Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Trostschrift an Helvia

(Senecas Mutter)

1. Oft schon, liebste Mutter, nahm ich einen Anlauf, dich zu trösten, oft hielt ich wieder inne. Es zu wagen, trieb mich vieles an; zuerst schien es mir, als würde ich alles Widerwärtige von mir werfen, wenn ich deine Tränen, wo nicht völlig unterdrückt, doch wenigstens einstweilen getrocknet hätte; sodann zweifelte ich nicht, daß ich mehr im stande sein würde, dich aufzurichten, wenn ich mich vorher selbst ermannt hätte; überdies fürchtete ich, das Schicksal möchte, wenn auch von mir besiegt, doch über irgend einen der Meinen siegen. Daher versuchte ich, so gut es ging, die Hand auf meine Wunde drückend, mich herzuschleppen, um eure Wunden zu verbinden. Diesen meinen Vorsatz aber verzögerten wieder manche Umstände. Ich wußte, daß man deinem Schmerze, solange er in Frische tobte, nicht entgegentreten dürfe, damit ihn nicht-die Tröstungen selbst noch mehr erregten und anfachten; denn auch bei Krankheiten ist nichts verderblicher, als unzeitige Arzneimittel. Ich wartete daher, bis er seine Kraft selbst bräche und, durch die Zeit zur Ertragung der Heilmittel besänftigt, sich berühren und behandeln ließe. Außerdem fand ich, obgleich ich alle zur Bezähmung und Mäßigung der Trauer abgefaßten Werke der. berühmtesten und talentvollsten Männer nachschlug, kein Beispiel eines Mannes, der die Seinen getröstet hätte, wenn er selbst von ihnen beweint wurde. So wurde ich in einem mir neuen Falle bedenklich und besorgte, es möchte dies keine Tröstung, sondern ein Aufreißen der Wunde werden. Ja, hätte nicht ein Mensch, der zur Tröstung der Seinen sein Haupt vom Scheiterhaufen selbst erhöbe, ganz neue und nicht der gewöhnlichen und alltäglichen Umgangssprache entnommene Worte nötig? Jeder große und das Maß überschreitende Schmerz aber muß notwendig eine Auswahl der Worte treffen, während er doch oft sogar die Stimme selbst versagen läßt. Doch will ich mich, so gut ich kann, zusammennehmen, nicht aus Vertrauen auf mein Talent, sondern weil ich selbst statt der wirksamsten Tröstung dein Tröster sein kann. Dem du nichts abschlagen würdest, dem wirst du, hoffe ich, obgleich jeder Gram halsstarrig ist, sicherlich das nicht versagen, daß du deiner Sehnsucht durch mich eine Grenze setzen lässest.

2. Siehe, wie viel ich mir von deiner Zärtlichkeit verspreche; ich zweifle nicht, daß ich über dich mehr vermögen werde als dein Schmerz, dessen Macht über Unglückliche doch nichts übertrifft. Um daher nicht sogleich mit ihm zu kämpfen, so will ich ihn erst verteidigen und sagen, was ihn erregen konnte; ich will alles vorbringen und selbst, was schon vernarbt ist, wieder aufreißen. Es wird jemand sagen: »Was ist das für eine Art zu trösten, wenn man schon vergessene Übel zurückruft und einem Gemüte, das kaum eine Trübsal erträgt, einen Standpunkt gibt, von welchem aus es alle seine Trübsale überblickt?« Dieser mag jedoch bedenken, daß alles, was so verderblich ist, daß es trotz der Gegenmittel immer mehr erstarkt, meistenteils durch das Gegenteil geheilt wird. Ich will ihm daher all seinen Jammer, alles Traurige vorführen; das heißt freilich nicht auf sanftem Wege heilen, sondern brennen und schneiden. Was werde ich dadurch erreichen? Daß die Seele als Besiegerin so vielen Elends sich schämen muß, über eine einzige Wunde an einem so narbenvollen Körper mißmutig zu sein. Daher mögen die noch länger weinen und jammern, deren verweichlichte Seelen langes Glück entnervt hat, und mögen sie, wenn die leisesten Widerwärtigkeiten sich regen, zusammensinken; die aber, denen alle Jahre unter Unglücksfällen vorübergegangen sind, mögen auch das Schwerste mit starker und unerschütterlicher Standhaftigkeit ertragen. Beständiges Unglück hat das eine Gute, daß es die, denen es fortwährend zusetzt, zuletzt abhärtet. Dir hat das Schicksal nie Ruhe gegönnt vor den schwersten Trauerfällen; selbst deinen Geburtstag hat es nicht ausgenommen. Kaum geboren, oder vielmehr während du geboren wurdest, hast du deine Mutter verloren und bist gewissermaßen zum Leben ausgesetzt worden. Aufgewachsen bist du unter einer Stiefmutter, die du zwar durch steten Gehorsam und kindliche Liebe, wie man sie nur an einer Tochter erblicken kann, dir eine Mutter zu werden genötigt hast; dennoch kommt eine Stiefmutter, auch wenn sie gut ist, teuer zu stehen. Meinen Oheim, einen höchst nachsichtsvollen, trefflichen und wackeren Mann, hast du verloren, während du seinen Besuch erwartetest. Und damit das Schicksal seine Grausamkeit gegen dich nicht etwa durch Fristungen mildere, hast du in Zeit von dreißig Tagen auch deinen teueren Gatten, von dem du Mutter dreier Kinder warst, begraben müssen. Während du noch trauertest, wurde dir die neue Trauerkunde überbracht, und zwar in Abwesenheit aller deiner Kinder, als sei gleichsam absichtlich dein Unglück auf eine Zeit gehäuft worden, wo du nichts hättest, woran dein Schmerz sich lehnen könnte. Ich übergehe so viele Gefahren und Ängste, die du ohne Unterbrechung ertragen hast. Jüngst erst hast du in denselben Schoß, aus dem du drei Enkel entlassen hattest, wieder die Asche von drei Enkeln gesammelt. Zwanzig Tage darauf, nachdem du meinen Sohn, der in deinen Händen und unter deinen Küssen gestorben war, beerdigt hattest, vernahmst du, ich sei fortgeschleppt; das nur hatte dir noch gefehlt, daß du um Lebende trauern mußtest.

3. Die schwerste von allen Wunden, welche je deinen Körper trafen, ist – ich gestehe es – diese neueste; sie hat nicht nur die oberste Haut zerrissen, sie hat die Brust und die innern Teile selbst gespalten. Doch wie neue Krieger, auch nur leicht verwundet, dennoch laut schreien und sich vor den Händen der Wundärzte mehr fürchten als vor dem Schwerte, alte Soldaten aber, obgleich ganz durchbohrt, sich doch die Wunde geduldig und ohne einen Seufzer, als ob es an einem fremden Körper wäre, ausschneiden lassen: so mußt auch du dich jetzt bei deiner Heilung standhaft zeigen. Jammern und Wehklagen und anderes, wodurch sich der Schmerz einer Frau gewöhnlich austobt, halte fern von dir; denn du hättest ja so viele Unglücksfälle vergeblich erduldet, wenn du noch nicht unglücklich zu sein gelernt hast. Scheine ich dir nun etwa schüchtern mit dir verfahren zu sein? Ich habe keinen von deinen Unglücksfällen unerwähnt gelassen, ich habe sie alle, auf einen Punkt zusammengedrängt, vor dich hingestellt. Mit hohem Mute habe ich das getan; denn ich habe mir vorgesetzt, deinen Schmerz zu besiegen, nicht bloß zu beschränken.

4. Und ich werde ihn besiegen, glaube ich, zuerst wenn ich zeige, daß ich nichts erdulde, weshalb ich selbst unglücklich genannt werden könnte, geschweige wodurch ich auch diejenigen unglücklich machen sollte, mit denen ich verbunden bin. Sodann wenn ich auf dich übergehe und beweise, daß auch dein Geschick, welches ja ganz von dem meinigen abhängt, kein hartes ist. Daran will ich zuerst gehen, was deine mütterliche Zärtlichkeit zu vernehmen besonders trachtet, daß ich kein Unglück leide, und wenn ich kann, dir klar machen, daß das, wovon du mich gedrückt wähnst, gar nicht unerträglich sei. Kannst du das nicht glauben, nun so werde ich um so mehr von mir selbst halten, weil ich unter Verhältnissen, die andere unglücklich zu machen pflegen, glücklich bin. Du brauchst hinsichtlich meiner nicht andern zu glauben; damit du nicht durch unsichere Vermutungen beunruhigt werdest, sage ich dir selbst, daß ich nicht unglücklich bin, und damit du desto sorgloser seist, füge ich noch hinzu, daß ich gar nicht unglücklich werden kann.

