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Unter dem Gesamttitel »Vom glückseligen Leben« haben wir in diesem Bändchen eine Reihe der besten Abhandlungen Senecas mit ausgewählten Stellen aus seinen »Briefen an Lucilius« vereinigt, die alle die ausgesprochene Absicht verfolgen, die Grundlagen des wahren Glücks aufzuzeigen, unabhängig von der Lebenslage und den Schicksalen des Einzelnen Unserer Ausgabe liegt die – hie und da verbesserte – Übersetzung von Forbiger (1867) zugrunde..
Seneca, der Staatsmann und Prinzenerzieher, war Stoiker wie Epiktet, der Sklave und spätere Professor der Philosophie, und wie Mark Aurel, der Philosoph auf dem Throne der römischen Zäsaren. Und die stoische Philosophie, seit 300 Jahren in der damaligen Kulturwelt gelehrt und verbreitet, lehrte auch ihn, das Glück nicht außerhalb seiner selbst zu suchen und zu finden, sondern in seinem eigenen Innern. Glückselig der Mensch, der sich selbst gefunden hat, der mit sich selbst im Einklang steht, der weiß, was ihm gemäß ist, der nur dies Eigene will und betätigt und Fremdes auf sich selbst beruhen läßt.
Im Stoizismus fand sich auch der Repräsentant unserer modernen Weltanschauung und Lebensauffassung wieder – Goethe. »Ich finde mich immer mehr in mich zurück und lerne unterscheiden, was mir eigen und was mir fremd ist«, schreibt er mit stoischen Worten aus Rom unter dem 16. Juni 1787. Und seine Lebensmaxime in Dichtung und Wahrheit ist ganz stoisch: »Der Mensch mag seine höhere Bestimmung auf Erden oder im Himmel, in der Gegenwart oder in der Zukunft suchen, so bleibt er deshalb doch innerlich einem ewigen Schwanken, von außen einer immer störenden Einwirkung ausgesetzt, bis er ein für allemal den Entschluß faßt, zu erklären: das Rechte sei das, was ihm gemäß ist.«
Aber ebenso wie Goethe eine Selbsterkenntnis ohne Naturerkenntnis für unmöglich hält – denn Alles sich zum Ganzen webt, eins in dem Andern wirkt und lebt – so war auch für die Stoiker das Eigene identisch mit dem Naturgemäßen. Wie konsequent sie beides, Selbsterkenntnis und Naturerkenntnis, miteinander in Verbindung brachten, und wie sie ihr Selbst zur Gott-Natur erweiterten, indem sie das Schicksal ganz in ihren Willen aufzunehmen sich bemühten, davon legt jede Seite dieses Büchleins ein beredtes Zeugnis ab. Welche Höhe der Kultur, die der stoische Weise damit wenigstens im Denken – aber fast alle Stoiker waren zugleich lebendige Verkörperungen ihrer Lehren – erreicht, indem er sich vorsetzt: das Wahre zu erforschen, zu erkennen, was zu meiden und was zu erstreben sei, den Wert der Dinge nicht nach dem Wahne, sondern nach ihrem wahren Wesen zu bestimmen, in das Weltganze sich zu vertiefen und jedem Teil desselben seine Betrachtung zu widmen, aufs Denken wie aufs Handeln gleich bedacht zu sein, gleich groß und kräftig, gleich unbesiegt vom Widrigen wie vom Angenehmen, mit Würde Anmut zu verbinden, bei aller Kraft besonnen und nüchtern zu bleiben, keinem Geschick sich zu beugen, durch keine Macht sich brechen zu lassen!
Allen Gewalten
Zum Trutz sich erhalten,
nimmer sich beugen,
kräftig sich zeigen,
rufet die Arme der Götter herbei.
Selbstvertrauen und Gottvertrauen (der Stoiker kann nicht mißverstanden werden, wenn er dieses Wort gebraucht), das sind die beiden Mächte, die den Menschen glücklich machen, und diese beiden sind eins, da der Natur gehorcht, wer seinem Dämon, seinem Genius Treue wahrt. Daß mit diesem Fundamentalsatz der individuellen Moral der höchste Grundsatz auch der sozialen Moral gegeben ist, hat Shakespeares Genius klar erkannt:
Dies über alles: sei dir selber treu!
Und daraus folgt, so wie die Nacht dem Tage:
Du kannst nicht falsch sein gegen irgend wen.
* * *
Lucius Annäus Seneca, geboren zu Cordoba in Spanien im Jahre 4 v. Chr., widmete sich in Rom frühzeitig rhetorischen und philosophischen Studien, wurde unter Caligula Quästor und Senator, von Claudius im Jahre 41 nach Korsika verbannt, 49 zurückgerufen und von Julia Agrippina zum Lehrer und Erzieher ihres Sohnes Nero bestimmt. Nach seiner Thronbesteigung im Jahre 54 behielt Nero ihn noch fünf Jahre lang als Freund und Ratgeber an seinem Hof. Bei dem allmählich sich einstellenden Wahnsinn des Zäsars wurde es seinen Feinden und Neidern leicht, Mißtrauen in des Kaisers Herz zu säen. Infolgedessen zog sich Seneca vom Hof und von der Öffentlichkeit zurück, wurde jedoch wegen angeblicher Teilnahme an einer Verschwörung zum Tode verurteilt, den er aus besonderer Gnade sich selbst geben durfte. Er ließ sich – im Jahre 65 n. Chr. – im Bade die Pulsadern öffnen und starb mit Gleichmut, ein Stoiker im Leben wie im Sterben.
Seneca muß den bedeutendsten philosophischen Schriftstellern nach Cicero beigezählt werden, wie er überhaupt einer der geistreichsten und originellsten Schriftsteller der Römer ist. Eine Fülle von Kenntnissen aus den verschiedensten Gebieten des Wissens, tief eindringende Natur- und Menschenbeobachtung, Reife der Erfahrung, Freiheit des Urteils, geläuterter Geschmack und eine glänzende Sprache verleihen seinen Darlegungen einen ungewöhnlich hohen Reiz. Seine zahlreichen, viel und gern gelesenen Schriften, erfüllt von dem erhabenen Geiste des Stoizismus, den er in treffenden Sentenzen auszugießen verstand, haben nicht wenig dazu beigetragen, den Einfluß des Stoizismus auf das öffentliche und literarische Leben Roms, auf Gesetzgebung, Rechtspflege und Staatsverwaltung mächtig und dauernd zu machen.
Das in seinen Tagen aufkommende Christentum kam seinen stoischen Vorstellungen so nahe, daß man verschiedentlich behauptete, er sei ein Christ gewesen. Es wurde sogar ein Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus in Kurs gesetzt; er hat sich später als Fälschung erwiesen.
Überraschend sind in der Tat die vielfachen, manchmal fast wörtlichen Übereinstimmungen stoischer und christlicher Ethik. Von einer Entlehnung der Stoiker aus dem christlichen Gedankenschatz kann aber schon um deswillen nicht die Rede sein, weil der Stoizismus 300 Jahre älter ist als das Christentum. Wo Seneca auch dem metaphysischen Gottes- und Unsterblichkeitsglauben der Christen nahe zu stehen scheint, weicht er nachweisbar von dem strengen Stoizismus ab, und nicht einmal zum Vorteil dieser stolzen Weltanschauung, die das höchste erreicht hat, was eine Weltanschauung zu erreichen vermag: den Monismus des Denkens und Seins.
Jena, im September 1909.
Dr. Heinrich Schmidt.