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Vom glückseligen Leben

1. Glücklich zu leben wünscht jedermann; aber die Grundlagen des Glücks erkennt fast niemand. Freilich ist ein glückseliges Leben keine ganz einfache Sache. Wer einmal den Weg verfehlt hat, entfernt sich immer weiter davon; und geht er nach der entgegengesetzten Seite, so wird gerade Eile ihn immer mehr abführen. Man muß daher zuerst wissen, worauf das Streben zu richten ist; sodann ist der Weg aufzusuchen, der am raschesten ans Ziel führt. Einmal auf dem rechten Weg, wird man sehen, wie groß die Strecke ist, die man täglich zurückgelegt hat, und wie weit noch das Ziel, zu dem uns ein natürliches Verlangen zieht. Solange wir aber da und dort herumschweifen, von verworrenen Stimmen bald da-, bald dorthin gezogen, wird unser Leben nur ein steter Irrweg sein, auch wenn wir uns Tag und Nacht um eine richtige Ansicht bemühen. Daher entscheide man sich über das Ziel und den Weg und sehe sich nach einem kundigen Führer um, der Ziel und Weg bereits erforscht hat. Es ist hier nicht ebenso wie bei anderen Reisen: hier hält uns ein Fußpfad, ein Hinweis anwohnender Leute auf dem rechten Weg; dort täuscht gerade der betretenste Weg am meisten. Folgen wir nicht, wie das Herdenvieh, der Schar der Vorangehenden! Wandern wir nicht, wo gegangen wird, anstatt auf dem Wege, den man gehen soll! Nichts bringt uns in größere Übel, als wenn wir uns nach dem Gerede der Leute richten, für das Beste halten, was »allgemein angenommen« ist, nicht nach Vernunftgründen, sondern nach Beispielen leben. Betrachte jene gewaltige Zusammenhäufung von Leuten, wo einer über den andern fällt. Wie bei einem großen Menschengedränge niemand fällt, ohne auch noch andere nach sich zu ziehen, und die Vordersten den Folgenden verderblich werden, so ist es im ganzen Leben: Niemand irrt nur für sich allein, sondern er ist auch Ursache und Urheber fremden Irrtums. Jeder will lieber glauben als nachdenken, und so wird nie über das Leben nachgedacht. Immer glaubt man nur andern, und ein von Hand zu Hand fortgegebener Irrtum lenkt uns und stürzt uns ins Verderben; durch fremde Beispiele gehen wir zu grunde. Wir werden gerettet, sobald wir uns vom großen Haufen absondern. Ihres eigenen Verderbens Verteidiger, steht die Menge der Vernunft feindlich gegenüber. Und so geht es denn wie in den Wahlversammlungen, wo sich dieselben Leute darüber verwundern, daß einer Prätor geworden ist, die ihn doch mitgewählt haben; ein und dasselbe wird gebilligt und getadelt – das ist der Ausgang eines jeden Urteils, bei dem nach der Mehrzahl entschieden wird.

2. Wenn es sich um ein glückseliges Leben handelt, darfst du mir nicht wie bei Senatsabstimmungen antworten: »auf dieser Seite scheint die Wahrheit zu sein«. Eben deshalb ist es das Schlimmere. Es steht mit der Sache der Menschheit nicht so gut, daß das Bessere der Mehrzahl gefiele; ein großer Haufe ist Beweis des Schlechtesten. Laß uns daher fragen, was am besten zu tun sei, nicht, was gewöhnlich geschieht, und was uns in den Besitz eines ewigen Glückes setzt, nicht, was dem großen Haufen, dem schlechtesten Dolmetscher der Wahrheit, genehm ist. Zum großen Haufen aber rechne ich ebensowohl Leute mit Kronen als Leute im schlechten Kittel. Nicht sehe ich auf die Farbe der Kleider, womit die Leiber behängt sind; nicht traue ich den Augen bei meinem Urteil über einen Menschen. Um das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, habe ich ein besseres Licht: des Geistes Wert finde der Geist. Wenn dieser einmal Zeit gewinnt, sich zu erholen und sich in sich selbst zurückzuziehen, wie wird er, von sich selbst gefoltert, sich die Wahrheit gestehen und sagen: Alles, was ich bisher getan, möchte ich lieber ungeschehen wissen; wenn ich an alles zurückdenke, was ich gesprochen habe, so beneide ich die Sprachlosen; alles, was ich gewünscht habe, dünkt mir ein Fluch von Feinden; Alles, was ich gefürchtet, o ihr guten Götter, wie viel leichter war es zu ertragen als das, was ich wünschte? Mit vielen habe ich in Feindschaft gelebt und bin aus dem Hasse – wenn überhaupt es unter Schlechten Freundschaft gibt – wieder zur Freundschaft zurückgekehrt; mir selbst aber bin ich noch kein Freund. Ich habe mir alle Mühe gegeben, mich aus der Menge hervorzuheben und durch irgend ein Talent bemerkbar zu machen; was anderes habe ich davon, als daß ich mich zu einem Ziel gemacht und dem Übelwollen gezeigt habe, wo es mich packen kann? Betrachte jene Leute, die deine Beredsamkeit preisen, deinem Reichtum nachgehen, um deine Gunst buhlen, deine Macht in den Himmel erheben! Sie alle sind deine Feinde, oder, was gleich ist, können es sein. So viele Bewunderer, so viele Neider.

3. So will ich lieber etwas suchen, was als gut erprobt ist und wovon ich einen Genuß habe, nicht etwas, womit ich prunken kann; was man anschaut, wovor man stehen bleibt, was einer dem andern mit Erstaunen zeigt; das glänzt von außen, inwendig aber ist's elend. Laß uns etwas suchen, das nicht bloß dem äußern Scheine nach gut, sondern gehaltvoll, gleichförmig und auf der verborgenen Seite sogar noch schöner ist. Das laß uns ausfindig machen; und es liegt nicht fern, es wird sich finden lassen, nur muß man wissen, wohin man die Hand ausstrecken soll. Jetzt gehen wir wie im Finstern am Naheliegenden vorüber und stoßen gerade an das, was wir sehnlich verlangen.

Doch um dich nicht auf Umwegen herumzuschleppen, will ich die Ansichten andrer übergehen; denn es wäre zu weitläufig, sie herzuzählen und zu widerlegen. Hier hast du die unsrige. Wenn ich sage »die unsrige«, so binde ich mich nicht an einen von den Häuptern der Stoa; auch ich habe das Recht meiner Meinung. Daher werde ich dem einen beipflichten, einen andern seine Ansicht im einzelnen entwickeln heißen; vielleicht werde ich auch, nach allen andern zum Sprechen aufgefordert, nichts von dem, was meine Vorgänger entschieden haben, verwerfen und bloß sagen: »Ich habe dazu noch folgendes zu bemerken.« Inzwischen halte ich mich, worin alle Stoiker eins sind, an die Natur; von ihr nicht abzuirren und sich nach ihrem Gesetz und Beispiel zu bilden, ist Weisheit. Glückselig also ist ein Leben, welches mit seiner Natur in Einklang steht; dies aber kann uns nicht anders zu teil werden, als wenn zuerst der Geist gesund und in beständigem Besitz seiner Gesundheit ist; sodann, wenn er kräftig und entschlossen, zudem sittlich rein und geduldig ist, sich den Umständen fügt, für den Körper und seine Bedürfnisse besorgt ist, jedoch ohne Ängstlichkeit; achtsam ferner auf die übrigen Dinge, die zum Leben gehören, ohne auf irgend eines großen Wert zu legen, bereit, die Gaben des Glückes zu benutzen, nicht aber ihnen zu frönen. Du siehst, auch ohne daß ich es hinzufüge, daß dem auch eine beständige Gemütsruhe und Freiheit folgen muß, da alles verbannt ist, was uns entweder reizt oder schreckt. Denn an die Stelle der sinnlichen Genüsse und alles dessen, was kleinlich und hinfällig und unheilbringend ist, tritt eine hohe, unerschütterliche und sich gleich bleibende Freude, Friede und Harmonie der Seele und Größe mit Sanftmut gepaart; denn alle Roheit ist nur ein Zeichen von Schwäche.

4. Der Begriff unseres höchsten Gutes läßt sich auch noch anders bestimmen; der Gedanke bleibt derselbe, wird aber in andere Worte gefaßt. Ein und dasselbe Heer kann bald weiter ausgebreitet, bald enger zusammengezogen, und entweder mit eingebogenem Zentrum zu einem Halbkreis formiert, oder in gerader Linie aufgestellt werden; wie es aber auch geordnet ist, seine Kraft und sein Wille, für dieselbe Partei zu stehen, bleibt sich gleich; so kann auch die Begriffsbestimmung des höchsten Gutes bald ausführlicher und umfassender, bald kürzer und gedrängter gegeben werden. Es ist ganz dasselbe, ob ich sage: Das höchste Gut ist eine das Zufällige geringschätzende, ihrer Tugend frohe Seele, oder: eine unüberwindliche Kraft der Seele, voll Einsicht, ruhig im Handeln, dabei reich an Menschenliebe und Rücksicht für die, mit denen man lebt. Man mag den Begriff auch so bestimmen, daß man denjenigen Menschen einen glücklichen nennt, dem nichts ein Gut oder ein Übel ist, als allein eine gute oder schlechte Seele, der das Sittlichgute verehrt, dem seine Tugend alles ist, den Zufälliges weder erhebt noch niederschlägt; der kein größeres Gut kennt, als das er sich selbst geben kann, dem die Verachtung der Sinnenlust wahre Wollust ist. Will man noch weiter gehen, so kann man dem Begriffe noch eine und die andere Form geben, ohne daß der Sinn verletzt oder beeinträchtigt wird. Denn was hindert uns, zu sagen, ein glückseliges Leben bestehe darin, einen freien, hochgesinnten, unerschrockenen und standhaften, über Furcht und Begierden erhabenen Geist zu besitzen, für den es nur ein Gut gibt, Sittlichkeit, und nur ein Übel, Unsittlichkeit? dem alles Übrige ein wertloser Tand ist, der dem glückseligen Leben weder irgend etwas entziehen, noch beifügen und ohne Vermehrung oder Verminderung des höchsten Gutes kommen und gehen kann. Wer solchen Grund in sich hat, den muß notwendig ununterbrochene Heiterkeit und eine hohe, dem Innersten entspringende Freude begleiten, die sich nur des Ihrigen erfreut und nichts Größeres wünscht, als was ihr Eigen ist. Sollte dies nicht die kleinlichen, armseligen und unbeharrlichen Triebe des elenden Körpers reichlich aufwiegen? Dem Schmerze unterliegt, wer dem Sinnengenusse unterliegt.

