen, die aus Finsternis ans Licht gezogen wurden, gelangen wir durch fremde Anstrengungen; kein Jahrhundert ist uns verschlossen, zu allen haben wir Zutritt, und wenn wir Lust haben, hohen Sinnes über die Beschränktheit menschlicher Schwäche hinauszugehen, so haben wir einen großen Zeitraum, den wir durchwandern können. Es ist uns gestattet, mit Sokrates zu disputieren, mit Karneades zu zweifeln, mit Epikur der Ruhe zu pflegen, mit den Stoikern die menschliche Natur zu überwinden, mit den Zynikern über sie hinauszugehen, wie die Natur mit jedem Zeitalter Schritt zu halten. Warum sollten wir uns nicht von dem unbedeutenden und vergänglichen Augenblick mit ganzer Seele dem zuwenden, was unendlich, was ewig ist, was uns mit den Edelsten verbindet? Jene, die Besuche machend umherlaufen, die sich und andern Unruhe machen, – wenn sie nun gehörig toll gewesen, wenn sie tagtäglich an aller Schwellen die Runde gemacht haben und bei keiner offenen Türe vorbeigegangen, wenn sie mit ihren bezahlten Besuchen in den entferntesten Häusern herumgekommen sind – wie viele werden sie in der so unermeßlichen und durch so verschiedene Gelüste zerstreuten Stadt nicht angetroffen haben! wie viele werden sich finden, deren Schlaf oder Schwelgerei oder Unfreundlichkeit sie abweist! wie viele, die sie unter Vorgeben großer Eile nach langem Wartenlassen doch nicht vorlassen! wie viele werden es vermeiden, durch die mit Klienten vollgestopfte Vorhalle auszugehen und durch eine verborgene Pforte des Hauses entwischen! als ob es nicht unartiger wäre, jemanden zu täuschen als abzuweisen. Wie viele werden vom gestrigen Rausche noch halb schlaftrunken und schweren Kopfes mit kaum geöffneten Lippen und dem stolzesten Gähnen den ihnen tausendmal eingeflüsterten Namen jener Beklagenswerten aussprechen, die ihren eigenen Schlaf abbrechen, um den eines andern abzuwarten!

Von denen hingegen dürfen wir sagen, daß sie ihre Zeit recht verbringen, die täglich den Zeno, den Pythagoras, den Demokrit und die übrigen Lehrer der edeln Wissenschaften, den Aristoteles und Theophrastus zu den vertrautesten Freunden haben wollen. Von diesen wird keiner sich wegen Mangels an Zeit entschuldigen, keiner den zu ihm Kommenden nicht glückseliger und liebevoller entlassen, keiner irgendeinen mit leeren Händen von sich weggehen lassen. Bei Nacht wie bei Tage kann jeder Sterbliche bei ihnen Zutritt finden. Keiner von ihnen wird dich zu sterben zwingen, lehren aber werden es alle; keiner von ihnen bringt dich um deine Jahre, er gibt dir die seinigen noch dazu. Keiner von ihnen wird dir durch seine Unterhaltung gefährlich sein, keiner durch seine Freundschaft dein Leben gefährden, bei keinem die Ehrerbietung gegen ihn großen Aufwand verursachen.

