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Nachdem der Dezember so mild und regnerisch gewesen, daß schon der Frühling einzuziehen schien, kam mit dem neuen Jahr der Frost. Die endlos langen Ackerfurchen, auf denen noch kein Schnee lag, wurden hart wie Stein und zeigten unter der niedrig stehenden, kraftlosen Sonne eine bleiche, gelbe Farbe. Die kahlen Bäume, die sich dem warmen Regen breit geöffnet hatten, zogen die Äste zusammen und sahen mit einem Male schmäler aus als sonst. Die alten Pumpen in den Straßen und Höfen wurden mit Stroh umwickelt. Die Pferde, die, an ihre Droschken gespannt, in langer Reihe auf dem Marktplatz standen, wurden mit wollenen Decken behangen, und von ihren Nüstern gingen trichterförmige Dunstwolken nach beiden Seiten aus. Die Bäuerinnen, die mit ihren Gemüsekörben dahinter saßen, schoben kleine, brennende Öfen unter ihre Röcke.
Die Menschen in den Straßen gingen schneller, ihre Schritte auf den Steinen klangen lauter. Sie trugen die Hände in den Manteltaschen und nahmen, mit weit abstehenden Ellenbogen, nicht gewohnt, ohne Unterstützung der hin- und herschaukelnden Arme zu gehen, einen komischen, drehenden Gang an.
Am Ufer standen schon die Bürger, die auf ihrem Morgenspaziergang waren, und die Studenten, denen die scharfe Rheinluft die Köpfe frisch machte, um auf das Eis von oben zu warten. An den Landungsbrücken hielten sich Gruppen von Männern auf, Arbeitslose, die das Suchen nach Arbeit endlich aufgegeben und das Leben von kleinen Rentnern angenommen hatten. Ohne Mäntel, die grünlichen Jacken zugeknöpft, die Kragen hochgeschlagen, lehnten sie stundenlang mit aufgestützten Armen an dem Eisengeländer der Werftmauer und sahen auf den Strom hinaus, mit hellen blauen Augen, die durch die lange Zeit der Entbehrungen alle sonderbar tief in den eckig gewordenen Backen steckten.
Aber das Eis kam noch nicht. Keine Scholle trieb auf dem weiten, tonlosen Wasser, die Schiffe schnitten sich noch voll Mut und Zuversicht einen Weg in die unablässig ankommenden Wellen hinein, um ihre höher am Strom gelegenen Ziele zu erreichen.
Am zweiten und dritten Tag begann sich am Ufer entlang das Saumeis zu bilden, ein meterbreiter Streifen, der an der Mauer des Ufers festhing und schräg zu dem über Nacht niedriger gewordenen Wasser hinabführte. Hier und da versuchten schreiende Kinder darauf zu treten oder warfen den Hunden kleine Steine hinunter.
Am vierten Tag kamen die ersten Schollen, oft nur handgroß, hin und wieder so groß wie ein Tisch, selten so groß wie ein Wagen. Manchmal stiegen sie plötzlich aus dem Wasser auf, wie vom Grund hinaufgestoßen, und schwammen dann schnell und sich drehend weiter. Es waren aber noch so wenige, daß jede ihren eigenen Weg nahm, daß überall weite Zwischenräume waren und nie eine an die andere stieß.
Am fünften und sechsten Tag wurde die Kälte so streng, daß die breite Uferstraße wie leer geblasen war. Das Gelb und Blau der Landschaft nahm eine matte, glanzlose Farbe an, die Sonne drang nur noch schwach durch die erstarrte Luft, und auf den Eisenstangen des Geländers standen aufrechte, winzige Eisstäbchen, wie Eisenfeilspäne auf einem Magneten. Wenn jemand schnell am Rhein vorbeiging, so sahen sein Bart und seine Augenbrauen bald wie beschneit aus.
Am Nachmittag des sechsten Tages endlich wurde der Himmel dick und gelb und legte sich wie eine ungeheure Masse auf die schwarzen Giebel der Dächer. Der Qualm der Fabriken konnte nicht mehr aufsteigen und zog, das Atmen schwer machend, durch die Straßen. Und eine Stunde später fing es zu schneien an.
Ganze Reihen der kurzen, zweiräderigen Karren fuhren am Ufer eine neben die andere auf, so, daß die Pferde die Köpfe den Häusern zu hatten, und ganze Berge von Schnee wurden aus den umgestülpten Fahrzeugen in den schwarz und schwer gewordenen Strom hinuntergeworfen.