5. Du siehst, in welch schlimmer und unheilvoller Knechtschaft einer stehen würde, den Sinnenlust und Schmerzen, die unzuverlässigsten und zügellosesten Gebieter, abwechselnd in Besitz hätten. Daher muß man sich durchringen zur Freiheit; diese aber erreicht man durch nichts anderes als durch Gleichgültigkeit gegen das Schicksal. Dann wird jenes unschätzbare Gut erwachsen, jene Ruhe und Erhabenheit der Seele, die einen höheren Standpunkt gefunden hat, die zu fürchten verlernt hat, und die aus der Erkenntnis der Wahrheit eine hohe und ungestörte Freude gewinnt, eine stete Freundlichkeit und Heiterkeit des Gemüts, daran sie sich erfreut, nicht als an Gütern, sondern als an Früchten ihres eigenen Schatzes. Weil ich nun einmal angefangen habe, mit Begriffsbestimmungen freigebig zu sein, so definiere ich weiter: glückselig kann auch der genannt werden, der, von der Vernunft geleitet, nichts mehr wünscht und nichts mehr fürchtet. Auch die Steine sind ohne Furcht und Traurigkeit, und ebenso die Tiere; niemand wird sie deshalb glückselig nennen, da sie keine Erkenntnis ihrer Glückseligkeit haben. Auf derselben Stufe stehen Menschen, deren Stumpfsinn und Mangel an Selbsterkenntnis sie dem Vieh und den Tieren beigesellt. Es ist kein Unterschied zwischen diesen und jenen, weil diese gar keine Vernunft haben, jene aber eine verkehrte, die zu ihrem eigenen Schaden und widersinnig wirkt. Glückselig kann niemand genannt werden, der außer aller Wahrheit steht; ein glückseliges Leben ist also ein solches, das auf einem richtigen und sichern Urteil ruht und unveränderlich ist. Dann nämlich ist die Seele rein und frei von allen Übeln, wenn sie sich nicht nur über Verletzungen, sondern auch über Quälereien hinwegsetzt, entschlossen, stehen zu bleiben, wo sie einmal Stand gefaßt hat, und ihren Platz auch gegen ein erzürntes Geschick zu behaupten. Die Sinnenlust mag sich von allen Seiten her um uns ergießen, auf allen Wegen heranströmen und der Seele mit ihren Reizungen schmeicheln, sie mag ein Mittel nach dem andern anwenden, um unser ganzes Wesen und die verschiedenen Seiten desselben zu reizen, – welcher Sterbliche, an dem nur noch eine Spur vom Menschen geblieben, wollte Tag und Nacht gekitzelt sein, um unter Verwahrlosung seiner Seele dem Körper zu frönen?

6. »Aber auch die Seele, sagt man, wird doch ihre Genüsse haben.« Mag sie solche haben und über Üppigkeit und Freudengenüsse entscheiden, mag sie sich anfüllen mit allem, was die Sinne zu ergötzen pflegt; darnach mag sie auf das Vergangene zurückschauen und der genossenen sinnlichen Freuden eingedenk über die früheren frohlocken, und nach den kommenden schon begierig verlangen, ihre Hoffnungen ordnen, und während der Körper schon jetzt auf der Mast liegt, ihre Gedanken im voraus auf das Zukünftige lenken: sie wird mir dann um so elender erscheinen, weil Schlechtes statt Gutem zu wählen Wahnsinn ist. Wie kann jemand ohne gesunden Verstand glückselig sein? und wer kann mit gesundem Verstand nach dem Schlechten als nach dem Besten trachten? Glückselig ist also, wer ein richtiges Urteil hat; glückselig ist, wer mit dem Bestehenden, wie es auch immer sei, zufrieden und mit seinen Verhältnissen befreundet ist; glückselig ist der, dessen ganze Lage seine Vernunft gutheißt. Welch eine schimpfliche Stelle weisen diejenigen dem höchsten Gute an, die es in sinnliche Genüsse setzen! Das Vergnügen, sagen sie, könne von der Tugend nicht getrennt werden, und sie behaupten, es könne weder jemand sittlich gut leben, ohne zugleich angenehm, noch angenehm, ohne zugleich sittlich gut zu leben. Ich begreife nicht, wie man so ganz verschiedene Dinge in eins zusammenwerfen kann. Warum soll denn, ich bitte euch, das sinnliche Vergnügen von der Tugend nicht getrennt werden können? Weil jedes Gut seine Quelle in der Tugend hat? Allerdings entstammt ihr auch das, was ihr liebt und verlangt; allein, wenn jene Dinge unzertrennlich wären, so würden wir nicht manches sehen, was angenehm, aber nicht sittlich gut, manches dagegen, was höchst sittlich, aber unangenehm und nur durch Schmerzen zu erringen ist.

7. Nimm noch hinzu, daß Vergnügen sich auch zu dem schändlichsten Leben gesellt, die Tugend aber ein schlechtes Leben gar nicht zuläßt, und daß manche nicht ohne Vergnügen, sondern gerade des Vergnügens wegen unglücklich sind; was nicht der Fall sein würde, wenn sich mit der Tugend das Vergnügen verschmolzen hätte, welche der Tugend oft fehlt, ihr aber nie Bedürfnis ist. Warum stellt ihr Unähnliches, ja ganz Entgegengesetztes zusammen? Die Tugend ist etwas Hohes, Erhabenes, Königliches, Unüberwindliches, Unermüdliches; das sinnliche Vergnügen etwas Niedriges, Sklavisches, Ohnmächtiges, Hinfälliges, dessen Aufenthalt und Heimat Hurenhäuser und Garküchen sind. Die Tugend wirst du im Tempel finden, auf dem Forum, in der Kurie, vor den Mauern stehend, mit Staub bedeckt, von frischer Gesichtsfarbe, mit schwieligen Händen; das sinnliche Vergnügen in Winkeln versteckt und die Finsternis suchend, um Badehäuser und Schwitzstuben und Orte, welche die Sittenpolizei fürchten, weichlich, entnervt, von Wein und Salben triefend, bleich oder geschminkt und durch Schönheitsmittel verdorben. Das höchste Gut ist unsterblich, es kann nicht untergehen, es bringt weder Überdruß noch Reue mit sich; denn der rechte Sinn wandelt sich nie, noch ist er sich selbst zuwider, und da er der beste ist, ändert er auch an sich nie etwas. Das sinnliche Vergnügen aber erlischt gerade dann, wenn es am höchsten ergötzt; es hat keinen weiten Spielraum; daher füllt es ihn bald aus, verursacht Überdruß und ermattet nach dem ersten Anlauf. Auch ist eine Sache nie zuverlässig, deren Natur Unbeständigkeit ist; und so kann auch das nichts Wesentliches sein, was ebenso schnell vorübergeht als kommt, und schon während seines Genusses zerrinnt. Denn es gelangt zu dem Punkte, wo es aufhören muß, und indem es beginnt, läßt es schon sein Ende verspüren.

8. Haben den Genuß des sinnlichen Vergnügens die Schlechten nicht ebensowohl als die Guten? auch erfreuen die Lasterhaften sich ihrer Schändlichkeiten nicht weniger als die Sittlichguten ihrer edlen Taten. Daher schrieben die Alten vor, man solle dem besten, nicht dem angenehmsten Leben nachgehen, so daß das Vergnügen nicht der Führer, sondern der Begleiter einer rechtschaffenen und edeln Gesinnung sei. Denn die Natur muß man zur Führerin nehmen; auf sie richtet die Vernunft ihr Augenmerk, bei ihr holt sie sich Rat. Glückselig und naturgemäß leben ist ein und dasselbe. Was dies letztere heißt, will ich jetzt erklären. Wir leben naturgemäß, wenn wir die körperlichen Anlagen und die Bedürfnisse unserer Natur sorgfältig, aber nicht ängstlich beachten als etwas, das uns nur auf Zeit gegeben und flüchtig ist; wenn wir nicht ihre Sklaven werden und nicht etwas unserm Wesen Fremdes uns in seine Gewalt gebracht hat; wenn wir das, was dem Körper angenehm ist und uns von außen zukommt, so betrachten wie Hilfsvölker und leichte Truppen. Es mag uns dienen, aber nicht uns beherrschen; nur dann ist es unserem geistigen Wesen von Nutzen. Ein Mann bleibe von Äußerlichkeiten unverführt und unbeherrscht, vertraue auf sich selbst und seinen Genius, sei auf alles gefaßt und der eigene Bildner seines Lebens. Sein Selbstvertrauen sei nicht ohne Einsicht, seine Einsicht nicht ohne Festigkeit; er halte fest an dem einmal für recht Erkannten, und was er beschlossen hat, das stehe fest. Man wird, auch wenn ich es nicht ausdrücklich hinzufüge, einsehen, daß ein solcher Mann geregelt und geordnet ist und hochherzig und mild zugleich. Eine gesunde Vernunft wird mit seinen Empfindungen verwachsen sein und davon ausgehen; denn er hat keinen andern Bestimmungsgrund, keinen andern Antrieb zur Wahrheit und zur Einkehr in sich selbst. Auch die alles umfassende Natur, die alles regierende Gottheit richtet zwar ihre Tätigkeit nach außen, kehrt aber von überall her in sich selbst zurück. Dasselbe soll unser Geist tun, wenn er, seinen Sinnen folgend, sich auf die Außenwelt gerichtet hat; er sei sowohl ihrer als seiner selbst mächtig. Auf diese Weise wird eine Macht und Gewalt geschaffen, die mit sich selbst in Einklang steht, und jene sichere Vernunft, die sich nicht widerspricht, die nicht schwankt in Meinungen, Begriffen und Überzeugungen. Hat sich diese geordnet zu einer klaren Harmonie, dann hat sie das höchste Gut erreicht. Denn nichts Verkehrtes, nichts Unhaltbares ist mehr übrig, nichts, wobei der Mensch straucheln oder wanken könnte. Dann wird er alles nach seinem eigenen Befehle tun und nichts wird ihm unerwartet begegnen; alles, was er tut, wird leicht und rasch und ohne Zögern geschehen und wohl geraten. Verdrossenheit und Unschlüssigkeit verrät Kampf und Uneinigkeit mit sich selbst. Daher kann man dreist behaupten, das höchste Gut sei Harmonie mit sich selbst. Denn da müssen Tugenden sein, wo Übereinstimmung und Einigkeit ist; Laster sind in Zwiespalt mit sich selbst.