15. Du wirst von ihnen erhalten, was du nur willst; an ihnen wird es nicht liegen, wenn du nicht so viel davonträgst, als du nur fassen kannst. Welches Glück, welches schöne Greisenalter erwartet den, der sich unter ihren Schutz begeben hat! Mit ihnen wird er sich über das Unbedeutendste wie über das Wichtigste besprechen, sie über sich selbst zu Rate ziehen, von ihnen die Wahrheit ohne Beschämung hören, ihr Lob ohne Schmeichelei vernehmen, nach ihrem Muster sich ausbilden können. Wir pflegen zu sagen, es habe nicht in unserer Macht gestanden, wen wir zu Eltern bekämen, sie seien uns durchs Schicksal zuerteilt; aber nach unserer Wahl heranzuwachsen, das ist uns erlaubt. Es gibt Familien der edelsten Geister: wähle, in welche du aufgenommen sein willst. Nicht bloß in bezug auf den Namen wirst du an Sohnes Statt angenommen werden, sondern auch in bezug auf das Erbgut selbst; und dieses wirst du nicht auf schmutzige und eigennützige Weise zu hüten haben; es wird größer werden, unter je mehrere du es verteilst. Sie werden dir den Weg zur Ewigkeit zeigen und dich auf einen Platz erheben, von dem niemand dich verdrängen wird. Das ist die einzige Art und Weise, die Sterblichkeit weiter hinauszurücken, ja, in Unsterblichkeit zu verwandeln. Ehrenämter, Denkmäler und alles, was die Eitelkeit entweder durch Beschlüsse verordnet oder in Kunstwerken aufgebaut hat, geht schnell zugrunde; alles zerstört und vernichtet die Länge der Zeit. Was die Weisheit geheiligt hat, dem kann kein Schade zugefügt werden. Kein Zeitalter wird sie vertilgen, keines sie schwächen; sie wird mit der Zeit immer ehrwürdiger; denn der Neid geht nur auf das Naheliegende, das Fernstehende wird aufrichtiger bewundert. Das Leben des Weisen also hat eine weite Ausdehnung; ihn schließen nicht dieselben Grenzen wie die andern ein; er allein ist von den Gesetzen der Menschheit entbunden; alle Jahrhunderte dienen ihm wie einer Gottheit. Ist eine Zeit vorübergegangen – er faßt sie in der Erinnerung auf; ist sie da – er macht Gebrauch von ihr; wird sie kommen – er genießt sie voraus. Das Zusammenfassen aller Zeiten in eine macht ihm das Leben lang. Sehr kurz und sorgenvoll dagegen ist das Leben derer, die das Vergangene vergessen, das Gegenwärtige vernachlässigen, das Zukünftige fürchten. Wenn sie ans Ende gelangt sind, dann sehen die Beklagenswerten zu spät ein, daß sie vielgeschäftig waren, und doch nichts getan haben.

16. Und glaube ja nicht, das sei ein Beweis dafür, daß sie ein langes Leben führen, weil sie zuweilen den Tod herbeirufen. Es quält sie ihr Unverstand mit unbestimmten Wünschen, die gerade auf das lossteuern, was sie fürchten; den Tod wünschen sie oft deshalb, weil sie ihn scheuen. Auch das darfst du für keinen Beweis dafür halten, daß sie lange leben, weil ihnen zuweilen die Zeit lang wird, weil sie, bis die festgesetzte Zeit der Mahlzeit kommt, klagen, daß die Stunden so langsam dahinschleichen; denn, wenn sie einmal die Beschäftigungen verlassen haben, so sind sie in Muße gelassen in Verlegenheit und wissen nicht, wie sie dieselbe anwenden oder hinschleppen sollen. Daher begehren sie nach irgendeiner Beschäftigung, und alle Zeit, die dazwischen liegt, ist ihnen lästig, wahrlich gerade so, wie sie, wenn der Tag eines Fechterspiels angekündigt ist oder die festgesetzte Zeit irgendeines andern Schauspiels oder Vergnügens erwartet wird, die Zwischentage überspringen möchten. Jedes Hinausschieben einer gehofften Sache erscheint ihnen lang im Verhältnis zu einer Zeit, die doch für den, dem sie lieb ist, kurz und flüchtig und leider schon ihrem eigenen Wesen nach viel zu kurz ist. Denn sie eilen von dem einen zu dem andern und können nicht bei einem Verlangen stehen bleiben. Einem solchen sind die Tage nicht lang, sondern verhaßt. Wie kurz dagegen erscheinen ihnen die Nächte, die sie in den Umarmungen ihrer Buhldirnen oder beim Weine hinbringen! Daher auch der Wahnsinn der Dichter, die mit ihren Fabeln die Verirrungen der Menschen nähren, indem sie glauben, Jupiter habe von Wollust bezaubert die Dauer der Nacht verdoppelt. Heißt es nicht unsere Laster entflammen, wenn wir sie den Göttern, wie Vorbildern, zuschreiben und dem Laster eine durch das Beispiel der Götter entschuldigte Ungebundenheit gestatten? Müssen ihnen die Nächte nicht sehr kurz vorkommen, da sie dieselben so teuer erkaufen? Den Tag verlieren sie in Erwartung der Nacht, die Nacht in Furcht vor dem Tage. Ihre Vergnügungen selbst sind angstvoll und durch mancherlei Schrecken beunruhigt, und in ihrer ausgelassensten Freude beschleicht sie der Gedanke: Wie lange wird sie dauern? In diesem Gefühle haben Könige ihre Macht beweint, und es hat sie nicht die Größe ihres Glücks ergötzt, sondern das einmal bevorstehende Ende desselben erschreckt. Als der so übermütige Perserkönig sein Heer in den weiten Räumen der Ebene ausbreitete und nicht die Zahl, sondern den Umfang desselben erforschte, vergoß er Tränen, weil in hundert Jahren von einer solchen Menge junger Männer kein einziger mehr übrig sein werde. Und doch war er, der da weinte, eben selbst im Begriff, sie dem Tode zuzuführen und den einen zur See, den andern zu Lande, den einen in der Schlacht, den andern auf der Flucht zu vernichten und die in kurzer Zeit aufzureiben, für die er auf hundert Jahre hinaus fürchtete.