Damit aber hatte der Frost auch sein Ende erreicht. Über Nacht kam der warme Wind vom Meere her, und von allen Dächern fing das Tauwasser lärmend durch die blechernen Kallen zu laufen an.
An der Rathausmauer wurden kleine Zettel angeklebt mit den Wassernachrichten vom obern Rhein. Neugierige kamen von allen Seiten, lachten, schüttelten besorgt die Köpfe, sprachen von früheren Jahren.
Das Wasser stieg, das Eis kam.
Alle paar Stunden wurden neue Zettel befestigt, das Wasser wuchs immer mehr. Man bestimmte schon die Stunde, wo das Eis an dem äußersten Punkt der Ufermauer anlangen würde.
Mittags wanderten am Rhein entlang dichte Menschenscharen, dem Wasser entgegen, alle die Köpfe nach dem Strom hingedreht, alle mit den Fingern und Stöcken zeigend.
Ein letzter Nachen strebte noch, von kurzen Ruderschlägen gejagt, nach dem andern Ufer. Auch dort sah man Menschen, klein wie Zwerge und schwarz, zusammenstehen und die Arme ausstrecken.
Die Geländer waren losgeschraubt und an den Boden hingelegt worden, hier und da war die Uferstraße mit Eisenschienen und mächtigen Holzbalken, alle mit fauststarken Stricken aneinander gebunden, versperrt, um die Alleen und Anlagen des Ufers gegen die Wucht des langsam anziehenden Eises, falls der Strom über den höchsten Rand der Werftmauer treten sollte, zu schützen.
Das Moseleis kam zuerst. Genau zur Minute rückte es an, pünktlich wie ein von Menschenhand geordnetes Schauspiel, fast ohne Vorboten, in gerader, abgegrenzter Linie, die sich über den ganzen Strom bis zum andern Ufer hinzog. Die Schollen waren klein, kreisrund, schwarz und durchsichtig wie Glas. Eine stieß die andere voran. Hier schoben sich zwei mit den Rändern, wie zwei Zahnräder, aneinander vorbei, indem sie sich um sich selber drehten; da strebte eine von ihren Nachbarn weg und schoß, mitten durch eine Schar hindurch, auf eine ganz bestimmte andere hin, an die sie sich festhing und die sie nicht mehr losließ. Jedesmal, wenn zwei zusammenstießen, gab es das scharfe, klare Klingen, an dem die Schiffer auch bei Nacht das Moseleis erkennen, ein Klingen, wie wenn an Glas geschlagen wird. Und das Klingen all der tausenden und tausenden Schollen vereinte sich in einen endlosen, singenden Ton, fein und leise, der die feuchte, schwere Luft, wie aus irgend einer Ferne kommend, durchschnitt. Leicht und flink, schaukelnd und sich drehend, in unaufhaltsamem Vorwärtsschieben schwamm die Masse dahin, kein Ende nehmend. Es war wie ein Tanz, auf den man von oben hinuntersah und der ein schwindelndes Gefühl vor den Augen hervorrief.
Mit der kommenden Dämmerung rückten die Schollen plötzlich enger aneinandergeschlossen heran. Kaum noch eine Lücke war sichtbar. Es war, als ob eine ungeheure Herde Schafe sich in Angst vor den hineinfahrenden Hunden zusammendränge. Der klare, singende Ton begann zu zittern, zu brechen, dumpfe Schläge dröhnten dazwischen, deren Ursache nicht zu erkennen war. Ein merkwürdiges Pfeifen, Zischen, Rollen und Schleifen, dann wieder ein Gurgeln und kurzes Aufbrausen kam immer näher.
Einzelne Schollen zeigten sich, weiß, mit wässerigem Schnee bedeckt, lang und eckig, wie mit Messern abgeschnitten, in den sonderbarsten Umrissen, groß wie kleine Stadtplätze. Sie trugen ganze Berge von kleinen Schollen auf sich und trieben majestätisch in dem Wirrwarr der tausenden kleinen dahin. Immer neue Schollen, die vor ihnen daherflüchteten, nahmen sie, wie ein Teller sich darunter schiebend, auf sich, oder drückten sie mit ihrem mächtigen Gewicht unter sich ins Wasser und ließen sie hinter sich wieder aufsteigen. Wie schleppentragende Dienerinnen hingen die Kleinen sich dann an den Saum der Königin an.