5. Wir sind mit günstiger Beschaffenheit geboren, wenn wir ihr nur nicht untreu werden. Die Natur hat dafür gesorgt, daß es, um glücklich zu leben, keines großen Apparats bedarf; ein jeder kann sich glückselig machen. Die zufällig kommenden Umstände sind von geringer Bedeutung und haben nach keiner von beiden Seiten hin einen großen Einfluß; den Weisen machen weder günstige Umstände stolz, noch schlagen ungünstige ihn nieder; denn stets bestrebt er sich, das meiste auf sich selbst zu setzen und alle Freude in sich selbst zu suchen. Wie? ich nenne mich einen Weisen? Keineswegs; denn wenn ich das von mir sagen könnte, so würde ich nicht nur behaupten, nicht unglücklich zu sein, sondern mich rühmen, daß ich der Glücklichste und der Gottheit nahe gerückt sei. Vor der Hand habe ich mich, was genügt, um alles Elend zu mildern, weisen Männern hingegeben und, weil ich selbst noch nicht stark genug bin, mir zu helfen, meine Zuflucht in ein fremdes Lager genommen, derer nämlich, die sich und das Ihrige zu schützen wissen. Diese heißen mich, beständig wie auf einen Wachposten gestellt zu sein und alle Versuche und Angriffe des Schicksals viel früher, als sie andringen, ins Auge zu fassen. Nur für die ist es hart, denen es plötzlich kommt; leicht erträgt es, wer es immer erwartet. Denn auch des Feindes Ankunft schlägt nur diejenigen zu Boden, die sie unvermutet überrascht; die sich aber auf den bevorstehenden Krieg vor dem Kriege vorbereitet haben, fangen wohl geordnet und bereit den ersten Streich, welcher am meisten in Verwirrung bringt, leicht auf. Nie habe ich dem Glücke getraut, auch wenn es Frieden zu halten schien: Alles, was es mir höchst gnädig zuerteilte, Geld, Ehrenstellen, Gunst, habe ich an einen solchen Ort gestellt, von wo es wieder weggenommen werden konnte, ohne daß es mich berührte. Ich erhielt zwischen jenen Dingen und mir eine große Kluft, und so hat es denn dieselben wieder weggenommen, aber nicht losgerissen. Noch keinen hat das Unglück gebeugt, außer wen das Glück getäuscht hatte. Diejenigen, die seine Gaben als ihr Eigentum und als etwas Beständiges geliebt haben und sich ihretwegen geehrt wissen wollten, sind niedergeschlagen und trauern, wenn die falschen und veränderlichen Ergötzungen ihren eitlen, kindischen und aller echten Freude unkundigen Seelen untreu werden. Wen aber das Glück nicht aufgeblasen gemacht, den beugt auch die Veränderung desselben nicht; er setzt jedem von beiden Zuständen ein unbesiegbares Herz von schon erprobter Festigkeit entgegen; denn er hat bereits im Glücke selbst erprobt, was er gegen das Unglück vermöge. Daher habe ich stets geglaubt, in dem, was alle wünschen, sei nichts wirklich Gutes enthalten; dann habe ich nur eitle, mit glänzender und auf Täuschung berechneter Schminke überzogene Dinge darin gefunden, die innerlich nichts haben, was ihrer Außenseite ähnlich wäre. So finde ich in dem, was man Übel zu nennen pflegt, nichts so Schreckliches und Hartes, als der Wahn des großen Haufens fürchten ließ; das Wort selbst freilich fällt infolge einer gewissen Überredung und Übereinstimmung schon ziemlich rauh ins Ohr und tut denen, die es hören, als etwas Trauriges und Verwünschenswertes weh; denn so hat das Volk nun einmal entschieden; Volksbeschlüsse aber werden von den Weisen großenteils verworfen.

6. Setzen wir also das Urteil der Menge beiseite, welche der erste Anblick einer Sache hinreibt, und betrachten wir, was Verbannung sei: es ist eine Veränderung des Aufenthaltsorts. Damit es aber nicht scheine, als wolle ich die Bedeutung des Wortes beschränken und alles sehr Schlimme, was es enthält, verschweigen: dieser Ortsveränderung folgen allerdings auch Unannehmlichkeiten, Armut, Beschimpfung, Verachtung. Gegen diese Dinge will ich mich nachher richten; jetzt will ich zuerst das betrachten, was denn die Ortsveränderung selbst Bitteres mit sich führe. »Das Vaterland zu entbehren, ist etwas Unerträgliches.« So blicke doch einmal auf diese Volksmenge, für welche kaum die Häuser der unermeßlichen Stadt hinreichen; der größte Teil dieses Haufens ist seinem Vaterland entrissen. Aus ihren Munizipien und Kolonien, ja aus dem ganzen Erdkreise sind sie zusammengeströmt. Die einen führte der Ehrgeiz her, andere die Notwendigkeit einer Tätigkeit für das öffentliche Leben, andere eine übertragene Gesandtschaft, andere Genußsucht, die einen lasterhaften Ort aufsucht, andere die Liebe zur Beschäftigung mit den edeln Wissenschaften, andere die Schauspiele; manche zog auch die Freundschaft her, manche die Unternehmungslust, die hier ein weites Feld findet, ihr Talent zu zeigen; manche bringen ihre schöne Gestalt zu Markte, manche ihre Beredsamkeit. Jede Klasse von Menschen strömt in die Hauptstadt zusammen, die sowohl den Tugenden als den Lastern große Belohnungen aussetzt. Befiehl einmal, diese alle beim Namen aufzurufen und frage, wo ein jeder zu Hause sei: du wirst sehen, daß der größere Teil von ihnen seine Heimat verlassen und in diese allerdings sehr große und schöne Stadt gekommen ist, die aber nicht die ihrige ist. Dann aber siehe ab von dieser Stadt, die freilich gewissermaßen die allgemeine Vaterstadt genannt werden kann, und gehe in allen andern Städten umher: jede hat einen großen Teil fremder Bevölkerung. Gehe ab von solchen, deren anmutige und vorteilhafte Lage viele anlockt; durchwandere öde Landstriche und die rauhesten Inseln, Sciathus, Seriphus, Gyara und Korsika: du wirst keinen Verbannungsort finden, wo nicht jemand aus Liebhaberei verweilte. Wo kann man etwas so Nacktes, wo etwas auf allen Seiten so schroff Abgerissenes finden, als diesen Felsen Korsika? wo etwas in Betracht der Produkte Dürftigeres, in bezug auf die Menschen Wilderes, in bezug auf die Lage selbst Schauerlicheres, in bezug auf das Klima Unfreundlicheres? Und doch halten sich hier mehr Fremde als Eingeborene auf. So sehr lästig also ist die Veränderung des Aufenthaltsorts an und für sich nicht, daß nicht sogar diese Gegend manche ihrem Vaterlande entführt hätte. Ich finde, daß einige behaupten, es liege im Gemüte eine gewisse natürliche Verlockung, den Wohnsitz zu verändern und den häuslichen Herd wo anders hin zu versetzen. Denn es ist dem Menschen ein beweglicher und unruhiger Geist gegeben; niemals hält er sich zusammen, er zerstreut sich, läßt seine Gedanken auf alles, Bekanntes wie Unbekanntes, umherschweifen, unstät, die Ruhe nicht ertragend, und über die Neuheit der Gegenstände hoch erfreut. Und darüber wirst du dich nicht verwundern, wenn du seinen ersten Ursprung betrachtest. Nicht aus erdigem und schwerem Körperstoffe ist er gebildet; aus jenem göttlichen Geiste ist er herniedergestiegen; das Wesen des Himmlischen aber ist in steter Bewegung, es ist flüchtig und treibt sich im raschesten Laufe. Betrachte die Gestirne, welche die Welt erleuchten; keines derselben bleibt stehen; unaufhörlich gleiten sie dahin und verändern beständig ihre Stelle, und obgleich sie sich mit dem ganzen Weltall herumdrehen, haben sie doch eine der Welt entgegengesetzte Bewegung, durch alle Teile des Tierkreises laufen sie hindurch, niemals stockt ihre beständige Bewegung und von einem Orte zum andern geht ihre Wanderung. Alle wälzen sich und sind stets im Vorübergehen, und wie es das Gesetz und die Notwendigkeit der Natur angeordnet hat, werden sie von einer Stelle zur andern fortgetragen. Haben sie in einem Zeitraum bestimmter Jahre ihre Kreisbahn vollendet, so durchlaufen sie aufs neue den Raum, durch den sie gekommen. Nun gehe hin und glaube, der menschliche Geist, der aus denselben Urstoffen, woraus die göttlichen Wesen entstehen, zusammengesetzt ist, sei unwillig über einen Übergang und eine Wanderung, während die Natur der Gottheit sich einer beständigen und überaus raschen Veränderung erfreut, oder durch sie sich erhält. Nun wohlan, vom Himmlischen wende dich zum Menschlichen: und du wirst finden, daß alle Stämme und Völker ihren Wohnsitz stets verändert haben. Was bedeuten mitten in barbarischen Gegenden die griechischen Städte? was die macedonische Sprache mitten unter Indiern und Persern? Skythien und jener ganze Landstrich roher und ungebändigter Völker zeigt achäische Städte, an den Küsten des Pontus erbaut. Nicht die Strenge eines ewigen Winters, nicht der Charakter der Menschen, rauh gleich ihrem Himmel, hat denen im Wege gestanden, die ihren Wohnsitz dahin verlegten. In Asien ist eine Menge von Athenern. Milet hat die Bevölkerung von fünfundsiebzig Städten nach allen Richtungen hin ergossen; die ganze Seite Italiens, die vom tyrrhenischen Meere bespült wird, war Groß-Griechenland; die Etrusker stammen aus Asien; in Afrika wohnen Tyrier, Punier in Spanien; Griechen haben sich in Gallien niedergelassen, Gallier in Griechenland. Die Pyrenäen haben den Übergang von Germanen nicht abgehalten; durch unbekannte Gegenden hat sich der leichte Sinn der Menschen hindurch gewunden. Kinder, Weiber und vom Alter gedrückte Eltern haben sie mitgeschleppt. Andere, auf langer Irrfahrt herumgetrieben, haben sich nicht durch Entschluß einen Wohnort erwählt, sondern aus Ermüdung den nächsten besten in Besitz genommen; andere haben sich durch die Waffen ein Recht in fremdem Lande verschafft. Manche Völker hat, während sie nach unbekannten Ländern steuerten, das Meer verschlungen; manche ließen da sich nieder, wo sie der Mangel an allem zu bleiben zwang; und nicht alle hatten dieselbe Ursache, ihr Vaterland zu verlassen und ein anderes aufzusuchen. Manche hat die Zerstörung ihrer Städte, den feindlichen Waffen entronnen, aber ihres Landes beraubt, in fremde Länder getrieben; andere hat ein Aufruhr aus der Heimat verscheucht; andere hat Übervölkerung auswandern heißen, damit sich die Volksmasse entlade; andere haben Seuchen, häufige Erdbeben oder andere unerträgliche Gebrechen des ungünstigen Bodens fortgetrieben; manche hat das Gerede von einer fruchtbaren und übermäßig gepriesenen Seeküste verführt; die einen hat diese, die andern jene Ursache zum Auszug aus ihrer Heimat bestimmt. So viel in der Tat ist offenbar, daß nichts an demselben Orte geblieben ist, wo es geboren wurde; es findet ein beständiges Hin- und Herziehen des menschlichen Geschlechtes statt; täglich verändert sich etwas auf dem so weiten Erdkreise. Neue Städte werden gegründet; es entstehen neue Völkernamen, während die früheren erlöschen oder sich verwandeln, um ein Zuwachs zu einem mächtigeren zu werden. Alle jene Verpflanzungen von Völkern aber, was sind sie anders als allgemeine Verbannungen?