17. Ja, sind nicht selbst ihre Freuden unruhvoll? Sie ruhen nämlich nicht auf fester Grundlage, sondern werden durch dieselbe Nichtigkeit, aus der sie entspringen, auch gestört. Was aber meinst du müssen das für Zeiten sein, die nach ihrem eigenen Geständnis elend sind, da selbst die, in denen sie sich brüsten und über alle andern Menschen erhaben dünken, nicht völlig ungetrübt sind? Je größer das Gut, desto größer die Sorge, und keinem Glücke ist weniger zu trauen als dem gütigsten. Einer ganz anderen Glückseligkeit bedarf es, um sich den Glückszustand zu erhalten, und gerade für die Wünsche, welche schon Erfolg hatten, muß man Gelübde tun. Denn alles, was uns durch Zufall zuteil ward, ist unbeständig; je höher etwas gestiegen ist, desto reifer ist es zum Falle; was aber bald fallen wird, macht keinem mehr Freude. Sehr elend also, nicht bloß sehr kurz muß das Leben derer sein, die sich mit großer Anstrengung verschaffen, was sie nur mit noch größerer besitzen können; die mit Mühe erlangen, was sie wünschen, mit Angst besitzen, was sie erlangt haben. Inzwischen nehmen sie keine Rücksicht auf die Zeit, die doch nie wiederkehren wird. Neue Beschäftigungen treten an die Stelle der alten, eine Hoffnung erweckt die andere, ein eitles Streben das andere. Man sucht nicht ein Ende des Elends, nur seine Quelle wird verändert. Unsere Ehrenstellen haben uns gequält – noch mehr Zeit nehmen uns fremde weg. Als Amtsbewerber haben wir uns abzumühen aufgehört – als Empfehler anderer fangen wir wieder an. Die Last des Anklagens haben wir abgeschüttelt – die des Richtens bekommen wir dafür. Richter zu sein hat einer aufgehört – er leitet nun Untersuchungen. Unter besoldeter Verwaltung fremder Güter ist er alt geworden – durch sein eigenes Vermögen wird er jetzt in Beschäftigung gehalten. Den Marius hat der Kriegsdienst entlassen – das Konsulat beschäftigt ihn dafür. Quinktius beeilt sich, die Diktatur hinter sich zu haben – man wird ihn von dem Pfluge wieder holen. Gegen die Karthager will, noch unreif zu einem so großen Unternehmen, Scipio zu Felde ziehen, der Besieger Hannibals, der Besieger des Antiochus, die Zierde seines eigenen Konsulats, der Bürge des brüderlichen; wenn er nicht selbst Einhalt tut, wird man ihn neben Jupiter aufstellen: aber bürgerliche Unruhen werden auf den Retter einstürmen, und nachdem er als Jüngling göttergleiche Ehren verschmäht hat, wird es ihm als Greis Freude machen, trotzig in das Exil zu ziehen. Nie wird es weder im Glück noch im Elend an Ursachen zur Besorgnis fehlen; durch die Geschäfte des Lebens wird die Muße benommen werden: nie wird man handeln, ewig wünschen.