9. »Aber auch du, wendet man ein, befleißigst dich der Tugend doch wohl nur deshalb, weil du irgend ein Vergnügen von ihr hoffst.« Fürs erste wird die Tugend, auch wenn sie ein Vergnügen gewähren wird, doch nicht dessentwegen erstrebt: denn sie gewährt es nicht, sondern sie gewährt es mit, und sie bemüht sich nicht darum, sondern ihre Bemühung erreicht, obgleich sie etwas ganz anderes erstrebt, auch dieses mit. So wie auf dem Felde, das man für die Saat gepflügt hat, zwischen dieser auch manche Blumen mit aufwachsen, und man doch nicht dieser Pflänzchen wegen so viel Mühe aufgewendet hat, so sehr sie auch das Auge ergötzen mögen, so ist auch das Vergnügen weder der Lohn, noch der Beweggrund der Tugend, sondern eine Zugabe; weil es ergötzt, gefällt es; wenn es aber gefällt, so ergötzt es auch. Das höchste Gut liegt in dem Bewußtsein und dem Wesen einer edlen Seele, und wenn diese ihr Wesen vollendet und sich in ihre Sphäre eingeschlossen hat, so ist das höchste Gut erreicht, und sie will weiter nichts mehr. Denn über das Ganze hinaus gibt es nichts, so wenig als über das Ende hinaus. Daher bist du schon im Irrtum, wenn du fragst, was es sei, was mich nach der Tugend streben läßt; denn du fragst nach etwas, das über dem Höchsten stände. Du fragst, welchen Gewinn ich aus der Tugend ziehen will? Sie selbst; denn sie hat nichts Besseres, sie ist sich selbst ihr Lohn. Ist das etwa nicht herrlich genug? Wenn ich dir sage: das höchste Gut ist unbeugsame Beharrlichkeit und Einsicht und Scharfblick und Gesundheit und Freiheit und Harmonie und Schönheit der Seele, verlangst du dann noch etwas Größeres? Was sprichst du von Vergnügen? Des Menschen Glück suche ich, nicht des Bauches, der ist beim Vieh und bei Tieren geräumiger.

10. »Du stellst dich, sagt man, als verständest du nicht, was ich sage. Ich behaupte ja, es könne niemand angenehm leben, wenn er nicht zugleich sittlich gut lebt. Dies kann aber nicht bei den sprachlosen Tieren der Fall sein, noch bei denen, die ihr Glück nach den Speisen abmessen. Klar und offen bezeuge ich, daß das Leben, welches ich ein angenehmes nenne, niemandem zuteil werden kann ohne Tugend.«

Allein wer weiß nicht, daß auch die größten Toren im vollsten Genusse eurer sinnlichen Freuden sind? daß die Schlechtigkeit Überfluß an Angenehmem hat und daß die Seele selbst nicht bloß schlechte, sondern sogar viele schlechte Arten des Vergnügens verschafft? besonders Übermut, Selbstüberhebung und Aufgeblasenheit, die sich über andere erhebt, und blinde einsichtlose Vorliebe für das Eigene, schlaffe Weichlichkeit, unmäßige Freude über Kindereien, Geschwätzigkeit, Hochmut, Schmähsucht, Faulheit und Zerfahrenheit eines trägen, über sich selbst einschlafenden Geistes. Dies alles beseitigt die Tugend; sie zupft dich beim Ohr und prüft erst das Vergnügen, ehe sie es zuläßt, und wenn sie auch dies oder jedes gebilligt hat, so legt sie doch keinen Wert darauf (genug, daß sie es zuläßt), und nicht der Genuß, sondern das Maßhatten macht ihr Freude. Wenn aber die Mäßigung das Vergnügen vermindert, so ist sie ja ein Frevel am höchsten Gut. Du umarmst das Vergnügen, ich beschränke es; du genießest das Vergnügen, ich mache Gebrauch davon; du hältst es für das höchste Gut, ich nicht einmal für ein Gut; du tust alles des Vergnügens wegen, ich nichts. Wenn ich sage, daß ich nichts des Vergnügens wegen tue, so sage ich dies im Sinne des Weisen, dem du doch allein wahres Vergnügen zugestehst.

11. Den aber nenne ich nicht einen Weisen, über welchem noch irgend etwas steht, vollends gar das Vergnügen. Wenn er von diesem eingenommen ist, wie wird er der Anstrengung widerstehen und der Gefahr, der Armut und so vielen Schrecknissen, die des Menschen Leben umschwirren? wie wird er den Anblick des Todes, wie den des Schmerzes ertragen? wie Gewitter und Erdbeben und eine Menge der heftigsten Feinde? wenn er sich von einem so weichlichen Gegner hat besiegen lassen. Alles, was das Vergnügen ihm anraten wird, wird er tun. Siehst du nicht, wie viel es ihm anraten wird? »Es kann, sagst du, nichts Schimpfliches anraten, weil es der Tugend beigesellt ist.« Nun, da siehst du abermals, was für ein höchstes Gut das ist, das einen Wächter braucht, um überhaupt ein Gut zu sein. Wie aber wird die Tugend ein Vergnügen beherrschen können, dem sie nachgeht, da das Nachgehen Sache des Gehorchenden ist, das Beherrschen aber Sache des Gebietenden? Stellst du das hinten hin, was gebietet? Ein vortreffliches Amt aber hat bei euch die Tugend, daß sie das Vergnügen vorher kosten muß! Doch wir werden sehen, ob sich bei denen, welche die Tugend so schmählich behandeln, noch Tugend findet, die doch ihren Namen nicht mehr führen kann, wenn sie ihre Stelle aufgegeben hat. Unterdessen will ich dir viele zeigen, die in Vergnügungen schwimmen, die das Glück mit seinen Gaben überschüttet hat, und von denen du doch eingestehen mußt, daß sie schlechte Menschen sind. Betrachte einen Nomentanus und Apicius, welche die Güter der Länder und Meere, wie sie es nennen, zusammenlesen und die Tiere aller Zonen auf ihren Tischen haben. Siehe, wie sie von ihrem Rosenlager aus nach ihrer Küche blicken, wie sie ihre Ohren an den Tönen des Gesanges, ihre Augen an Schauspielen, ihren Gaumen an Leckerbissen werden. Mit sanften und linden Wärmemitteln wird ihr ganzer Körper gereizt, und damit unterdessen auch die Nase nicht feiere, so wird der Ort selbst, wo sie der, Üppigkeit opfern, mit mancherlei Wohlgerüchen erfüllt. Von biesen wirst du doch gewiß sagen, daß sie im Vergnügen leben, und doch kann ihnen nicht wohl sein, weil sie ihre Freude an etwas haben, was kein Gut ist.

12. »Es wird ihnen freilich nicht wohl sein, erwidert man, weil so manches dazwischen kommt, was ihren Geist verwirrt, und einander widersprechende Meinungen ihr Gemüt beunruhigen.« Das gebe ich zu; nichtsdestoweniger aber werden jene törichten unbeständigen und der Reue ausgesetzten Menschen großes Vergnügen genießen, so daß man gestehen muß, sie seien ebensoweit von allem Ungemach entfernt wie von einer guten Gemütsverfassung, daß sie in heiterem Wahnsinn leben und lachender Tollheit. Die Vergnügungen der Weisen dagegen sind gemäßigt und bescheiden, gedämpft und äußerlich kaum bemerkbar, sie kommen von selbst, ohne herbeigerufen zu sein, und die Genießenden empfangen es ohne besondere Freude; sie mischen und schalten sie dem Leben ein wie Spiel und Scherz unter den Ernst. Man höre also auf, nicht Zusammenpassendes zu verbinden und in die Tugend Vergnügen zu verflechten. Jener, der sich in Vergnügungen stürzt, immer rülpsend und berauscht, glaubt wohl, weil er in Vergnügen zu leben versteht, auch in Tugend zu leben; denn er hört ja, das Vergnügen lasse sich von der Tugend nicht trennen; dann gibt er seinen Lastern den Titel der Weisheit und bekennt sich laut zu Dingen, die er lieber verbergen sollte. Nicht Epikur ist es, der sie zu einem üppigen Leben verführt, sondern, den Lastern ergeben, verstecken sie ihre Üppigkeit im Schoße seiner Philosophie und laufen dahin zusammen, wo sie das Vergnügen preisen hören. Und sie fassen wahrlich das Wort Vergnügen nicht so ernst und streng wie Epikur, sondern nur zu seinem Namen eilen sie herbei, indem sie für ihre Lüste irgendeinen Schirm und Schleier suchen. So verlieren sie auch noch das einzige Gute, was sie bei ihrer Schlechtigkeit hatten: die Scheu, zu sündigen. Denn nun loben sie das, worüber sie erröten sollten, und rühmen sich des Lasters; und so kann sich auch die Jugend nicht wieder aufraffen, da der schändliche Müßiggang einen ehrbaren Titel bekommen hat.