7. Weshalb schleppe ich dich auf so langen Umwegen herum? Was nützt es, den Antenor, den Erbauer von Patavium, und den Evander, der ein Reich der Arkadier an dem Ufer der Tiber gründete, oder den Diomedes und andere aufzuzählen, welche der trojanische Krieg als Besiegte und Sieger zugleich in fremde Länder zerstreut hat? Blickt ja doch das römische Reich auf einen (den Trojaner Äneas) als seinen Stifter zurück, den, als er mit geringen Überresten seines Volks aus der eroberten Vaterstadt floh, die Notwendigkeit und die Furcht vor dem Sieger, die ihn entlegene Länder aufsuchen hieß, nach Italien verschlug. Wie viele Kolonien hat sodann dies Volk in alle Provinzen entsendet! Wo nur immer der Römer gesiegt, hat er Wohnsitze. Zu solcher Wohnungsvertauschung meldete man sich gern, und der greise Pflanzer folgte, seine Altäre verlassend, übers Meer hinüber den Auswanderern.

8. Die Sache bedarf keiner weiteren Aufzählung; eins jedoch will ich noch hinzufügen, was sich meinen Blicken aufdrängt. Diese Insel selbst hat schon oft ihre Bewohner gewechselt. Um die früheren Zeiten, welche das Alter in Dunkel gehüllt hat, zu übergehen, so haben sich zuerst Griechen, die jetzt Massilia bewohnen, nachdem sie Phocis verlassen, auf dieser Insel niedergelassen. Was sie daraus vertrieben hat, ist ungewiß, ob das rauhe Klima oder der Anblick des übermächtigen Italiens oder die Beschaffenheit des hafenlosen Meeres; denn daß nicht die Wildheit der Bewohner die Ursache war, erhellt daraus, daß sie sich unter die damals besonders rohen und ungebildeten Bewohner Galliens begaben. Dann zogen Ligurier herüber, auch Spanier, was sich aus der Ähnlichkeit der Lebensweise ergibt; denn man findet daselbst dieselben Kopfbedeckungen und dieselbe Art von Schuhwerk wie bei den Canlabrern, auch manche Worte derselben; die ganze Sprache nämlich ist durch den Umgang mit Griechen und Liguriern von der urväterlichen abgewichen. Hierauf wurden zwei Kolonien römischer Bürger hierher geführt, die eine von Marius, die andere von Sulla. So oft hat sich die Bevölkerung dieser dürren und dornigen Felseninsel verändert. Endlich wird man kaum irgendein Land finden, das auch jetzt noch seine Urbevölkerung bewohnte; alles ist untereinander gemischt und verpflanzt; die einen sind an die Stelle der andern getreten. Dieser hat etwas begehrt, was jenem zum Ekel war; jener ist von da vertrieben worden, von wo er andere verdrängt hatte. So gefiel es dem Schicksal, daß die Lage keiner Sache stets dieselbe bleibe. Gegen die Veränderung des Aufenthaltsortes selbst, abgesehen von den übrigen Widerwärtigkeiten, die mit der Verbannung zusammenhängen, hält Varro, einer der gelehrtesten Römer, das für ein hinreichendes Trostmittel, daß man, wohin man auch kommen mag, immer mit derselben Natur der Dinge zu tun hat. Marcus Brutus meint, das sei schon genug, daß den in die Verbannung Gehenden vergönnt sei, ihre Tugenden mit sich zu nehmen. Wenn nun auch einer diese Umstände einzeln für minder wirksam hält, um einen Verbannten zu trösten, so wird er doch gestehen müssen, daß beide vereinigt sehr viel vermögen. Denn welche Kleinigkeit ist, was wir verlieren! Zwei Dinge, die herrlichsten von allen, werden uns begleiten, wohin wir uns auch wenden: die Allnatur und die eigene Tugend. Dafür, glaube mir, ist gesorgt von jenem Bildner des Weltalls, wer er auch sein mag, sei er ein allmächtiger Gott oder eine unkörperliche Vernunft, die Schöpferin gewaltiger Werke oder ein alles durchströmender göttlicher Hauch oder ein Schicksal und eine unwandelbare Reihe untereinander zusammenhängender Ursachen; dafür, sage ich, ist gesorgt, daß nichts als nur die geringfügigsten Dinge fremder Willkür unterworfen ist. Alles, was das Beste für den Menschen ist, liegt außerhalb menschlicher Macht und kann weder gegeben, noch entrissen werden, nämlich diese Welt, das Größte und Schönste, was die Natur geschaffen hat, und der Geist, der Betrachter und Bewunderer der Welt, ihr herrlichster Teil, uns eigen und unverlierbar, so lange mit uns fortdauernd, als wir selbst fortdauern werden. Frisch und mutig, also wollen wir festen Schrittes eilen, wohin immer das Schicksal uns führen wird.