Das Rheineis kam!
Der kleinen, schwarzen Schollen wurden immer weniger, der riesigen, weißen immer mehr. Das helle Klingen war von dem dumpfen, riesenhaften Hallen längst verschluckt worden. Der ganze Strom geriet in Aufregung – ein unablässiges, ungeheures Treiben, keine Sekunde ein Stillstand, ein immer und immer sich Verändern, ein einziger hastender, verzweifelter, knirschender, schreiender Kampf. Ein Drauflosstürmen und Sichwehren, ein Aufbäumen, ein Bersten und Zertrümmern überall, ein wütendes Kämpfen einzelner und ganzer Massen. Das waren keine Stücke erstarrten Wassers mehr, das waren beseelte Wesen, die von einem übermächtigen Schicksal dahingetrieben wurden, die miteinander rangen um einen Platz an der Oberfläche, die sich nachjagten, sich ersehnend und sich hassend, die sich packten, festbissen und würgten, die sangen und jauchzten, die müde wurden, verzweifelten und starben.
Und den Menschen am Ufer teilte sich die Aufregung dieses Lebens zu ihren Füßen mit. Sie sahen auf den wandernden Strom hinaus, wie in ihr eigenes Leben. Schweigend, atemlos, in einem unerklärlichen Grauen standen sie da, dicke, schwarze Scharen, von dem gelben, immer tiefer sich auf ihre Schultern herabsenkenden Abend eingehüllt. Nur selten flog ein Scherzwort auf, das keinen Widerhall fand.
Die Nacht kam schnell. Der Strom ging mit seinem Weiß in den Schnee des flachen, endlos ansteigenden andern Ufers über, ohne daß noch eine Grenze zu sehen war. Wie die Riesenfinger im Schnee Begrabener starrten noch die einsamen Fabrikschlote drüben schwarz aus dem Weiß heraus. Die sieben Berge oben hatten sich schon in den dicken, dunklen Himmel aufgelöst.
Plötzlich hörten die Leute, die noch immer in unübersehbarer Reihe am Ufer standen und der Nacht nicht weichen wollten, trappelnde Schritte hinter sich. Man schrie. Männer in Arbeitskleidern liefen vorbei, ohne daß zu erkennen war, weshalb und wohin. Kinder und andere Männer schlossen sich an und liefen mit, überzeugt, daß ein Grund und Ziel des Laufens da sein müßte.
Mit einem Male sah alles auf den Strom hinaus. Und da kam ein schreiender, entsetzter Laut aus der Reihe heraus, der sich nicht fortpflanzte, sondern überall zu gleicher Zeit entstand, wie aus einem einzigen, riesigen Mund. Und dann eine Stille, eine Leere, ein einziger verhaltener Atemzug.
Draußen, mitten im Weiß des Eises, trieben zwei schwarze Gestalten heran, durch die Entfernung klein. Und doch war auf dem weißen, schimmernden Hintergrund jeder schwarze Strich zu erkennen: zwei auseinandergestellte Beine, in die Luft gehobene Arme – zwei Männer auf einer Scholle!
Der eine saß, den Kopf nach dem Ufer hingedreht, zusammengekauert, mit hochgezogenen Beinen, die Arme neben sich auf das Eis gestützt. Er machte keine Bewegung, veränderte nicht die Lage seiner Beine, hob die Arme nicht, drehte den Kopf nicht hin und her. Ohne daß sein Gesicht zu erkennen war, ging ein Gefühl der Ergebung, des Geschehenlassens von dem schwarzen Bündel aus.
Der andere stand, breit, hielt den Hut in der Hand und stach mit ihm in die Luft über sich, mit einer komischen Bewegung. »He – he – Naache – Ruder – Hölp – Hölp!« kam es zum Ufer her.
Aber da löste sich die endlose schwarze Linie nur langsam auf und ließ die roten Steine der Gartenmauern durchschimmern. Rufe, Jammern, immer lauteres Rufen – aber keiner wollte seinen guten Platz am Uferrand verlieren. Mit vorgestreckten Köpfen stand alles und sah nach den zwei Männern hin.
»He – he – Hölp – Hölp!«
Aber wie sollte auch da zu helfen sein? Man konnte unmöglich mit einem Nachen durchs Eis, so stark war kein Nachen, so stark auch keine Männer – man konnte auch nicht über das Eis zu ihnen hinspringen – sonst könnten die ja umgekehrt auch zum Ufer herspringen – nein, das wären statt zwei Verlorener so viel mehr – vielleicht waren sie auch nicht verloren – es war doch möglich, daß sie irgendwo ans Land kamen – wenn ein Schiff da wäre, aber die lagen ja alle ohne Dampf in den Häfen!