13. Das ist der Grund, warum jenes Anpreisen des Vergnügens verderblich ist, weil sich nämlich die sittlich guten Vorschriften im Innern der Lehre verbergen, das Verführerische aber allen sichtbar ist. Ich nun bin der Meinung (die ich, auch wenn es meinen Genossen aus der stoischen Schule nicht recht sein sollte, hier aussprechen will), daß Epikurs Lehren rein und richtig sind, ja, wenn man sie näher betrachtet, sogar streng; denn jenes Vergnügen kommt auf etwas sehr Kleinliches und Winziges hinaus, und dasselbe Gesetz, das wir für die Tugend aufstellen, stellt er für das Vergnügen auf. Er befiehlt, daß es der Natur gehorche; was aber der Natur genügt, ist für die Üppigkeit viel zu wenig. Wie also? Ein jeder, der träge Muße und abwechselnde Genüsse des Gaumens und der Wollust Glückseligkeit nennt, sucht für eine schlechte Sache einen guten Gewährsmann, und während er, von einem schmeichelnden Namen angezogen, zu ihm kommt, geht er dem Vergnügen nach, nicht dem, von welchem er sprechen hört, sondern dem, das er schon mitbrachte; und hat er einmal angefangen, zu glauben, seine Laster stimmten zu den philosophischen Lehren, so frönt er ihnen nicht mehr schüchtern und geheim; nein, er schwelgt von da an mit frei erhobenem Haupte. Daher sage ich nicht wie die meisten der unsrigen (der Stoiker), Epikurs Schule sei eine Lehrerin schändlicher Handlungen, sondern das sage ich: sie steht in einem schlechten Rufe, sie ist mit Unrecht so verschrieen. Wer kann das wissen als ein völlig Eingeweihter? Schon das Äußere selbst gibt Veranlassung zum Gerede und veranlaßt zu schlimmen Erwartungen. Es ist gerade so, wie wenn sich ein tapferer Mann in ein Frauenkleid steckt. Wenn du dir gleich bleibst, so ist der Glaube an die Wahrheit deiner Keuschheit gerettet; nie gibst du deinen Körper der Entehrung preis, wenn du auch in der Hand das Tambourin führst Das tympanum, die Landpauke oder das Tambourin, brauchte man besonders beim phrygischen Kultus der Cybele, deren entmannte Priester bei feierlichen Aufzügen (oft auch in Frauenkleidern) jenes Instrument handhabten. Es ist daher hier Symbol unmännlicher Weichlichkeit und der Sinn der Stelle: Wenn ihr Epikureer wirklich keusch und züchtig lebt, so solltet ihr auch im Äußern jeden Schein von Üppigkeit und Weichlichkeit vermeiden.. Wähle man also einen ehrbaren Namen und eine Aufschrift, die selbst schon das Gemüt entflammt, die Laster wegzutreiben, welche sogleich entnerven, wenn sie angezogen kommen. Jeder, der zur Tugend hingetreten ist, gibt Hoffnung auf eine edle Natur; wer aber dem sinnlichen Vergnügen nachgeht, der erscheint als ein entnervter, gebrochener, entarteter Mann, der gewiß der Schande verfallen wird, wenn ihm nicht jemand den Unterschied der Vergnügungen auseinandersetzt, damit er erfahre, welche davon innerhalb der Schranken des natürlichen Verlangens stehen bleiben und welche kopfüber stürzen und kein Ziel finden, sondern um so unersättlicher werden, je mehr ihnen gewährt wird. Wohlan denn, die Tugend gehe uns voran, dann wird jeder Schritt ein sicherer sein. Übertriebenes Vergnügen schadet; bei der Tugend aber ist nicht zu befürchten, daß sie zu weit gehe, weil das Maß in ihr selbst liegt. Das ist kein Gut, was seine eigene Größe nicht ertragen kann.

14. Was kann denen, die eine auf Vernunft gegründete Natur empfangen haben, Besseres geboten werden als Vernunft? Und wenn dir diese Gesellschaft lieb ist, wenn es dir gefällt, in dieser Begleitung den Weg zu einem glückseligen Leben zu wandeln, so gehe die Tugend voran, das Vergnügen aber begleite dich und umschwebe dich wie ein Schatten. Die Tugend, das Erhabenste von allem, dem Vergnügen als Magd dahingeben, vermag nur, wer keines hohen Gedankens fähig ist. Die Tugend sei stets voran, sie trage die Fahne: wir werden nichtsdestoweniger Vergnügen haben, aber wir werden seine Gebieter und Regierer sein; es wird durch Bitten einiges von uns erlangen, aber nichts erzwingen. Diejenigen aber, welche dem Vergnügen die erste Stelle eingeräumt haben, entbehren beides; denn die Tugend lassen sie fahren, das Vergnügen aber haben sie nicht, sondern das Vergnügen hat sie selbst, und sie werden entweder durch Mangel daran gequält oder durch Überfluß erstickt, elend, wenn sie davon verlassen, noch elender, wenn sie damit überschüttet werdenl so wie die in ein Meer voll Untiefen Geratenen bald auf dem Trockenen sitzen, bald auf reißenden Wogen hin und her treiben. So geht es aber bei Mangel an Mäßigung und Vorliebe für etwas Eitles; wer Schlechtes statt Gutem erstrebt, für den ist die Erfüllung seiner Wünsche gefährlich. Wie wir auf wilde Tiere mit Anstrengung und Gefahr Jagd machen und selbst, wenn sie gefangen, ihr Besitz eine mißliche Sache ist (denn oft zerfleischen sie ihre Herren): so pflegen die, welches großes Vergnügen haben, in großes Übel zu geraten und was sie erjagt hatten, hat sie gefangen genommen. Je zahlreicher und größer es ist, desto mehr ist er ein Sklave, den der große Hause glücklich nennt. Ich will noch länger bei diesem Bilde verweilen. Gleichwie der Jäger, welcher die Lagerstätten des Wildes aufspürt und hohen Wert darauf legt, das Wild in der Schlinge zu fangen und rings mit Hunden den mächtigen Forst zu umstellen, um ihrer Spur zu folgen, wie er das Wichtigere im Stich läßt und vielen Geschäften sich entzieht: so setzt der, welcher dem Vergnügen nachjagt, alles andere ihm nach, und achtet vor allem seine Freiheit nicht, sondern bringt sie dem Bauche zum Opfer und erkauft sich nicht Vergnügungen, sondern verkauft sich an sie.

15. »Was jedoch hindert, sagt man, Tugend und Vergnügen zu verschmelzen und so das höchste Gut zu schaffen, daß ein und dasselbe zugleich sittlich gut und angenehm sei?« – Weil ein Teil der sittlichen Vollkommenheit selbst nicht anders als sittlich gut sein kann, und das höchste Gut die ihm eigentümliche Reinheit nicht besitzen wird, wenn es etwas Unedles an sich hat. Nicht einmal die Freude, welche aus der Tugend entspringt, bildet, obgleich sie etwas Gutes ist, einen Teil des an und für sich Guten, ebensowenig, als Fröhlichkeit und Ruhe der Seele, auch wenn sie aus den schönsten Ursachen hervorgehen. Es sind allerdings Güter, aber solche, die aus dem höchsten Gute entspringen, nicht aber dasselbe ausmachen. Wer aber Tugend und Vergnügen zusammenwirft und nicht einmal zu gleichen Teilen, der stumpft durch die Gebrechlichkeit des einen Gutes auch alle Lebenskraft des andern ab, und die Freiheit, die nur dann unüberwindlich ist, wenn sie nichts kennt, das größeren Wert hat als sie selbst, bringt er in Sklaverei. Denn – was eben die äußerste Knechtschaft ist – das Glück fängt an, ihr zum Bedürfnis zu werden; die Folge davon ist ein ängstliches, verdachtvolles, vor Zufällen zitterndes und bebendes Leben; jeder Augenblick ist voll banger Erwartung. Da gibst du der Tugend keinen festen, unerschütterlichen Grund und Boden, sondern läßt sie auf einem wandelbaren Standpunkt ruhen. Was aber ist so wandelbar, als die Erwartung des Zufälligen und die Veränderlichkeit des Körpers und der auf ihn einwirkenden Dinge? Wie kann einer der Gottheit gehorchen und alles, was ihm auch begegnen mag, mit Seelenruhe aufnehmen, ohne über sein Geschick zu klagen und sein Schicksal sich zum Besten auszulegen, wenn er durch die leisesten Berührungen von Freuden und Leiden erschüttert wird? Aber nicht einmal ein guter Beschützer und Verteidiger seines Vaterlandes, noch auch ein Beschirmer seiner Freunde kann er sein, wenn er sich bloß von dem bestimmen läßt, was ihm Vergnügen macht. Daher muß das höchste Gut sich auf einen Punkt erheben, von wo es durch keine Gewalt herabgezogen werden kann, wohin weder der Schmerz, noch die Hoffnung, noch die Furcht Zutritt hat, noch irgend etwas, was das Recht des höchsten Gutes beeinträchtigen könnte. Dahin aber kann sich einzig und allein die Tugend erheben; nur durch Schritthalten mit ihr kann jene Höhe bewältigt werden; sie wird mannhaft stehen und, was auch kommen mag, nicht bloß duldend, sondern selbst willig ertragen und überzeugt sein, daß jede schwierige Lage naturgesetzlich bedingt sei. Und wie ein braver Soldat seine Wunden ertragen, seine Narben aufzählen und von Pfeilen durchbohrt noch sterbend den Feldherrn lieben wird, für den er fällt: so wird er jenes alte Gebot im Herzen tragen: folge der Gottheit. Wer aber klagt und weint und seufzt, wenn er tun soll, was ihm auferlegt ist, der wird dennoch durch Gewalt dazu gezwungen und wider Willen zur Ausführung der Befehle genötigt. Ist es aber nicht Unsinn, sich lieber schleppen zu lassen, als willig zu folgen? Wahrlich, ebenso wäre es Torheit und Verkennung seiner Lage, zu trauern über ein hartes Geschick, oder sich zu wundern und unwillig zu ertragen, was Guten wie Schlechten zustößt, ich meine Krankheiten, Todesfälle, Gebrechlichkeit und was sonst Widerwärtiges im menschlichen Leben vorkommt. Alles, was nach der Einrichtung des Weltalls zu erdulden ist, laß uns mit hohem Geiste auf uns nehmen; wir sind ja dazu verpflichtet, das Los der Sterblichen zu ertragen und uns nicht in Verwirrung setzen zu lassen durch etwas, was zu vermeiden nicht in unserer Macht steht. Wir sind in einem Königreiche geboren: der Gottheit gehorchen, ist Freiheit.