9. Laß uns alle Länder durchmessen: innerhalb der ganzen Welt läßt sich kein Platz finden, der nicht dem Menschen gehörte; überallher richtet sich auf gleiche Weise der Blick zum Himmel empor, gleiche Zwischenräume trennen alles Göttliche von allem Menschlichen. Nun denn, so lange meinen Augen jenes Schauspiel, an dem sie sich nicht satt sehen können, nicht entzogen wird, so lange es mir vergönnt ist, Sonne und Mond anzuschauen, mit meinen Blicken an den übrigen Gestirnen zu haften, ihren Auf- und Untergang, ihre Abstände und die Ursachen ihres schnelleren oder langsameren Laufes zu erforschen, eine solche Menge leuchtender Sterne zu erblicken, die einen unbeweglich, andere nicht in. weite Fernen hinausschweifend, sondern in ihrer eigenen Bahn sich herumbewegend, einige plötzlich hervorbrechend, manche mit sprühendem Feuer, als wollten sie herabfallen, das Auge blendend oder in langem Zuge mit hellem Lichte vorüberfliegend: so lang ich bei diesen bin und mich, so weit es dem Menschen erlaubt ist, mit dem Himmel in Verbindung setze, so lang ich den Geist, der nach dem Anblick verwandter Dinge strebt, immer in den höhern Sphären verweilen lassen kann: was liegt daran, wohin ich meinen Fuß setze? Aber dies Land trägt keine fröhlich zu schauenden Fruchtbäume, es wird nicht von großen und schiffbaren Flüssen bewässert, es erzeugt nichts, was andere Völker begehren, kaum zum Unterhalt seiner Bewohner fruchtbar genug; kein kostbares Gestein wird hier gebrochen, keine Gold- und Silberadern ausgegraben! Nun, das ist ein enger Geist, der sich am Irdischen ergötzt; zu jenem ist er hinzulenken, was sich überall auf gleiche Weise zeigt, überall auf gleiche Weise glänzt; auch muß man bedenken, daß jene Dinge den wahren Gütern durch trügerische Güter, auf die man mit Unrecht vertraut, im Wege stehen. Je längere Säulengänge sie sich bauen, je höher sie ihre Türme aufführen, je breiter sie ihre Gassen ausdehnen, je tiefer sie ihre Sommergrotten graben, mit je größern Steinmassen sie die Giebel ihrer Speisesäle erhöhen, um so mehreres wird ihnen den Himmel verbergen. Das Mißgeschick hat dich in eine Gegend hinausgeworfen, wo eine Hütte der ansehnlichste Aufenthaltsort ist. Traun, dann bist du von kleinem, sich auf elende Weise tröstendem Geiste, wenn du dies nur deshalb mutig erträgst, weil du eine Hütte des Romulus kennst. Sage dir lieber: Jene niedrige Hütte hat doch wohl für Tugenden Raum? und sofort wird sie schöner sein als alle Tempel, wenn man darin Gerechtigkeit erblickt und Enthaltsamkeit, Klugheit, Frömmigkeit, Geschick, allen Dienstpflichten gehörig nachzukommen, Kenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge. Kein Ort ist eng, der eine Menge so großer Tugenden faßt; keine Verbannung ist drückend, in die man mit diesem Gefolge gehen kann. Brutus sagt in dem Buche, das er »über die Tugend« schrieb, er habe zu Mytilenä den Marcellus in der Verbannung gesehen, der so glücklich gelebt habe, als es nur die menschliche Natur gestatte, und nie von größerem Eifer für die schönen Wissenschaften beseelt gewesen sei als zu jener Zeit. Daher fügte er hinzu, »es sei ihm mehr vorgekommen, als ob er in die Verbannung ginge, da er ohne jenen zurückkehren müßte, als daß er jenen in der Verbannung zurücklasse.« Glücklicher also warst du, Marcellus, zu jener Zeit, wo du den Brutus deine Verbannung, als wo du dein Konsulat rühmen ließest! Was war das für ein Mann, der bewirkte, daß sich einer als Verbannter vorkam, weil er von ihm, dem Verbannten, scheiden mußte? was für ein Mann, der einen Brutus ihn zu bewundern zwang, den selbst ein Cato bewundern mußte? Derselbe Brutus sagt, »Cajus Cäsar sei an Mytilenä vorbeigeschifft, weil er es nicht habe ertragen können, jenen Mann entehrt zu erblicken.« Der Senat erwirkte auf allgemeines Bitten seine Rückkehr so besorgt und betrübt, daß alle an jenem Tage von Brutus' Geiste beseelt zu sein und nicht für Marcellus, sondern für sich zu bitten schienen, damit sie nicht Verbannte wären, wenn sie ohne ihn leben müßten; aber noch weit mehr erreichte er an jenem Tage, wo Brutus ihn, den Verbannten, nicht zu verlassen, Cäsar ihn nicht zu sehen vermochte. Denn dadurch wurde ihm ein Zeugnis beider zuteil. Den Brutus schmerzte es, und Cäsar schämte sich, ohne Marcellus zurückzukehren. Zweifelst du wohl, daß Marcellus, jener so große Mann, sich zu gefaßter Ertragung seiner Verbannung also ermutigt haben wird: »Daß du das Vaterland entbehrst, ist kein Unglück. Du hast dich mit solchen Kenntnissen ausgerüstet, daß du weißt, dem Weisen sei jeder Ort ein Vaterland. Sodann, hat nicht derjenige selbst, der dich vertrieb, zehn ganze Jahre lang das Vaterland entbehrt? ohne Zweifel, um sich den Oberbefehl des Heeres zu verlängern, aber er hat es doch entbehrt. Siehe, nun zieht ihn Afrika zu sich hin, das voll ist von drohenden Anzeichen des neu erwachenden Krieges, es zieht ihn Hispanien fort, das seine gebrochenen und gelähmten Glieder neu belebt, es zieht ihn das treulose Ägypten fort, kurz der ganze Erdkreis, der auf den günstigen Augenblick lauert, wo der Staat erschüttert wird. Wem soll er zuerst begegnen? welcher Partei soll er sich zuerst entgegenstellen? Sein Sieg wird ihn durch alle Länder jagen. Mögen ihn Nationen bewundern und verehren: du lebe zufrieden mit der Bewunderung eines Brutus.« Trefflich also hat Marcellus seine Verbannung ertragen, und in seinem Gemüte hat die Veränderung des Aufenthaltsortes nichts verändert, obgleich Verarmung sie begleitete. Daß aber in dieser kein Übel liege, sieht ein jeder ein, der noch nicht in den Wahnsinn der alles umkehrenden Habsucht und Üppigkeit verfallen ist. Denn wie wenig ist es doch, was zur Erhaltung des Menschen nötig ist? und wem kann es daran fehlen, der nur irgend eine moralische Kraft besitzt? Wenigstens was mich betrifft, so erkenne ich, daß ich nicht an Reichtum, sondern nur an Geschäften verloren habe. Des Körpers Bedürfnisse sind gering; Kälte will er abgewehrt wissen, Hunger und Durst durch Nahrungsmittel stillen; was man außerdem begehrt, wirkt den Lastern, nicht dem Bedürfnis in die Hände. Es ist unnötig, jede Tiefe der Erde zu durchsuchen, durch ein Gemetzel unter den Tieren den Magen zu überladen und Muscheln des entlegensten Meeres aus unbekannten Küsten herauszuscharren. Mögen Götter und Göttinnen diejenigen verderben, deren Genußsucht über die Grenzen eines so beneidenswerten Reiches hinausgreift. Jenseit des Phasis will man gefangen wissen, was die prahlerische Küche versorgen soll, und man schämt sich nicht, von den Parthern, an denen wir noch keine Rache genommen, Vögel zu entnehmen. Von überall her bringt man zusammen, was nur immer der ekle Gaumen kennt. Was der durch Leckereien zerrüttete Magen kaum vertragen kann, wird vom entferntesten Ozean herbeigeschafft. Man erbricht sich, um essen zu können, und ißt, um sich zu erbrechen, und würdigt die Mahlzeiten, die man aus der ganzen Welt zusammensucht, nicht einmal der Verdauung. Wenn nun einer dies verachtet, was schadet ihm dann die Armut? und wer es begehrt, dem ist die Armut sogar heilsam. Denn er wird ja geheilt, ohne es zu wollen, und wenn er die Heilmittel nicht einmal gezwungen annimmt, so gleicht er, indem er nicht kann, einem nicht Wollenden. Der Kaiser Cajus Caligula, den mir die Natur hervorgebracht zu haben scheint, um zu zeigen, was die höchste Lasterhaftigkeit im höchsten Glück vermöge, hat an einem Tage um zehn Millionen Sesterzien Mehr als 2 Millionen Mark. gespeist und, obgleich dabei von dem Erfindungsgeist aller Welt unterstützt, fand er doch kaum eine Möglichkeit, die Abgaben von drei Provinzen zu einer Mahlzeit aufzuwenden. O die Beklagenswerten, deren Gaumen nur durch kostbare Speisen gereizt wird! Kostbar aber macht sie nicht ausnehmender Wohlgeschmack oder irgendeine Annehmlichkeit für den Mund, sondern nur die Seltenheit und Schwierigkeit der Herbeischaffung. Sonst, wenn es ihnen zur gesunden Vernunft zurückzukehren beliebte, wozu bedarf es so vieler dem Bauche fröhnender Künste? wozu des Handels? wozu der Entvölkerung der Wälder? wozu der Durchsuchung der Tiefen? Überall liegen Nahrungsmittel umher, welche die Natur an allen Orten niedergelegt hat; aber an ihnen gehen sie wie blind vorüber und durchschweifen alle Landstriche, setzen über Meere, und während sie den Hunger mit geringen Kosten stillen könnten, reizen sie ihn mit großem Aufwand.

10. Ich möchte fragen: Warum laßt ihr eure Schiffe auslaufen? warum bewaffnet ihr eure Hände gegen wilde Tiere wie gegen Menschen? warum lauft ihr mit solcher Unruhe bald da, bald dort hin? warum häuft ihr Schätze auf Schätze? wollt ihr nicht bedenken, wie klein eure Körper sind? Ist es nicht Wahnsinn und die äußerste Geistesverirrung, da du doch so wenig fassest, so vieles zu begehren? Mögt ihr daher auch euer Vermögen vergrößern, die Grenzen eurer Besitzungen erweitern: ihr werdet doch nie euern Körper weiter machen. Wenn auch euer Handelsverkehr gut rentiert, wenn euch der Kriegsdienst viel eingetragen hat, wenn eure überallher aufgespürten Nahrungsmittel sich gehäuft haben, ihr werdet doch keinen Raum haben, wo ihr eure Vorräte unterbringen könnt. Warum also scharrt ihr so vieles zusammen? Freilich, unsere Vorfahren, deren Tugend noch jetzt eine Stütze unserer Laster bildet, waren unglücklich, weil der Erdboden ihre Lagerstätte war, weil ihre Häuser noch nicht von Gold strahlten, ihre Tempel noch nicht von Edelsteinen funkelten. Ja, damals schwur man heilig gehaltene Eide bei Göttern aus Ton, und die, welche sie angerufen hatten, kehrten des Todes gewiß zum Feind zurück, um nicht falsch geschworen zu haben. Freilich, unser Diktator, der den Gesandten der Samniten Audienz gab, während er sich am Herde seine so wohlfeile Speise mit derselben Hand bereitete, womit er schon oft den Feind geschlagen und den Lorbeerkranz in den Schoß des kapitolinischen Jupiters niedergelegt hatte, lebte weniger glücklich als zu unserer Zeit Apicius, welcher in derselben Stadt, aus der man einst die Philosophen als Verderber der Jugend hatte wegziehen heißen, als Lehrer der Kochkunst auftrat und mit seiner Wissenschaft den Zeitgeist ansteckte. Es lohnt der Mühe, sein Ende kennen zu lernen. Nachdem er hundert Millionen Sesterzien auf die Küche verwendet, nachdem er so viele Geschenke der Großen und eine so ungeheure Summe, wie das Capitol erfordert, für jedes einzelne Gelage verschwendet hatte, übersah er, von Schulden erdrückt, notgedrungen zum ersten Male seinen Haushalt, und da er herausrechnete, daß ihm nur zehn Millionen Sesterzien übrig blieben, so endete er sein Leben selbst mit Gift, als ob er nun ein äußerst hungriges Leben führen müßte, wenn er von zehn Millionen leben sollte. Wie groß war die Üppigkeit eines Menschen, für den zehn Millionen Sesterzien Bettelarmut waren! Nun glaube noch, daß es auf die Größe des Vermögens, nicht des Geistes ankomme.