»He – he – Hölp – Hölp!«
Schon schwächer klangen die breitgezogenen Laute. Man merkte erst jetzt, an dem schnellen Dahintreiben der beiden, wie reißend der Strom ging.
Und immer weiter trieben sie, immer schwächer klangen die Rufe. Und immer tiefer und schwärzer legte sich der Himmel auf das Eis.
Die zwei sahen nur noch wie zwei Krähen aus. Schließlich war es nicht mehr möglich, sie zu erkennen. Man stritt – der eine wollte sie hier, der andere da noch sehen – dann war alles leer.
Niemand ging nach Haus. Alles stand, hielt den Kopf vorgestreckt und sah in die Nacht hinaus. –
»Setz dich,« sagte der ältere der Männer, der, der saß, »et nötz nix, sie komme net.«
Der junge, mit den dünnen Beinen und dem mächtigen Brustkasten des Ackerbauern, mit frischem Gesicht, das noch vom Sommer her verbrannt war und von dem Rufen rot und erregt geworden war, hörte auf zu rufen, hielt aber den Hut noch in der Luft. Dann setzte er auch den Hut auf, drehte den Häusern der Stadt den Rücken und lachte, indem er den andern ansah und seinen blonden Schnurrbart mit dem Handrücken nach oben bürstete. »Mir müsse die Naach he schlaofe – der Düvel soll et holle.«
»Wat mäht dat?« sagte der andere und stopfte seine kurze Pfeife. Sein mit grauen Stoppeln besetztes Gesicht war weiß wie das Eis umher. Er hielt die Augen eigentümlich zusammengekniffen, sah nicht nach dem Gefährten hin, und zog mit kurzen Zügen an seiner Pfeife.
Der junge stand und sah mit seinen scharfen, blauen Augen prüfend die Schollen an, die neben der ihren schwammen. Er versuchte mit seinen breiten Schuhen, die noch den Kot vom Land an sich trugen, auf die eine und andere zu treten. Aber wo er hintrat, senkte es sich und ließ das Wasser über seinen Schuh treten.
Es war wie ein Feld nach allen Seiten um sie her, ein beschneites Feld, über das man anscheinend nur die Füße hinzusetzen brauchte, um ans Ufer zu gelangen, und doch war kein Schritt über ihr zimmergroßes, dreieckiges Stück Eis hinaus möglich.
Sie sahen auch schon nicht mehr, wohin sie trieben. Die Ufer waren nicht mehr zu erkennen, hier nicht und da nicht, kein Licht leuchtete herüber, es war nur noch ein einziges Weiß, das matt durch das immer dicker werdende Schwarz hindurch glänzte. Nirgendwoher der Pfiff eines Vogels, das Bellen eines Hundes, die Stimme eines Menschen. Unverändert war das unheimliche Rauschen, Krachen und Poltern nach allen Seiten um sie her, unverändert das Fortgeschobenwerden, das Anstoßen, das sich im Kreise Drehen, das durch die dreieckige Gestalt des Eisstückes ruckweise geschah.
»Nä,« sagte der junge, »mir mässe op däm Iis he blieve. Et es zwar alt kleener jewaode, ävver et es emmer noch fester als all die andere.« Er fühlte mit der Hand zwischen die Schollen in das Wasser hinunter. »Dat es su deck wie zwei Füüß.«
Der andere brummte nur und legte sich sein rot und weiß gewürfeltes Taschentuch, wie es die Landleute tragen, unter.
»Ich setzen mich och,« sagte der junge und hockte sich nieder, die Kniee an den Körper gezogen und die langen eckigen Arme darum gelegt.
»Et es sonderbar: et es mir jar net kalt. Dat mäht wähl de Opräjung.« Aber er war nicht einmal aufgeregt. Er war nicht anders als wie sonst, wenn er sich abends auf seinen blauüberzogenen Strohsack legte. Ein wenig unruhig, gespannt, aber nicht furchtsam – weiß der Teufel, irgendwie mußten sie doch aus dieser Geschichte herauskommen.