16. Also in der Tugend liegt die wahre Glückseligkeit. Welchen Rat wird sie dir erteilen? Daß du nichts für ein Gut oder für ein Übel halten sollst, was dir weder durch Tugend noch durch Lasterhaftigkeit zuteil werden kann; sodann, daß du unerschütterlich seist, selbst wenn Böses aus dem Guten hervorgeht, auf daß du der Gottheit ähnlich wirst, soweit dies möglich ist. Was aber verheißt sie dir dafür? Etwas Großes und Göttergleiches. Du wirst zu nichts gezwungen werden; du wirst keines Menschen bedürfen; du wirst frei, sicher, schadlos sein; nichts wirst du vergebens versuchen, in nichts wirst du gehindert sein; alles wird dir nach Wunsch gehen; nichts Widerwärtiges wird dir begegnen, nichts gegen deine Erwartung und deinen Wunsch. Wie also? Genügt die Tugend, um glückselig zu leben? Warum sollte sie, die vollendete und göttliche, nicht genügen, ja mehr als genug sein? Denn was kann dem fehlen, der über jedes Verlangen hinaus ist? was braucht der von außen, der alle Schätze in sich hat? Dennoch ist dem, der nach der Tugend strebt, mag er auch schon weit vorgeschritten sein, manche Gunst des Schicksals nötig, da er noch mit menschlichen Verhältnissen ringt, bis er einmal diesen Knoten und jede Fessel der Sterblichkeit löst. Worin also besteht der Unterschied? Darin, daß einige angebunden, andere gefesselt, andere auch noch geknebelt sind. Wer vorwärts geschritten ist und sich höher erhoben hat, trägt, zwar noch nicht frei, aber doch schon so gut als frei, nur eine lockere Fessel.

17. Da möchte nun einer von denen, welche die Philosophie anbellen, wie sie zu tun pflegen, sagen: »Warum bist du im Reden stärker als im Handeln? Warum ordnest du dich in deiner Meinung einem Vornehmeren unter, achtest das Geld für ein dir notwendiges Mittel, wirst durch einen Verlust beunruhigt, vergießest Tränen bei der Nachricht vom Tode deiner Gattin oder eines Freundes, achtest darauf, was die Leute über dich sagen, und lässest dich durch boshafte Reden anfechten? Warum ist dein Feld besser angebaut, als es das natürliche Bedürfnis erheischt? warum speisest du nicht nach deiner eigenen Vorschrift? warum hast du so glänzenden Hausrat? warum wird bei dir Wein getrunken, der älter ist als du selbst? wozu wird er nach Jahrgängen geordnet? wozu werden Bäume gepflanzt, die nichts als Schatten geben? warum trägt deine Frau das Vermögen eines wohlhabenden Hauses an ihren Ohren? warum ist deine Dienerschaft so kostbar gekleidet? warum ist es eine Kunst, bei dir aufzuwarten und warum wird das Silbergerät nicht so zufällig und wie es gerade beliebt, auf den Tisch gestellt, sondern kunstvoll serviert? und warum gibt es bei dir einen Meister in der Kunst, das Fleisch zu zerlegen?« Füge, wenn du willst, noch hinzu: »Warum hast du Besitzungen jenseit des Meeres? warum mehr, als du kennst? Zu deiner Schande bist du entweder so nachlässig, daß du deine wenigen Sklaven nicht kennst, oder so verschwenderisch, daß du eine größere Anzahl hast, als daß dein Gedächtnis ausreichte, sie zu kennen.« Ich will dir selbst später noch helfen; ich will mir selbst Vorwürfe machen und mehr, als du glaubst: für jetzt erwidere ich dir nur folgendes: Ich bin kein Weiser, und – um deiner üblen Meinung noch mehr Nahrung zu geben – ich werde es auch nie sein. Fordere also von mir nicht, daß ich den Besten gleich sei, sondern nur besser als die Schlechten. Das ist mir schon genug, wenn ich täglich etwas von meinen Fehlern ablege und mir meine Verirrungen vorwerfe. Ich bin noch nicht zur Gesundheit gelangt und werde auch nicht dazu gelangen; ich bereite mir mehr Linderungs- als Heilmittel für mein Podagra, zufrieden damit, wenn es mich nur seltener befällt und weniger zwackt. Freilich mit eurem Gehwerk verglichen bin ich Gebrechlicher noch ein Läufer.

18. Das rede ich nicht in meinem Namen; denn ich treibe noch auf dem Meere aller Laster, sondern im Namen eines solchen, der schon etwas ausgerichtet hat. »Anders, sagt man, sprichst du, anders lebst du.« Dies, ihr böswilligen und gerade den Trefflichsten am feindlichsten gesinnten Menschen, hat man dem Plato, dem Epikur, dem Zeno vorgeworfen. Denn diese alle sprachen ja nicht davon, wie sie selbst lebten, sondern wie man leben sollte. Von der Tugend rede ich, nicht von mir, und wenn ich die Laster schmähe, so schmähe ich zuerst meine eigenen; wenn es mir möglich ist, werde ich schon so leben, wie man soll. Und jene tief in Gift getauchte Böswilligkeit soll mich nicht von dem Trefflichsten abschrecken; selbst jenes Gift, womit ihr andere bespritzt, euch selbst aber tötet, soll mich nicht hindern, ein Leben zu preisen, nicht wie ich es führe, sondern wie ich weiß, daß es geführt werden müsse, noch der Tugend nachzugehen, wenn auch in gewaltigem Abstande, wenn auch nur wankend. Soll ich denn etwa erwarten, daß der Böswilligkeit irgendetwas unantastbar sei, der weder ein Rutilius noch ein Cato heilig war? Warum sollte nicht Leuten, denen selbst der Zyniker Demetrius nicht arm genug ist, jemand allzu reich vorkommen? Der äußerst strenge Mann, der gegen jedes Bedürfnis der Natur kämpfte, der ärmer war als alle übrigen Zyniker, der, wenn jene sich etwas zu besitzen versagten, es sich sogar zu wünschen verbot, der, sagen sie, sei nicht arm genug gewesen. Siehst du wohl? er ist nicht nur ein Lehrer der Tugend, sondern auch der Armut.

19. Man sagt, Diodorus, ein epikurischer Philosoph, der seinem Leben mit eigener Hand ein Ende machte, habe nicht nach Epikurs Grundsätzen gehandelt, als er sich die Kehle abschnitt. Die einen wollen seine Tat für Wahnsinn angesehen wissen, die andern für Unbesonnenheit. Er indessen hat glückselig und voll guten Gewissens, als er vom Leben schied, sich selbst ein Zeugnis ausgestellt und die Ruhe eines im Hafen vor Anker liegenden Lebens gepriesen, indem er – was ihr ungern hört, als müßtet ihr es auch so machen – sagte: Nun denn, ich habe gelebt und die Bahn des Geschickes vollendet. Ihr schwatzt über das Leben des einen und über den Tod des andern und bellt den Namen großer, irgendwie außerordentlicher Männer an, wie kleine Hunde, wenn ihnen unbekannte Leute in den Weg kommen. Denn es kommt euch von statten, wenn niemand als gut erscheint, weil fremde Tugend ein Vorwurf für eure Schlechtigkeit wäre. Neidisch stellt ihr das Strahlende neben euern Schmutz und seht nicht ein, mit welchem Nachteil für euch ihr solches tut. Denn wenn die, welche der Tugend folgen, habsüchtig, wollüstig, ehrgeizig sind, was seid dann ihr, denen sogar der Name der Tugend verhaßt ist? Ihr behauptet, es leiste keiner das, was er anpreise, und es lebe keiner nach seiner Rede. Was Wunder, da das, was sie in ihren Reden verherrlichen, so heldenmütig, so ungeheuer, so über alle Stürme des Menschenlebens erhaben ist? da sie sich doch von dem Kreuze loszumachen streben, in welches jeder von euch selbst seine Nägel einschlägt?! Zum Tode geschleppt, hängt doch jeder von ihnen nur an einem Pfahle. Diejenigen aber, die sich selbst zur Strafe leben, sind an ebensovielen Kreuzen ausgespannt, als Leidenschaften an ihnen zerren; und wenn es über andere hergeht, sind ihre bösen Zungen sehr gewandt. Ich möchte glauben, sie würden das bleiben lassen, wenn nicht manche noch vom Galgen herab die Zuschauer anspuckten.