18. Daher scheide dich aus vom großen Haufen, mein teuerster Paullinus, und ziehe dich, nachdem du solange und soviel herum geworfen worden bist, in den ruhigern Hafen zurück. Bedenke, wie vielen Wogen du dich ausgesetzt, wie viele Stürme du teils im Privatleben ausgehalten, teils im öffentlichen gegen dich gelenkt hast. Hinlänglich bewährt durch mühe- und unruhvolle Beweise ist schon deine Geistesstärker mache nun die Probe, was sie in der Muße leiste. Der größere Teil deines Lebens, wenigstens der bessere, möge dem Staate gewidmet sein; etwas von deiner Zeit aber nimm auch für dich selbst. Und ich rufe dich nicht zu einer trägen und tatenlosen Ruhe; ich verlange nicht, daß du das ganze lebendige Naturell, das in dir ist, in Schlaf und in Genüsse versenkest, wie sie die Menge liebt. Das heißt nicht in Ruhe leben; du wirst viel Wichtigeres als alle bisher so eifrig betriebenen Geschäfte finden, was du in Zurückgezogenheit und Sorglosigkeit verrichten kannst. Du führst zwar die Rechnungen des Reichs eben so uneigennützig wie die eines andern, eben so sorgfältig wie die eigenen, eben so gewissenhaft wie Staatsrechnungen es erfordern; du gewinnst Liebe in einem Amte, bei dem es schwer ist, Haß zu vermeiden; aber dennoch, glaube mir, ist es besser, die Rechnung seines eigenen Lebens zu kennen als die über die Staatsmagazine. Jene Lebendigkeit des Geistes, die der größten Unternehmungen fähig ist, wende von einem zwar ehrenvollen, aber zu einem glückseligen Leben sehr wenig geeigneten Dienste hinweg auf dich selbst und bedenke: du hast es von frühester Jugend an bei all deinem Studium der edlen Wissenschaften nicht darauf abgesehen, daß dir viele tausend Scheffel Getreide sicher anvertraut werden könnten; du hattest etwas Größeres und Höheres von dir hoffen lassen. An Männern von strenger Wirtschaftlichkeit und arbeitsamer Tätigkeit wird es nicht fehlen. Langsames Zugvieh ist viel geeigneter zum Fortschaffen von Lasten als edle Rosse. Wer hat je deren herrliche Behendigkeit durch schweres Gepäck gelähmt? Bedenke ferner, wie große Unruhe es macht, dich einer solchen Last hinzugeben. Mit dem Magen der Menschen hast du es zu tun, und das hungernde Volk nimmt weder Vernunft an, noch läßt es sich durch Billigkeit besänftigen oder durch Bitten bestimmen. Noch jüngst, wenige Tage früher, als Kajus Cäsar (Caligula) starb – der, wenn Verstorbene noch ein Bewußtsein haben, darüber den größten Arger fühlt, daß er sterben mußte, während ein römisches Volk ihn überlebte – waren kaum auf sieben, höchstens acht Tage Speisevorräte vorhanden! Während er Schiffbrücken schlug und mit den Kräften des Staats sein Spiel trieb, war das äußerste Übel vorhanden, Mangel an Lebensmitteln. Fast den Untergang und Hungersnot und was ihr zu folgen pflegt, allgemeines Verderben, kostete die Nachahmung jenes tollen und ausländischen und zu seinem Unglück übermütigen Königs Des Xerxes, der bekanntlich den Hellespont überbrückte und den Caligulas Wahnsinn durch jene über den Meerbusen von Bajä geschlagene Schiffbrücke nachahmen wollte, die sein Landgut Bauli mit Puteoli verbinden sollte.. Wie war damals denen zumute, welchen die Sorge für die Staatsmagazine übertragen war? Steinwürfen, Arten, Feuerbränden, Schwertern ausgesetzt, verbargen sie nur mit der größten Verstellungskunst den inneren Abelstand, freilich mit gutem Grunde. Denn manches muß man heilen, ohne daß die Kranken es wissen; schon für viele ward die Kenntnis ihrer Krankheit eine Ursache des Todes.