11. Es gab also einen, dem mit zehn Millionen Sesterzien zu leben bangte und der dem, was andere mit Gelübden erflehen, durch Gift aus dem Wege ging. Diesem Menschen von so verkehrtem Sinne war jedoch der letzte Trunk der heilsamste. Da aß und trank er Gift, als er sich der unermeßlichsten Gastmähler nicht bloß erfreute, sondern auch rühmte, als er seine Laster zur Schau trug, als er den Staat in seine Schwelgerei hineinzog, als er die Jugend zu seiner Nachahmung reizte, die auch ohne schlechte Beispiele an sich schon gelehrig genug ist. So geht es denen, welche die Reichtümer nicht von der Vernunft abhängig machen, welche ihr bestimmtes Maß hält, sondern von einer lasterhaften Angewöhnung, deren Willkür eine maßlose und unbezwingliche ist. Der Begierde ist nichts genug, der Natur auch weniges. Daher hat die Armut eines Verbannten nichts Beschwerliches, denn kein Verbannungsort ist so arm, daß er nicht zur Ernährung eines Menschen mehr als genug fruchtbar wäre. – Aber ein Verbannter wird Kleidung und Haus vermissen! Auch dies wird er nur begehren, so weit er es braucht, und es wird ihm weder an einem Obdach, noch an einer Hülle fehlen; denn der Körper wird mit ebenso wenigem bedeckt, als ernährt. Nichts, was die Natur dem Menschen notwendig machte, hat sie ihm mühsam gemacht. Doch vermißt er ein mit vielen Schnecken gefärbtes, mit Gold durchwebtes und mit vielen Farben kunstreich gesticktes Purpurkleid, so ist er nicht durch die Schuld der Natur, sondern durch seine eigene arm. Wenn du ihm auch alles ersetzest, was er verloren hat, du wirst ihm nicht helfen; denn mehr von dem, was er wünscht, wird ihm fehlen, als dem Verbannten von dem, was er hatte. Doch vermißt er ein von Goldgefäßen glänzendes Hausgeräte und durch alle Künstlernamen sich auszeichnendes Silberzeug und ein Metall, das nur durch den Wahnsinn einiger weniger kostbar ist, und einen Schwarm von Sklaven, der das auch noch so große Haus enge macht, Zugvieh mit gleichsam ausgestopften und zum Fettwerden gezwungenen Leibern und Marmorgattungen aller Nationen: so wird, mag auch dies alles zusammengebracht werden, es doch nie sein unersättliches Gemüt zufrieden stellen, ebenso wenig, als irgend ein Getränk hinreichen wird, den zu befriedigen, dessen Begier nicht aus Mangel, sondern aus der Hitze der brennenden Eingeweide entsteht; denn das ist nicht Durst, sondern Krankheit. Und das ist nicht nur bei dem Gelde oder den Nahrungsmitteln der Fall; dasselbe Verhältnis findet bei jedem Verlangen statt, das nicht aus Mangel, sondern aus einer Verkehrtheit hervorgeht; alles, was man ihm zugesteht, wird nicht das Ende, sondern nur eine Steigerung der Begierde herbeiführen. Wer sich also innerhalb des natürlichen Maßes hält, wird keine Armut spüren, wer aber das natürliche Maß überschreitet, dem wird auch bei den größten Schätzen die Armut folgen. Für das Notwendige reichen auch Verbannungsorte aus, für das Überflüssige nicht einmal Königreiche. Der Geist ist's, welcher reich macht; dieser aber begleitet auch in die Verbannung und hat auch in den rauhesten Einöden, wenn er nur so viel vorfindet, als zur Erhaltung des Körpers notwendig ist, an seinen eigenen Gütern Überfluß und Genuß. Geld geht den Geist nichts an, nicht weniger als die unsterblichen Götter alles das, was unerfahrene und zu sehr an ihrem Körper hangende Gemüter hochschätzen. Marmor, Gold, Silber und große, polierte runde Tische sind irdische Massen, die ein reiner, seiner Natur sich bewußter Geist nicht lieben kann, der selbst leicht, ledig und, wenn er einmal freigelassen sein wird, sich in die höchsten Regionen aufzuschwingen bestimmt ist. Inzwischen durchspäht er, soweit es ihm bei der Hemmung der Glieder und der ihn umgebenden schweren Bürde möglich ist, mit raschem Gedankenfluge das Göttliche. Deshalb kann er auch nie ein Verbannter sein, da er frei, den Göttern verwandt und jeder Welt, jeder Zeit gewachsen ist. Denn seine Gedanken schweben um jeden Himmel und dringen in jede Vergangenheit und Zukunft. Dieser armselige Körper, der Kerker und die Fessel des Geistes, wird hierhin und dorthin geworfen; an ihm üben sich Qualen, Räubereien und Krankheiten; der Geist selbst ist unverletzlich und ewig, an ihn kann niemand Hand anlegen.

12. Glaube nicht, daß ich, um die Unannehmlichkeiten der Armut zu verkleinern, die niemand lästig findet, als wer sie dafür hält, nur die Lehren der Philosophen benutze. Zuerst betrachte, wie viel größer die Zahl der Armen ist, an denen du bemerken wirst, daß sie um nichts trauriger oder sorgenvoller sind als die Reichen: ja, ich weiß nicht, ob sie nicht um so vergnügter sind, mit je wenigerem ihr Geist belästigt ist. Wir wollen nun die Armen verlassen und zu den Reichen kommen: wie viele Zeitverhältnisse gibt es, wo sie den Armen ähnlich sind. Sehr beschränkt ist das Gepäck der Reisenden, und so oft die Notwendigkeit der Reise Eile verlangt, wird der Schwarm der Begleiter entlassen. Einen wie kleinen Teil ihrer Habe führen im Kriegsdienst Stehende mit sich, da die Lagerordnung alles unnötige Gepäck beseitigt. Und nicht bloß Zeitverhältnisse und Mangel an Raum macht sie den Armen gleich; sie bestimmen, wenn sie einmal der Überdruß am Reichtum befallen hat, selbst gewisse Tage, an denen sie auf dem Boden speisen und mit Beseitigung des Gold- und Silbergeschirrs sich irdener Gefäße bedienen. Die Wahnsinnigen! was sie bisweilen begehren, fürchten sie für immer. O welch' eine Verblendung des Geistes, welch' eine Unkenntnis der Wirklichkeit treibt sie, die sie zum Vergnügen nachahmen! Fürwahr, so oft ich auf die Beispiele des Altertums zurückblicke, schäme ich mich, Tröstungen für die Armut anzuwenden, weil es ja mit der Üppigkeit unserer Zeit so weit gekommen ist, daß das Reisegeld der Verbannten mehr beträgt, als einst das Erbgut der Großen war. Es ist bekannt genug, daß Homer nur einen, Plato drei und Zeno, mit welchem die strenge und mannhafte Philosophie der Stoiker beginnt, gar keinen Sklaven hatte. Wird nun wohl jemand deshalb behaupten, daß jene Männer unglücklich gelebt haben, ohne selbst von allen gerade deswegen für höchst beklagenswert gehalten zu werden? Menenius Agrippa, der Mittler zwischen den Senatoren und dem Bürgerstande, wurde von zusammengeschossenem Gelde beerdigt. Attilius Regulus schrieb, während er die Karthager in Afrika schlug, an den Senat, sein Tagelöhner sei davongelaufen und sein Feld von ihm verlassen, weshalb der Senat beschloß, es, so lange Regulus abwesend sei, auf öffentliche Kosten bestellen zu lassen. Wahrlich, es verlohnte sich, keinen Sklaven zu haben, da das ganze römische Volk sein Ackersmann wurde. Die Töchter des Scipio empfingen ihre Mitgift aus dem Staatsschätze, weil ihnen ihr Vater nichts hinterlassen hatte. Es war wahrhaftig recht und billig, daß das römische Volk für Scipio einmal den Tribut verwendete, den es von Karthago für immer bezog. O glückliche Männer dieser Mädchen, bei denen das römische Volk die Stelle des Schwiegervaters vertrat! Hältst du die für glücklicher, deren Söhne Balletttänzerinnen mit einer Aussteuer von einer Million Sesterzien heiraten, als den Scipio, dessen Töchter vom Senate, als ihrem Pflegevater, schweres Kupfer zur Mitgift empfingen? Kann nun wohl jemand die Armut unwürdig finden, da sie so herrliche Bilder aufstellt? kann ein Verbannter unwillig darüber sein, daß ihm dies und jenes fehlt, da einem Scipio die Mitgift für die Töchter, einem Regulus ein Tagelöhner, einem Menenius die Begräbniskosten fehlten, wenn allen diesen das, was ihnen fehlte, eben deshalb, weil es ihnen fehlte, zu desto größerer Ehre ergänzt wurde? Durch solche Anwalte also ist die Armut nicht bloß geschützt, sondern auch zu Ansehen gebracht.