20. Die Philosophen leben selbst nicht, wie sie lehren? Viel leisten sie schon dadurch, daß sie es vortragen, daß sie ein Ideal der Sittlichkeit aufstellen. Denn freilich, wenn sie ganz dem gleich handelten, was sie sprechen, wer wäre dann glückseliger als sie? Indessen hat man keinen Grund, treffliche Worte und Herzen voll guter Gedanken zu verachten. Heilsame Studien sind lobenswert, wenn es auch am Vollbringen fehlt. Was Wunder, wenn die, welche sich an steile Höhen gewagt haben, den Gipfel nicht erreichen! Wer Großes versucht, ist bewundernswert, auch wenn er fällt. Es ist ein edles Unternehmen, im Vertrauen auf die Natur, nicht auf seine eigenen Kräfte, Hohes zu wagen, zu versuchen und im Geiste noch Größeres sich vorzunehmen, als selbst von den mit einem gewaltigen Geiste Ausgerüsteten vollführt werden kann. »Ich will mit derselben Miene den Tod mir ankündigen hören, womit ich ihn bei anderen anschaue; ich will mich Mühsalen, wie groß sie auch sein mögen, unterziehen, und der Geist soll des Körpers Stütze sein; ich will Reichtümer, mag ich sie haben oder entbehren, gleichermaßen verachten, weder traurig, wenn sie wo anders aufgehäuft liegen, noch mutiger, wenn sie um mich her schimmern; es soll mich nicht rühren, mag das Glück kommen oder entweichen; ich will alle Ländereien als mir, die meinigen als allen gehörig betrachten; ich will in der Überzeugung leben, ich sei für andere geboren, und der Natur dafür danken; denn wie konnte sie besser für mich sorgen? Mich, den Einzigen, hat sie allen, mir, dem Einzigen, alle geschenkt. Alles, was ich besitze, will ich weder auf schmutzige Weise hüten, noch verschwenderisch verstreuen; ich will nichts zu besitzen glauben, denn als ein gütiges Geschenk; ich will meine Wohltaten weder nach Zahlen, noch nach Summen schätzen und nach keinem andern Werte, als der Empfänger ihnen beilegt; nie soll mir das viel sein, was ein Würdiger empfängt; nichts will ich der Meinung, alles meiner Überzeugung wegen tun, und alles wie vor den Augen des Volkes tun, was ich nur mir bewußt tue. Die Stillung des Naturbedürfnisses soll für mich das Ziel des Essens und Trinkens sein, nicht das Anfüllen und Entleeren des Magens. Gefällig gegen Freunde, mild und nachgiebig gegen Feinde, will ich mich erbitten lassen, noch ehe ich gebeten werde; anständigen Bitten will ich entgegenkommen. Ich will mir bewußt sein, mein Vaterland sei die Welt und seine Vorsteher die Götter, die über mir und um mich her stehen als Richter über meine Taten und Worte. Und sobald entweder die Natur mein Leben zurückfordern, oder mein Entschluß es hingeben wird, so werde ich mit dem Zeugnisse abtreten, daß ich ein gutes Gewissen, edles Bestreben geliebt habe und daß niemandes Freiheit durch mich beschränkt worden sei, am wenigsten meine eigene.«

21. Wer so zu handeln sich vornimmt, dazu entschlossen ist und den Versuch dazu macht, nimmt seinen Weg zu den Göttern, und wahrlich, wenn er auch nicht darauf bleibt, so »schlägt doch rühmliches Wagnis ihm fehl«. Ihr freilich, die ihr die Tugend und ihre Verehrer hasset, tut nichts Ungewöhnliches; kranke Augen scheuen die Sonne, und Tieren der Nacht ist das helle Tageslicht zuwider, sie werden stutzig bei seinen ersten Strahlen und suchen allenthalben ihre Schlupfwinkel auf und verkriechen sich lichtscheu in irgend eine Spalte. Seufzt und übt eure unselige Zunge im Schmähen der Guten; schnappt und beißt nach ihnen: ihr werdet viel eher eure Zähne abbrechen, als sie eindrücken.

»Warum, sagt ihr, nennt sich jener einen Jünger der Philosophie und lebt doch als ein Reicher? warum verachtet er die Reichtümer und besitzt sie doch? warum verachtet er das Leben und lebt doch? warum die Gesundheit und pflegt sie doch aufs sorgfältigste und wünscht sich die allerbeste? Auch die Verbannung hält er für ein leeres Wort und sagt: Was ist es denn für ein Unglück, die Gegend zu wechseln? und gleichwohl wird er, wo möglich, im Vaterland zum Greise! Zwischen längerer und kürzerer Zeit, meint er, sei kein Unterschied: und doch verlängert er, wenn ihn nichts hindert, seine Lebenszeit und sieht sich noch in hohem Alter mit Vergnügen frisch.« Ja, er erklärt, man müsse jene Dinge verachten, nicht damit man sie überhaupt nicht besitze, sondern damit man sie nicht mit Angst besitze; er scheucht sie nicht von sich hinweg, aber wenn sie ihn verlassen, sieht er ihnen sorglos nach. Reichtum zum Beispiel – wo soll ihn das Glück sicherer niederlegen als da, wo es ihn ohne Klage des Zurückgebenden wieder abholen kann? Als Marcus Cato den Curius und Coruncanius und jenes Zeitalter pries, wo der Besitz von einigen Silberblechlein ein vom Zensor zu ahndendes Verbrechen war, besaß er selbst vierzig Millionen Sesterzien, ohne Zweifel weniger als Crassus, aber mehr als Cato Censorius; wenn man sie aber vergleicht, so übertraf er seinen Urgroßvater um eine viel größere Summe des Vermögens, als er vom Crassus übertroffen wurde. Und wenn ihm noch größere Schätze zugefallen wären, er würde sie nicht verachtet haben; denn der Weise achtet sich keinerlei Gaben des Zufalls unwert. Er liebt die Reichtümer nicht, aber er zieht sie der Armut vor; er nimmt sie nicht in seine Seele, wohl aber in sein Haus auf, und er verschmäht sie nicht, wenn er sie besitzt, sondern hält sie zusammen, und es ist ihm lieb, daß seiner Tugend größere Mittel zu Gebote stehen.

22. Kann aber ein Zweifel sein, daß ein Weiser im Reichtum größere Mittel besitzt, seine Gesinnung zu entfalten als in der Armut? da ja bei dieser nur die eine Seite der Tugend sich äußern kann, sich nicht beugen und niederdrücken zu lassen, im Reichtum aber die Mäßigung, die Freigebigkeit, die Wirtschaftlichkeit, die gute Einteilung und die Großherzigkeit sich ein weites Feld eröffnet sieht. Der Weise wird sich nicht verachten, wenn er auch von der kleinsten Statur ist: aber es wird ihm doch lieb sein, wenn er hohen Wuchses ist; auch schwächlichen Körpers und nach Verlust eines Auges wird er sich wohlbefinden, lieber wird er aber Körperstarke zu besitzen wünschen, jedoch so, daß er weiß, es gebe in ihm noch etwas Stärkeres. Kränklichkeit wird er ertragen, aber Gesundheit wünschen. Obgleich manches für das Wesentliche der Sache nur von geringer Bedeutung ist und ohne Vernichtung des Hauptgutes hinweggenommen werden kann, so trägt es, vorhanden, doch etwas zu einer beständigen und aus der Tugend entspringenden Freudigkeit bei. Reichtum stimmt und erheitert den Weisen so wie den Schiffenden günstiger Fahrwind, wie ein schöner Tag und ein sonniger Ort in Winterszeit und Frost. Wer von den Weisen ferner (ich spreche von den Unsrigen, denen die Tugend für das einzige Gut gilt) leugnet, daß auch das, was wir gleichgültige Dinge nennen, einen gewissen Wert in sich hat und daß eins wichtiger ist, als das andere? Einige davon werden sehr, andere weniger geschätzt. Damit du also nicht irrest: Reichtum gehört zu den wichtigern Dingen. »Warum also, sagst du, verlachst du mich, da er bei dir denselben Rang einnimmt wie bei mir?« Willst du erfahren, wie er bei mir so gar nicht denselben Rang einnimmt? Mir wird der Reichtum, auch wenn er schwindet, nichts entführen als sich selbst; du aber wirst erstarrt sein und dir vorkommen, als seist du ohne dich selbst zurückgeblieben, wenn er von dir gewichen ist. Bei mir nimmt der Reichtum allerdings einen gewissen Rang ein, bei dir aber den höchsten und bedeutendsten; ich bin im Besitz des Reichtums, dich aber hat der Reichtum im Besitz.

