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Salve tandem.


Eine Viertelstunde vor zehn blies das Nähmädchen in seinem kleinen Zimmer, hinten nach dem Hof heraus, die Lampe aus. Und so kam es, daß der Privatwächter, der auch dahinten wohnte und dessen Dienst um Zehn anfing, heute eine Viertelstunde zu früh seine Kappe und seinen Mantel vom Türnagel nahm und in den Hof hinausging.

Das Mädchen löschte sonst allerdings das Licht Abend für Abend um zehn aus, mit dem Schlag, so pünktlich, daß der alte schwerhörige Wächter, dessen Fenster auf der andern Seite des Hofes lag, schon längst gewohnt war sich darnach zu richten.

Es war eine sonderbare Pünktlichkeit. Sie kam aber nicht nur daher, daß das Mädchen schon anfing, ältlich und damit in allen kleinen Dingen grämlich genau zu werden, wie alle die alten, abgearbeiteten Nähmädchen, die am frühen Morgen über die Straße in fremde Häuser laufen, wenn die letzten betrunkenen Studenten noch mit ihren Stöcken auf das Pflaster schlagen und die alt und unscheinbar gewordenen Jungfern nicht einmal mehr eines Blickes wert erachten, der sie doch so glücklich machen würde.

Die Pünktlichkeit hatte noch einen andern Grund.

Das Mädchen kam um acht vom Nähen nach Hause. Der Tag und die Arbeit lagen hinter ihr. Aber jetzt erst fing sie zu leben an. Es war etwas, worauf sie sich bei jedem Nadelstich, bei jedem zurücksetzenden Wort ihrer jeweiligen Herrschaft, bei jedem Bissen ihrer wenig reichlichen und nicht zu freundlich vorgesetzten Mahlzeiten freute; etwas, was sie all diese kleinen Nöte vergessen ließ und sie sogar hin und wieder ganz fröhlich auflachen machte – und das waren die Bücher. Die recht geringwertigen, oft niederträchtigen, beschmutzten und zerrissenen Bücher, die sie sich schon mittags in der Leihanstalt mitten im alten Stadtviertel holen ging.

Da lag sie nun in ihrem Bett und flüsterte aufgeregt die Worte mit, mit denen die Gräfinnen und Prinzessinnen in ihren Kutschen sich unterhielten. Da zog sie ihr schmales, abgehärmtes Gesicht in die strengen Falten der alten Barone und Fürsten. Da schlug ihr das Herz unter dem blaugeblümten Kissen, und da öffnete sie den Mund, um schneller atmen zu können, wenn die reichen jungen Herren, alles große, schlanke Männer, die in tadellose schwarze Anzüge gekleidet waren, oder die Offiziere mit ihren aufwärts gebürsteten Schnurrbärten von ihrer Liebe sprachen, abgewiesen oder erhört wurden, sich oder andere totschossen. Herrgott, das Leben da! Gab es etwas so Schönes auf der Welt? Wer doch eine der großgewachsenen, stolzen Damen hätte sein können!

Sie hätte die ganze Nacht dagelegen, unter ihr Kissen gekauert, die Kniee bis an das Kinn gezogen, sodaß nur die Fingerspitzen, einmal der rechten, einmal der linken Hand, die das Buch halten mußten, in die kalte, ungemütliche Luft hineinrührten. Aber das Mädchen hatte auch seine Vernunft und seine Willenskraft – Dinge, die ein Nähmädchen in dem ermüdenden täglichen Plagen ums wenige Brot bald erwirbt.

Und deshalb blies sie um zehn die Lampe aus. Das war ein Gesetz, das sie sich selber gegeben hatte und mit großen, ungefügen Buchstaben oben über den Wandkalender geschrieben hatte, sodaß sie es immer vor Augen hatte. Einmal verbrannte so die Lampe weniger Öl, und zum andern Male hatte sie dann am andern Tag, wenn sie wieder in ihrem grauen, verschlissenen Kleid dasaß und tripp, tripp die Maschine trat, nicht so schwere, unausgeruhte Beine.

Aber heute erlosch das Licht hinter der dicht zugezogenen weißen Gardine schon eine Viertelstunde vor zehn!

Es war auch sonst allerlei in dem Zimmer, was nicht war, wie sonst. Auf dem ganz zerkratzten, zerschnittenen Stuhl vor dem Bett, dessen eines Bein mit Draht an den Sitz gebunden war, lag heute nicht das sorgfältig ausgebreitete Kleid mit der Wäsche und den schwarzen Strümpfen darüber. Nur die zertretenen, kleinen Straßenschuhe standen einsam darunter, wie zwei Soldaten gerade und ausgerichtet hingestellt.

Auf dem lächerlich kleinen Tisch, über den eine altmodisch gehäkelte Decke gebreitet war, stand, ordentlich in die Mitte gesetzt, ein Glas mit einem Strauß Veilchen und weißer Rosen, die in unverhältnismäßig vielen grünen Blättern steckten. Das war auch anders wie sonst. Denn Blumen waren im Februar etwas, das Geld kostete, und so viel Geld, daß man nicht und gewiß nicht ein Nähmädchen jeden Tag ein Glas voll davon auf den Tisch stellen konnte.