13. Man kann mir erwidern: »Warum hältst du jene Dinge so kunstreich auseinander, die freilich einzeln ertragen werden können, vereinigt aber nicht? Die Ortsveränderung ist erträglich, wenn man bloß den Ort verändert; die Armut ist erträglich, wenn die Schande dabei fehlt, die allein schon die Gemüter zu beugen pflegt.« Gegen jeden solchen, der mich mit der Menge der Übel schrecken will, muß ich mich also aussprechen: Wenn du gegen irgend einen Teil des Schicksals hinreichende Stärke besitzest, so wirst du sie ebenso gegen alle haben; wenn die Tugend einmal die Seele abgehärtet hat, so macht sie dieselbe von allen Seiten her unverwundbar. Wenn die Habsucht dich verlassen hat, diese wütendste Pest des menschlichen Geschlechts, so wird dir auch der Ehrgeiz nichts zu schaffen machen. Wenn du den letzten der Tage nicht als Strafe, sondern als ein Naturgesetz ansiehst, so wird in die Brust, aus der du die Furcht verbannt hast, keine Angst mehr einzudringen wagen. Wenn du bedenkst, daß die Geschlechtslust dem Menschen nicht zum Vergnügen, sondern zur Fortpflanzung seines Geschlechts gegeben sei, so wird, wenn dich die Wollust nicht mit ihrem Gifthauche berührt hat, auch jede andere Begierde, ohne dich zu berühren, an dir vorübergehen. Die Vernunft schlägt nicht nur die einzelnen, sondern sämtliche Laster zugleich zu Boden; der Sieg findet nur einmal und im allgemeinen statt. Meinst du, irgend ein Weiser könne durch Beschimpfung gekränkt werden, er, der alles in sich selbst niedergelegt und sich von den Meinungen des großen Haufens losgemacht hat? Mehr noch als Beschimpfung ist ein schimpflicher Tod. Dennoch betrat Sokrates mit derselben Miene, mit welcher er einst die dreißig Tyrannen allein zur Ordnung gerufen hatte, den Kerker, als wolle er dem Orte selbst das Beschimpfende abnehmen; denn er konnte nicht mehr als Gefängnis erscheinen, wenn ein Sokrates darin war. Wer ist in dem Grade gegen das Erkennen der Wahrheit verblendet, daß er meinen sollte, das zweimalige Durchfallen des M. Cato bei der Bewerbung um die Prätur und um das Konsulat sein ein Schimpf für ihn gewesen? Ein Schimpf für die Prätur und das Konsulat war es, welchen Ämtern durch Cato Ehre gebracht worden wäre. Niemand wird von einem andern verachtet, wenn er nicht schon vorher von sich selbst verachtet worden ist. Eine niedrige und verworfene Seele mag für jene Schmach geeignet sein; wer sich aber gegen die schrecklichsten Unfälle erhebt und die Übel, von welchen andere zu Boden gedrückt werden, überwältigt, der besitzt in seinem Elend selbst einen heiligen Schmuck, wenn wir nämlich so gestimmt sind, daß nichts eine gleich große Bewunderung bei uns erregt, als ein Mensch, der im Elend stark bleibt. Aristides wurde in Athen zum Tode geführt. Wer ihm begegnete, schlug die Augen nieder und seufzte, als ob hier nicht nur über einen gerechten Mann, sondern über die Gerechtigkeit selbst Strafe verhängt würde. Dennoch fand sich einer, der ihm ins Gesicht spuckte: darüber konnte er unwillig werden, weil er wußte, daß sich dies kein Mensch mit reinem Munde unterstehen würde; aber er wischte sich ruhig das Gesicht ab und sagte lächelnd zu dem ihn begleitenden Beamten: »Ermahne ihn doch, daß er künftig nicht so grob küsse.« Das hieß der Beschimpfung selbst Schimpf bereiten. Ich weiß, daß einige behaupten, nichts sei schwerer zu ertragen als Verachtung; der Tod selbst sei ihnen lieber. Diesen antworte ich, daß die Verbannung oft aller Verachtung bar und ledig sei. Ist ein großer Mann gefallen, so liegt eben ein großer, und du mußt glauben, er werde ebensowenig verachtet, als wenn man auf den Trümmern heiliger Tempel herumtritt, welche gottesfürchtige Leute eben so verehren, als ob sie noch stünden.

14. Da du nun in Ansehung meiner nichts hast, was dich zu endlosem Weinen triebe, so folgt, daß deine eigenen Verhältnisse dich dazu aufregen. Es sind aber zwei Umstände möglich: denn entweder bekümmert dich das, daß du eine etwaige Stütze verloren zu haben glaubst, oder daß du die Sehnsucht an und für sich selbst nicht zu ertragen vermagst. Den ersteren Umstand brauche ich nur leicht zu berühren; denn ich kenne dein Herz, das an den Seinen nichts anderes als sie selbst liebt. Da laß nun jene Mütter sorgen, die sich mit weibischer Schwäche um die Macht ihrer Söhne mühen, die, weil Frauen keine Ehrenstellen verwalten können, im Namen jener ehrgeizig sind, die das väterliche Erbgut der Söhne teils erschöpfen, teils an sich ziehen, die andern zu Gefallen ihre Beredsamkeit anstrengen. Du hast dich der Güter deiner Kinder gar sehr erfreut, aber sehr wenig bedient; du hast unserer Freigebigkeit stets Schranken gesetzt, während du der deinigen keine setztest; du hast, als Tochter des Hauses, deinen begüterten Söhnen obendrein noch mitgeteilt; du hast unser väterliches Erbteil so verwaltet, daß du dafür besorgt warst wie für dein eigenes, und dich desselben enthieltest, als wäre es fremdes; du hast von der Gunst, in der wir standen, so wenig Gebrauch gemacht, als ob du sie nur für andere Zwecke benutzen müßtest, und von unsern Ehrenstellen hast du nichts als die Freude und die Kosten gehabt; niemals sah deine Zärtlichkeit gegen uns auf den Nutzen. Du kannst also, nachdem dir der Sohn entrissen ist, das nicht vermissen, wovon du, als er noch unangefochten war, glaubtest, daß es dich nichts angehe.

15. Mein ganzer Trost muß sich also darauf richten, woraus die eigentliche Gewalt deines mütterlichen Schmerzes entspringt. »Ich entbehre die Umarmung des heißgeliebten Sohnes, ich kann seinen Anblick, seine Unterhaltung nicht genießen. Wo ist er, durch dessen Anblick ich meine traurigen Mienen erheiterte, in dessen Brust ich alle meine Bekümmernisse niederlegte? wo sind die Gespräche, in denen ich unersättlich war? wo die Studien, an denen ich mit größerer Neigung, als sonst eine Frau, mit größerer Vertraulichkeit als sonst eine Mutter, teilnahm? wo ist jenes Begegnen, wo die kindliche Heiterkeit beim jedesmaligen Erblicken der Mutter?« Du fügst dazu die Orte der Begrüßung und Bewirtung selbst, und, wie natürlich, alle Erinnerungen an den letzten Umgang, die am wirksamsten sind, das Gemüt zu quälen. Denn auch das verhängte die Grausamkeit des Schicksals über dich, daß du drei Tage früher, als mich der vernichtende Schlag traf, sorglos und ohne so etwas zu befürchten, zurückreisen solltest. Zum Glück hatte uns die Entfernung der Orte getrennt, zum Glück hatte dich eine mehrjährige Abwesenheit auf dieses Unglück vorbereitet: da kehrtest du zurück, nicht um dich deines Sohnes zu erfreuen, sondern nur um die gewohnte Sehnsucht zu verlieren. Wärest du lange vorher schon nicht da gewesen, so würdest du es standhafter ertragen haben, weil die Entfernung selbst die Sehnsucht gemildert haben würde; wärst du nicht zurückgereist, so hättest du wenigstens den letzten Genuß gehabt, deinen Sohn noch zwei Tage länger zu sehen. Nun aber hat es das grausame Schicksal so gefügt, daß du weder bei meinem Unglück zugegen, noch an meine Abwesenheit gewöhnt warst. Doch je härter dies ist, desto größere Seelenstärke mußt du zu Hilfe rufen und wie mit einem bekannten und schon öfters besiegten Feinde desto hitziger kämpfen. Nicht aus einem früher noch unverletzten Körper strömt jetzt dein Blut; durch die Narben selbst hinein bist du verwundet worden.