23. Höre also auf, den Philosophen den Besitz des Geldes zu verbieten; noch niemand hat die Weisheit zur Armut verdammt Ein Philosoph mag reiche Schätze besitzen, aber sie sind keinem andern entzogen, nicht mit fremdem Blute befleckt, ohne Frevel gegen irgend einen und ohne schmutzige Geschäfte erworben; ihre Verausgabung ist ebenso ehrenhaft als ihr Zufluß, niemand seufzt über sie als ein Übelwollender. Häufe sie, so hoch du willst: sie sind ehrenhaft; und wenn auch vieles dabei ist, was ein jeder sein nennen möchte, so findet sich doch nichts darunter, was jemand sein Eigentum nennen könnte. Er wird allerdings die Freigebigkeit des Schicksals nicht von sich weisen und eines ehrlich erworbenen Vermögens sich weder rühmen, noch schämen. Und doch wird er auch einen Grund haben, sich desselben zu rühmen, wenn er bei offenem Hause und vor der ganzen Stadt sagen kann: »Was einer als das seine erkennt, das mag er nehmen.« O des großen und auf die edelste Art reichen Mannes, wenn er nach diesem Aufruf noch ebensoviel besitzt; ich meine so: wenn er ruhig und ohne Bedenken dem Volke das Durchsuchen seiner Habe gestatten könnte, wenn niemand etwas bei ihm gefunden hat, woran er Hand legen konnte, dann mag er kecklich und vor aller Welt ein Reicher sein. Der Weise wird keinen Groschen über seine Schwelle kommen lassen, der auf unrechte Weise einginge; er wird aber ebenso auch große Schätze als ein Geschenk des Glücks und als eine Frucht seiner Tugend nicht verschmähen, noch ihnen den Zutritt versagen. Denn warum sollte er ihnen nicht einen Platz gönnen, wo sie so gut aufgehoben sind? Mögen sie kommen, mögen sie als Gäste einkehren. Er wird weder mit ihnen prunken, noch sie verstecken. Das eine verriete eine alberne, das andere eine ängstliche und kleinliche Seele, als hielte sie ein großes Gut im Schoße. Er wird sie auch, wie ich schon sagte, nicht zum Hause hinauswerfen. Denn was sollte er dabei sagen? Etwa: »Ihr seid unnütz«, oder: »Ich verstehe es nicht, den Reichtum zu gebrauchen?« So wie er, auch wenn er einen Weg zu Fuß machen kann, doch lieber einen Wagen besteigen wird: so wird er, wenn er reich werden kann, allerdings Schätze wünschen und besitzen, aber als eine unbeständige und leicht wieder entfliehende Sache, und nicht zulassen, daß sie einem andern oder ihm selbst drückend werden. Wie so? Er wird Schenkungen machen – was spitzt ihr die Ohren? was öffnet ihr die Taschen? – er wird Schenkungen machen entweder an Gute oder an solche, die er gut machen kann. Er wird Schenkungen machen, indem er mit größter Überlegung die Würdigsten auswählt, weil er sich erinnert, daß man sowohl von dem Ausgegebenen als dem Eingenommenen Rechenschaft geben muß. Er wird Schenkungen machen aus rechten und löblichen Beweggründen; denn wo es auf schändliche Weise weggeworfen wird, ist ein Geschenk übel angebracht. Er wird offene, aber nicht durchlöcherte Taschen haben, aus denen vieles herausgeht, aber nichts herausfällt.

24. Man irrt, wenn man glaubt, daß Schenken eine leichte Sache sei. Es hat recht viel Schwierigkeiten, wenn man mit Überlegung geben und nicht nach Zufall und Laune verschleudern will. Um den einen mache ich mich verdient, dem andern gebe ich nur; dem einen springe ich bei und erbarme mich seiner; den andern beschenke ich, weil er es verdient, daß ihn die Armut nicht herabwürdigt und im Drucke hält. Manchen werde ich nichts geben, auch wenn es ihnen fehlt; weil es ihnen, auch wenn ich gegeben hätte, bald wieder fehlen würde; manchen dagegen werde ich es anbieten, manchen sogar aufdrängen. Ich kann hierin nicht nachlässig verfahren: niemals leihe ich mehr aus, als wenn ich schenke. »Wie? sagst du, du schenkst, um es wieder zu verlangen?« Nein, um es nicht verloren zu geben. Mein Geschenk sei da niedergelegt, von wo es nicht zurückgefordert zu werden braucht, aber zurückgegeben werden kann. Eine Wohltat muß so angebracht werden wie ein tief vergrabener Schatz, den man nicht ausgräbt, es müßte denn notwendig sein. Das Haus des reichen Mannes selbst – wie viel Gelegenheit hat. es, wohlzutun! Denn wer beschränkt die Freigebigkeit bloß auf römische Bürger? Allen Menschen zu nützen, befiehlt die Natur; ob es Sklaven oder Freie sind, Freigeborene oder Freigelassene, von gesetzlich erworbener oder geschenkter Freiheit, welchen Unterschied macht das? Wo immer ein Mensch sich findet, da hat eine Wohltat ihre Stelle. Er kann daher sein Geld auch innerhalb seiner Schwelle verschenken und Freigebigkeit üben, die ihren Namen nicht davon hat, weil man Freien gibt, sondern weil sie aus einer freien Seele entspringt. Sie wird bei dem Weisen nie Ehrlosen und Unwürdigen an den Hals geworfen, noch wird sie so erschöpft, daß sie nicht, sobald sie einen Würdigen findet, gleichsam aus dem Vollen strömen könnte. Ihr dürft also nicht falsch verstehen, was die Jünger der Weisheit so edel, mutig und beherzt sagen; und merket vor allem darauf: etwas anderes ist einer, der sich der Weisheit befleißigt, etwas anderes einer, der sie schon erreicht hat. Jener wird dir sagen: ich spreche sehr schön, aber ich bin noch in viel Schlechtem befangen; du darfst nicht verlangen, daß ich nach meiner Regel lebe; ich arbeite eben noch an mir und bilde und erhebe mich nach einem hohen Vorbilde; bin ich erst so weit fortgeschritten, als ich mir vorgesetzt habe, dann verlange, daß meine Handlungen meinen Reden entsprechen. Wer aber das höchste der menschlichen Güter bereits erreicht hat, wird anders mit dir verhandeln und sagen: Zuerst hast du gar kein Recht, dir ein Urteil über Bessere zu erlauben; mir aber ist es bereits geglückt, den Schlechten zu mißfallen, was ein Beweis des Rechten ist. Doch, um dir Rechenschaft zu geben, was ich keinem Sterblichen verweigere, so höre, was du von mir zu erwarten hast und wie hoch ich die Dinge in der Welt anschlage. Ich leugne, daß Reichtum ein Gut sei; denn wäre er es, so würde er die Menschen gut machen. Weil nun aber das kein Gut genannt werden kann, was sich bei Schlechten findet, so versage ich ihm diesen Namen. Übrigens gestehe ich, daß man ihn wohl besitzen darf, daß er nützlich ist und dem Leben viele Vorteile bringt.

25. Wie nun weiter? Vernehmt jetzt, warum ich ihn nicht unter die Güter rechne und was ich anderes damit ausrichte, als ihr, weil wir nun einmal beide darin übereinstimmen, daß man ihn besitzen dürfe. Stelle mich in das reichste Haus, stelle mich dahin, wo Gold und Silber in gewöhnlichem Gebrauche ist; ich werde mir auf jene Dinge nichts einbilden, die, wenn sie auch bei mir, doch außerhalb meiner sind. Versetze mich auf die Pfahlbrücke und stoße mich unter die Bettler: ich werde darum nicht weniger von mir halten, wenn ich unter denen sitze, die ihre Hand nach einem Almosen ausstrecken. Denn was liegt daran, ob mir der Bissen Brot fehlt, da ich die Freiheit habe, zu sterben, wenn ich will? Wie also steht es? Jenes glänzende Haus ist mir lieber als die Brücke. Stelle mich zwischen glänzenden Hausrat und üppigen Prunk: ich werde mich um nichts glücklicher dünken, weil ich eine reiche Hülle trage und meinen Gästen Purpurteppiche unterbreiten kann. Ich werde aber auch um nichts elender sein, wenn mein müder Nacken auf einem Heubündel ruht, wenn ich auf einem Polster, wie man's im Zirkus hat, liege, wo durch die Nähte der alten Leinwand das Flockwerk herausdringt. Wie also? Ich will lieber in verbrämtem Kleide und Mantel zeigen, welche Gesinnung ich habe, als mit nackten oder nur halbbedeckten Schultern. Möge mir auch jeder Tag nach Wunsch verfließen, mögen sich neue Freudenfeste an die früheren reihen: ich werde deshalb nicht wohlgefällig auf mich blicken. Laß sich diese Gunst der Verhältnisse ins Gegenteil verwandeln, möge von allen Seiten her mein Gemüt von Verlusten, Trauerfällen, mancherlei Angriffen erschüttert werden, möge keine Stunde ohne irgend eine Klage sein: ich werde mich unter dem größten Elend doch nicht elend nennen, deshalb keinen Tag verwünschen; denn es ist dafür gesorgt von meiner Seite, daß mir kein Tag ein unglückseliger sei. Wie also steht es? Ich will mich lieber in der Freude mäßigen, als den Schmerz unterdrücken. So wird auch der berühmte Sokrates zu dir sagen: »Mache mich zum Besieger aller Nationen; jener prachtvolle Wagen des Bacchus trage mich im Triumphe vom Aufgang der Sonne bis nach Thebä; Könige mögen mich um das Recht der Penaten bitten: dann gerade will ich am meisten bedenken, daß ich ein Mensch bin, wenn man mich überall als einen Gott begrüßt.« Mit dieser schwindelnden Höhe stelle auf einmal eine jähe Wandlung zusammen: ich soll, auf eines andern Tragsessel gesetzt, den Triumphzug eines übermütigen und rohen Siegers verherrlichen: vor dem Wagen eines andern hergetrieben, werde ich nicht niedriger sein, als da ich auf dem meinigen stand. Dennoch will ich lieber Sieger als Gefangener sein. Das ganze Reich des Glücks laß mich verachten, und doch werde ich, wenn mir die Wahl gelassen wird, das Bessere daraus erwählen. Alles, was mir zukommen mag, wird gut sein; und doch wünsche ich lieber, daß mir Leichteres und Angenehmeres begegne und was dem, der damit zu tun hat, weniger zu schaffen macht. Denn du darfst nicht glauben, daß irgend eine Tugend ohne Anstrengung sei; aber einige Tugenden bedürfen der Sporen, andere des Zügels. Wie der Körper an einem jähen Abhang zurückgehalten, einer schroffen Anhöhe gegenüber angetrieben werden muß: so stehen einige Tugenden über einem jähen Abhange, andere unten an einer Anhöhe. Ist es nun wohl zweifelhaft, daß Geduld, Seelenstärke, Beharrlichkeit, und welche Tugenden sonst noch sich den Widerwärtigkeiten entgegenzustellen und das Schicksal zu überwinden haben, emporstreben, sich dagegen stemmen und ankämpfen sollen? Wie? ist es nicht ebenso offenbar, daß Freigebigkeit, Mäßigung und Sanftmut eine abschüssige Bahn gehen? Bei diesen nehmen wir das Gemüt zusammen, damit es nicht vorwärtsstürze, bei jenen ermuntern und spornen wir es. Bei der Armut müssen wir also jene entschlossensten Tugenden anwenden, die standhaft zu kämpfen verstehen, beim Reichtum dagegen jene vorsichtigern, die mit leisem Schritt auftreten und das eigene Gewicht hemmen.