»Mir hätte dinge Naache ruhig drieve losse solle – ne neue Naache koß net vil. Dann waöre mer noch am Land. Jetz drieve mer alle drei.«
»Wat mäht dat?« brummte der andere.
»Nä, et mäht nix. Ich wäeden mir bei där Jeläjenheet ens Köllen aansehn – dann koß die Reis' och keen Fahrjeld.« Der junge mußte auf seinem Sitz hin- und herrücken, bis die Scholle im Gleichgewicht war. Bei jeder Bewegung spülte das Wasser an seine Schuhspitzen.
Es gab einen Ruck, und jeder der zwei machte eine fallende Bewegung nach vorne, so daß sie die Hände vorstrecken mußten. Und mit einem Male spürte der junge hinten eisiges Naß an seiner Hose. Das Eis war hinter ihm abgebrochen, ihre Insel war nur noch halb so groß.
Beide rückten vorsichtig der neuen Mitte zu. Der ältere zog an seiner Pfeife, als ob nichts gewesen wäre, hielt immer die Augen zugekniffen und saß wieder bewegungslos da. Wenn er an der Pfeife zog, leuchtete der brennende Tabak auf und zeigte seine grauen Stoppeln und den unteren Teil seines faltigen Gesichtes mit der herabhängenden Nase.
Die Scholle, die gegen die ihre gestoßen war, saß daran fest und fraß mit ihrem zackigen Rand ein Stück nach dem andern davon herunter. Es knisterte unaufhörlich hinter ihnen.
Der junge versuchte, den Feind mit den beiden Fäusten wegzustoßen. Aber der Strom und die Masse des dahinter anrückenden Eises waren stärker als er. Er fluchte. »Su sihr jemötlich es dat jetz net mieh – dat Aos es zo schmal jewaode. Wenn mer onser drei waöre, dann mööte mer eene von ons en et Wasser schmieße.« Und er schlug mit seinem Absatz gegen das Eis, wie um auszudrücken, daß seine anfängliche Bewunderung der Scholle in Verachtung übergegangen war. Er mußte wieder und wieder rücken, um nicht im Wasser zu sitzen.
»Zom Donnerkiil – setz ruhig!« schrie der andere auf einmal ganz unvermittelt auf und trat ihm mit dem Absatz seines Stiefels gegen das Knie. Auch ihm spülte das Wasser jetzt an die Hose, und auch er mußte immer wieder rücken. »Ich den zoirsch he jewäs – du bes naoh mir jekomme – woröm des du net op dingem Stöck Iis jeblivve?«
Der junge erwiderte nichts, ganz erschrocken über den plötzlichen Zornesausbruch. Aber dann wurde er ärgerlich über den Tritt gegen sein Knie, das ihn schmerzte. Er wollte aber seinen Ärger nicht aufkommen lassen. Sie mußten sich vertragen, sie beide, es mußte einer zum andern halten – was sollte sonst aus ihnen werden? Er zog also gleichfalls sein Taschentuch heraus, lachte und gab es dem andern. »Dä – nemm! Du bes älder als ich – ich maachen mir us der Käld nix.«
Der andere nahm das Tuch, ohne zu sprechen, mit einer heftigen Bewegung, und legte es sich unter.
»Jang op e ander Iis,« fuhr er dann wieder auf, »du bes zo vil he – ich ben zoirsch he jewäs.«
»Jood,« sagte der junge. »Wenn du et wells.« Er stellte sich auf die Füße, indem er die Arme von sich hielt, um das Gleichgewicht zu wahren. Er sah wieder die nächsten Schollen prüfend an. »Nä – ich riskieren et net. Ich mööt springe – on do weeß der Düvel, wohin ich do tredde.«
»Dann bliev stonn – et es keene Plaatz für zwei zom Setze.« Der Ältere kroch frierend noch tiefer in sich hinein, immer knurrend, wie ein wütender Hund, immer etwas zwischen den Zähnen herauszischend.
Ein eisiger Wind schüttelte die Zipfel ihrer Jacken, und sie mußten die Kappen tiefer in den Kopf ziehen, um sie nicht zu verlieren.
Der junge blieb stehen, stellte die Beine wieder breit auseinander und hielt die Arme, mit den zwei Fäusten unten, immer breit neben sich. Er schluckte fortwährend hinunter – der Zorn saß ihm in der Kehle. Das Blut klopfte ihm in den Schläfen. Es war eine Gemeinheit, ihn anzuschreien, weil er zuletzt auf das Eis getreten war, während sie doch beide in einer gemeinsamen Not waren. Herrgott, das ist schon das größte Unglück bei der ganzen Sache, daß er mit so einem alten Kerl da zusammen auf dem Eis sein muß. Warum hat er ihn da ans Knie getreten? Ist er denn noch ein dummer Bengel von der Straße?