16. Du hast nicht nötig, von der Entschuldigung Gebrauch zu machen, die schon in dem Namen »Frau« liegt, der ein beinahe ungemäßigtes, doch nicht unendliches Recht der Tränen zugestanden ist, und deshalb haben unsere Vorfahren eine Zeit von zehn Monaten zur Trauer über den Verlust von Ehemännern festgesetzt, damit sie sich durch eine öffentliche Satzung mit der Hartnäckigkeit weiblichen Kummers abfänden; sie haben die Trauer nicht verhindert, sondern ihr nur ein Ziel gesteckt. Denn es ist ebensowohl eine törichte Hartnäckigkeit, sich unbegrenztem Schmerze hinzugeben, wenn man einen von seinen Teuersten verloren hat, als unmenschliche Fühllosigkeit, dabei gar keinen Schmerz zu empfinden. Das beste Maß zwischen naturgemäßer Liebe und Vernunft ist, daß man die Sehnsucht zwar fühlt, aber unterdrückt. Du brauchst nicht gewisse Frauen ins Auge zu fassen, deren einmal ins Gemüt aufgenommene Trauer nur der Tod geendigt hat; du kennst welche, die das nach dem Verlust ihrer Söhne angelegte Trauergewand nie wieder ablegten; von dir aber verlangt ein vom Anfang an kräftigeres Leben etwas mehr; die Entschuldigung des weiblichen Geschlechts kann der nicht zu statten kommen, von der alle weiblichen Schwächen entfernt waren. Dich hat nicht das größte Übel unseres Zeitalters, Unzüchtigkeit, der Mehrzahl der Frauen beigesellt; dich haben nicht Edelsteine, nicht Perlen bestochen, dich haben nicht Reichtümer als das höchste Gut des menschlichen Geschlechts angestrahlt, dich, die in einem alten und strengen Hause gut Erzogene, hat nicht die auch den Rechtschaffenen gefährliche Nachahmung der Schlechteren auf Abwege geführt. Nie hast du dich deiner Fruchtbarkeit, als ob sie dir dein Alter vorrückte, geschämt; nie hast du nach der Sitte anderer, die sich nur durch ihre Gestalt zu empfehlen suchen, deinen schwangeren Leib wie eine unanständige Bürde zu verbergen gesucht, und nie hast du die in deinen Schoß aufgenommene Hoffnung auf Kinder vernichtet. Nie hast du dein Antlitz durch Schminke und erkünstelte Reize entstellt; nie hat dir eine Kleidung gefallen, die, wenn sie abgelegt wurde, nichts mehr entblößen konnte Die Frauen trugen nämlich zu Seneca's Zeiten so dünn gewebte seidene Stoffe, daß sie den Blicken nichts verbargen, sondern vielmehr, was sie bedecken sollten, erst recht sichtbar machten.; als der einzige Schmuck, die größte und keiner Zeit antastbare Schönheit, die höchste Zierde erschien dir die Keuschheit. Du kannst also, um deinen Schmerz zu rechtfertigen, nicht den Namen des Weibes vorschützen, dem dich deine Tugenden entführt haben; du mußt von den Tränen der Weiber ebensoweit entfernt sein, als von ihren Fehlern. Selbst Frauen werden es nicht zugeben, daß du an deiner Wunde dich verzehrst, sondern werden dir, wenn du dich der notwendigen, aber leichteren Trauer schnell entledigt hast, dich aufzuraffen heißen, wenn du nur auf jene Frauen hinblicken willst, denen ihre anerkannte Seelenstärke einen Platz unter den großen Männern anwies. Die Cornelia hatte das Schicksal von zwölf Kindern bis auf zwei heruntergebracht. Will man die Leichen der Cornelia zählen, so hatte sie zehn Kinder verloren; will man ihren Wert berücksichtigen, so waren es Gracchen, die sie verloren. Und dennoch hat sie denen, die um sie her weinten und ihr Geschick verwünschten, es untersagt: »sie sollten das Schicksal nicht anklagen, das ihr Gracchen zu Söhnen gegeben habe.« Von einer solchen Frau mußte der geboren werden, der in der Volksversammlung sprach: »Du willst meine Mutter schmähen, die mich gebar?« Viel hochherziger jedoch scheint mir die Äußerung der Mutter. Der Sohn legte einen großen Wert auf die Geburt als einer der Gracchen, die Mutter auch auf die Leichen derselben. Rutilia folgte ihrem Sohne Cotta in die Verbannung und war durch Zärtlichkeit so an ihn gekettet, daß sie lieber das Exil ertragen wollte, als die Sehnsucht nach ihrem Sohne, und kehrte nicht eher ins Vaterland zurück, als mit dem Sohne zugleich. Eben denselben aber verlor sie, als er schon zurückgekehrt war und im Staate in hohen Ehren stand, eben so standhaft, als sie ihn begleitet hatte, und niemand bemerkte an ihr Tränen nach dem Begräbnis ihres Sohnes. Bei seiner Verbannung hat sie Seelenstärke, bei seinem Verluste Klugheit gezeigt; dort hat sie nichts von der Mutterliebe abgeschreckt, hier nichts in einer überflüssigen und törichten Traurigkeit festgehalten. Diesen Frauen will ich dich beigezählt wissen; deren Leben du stets nachgeahmt hast, deren Beispiel wirst du auch in Beschränkung und Unterdrückung des Kummers am besten folgen. Ich weiß wohl, daß die Sache nicht in unsrer Gewalt steht und daß keine Gemütsbewegung gehorchen will, am wenigsten aber die, welche aus dem Schmerze entspringt; denn sie ist unbändig und widerspenstig gegen jedes Mittel; wir wollen sie bisweilen zurückdrängen und unsre Seufzer verschlucken, allein an dem zu erkünstelter Fassung gezwungenen Gesichte selbst rollen die hervorbrechenden Tränen herab. Wir beschäftigen unser Gemüt zuweilen durch Schauspiele und Fechterkämpfe; aber mitten im Schauen, wodurch es abgezogen werden soll, überfällt es irgend eine leise Mahnung an seine Sehnsucht. Daher ist es besser, es zu besiegen, als zu täuschen. Denn wenn es hintergangen und entweder durch Vergnügen oder Beschäftigungen abgezogen worden ist, so erhebt es sich wieder und sammelt gerade durch die Ruhe selbst Kraft zu einem tobenden Ausbruch; wenn es sich aber der Vernunft gefügt hat, ist es für immer beruhigt. Daher werde ich dir nicht die Mittel zeigen, die, wie ich weiß, viele angewendet haben, daß du dich entweder durch eine weite Reise zerstreuen, oder durch eine angenehme vergnügen, daß du durch sorgfältige Rechnungsführung und Verwaltung des Vermögens viele Zeit ausfüllen, daß du dich immer wieder in irgend ein neues Geschäft verwickeln sollst – alles das hilft nur für einen kurzen Augenblick und ist nicht eine Abhilfe, sondern nur eine Hemmung des Schmerzes; ich aber möchte lieber, daß derselbe aufhört, als daß er getäuscht würde. Deshalb führe ich dich dahin, wohin alle, die vor dem Schicksal fliehen, ihre Zuflucht nehmen müssen, zur Beschäftigung mit den edlen Wissenschaften; diese werden deine Wunde heilen und alle Traurigkeit aus deinem Herzen herausreißen. Hättest du dich auch noch nie mit ihnen befreundet, jetzt müßtest du sie betreiben; aber so viel dir die altertümliche Strenge meines Vaters zuließ, hast du alle schönen Künste zwar nicht ganz umfaßt, aber doch gekostet. O hätte doch mein Vater, der trefflichste der Männer, weniger der Sitte der Vorfahren nachgegeben und gewollt, daß du lieber in den Lehren der Weisheit gründlich unterrichtet, als bloß oberflächlich damit bekannt gemacht würdest! Dann brauchtest du dir jetzt eine Hilfe gegen das Schicksal nicht erst zu erwerben, sondern sie bloß hervorzunehmen. Jener Frauen wegen, welche die Wissenschaften nicht zur Weisheit benutzen, sondern dadurch nur eine Anleitung zur Üppigkeit bekommen, duldete er es weniger, daß du dich den Studien hingabst; durch die Gunst deines schnell auffassenden Geistes aber hast du doch mehr daraus geschöpft, als der Zeit nach zu erwarten stand; du hast einen Grund zu allen Wissenschaften gelegt. Kehre jetzt zu ihnen zurück; sie werden dich sicher stellen, sie werden dich trösten, sie werden dich ergötzen; wenn du sie mit aufrichtigem Sinne in deinen Geist ausgenommen hast, wird nie mehr ein Schmerz, nie mehr ein Kummer, nie mehr die überflüssige Qual fruchtloser Betrübnis in denselben einziehen; für nichts hiervon wird dein Herz offen sein; denn für die übrigen Gebrechen ist es ja längst verschlossen. Dies ist das sicherste Schutzmittel, welches allein dich der Gewalt des Schicksals entreißen kann. Weil du aber, ehe du in jenem Hafen angelangt bist, den dir die Philosophie verspricht, der Hülfsmittel bedarfst, auf die du dich stützen kannst, will ich dir einstweilen deine Trostgründe zeigen. Blicke auf meine Brüder; so lange diese dir erhalten bleiben, darfst du das Schicksal nicht anklagen. An beiden hast du, was dich hinsichtlich ihrer verschiedenartigen Vorzüge erfreuen kann. Der eine hat durch seinen Fleiß Ehrenstellen erlangt, der andre sie weise verschmäht. Finde dich zufriedengestellt durch die Würde des einen Sohnes, durch die Ruhe des andern, und durch die kindliche Liebe beider. Ich kenne die innersten Gesinnungen meiner Brüder; der eine vergrößert seine Würde, um dir zur Ehre zu gereichen, der andere hat sich in ein stilles und ruhiges Leben zurückgezogen, um dir seine Zeit zu widmen. Vortrefflich hat das Schicksal deine Kinder verteilt, dir sowohl zum Beistande, als zur Freude; du kannst durch die Würde des einen geschützt werden und dich der Muße des andern erfreuen. Sie werden in Dienstbeflissenheit gegen dich wetteifern, und die Sehnsucht nach einem wird Ersatz finden in der kindlichen Liebe von zweien. Ich kann dreist versprechen, es wird dir nichts abgehen, außer der Zahl. Von ihnen hinweg schaue auch auf deine Enkel, auf Marcus, den reizenden Knaben, bei dessen Anblick keine Traurigkeit dauern kann. Niemand kann etwas so Wichtiges, niemand etwas so Neues auf dem Herzen haben, das er, wenn er sich ihm anschmiegt, nicht milderte. Wessen Tränen sollte nicht sein heiteres Wesen stillen? wessen durch Sorge gepreßte Brust sollten seine launigen Einfälle nicht erleichtern? wen sollte sein Mutwille nicht zu Scherzen ermuntern? wen sollte nicht seine Geschwätzigkeit, deren niemand überdrüssig werden kann, anziehen und den Gedanken, in die er sich vertieft, entreißen? Halte dich an die Novatilla, die dir bald Urenkel schenken wird, die ich so an mich gezogen hatte, daß es scheinen konnte, sie sei durch meinen Verlust zur Waise geworden, obgleich ihr Vater noch lebte; diese liebe nun auch mit an meiner Statt. Das Schicksal hat ihr jüngst die Mutter entrissen: deine Liebe kann bewirken, daß sie den Verlust der Mutter nur bedauert, nicht aber fühlt. Jetzt bilde ihren Charakter, jetzt ihr Äußeres; tiefer dringen die Lehren ein, die in jugendlichem Alter eingeprägt werden. Sie gewöhne sich an deine Unterhaltung, sie bilde sich nach deinem Willen; du wirst ihr viel geben, wenn du ihr auch nichts weiter gibst als dein Beispiel. Diese dir so heilige Pflicht wird dir als Trostmittel dienen, denn nichts kann ein aus Liebe trauerndes Gemüt von seinem Kummer ablenken, als allein die Vernunft und edle Beschäftigung. Auch deinen Vater würde ich unter die wirksamen Trostmittel rechnen, wenn er nicht abwesend wäre; so aber nimm wenigstens aus deiner Gemütsstimmung ab, woran ihm gelegen sein muß; und du wirst einsehen, wie viel pflichtmäßiger es sei, daß du dich ihm erhältst, als daß du dich mir opferst. So oft dich eine unmäßige Gewalt des Schmerzes befällt und mit sich fortreißen will, so denke an deinen Vater; du hast zwar dadurch, daß du ihm so viele Enkel und Urenkel gabst, bewirkt, daß du nicht seine Einzige bist; die Vollendung seines glücklich hingebrachten Lebens aber beruht doch nur auf dir. So lange er lebt, ist es Unrecht, wenn du dich darüber beklagst, daß du noch lebst.