19. Ziehe dich zu diesen Beschäftigungen zurück, die viel ruhiger, sicherer und großartiger sind. Hältst du es etwa für gleich, ob du dafür sorgst, daß das Getreide unversehrt durch den Betrug oder die Nachlässigkeit der Lieferanten in die Magazine geschafft, daß es nicht durch angezogene Feuchtigkeit verderbe und heiß werde, daß es dem Maß und Gewicht entspreche, oder ob du zu diesen heiligen und erhabenen Beschäftigungen herantrittst, um zu erkunden, was für Wesen die Götter sind? wie ihre Genüsse, ihr Zustand, ihre Gestalt beschaffen seien? welches Geschick deine Seele erwartet und wohin uns die Natur nach der Entfesselung vom Körper versetze? was die schweren Körper des Weltalls in der Mitte erhalte und über dem Leichten schweben mache, das Feuer in die höchsten Regionen erhebe und die Gestirne zu ihrem Wechsellauf aufrege? und was es sonst noch der außerordentlichsten Wunder gibt. Willst du, den Erdboden verlassend, dich in deinen Gedanken dorthin erheben? Jetzt, so lange das Blut noch warm, das Leben noch frisch ist, müssen wir uns an das Bessere machen. Bei dieser Lebensweise erwartet dich eine Fülle edler Wissenschaften, Liebe zur Tugend und Übung in ihr, Vergessen der Begierden, die Kunst zu leben und zu sterben, ein Zustand tiefer Ruhe. Zwar ist die Lage aller Vielgeschäftigen eine traurige, die traurigste jedoch derjenigen, die sich nicht einmal mit ihren eigenen Geschäften abmühen, sich beim Schlafen nach dem Schlafe eines andern, beim Spazierengehen nach dem Schritte eines andern, beim Essen nach dem Appetit eines andern richten, die sich das Lieben und Hassen, das Freieste von allem, von einem andern befehlen lassen. Wollen diese Menschen erkennen, wie kurz ihr eigenes Leben ist, so mögen sie bedenken, welch ein kleiner Teil davon ihnen gehört. Wenn du daher siehst, daß sie schon oft den verbrämten Mantel anlegten, daß ihr Name auf dem Forum gefeiert ist, so beneide sie nicht. Solches erwirbt man nur auf Kosten des Lebens; daß ein einziges Jahr nach ihrem Namen bestimmt werde D. h. daß sie Konsuln werden, mit deren Namen bei den Römern die Jahre bezeichnet wurden., dafür werden sie alle ihre Jahre opfern. Manche hat, ehe sie den Gipfel ihres Ehrgeizes erklommen, indem sie noch auf den ersten Stufen sich abmühten, das Leben verlassen; manche, die durch tausend Unwürdigkeiten bis zur höchsten Würde hinangedrungen sind, beschleicht der kummervolle Gedanke, daß sie sich nur für den Titel auf ihrer Grabschrift abgemüht haben; manche hat das höchste Greisenalter, während sie, wie in der Jugend auf neue Hoffnungen hin ihre Pläne machten, mitten unter großen und verwegenen Bestrebungen kraftlos im Stiche gelassen.

20. Schande über den, dem der Atem entflieht, während er hochbejahrt vor Gericht im Interesse der unbekanntesten Prozeßführer nach dem Beifall des unverständigen Zuhörerkreises hascht; schändlich der Mann, der eher des Lebens, als seines mühevollen Treibens satt, mitten in seiner Dienstgeschäftigkeit zusammensinkt; schändlich der, welchen, wenn er mitten in seinen Abrechnungen stirbt, der lange hingehaltene Erbe verlacht! Hier kann ich ein Beispiel, welches mir eben einfällt, nicht übergehen. Turannius war ein Greis vom pünktlichsten Fleiße. Über neunzig Jahre alt, erhielt er vom Kajus Cäsar ohne sein Ansuchen die Entlassung von seinem Verwaltungsposten; da ließ er sich auf das Bett legen und von der umherstehenden Dienerschaft wie einen Verstorbenen bejammern. Sein ganzes Haus betrauerte die dem greisen Gebieter gewordene Muße und endete seine Trauer nicht eher, als bis ihm sein mühevolles Amt zurückgegeben war. Macht es denn eine so große Freude, mitten in Geschäften zu sterben? Dies aber ist die Gesinnung der meisten; ihr Verlangen nach Anstrengung dauert länger als ihre Kraft dazu; sie ringen mit der Schwäche des Körpers; sie achten das Greisenalter in keiner andern Hinsicht für lästig, als weil es sie von Geschäften entfernt. Das Gesetz hebt vom fünfzigsten Jahre an niemanden mehr zum Soldaten aus, ernennt vom sechzigsten an niemanden mehr zum Senator; schwerer aber, als vom Gesetz, erlangen die Leute von sich selbst müßige Zeit. Inzwischen, während sie weder sich noch andere zu sich selbst kommen lassen, während einer des andern Ruhe vernichtet, während sie gegenseitig elend sind, ist ihr Leben ohne Genuß, ohne Vergnügen, ohne allen Fortschritt des Geistes; niemand hat den Tod vor Augen, jedermann richtet seine Hoffnungen in die Ferne. Manche ordnen sogar noch an, was über das Leben hinausliegt, gewaltige Steinmassen von Grabmälern, Stiftungen öffentlicher Bauwerke, Fechterspiele an ihrem Scheiterhaufen und prunkvolle Leichenbegängnisse. Aber wahrhaftig, sie sollten, als die da nur wenig gelebt haben, bei Fackel- und Kerzenschein hinausgetragen werden Wie Kinderleichen, die ohne Begleitung und Leichengepränge bei Nacht bestattet wurden..


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