Er mußte mit den Armen hin und her rudern – unrecht hatte der andere nicht, wie lange würde er noch so dastehen können? Aber zum Teufel! es gehörte Mut dazu, auf ein anderes Stück Eis zu gehen, dessen Dicke man nicht kannte.
Sie sprachen nicht mehr zusammen. Dabei drehten sie sich unaufhörlich mit der Scholle im Kreise herum, einer immer um den andern. Es wäre komisch gewesen, wenn nicht der Haß zwischen ihnen, wie ein anfangendes Feuer, gebrannt hätte.
Der junge pfiff laut, gegen den Wind. Es erregte ihn immer mehr, daß gerade er stehen mußte, und daß der andere sitzen sollte. Und wie er sich noch mit Absicht so recht breit setzte! »Zom Teufel!« schrie auch er jetzt, »du drängs mich jo janz en et Wasser!«
»Ich ben zoirsch he jewäs,« kam es eigensinnig und drohend von unten zu ihm herauf. »Et es nur für eene Plaatz he.«
Es war in der Tat kein Zweifel mehr – zwei hatten nicht länger Platz auf dem Eis da. Und da kam dem jungen endlich der Gedanke, den er schon längst in sich aufsteigen gefühlt hatte: warum nicht mit den Armen nach unten greifen, warum nicht mit den langen, sehnigen Armen den schwachen, kleinen Mann da unter die Schultern packen und auf ein andres Eis werfen? Er will es ja nicht anders – ich wäre nicht so, wenn er nicht so wäre. Warum hat er mich an das Knie getreten?
Er pfiff lauter, um diese Gedanken in sein Inneres hinunterzudrücken. Aber sie drängten sich wieder nach oben, wie die kleinen Eisschollen. Wenn er ihn warf, und er, der andere, fiel ins Wasser? Nun, so konnte er schwimmen, konnte sich am andern Eis halten – es war so viel Eis da, daß niemand untergehen konnte.
Der junge brauchte gar nicht mehr denken zu wollen, die Gedanken arbeiteten ohne ihn, gegen seinen Willen, und führten ihn zum Entschluß. Gut, er wollte den Wurf tun. Nur den richtigen Augenblick galt es zu ergreifen, wo ein breites Eis nahe genug war, dem zu trauen war; denn so ganz ins Ungewisse konnte er den Alten doch nicht werfen.
Eine plötzliche Angst und Verwirrung kamen über ihn. Der Schweiß prickelte ihm unter der Kappe auf der Stirn, das Herz schlug ihm hörbar unter der zugeknöpften Jacke. Herrgott, nur keine Todsünde! Nur zu Haus der alten, guten Mutter in die blauen Augen sehen können, nur die Jriet, wenn sie in ihrem roten Rock kommt, um nach ihm zu fragen, anlachen können!
Er sprach ein schnelles Gebet: »Hellige Modder Jottes – hilf mir – loß mich jood blieve – nä, et es Onrääch – loß mich et net donn –« Aber seine Augen schossen dabei unter halb herabgezogenen Lidern durch die Nacht, spähten, suchten – da kam ein Eis – groß war es nicht – aber es schien fest –
Er griff schnell mit den Armen unter sich, nach dem kleinen Mann – und wurde im selben Augenblick an die Beine gepackt, mit eisernen Fingern in die Kniekehlen hinein. Er griff mit den Händen in die Luft, um sich an etwas zu halten – in einer merkwürdigen Gedankenverbindung sah er plötzlich die grobe, blaue, von der Sonne beleuchtete Schürze seiner Mutter vor sich, an der er sich als Kind gehalten – er machte den Mund auf, um zu schreien – da hielt ihm was den Mund zu – Wasser – – Ein Schlagen, ein Brechen von Eis, dann nur noch das große, unablässige dumpfe Hallen, Murren und Stöhnen, das sich schwer und langsam durch die schwarze Nacht schob, und mitten darin, ein schwarzer Haufen auf einem riesigen weißen Teller, der eine, der Sieger, bewegungslos, den Kopf noch tiefer in die Schultern gesteckt und unaufhörlich sich im Kreise drehend.