17. Das größte Trostmittel habe ich bis jetzt noch verschwiegen: deine Schwester, das treue Herz, in welches du alle deine Sorgen wie in deine zweite Hälfte ausschütten kannst, jenes Herz, das für uns alle mütterlich fühlt. Mit ihren Tränen hast du die deinigen vermischt, an ihrer Brust dich zuerst wieder erholt. Sie folgt zwar stets deinen Gemütsstimmungen, doch auch meinethalben, nicht bloß deinetwegen betrübt sie sich. Von ihren Händen bin ich in die Stadt geleitet worden, unter ihrer liebevollen und mütterlichen Pflege bin ich von langwieriger Krankheit genesen, sie hat ihre Beliebtheit benutzt, mir das Quästoramt zu verschaffen, und obgleich sie sonst nicht einmal eine gewagte Ansprache oder ehrenvolle Begrüßung ertrug, überwand doch zu meinen Gunsten ihre Liebe diese Schüchternheit. Nicht die zurückgezogene Lebensweise, nicht ihre bei so großer Frechheit der Frauen bäurisch erscheinende Bescheidenheit, nicht die Ruhe, nicht ihre stillen und der Muße entsprechenden Sitten haben ihr im Wege gestanden, mir zuliebe sogar ehrgeizig zu werden. Sie, teuerste Mutter, ist der Trost, durch den du dich aufrichten magst; mit ihr verbinde dich so eng als möglich, sie schließe durch die innigste Umarmung an dich. Trauernde pflegen das, was sie am meisten lieben, zu fliehen und freien Lauf für ihren Schmerz zu suchen: du wende dich und alle deine Gedanken an sie. Magst du nun die jetzige Kleidung beibehalten oder ablegen wollen, bei ihr wirst du für deinen Schmerz entweder ein Ziel oder eine Teilnehmerin finden. Doch wenn ich die Klugheit der vortrefflichsten Frau kenne, so wird sie nicht dulden, daß du dich in nutzloser Trauer verzehrst, und wird dir ein Beispiel erzählen, wovon auch ich Augenzeuge war. Sie hatte auf der Seereise selbst ihren teuern Gatten verloren, unsern Oheim, den sie als Jungfrau geheiratet hatte; doch sie ertrug zu gleicher Zeit die Trauer und die Furcht und brachte nach überstandenen Stürmen als Schiffbrüchige seinen Leichnam heim. O wie vieler Frauen herrliche Taten liegen im Dunkeln! Wäre es ihr beschieden gewesen, im Altertume zu leben, das so viel einfachen Sinn für Bewunderung der Tugenden hatte, mit welchem Wetteifer würden ausgezeichnete Geister eine Frau gepriesen haben, die, ihre Schwachheit vergessend, vergessend sogar des auch für die stärksten Männer furchtbaren Meeres, ihr Leben Gefahren preisgegeben hat eines Begräbnisses wegen, und während sie an die Leiche ihres Gatten dachte, nichts für ihr eigenes Leben fürchtete? In den Liedern aller Dichter wird jene Frau verherrlicht, die sich statt ihres Mannes dem Tode weihte; dies aber ist mehr, dem Gatten mit Lebensgefahr ein Grab zu suchen; das ist größere Liebe, die durch gleiche Gefahr von der kleineren befreit. Hiernach wird sich niemand mehr wundern, daß sie sich in den sechzehn Jahren, wo ihr Gatte Ägypten verwaltete, nie öffentlich zeigte, niemanden aus der Provinz Zutritt in ihr Haus gestattete, nichts von ihrem Manne begehrte und nichts von ihm begehren ließ. Daher blickte die geschwätzige und in Schmähungen der Statthalter erfinderische Provinz, in welcher selbst die, welche sich frei von Schuld erhielten, der übeln Nachrede nicht entgingen, zu ihr wie zu einem in seiner Art einzigen Muster strenger Tugend empor, enthielt sich, – was dem sehr schwer fällt, der selbst an gefährlichen Witzen Gefallen findet, – aller Frechheit der Äußerungen, und wünscht sich noch heute stets eine solche, wie sie war; obgleich sie nie eine solche wieder zu besitzen hofft. Es wäre schon viel gewesen, wenn die Provinz sechzehn Jahre lang mit ihr zufrieden gewesen wäre; mehr aber ist, daß sie nichts von ihr zu erzählen wußte. Dies erwähne ich nicht deswegen, um ihr Lob auszuführen, denn so kurz darüber hinzugehen, hieße es schmälern; sondern damit du erkennst, das sei eine hochherzige Frau, die nicht Ehrgeiz, nicht Habsucht, die Begleiterinnen und Unholde aller Macht, überwältigten, die, als sie nach Entmastung ihres Fahrzeugs den Schiffbruch vor Augen sah, die Furcht nicht abschreckte, an ihrem entseelten Gatten hangend darauf bedacht zu sein, nicht etwa wie sie selbst entkäme, sondern wie sie jenen zu Grabe brächte. Eine dieser gleiche Seelenstärke mußt auch du beweisen, dein Gemüt von der Trauer ablenken und darauf hinarbeiten, daß niemand glauben könne, du bereuest, mich geboren zu haben. Übrigens, weil doch, wenn du auch alles tust, deine Gedanken notwendig zuweilen auf mich zurückkommen müssen, und keins von deinen Kindern dir jetzt häufiger vor der Seele schweben wird, nicht als ob die andern dir weniger lieb wären, sondern weil es natürlich ist, daß man seine Hand öfters auf die Stelle legt, welche schmerzt: so vernimm, wie du dir mich denken sollst: froh und heiter, wie in der glücklichsten Lage; denn sie ist die glücklichste, weil der Geist, von jeder andern Beschäftigung frei, Zeit hat für seine Tätigkeit und sich bald an leichteren Studien ergötzt, bald nach Wahrheit dürstend sich zur Betrachtung seiner eigenen Natur und des Weltalls erhebt. Zuerst erforscht er die Länder und ihre Lage; dann die Beschaffenheit des sie umströmenden Meers und seine wechselnde Ebbe und Flut; darauf betrachtet er alles Furchtbare zwischen Himmel und Erde, diesem durch Donner, Blitze, Stürme, Regengüsse, Schneegestöber und Hagelwetter in Aufruhr versetzten Raum; dann, nach Durchwanderung der niedern Regionen, schwingt er sich zu den höchsten auf und genießt den über alles schönen Anblick der Himmelskörper, und seiner Unsterblichkeit eingedenk geht er in alles ein, was jemals war und sein wird.


 << zurück weiter >>