26. Da nun einmal diese Teilung besteht, so will ich lieber von denjenigen Tugenden Gebrauch machen, die sich ruhiger üben lassen, als von denen, welche Blut und Schweiß kosten, wenn man sich darin versucht. So lebe ich also, sagt der Weise, nicht anders, als ich rede, aber ihr versteht es anders. Nur der Klang der Worte dringt zu euern Ohren; was sie aber bedeuten, danach fragt ihr nicht. »Was für ein Unterschied ist also zwischen mir, dem Toren, und dir, dem Weisen, wenn wir beide zu besitzen wünschen?« Ein gar großer. Bei dem Weisen nämlich steht der Reichtum in Dienstbarkeit, bei dem Toren übt er die Herrschaft. Der Weise gestattet dem Reichtum nichts, euch gestatten die Reichtümer alles. Ihr gewöhnt und hängt euch daran, als ob euch jemand den ewigen Besitz derselben versprochen hätte; der Weise denkt gerade dann am meisten über die Armut nach, wenn er mitten im Reichtum sitzt. Nie traut ein Feldherr so dem Frieden, daß er sich nicht auf den Krieg gefaßt mache, der, wenn er auch noch nicht geführt wird, doch immer erklärt ist. Euch nimmt ein schönes Haus gefangen, als ob es nicht verbrennen oder einstürzen könnte, euch Schätze, als ob sie über alle Gefahr hinaus und größer wären, als daß das Geschick Macht genug hätte, sie zu verzehren. Sorglos spielt ihr mit eurem Reichtum und trefft keine Vorkehrungen gegen die ihm drohenden Gefahren, so wie Barbaren, wenn sie eingeschlossen und ohne Kenntnis der Kriegsmaschinen sind, der Arbeit der Belagerer meist lässig zuschauen und nicht begreifen, worauf jene, die in der Ferne aufgestellt werden, abzielen. Gerade so geht es euch; ihr träumet hin in eurem Besitz und bedenkt nicht, wie viele Unfälle von allen Seiten her drohen, welche im Augenblick kostbare Beute davontragen können. Wer dem Weisen seinen Reichtum nimmt, wird ihm doch das Seinige alles lassen; denn er lebt der Gegenwart, froh und unbekümmert um die Zukunft. »Ich habe mich«, sagt Sokrates oder irgend ein anderer, der gegen menschliche Zufälle dieselbe Macht und Gewalt hat, »von nichts mehr überzeugt, als daß ich meinen Lebensweg nicht nach euern Meinungen bestimmen darf. Bringet von überallher eure gewohnten Worte herbei: ich werde nicht glauben, daß ihr schmähet, sondern gleich elenden Kindern wimmert.« So wird der Mann sprechen, dem Weisheit zuteil geworden ist, den sein von Gebrechen freies Gemüt auf andere schelten heißt, nicht weil er sie haßt, sondern um sie zum Schweigen zu bringen. Dazu wird er noch sagen: »Eure Achtung kümmert mich nicht meinet-, sondern euretwegen, die Tugend hassen heißt sich selbst aufgeben. Ihr tut mir kein Unrecht an, ebensowenig als den Göttern diejenigen, welche ihre Altäre umstürzen; allein euer böser Vorsatz und euer böser Ratschluß wird auch da offenbar, wo er nicht schaden konnte. Eure Faseleien ertrage ich ebenso wie der allgütige und allmächtige Jupiter die Albernheiten der Dichter, von denen der eine ihm Flügel andichtet, ein anderer Hörner, der eine ihn als Ehebrecher und Nachtschwärmer aufführt, ein anderer als grausam gegen die Götter, wieder ein anderer als unbillig gegen die Menschen, der eine als Verführer geraubter und obendrein mit ihm verwandter Freigeborenen, ein anderer als Vatermörder und Eroberer eines fremden, und zwar des väterlichen Reiches. Dadurch aber ist nichts anderes bewirkt worden, als daß den Menschen die Scheu vor dem Sündigen benommen wurde, wenn sie an solche Götter glaubten. Obgleich mich jenes nicht verletzt, so ermahne ich euch doch um euretwillen: achtet die Tugend, glaubt denen, die ihr lange nachgestrebt haben und euch zurufen, daß sie nach etwas Großem streben, das von Tag zu Tag größer erscheint, und ehrt die Tugend selbst wie die Götter, und ihre Bekenner wie deren Priester; und so oft dieses heiligen Namens Erwähnung geschieht, sollt ihr ehrerbietig stillschweigen » Favete linguis.« Es war dies die gewöhnliche Formel, womit die Priester bei feierlichen Landlungen Stillschweigen geboten, damit niemand ein unheiliges Wort vorbrächte, welches den Zorn der Götter reizen und so der heiligen Handlung schaden könnte..

27. Und es ist viel nötiger, daß euch befohlen wird, still und achtsam zuzuhören, so oft ein Ausspruch von jenem Orakel getan wird. Wenn einer, die Klapper Sistrum, eine metallene Klapper, die beim Isiskultus der Ägypter gebraucht wurde. Überhaupt kommen hier mehrere Anspielungen auf fanatische Religionskulte des Auslands vor. schüttelnd, nach Vorschrift Lügen vorträgt; wenn ein Meister im Einschneiden in die Arme Eine Sitte fanatischer Priester der Bellona und Cybele in Phrygien. mit erhobener Hand Arme und Schultern von Blut triefen läßt; wenn einer, auf den Knieen rutschend, heult und ein Greis, in Linnen gekleidet und einen Lorbeerzweig nebst einer Leuchte am hellen Tage einhertragend Der Lorbeer war beiden Ägyptern Symbol weissagender Begeisterung und die Leuchte Symbol der Reinigung., ruft, es sei irgend einer der Götter erzürnt: so lauft ihr zusammen und horcht und versichert, einer des andern Betörung nährend, der Mann sei sicherlich ein Gottbegeisterter. Siehe, Sokrates ruft laut aus jenem Kerker, den er durch seinen Eintritt reinigte und zu höheren Ehren brachte als die Kurie: »Was ist das für Wahnsinn? was ist das für ein Wesen, Göttern und Menschen feindselig, daß ihr die Tugend verunglimpft und am Heiligen durch böswillige Reden frevelt? Wenn ihr es könnt, so preist die Guten, wo nicht, so geht vorüber. Müßt ihr eure schändliche Frechheit durchaus auslassen, so gehet einer auf den andern los; denn, wenn ihr gegen den Himmel raset, so sage ich zwar nicht, daß ihr einen Frevel gegen das Heilige begeht, wohl aber, daß ihr eure Mühe verschwendet. Ich gab einst dem Aristophanes Stoff zu seinen Witzeleien; die ganze Schar der Lustspieldichter hat ihre giftige Lauge über mich ausgegossen. Doch meine Tugend ward gerade durch diese Angriffe verherrlicht; denn es gereicht ihr zum Vorteil, hervorgezogen und geprüft zu werden, und niemand erkennt besser, wie groß sie ist, als wer ihre Kraft durch Angriffe auf sie zu fühlen bekam. Die Härte des Kiesels ist niemand besser bekannt als dem, der darauf schlägt. Ich bin gleich einem einsamen Felsen in seichtem Meere, den die Wogen von allen Seiten umtosen und den sie doch nicht von der Stelle rücken oder zerstören können. Springt auf mich los, macht einen Angriff: ich werde euch durch Aushalten besiegen. Alles, was auf Festes und Unüberwindliches einstürmt, übt seine Kraft zu eigenem Verderben. Nun denn, so sucht euch einen weichen und nachgebenden Stoff, worin eure Geschosse haften. Und ihr wollt die Gebrechen anderer aufspüren und über jemand zu Gericht sitzen? Warum, fragt ihr, wohnt dieser Philosoph so geräumig, warum speist dieser so köstlich? Selbst mit einer Menge von Geschwüren bedeckt, bemerkt ihr jedes Hitzbläschen an andern. Das ist gerade so, wie wenn einer, den verderbliche Krätze verzehrt, Muttermale oder Warzen an einem sonst tadellos schönen Körper verspottet. Macht es dem Plato zum Vorwurfe, daß er Geld verlangt habe für seinen Unterricht, dem Aristoteles, daß er es genommen, dem Demokrit, daß er es geringgeschätzt, dem Epikur, daß er es vertan! Mir selbst werft meine Liebe zu Alcibiades und Phädrus vor! O wie wärt ihr doch in der Tat glücklich zu preisen, wenn es euch nur erst gelungen wäre, unsere Fehler nachzuahmen! Warum betrachtet ihr nicht lieber eure eigenen Gebrechen, die euch von allen Seiten stechen, einige von außen wütend, andere in den Eingeweiden selbst brennend? Freilich, ihr kennt euern Zustand zu wenig; aber es steht mit den menschlichen Verhältnissen nicht so, daß ihr Zeit genug hättet, eure Zunge zur Schmähung derer in Bewegung zu setzen, hinter denen ihr weit zurück seid.

28. Das seht ihr nicht ein und nehmt eine Miene an, die zu eurem Zustand gar nicht paßt, so wie viele ruhig im Zirkus oder im Theater sitzen, die schon eine Leiche oder ein Unfall zu Hause erwartet. Ich dagegen, von meiner Höhe herabschauend, sehe, welche Ungewitter euch entweder drohen, nur etwas langsamer ihren Wolkenschleier zerreißen, oder schon näher an euch herangekommen sind, um euch und eure Habe hinwegzuraffen. Und wie? Treibt nicht auch jetzt – freilich wißt ihr selbst nicht, wie euch geschieht – ein Wirbelwind eure Seelen im Kreise herum und verwirrt sie, so daß ihr das Nämliche zugleich flieht und sucht und bald in die Höhe gehoben, bald in die Tiefe geschmettert werdet?


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