Das braune Buch, in dem sich das von einer Zeitung abgerissene Lesezeichen erst bis zur Hälfte durchgearbeitet hatte, lag unbeachtet mit den Streichhölzern und Kerzenstumpfen in der Schublade. Und auf dem Bett schimmerten, vom gelben Schein der Hoflaterne getroffen, die Kissen noch in unberührter Ordnung.

Und das Mädchen selber steckte nicht in seinem ewigen grauen Kleid, sondern in einem sonntäglichen roten, hatte ein seidenes Band um den Hals gelegt und eine große Brosche daran gesteckt. Sie ging rastlos im Zimmer umher, so gut das möglich war; denn jedesmal, wenn sie fünf Schritte gemacht hatte, mußte sie umkehren, um nicht an die Wand zu stoßen. Hin und wieder stellte sie sich vor den Tisch, legte die Hände auf die zwei Ecken, beugte sich vor und roch an den Blumen.

Sie sang sogar, zwar nur mit einer schüchternen, unbedeutenden Stimme – aber wann hatte sie schon einmal in diesem Zimmer, das sie seit acht Jahren bewohnte, gesungen?

Dann wieder ging sie an die Tür, öffnete den Mund, damit das Geräusch des Atmens sie nicht störte, machte sogar noch die Augen zu, um durch gar nichts abgelenkt zu werden, und horchte auf den Flur hinaus, indem sie das Ohr an das Schlüsselloch brachte.

Aber immer wieder mußte sie ihren Gang durchs Zimmer aufnehmen. Sie machte lange, fest hingesetzte Schritte wie ein Mann, denn sie war von ihren täglichen Wegen her gewohnt auszuschreiten, die sie oft an die äußersten Stadtenden brachten, wo die Obstfluren und Weinberge anfingen.

Dann fuhr sie mit dem Staubtuch über Stühle und Kommode, hob hier und da etwas vom Boden auf, rückte den dünnen, geflickten Teppich zurecht.

Sie öffnete auch das Fenster, schloß es aber schnell wieder, denn vom Rhein her kam eine dicke, nasse Kälte, die das Holz des Fensters außen ganz feucht gemacht hatte.

In dem alten, schlecht gebauten Haus waren die Böden nicht dick. Deshalb stieß der kleine, weißhaarige Lehrer unten mit irgend etwas gegen die Decke, um Ruhe zu fordern.

Das Mädchen erschrak, ging auf den Zehen zu einem Stuhl hin und setzte sich leise. Das Zimmer war von der Laterne so hell, daß sie sich im Spiegel, der über dem kleinen Waschtisch hing, deutlich sehen konnte. Sie fühlte mit den Fingern über die ungeheure Masse ihres blonden Haares und steckte hier und da einen Kamm tiefer in die Strähne. Sie hielt die Finger in den Lichtstrahl, reinigte die Nägel und zog die Wurzelhaut an jedem Nagel zurück.

Sie hob ein Knie über das andere, schlang die Hände darum und sah mit weiten, unbewegten Augen zur niedern Decke auf, während ihr Kopf fast auf der einen Schulter lag.

So saß sie lange, horchte, hielt den Atem an.

Endlich ging sie zum Waschtisch. Da in dem einzigen Glas die Blumen standen, hob sie die Flasche mit beiden Händen und trank hastig daraus.

Und mit einem Male setzte sie die Flasche hin, daß sie an die Schüssel schlug: es hatte an die Tür geklopft, leise, schnell, ohne Zögern.

Sie nahm die Hände nicht von der Flasche weg, atmete hörbar und es kam ein komischer Ton aus ihrem Mund, ein freudiger Ruf, der aber fast wie ein Stöhnen klang.

Dann war alles still im Zimmer. So still, daß aus dem Nebenzimmer eine Uhr, die sonst nie zu hören gewesen, mit einem Male ganz deutlich herübertickte.

Es klopfte noch einmal, laut, rücksichtslos.

Das Mädchen ging mit unhörbaren Schritten zur Tür, schob den Riegel zurück und öffnete: und schon nach zwei derben, schnellen Schritten stand die schwarze Gestalt eines Mannes, an dem nur Gesicht und Hände weiß schimmerten, im Zimmer.

»Jooden Aovend,« flüsterte das Mädchen.

Der Mann gab ihr die Hand und schob den Riegel schnell wieder vor. »Na – mach Leech!«

Sie fuhr zusammen unter der tiefen Männerstimme. Es war, als ob sie noch kleiner und schmächtiger würde. Mit zitternden Händen nahm sie Glocke und Cylinder von der Lampe und machte Licht. »Setz dich doch,« flüsterte sie und machte einen Versuch, ihn lachend anzusehen. Sie hatte den Tisch schon vorher vom Sofa abgerückt, als sie sich ausgemalt hatte, wie still und schön sich da zu Zweien, ungesehen und ungehört, sitzen würde; aber sie schob ihn noch ein wenig ab.

Der Mann achtete nicht darauf, sondern nahm sich einen Stuhl, versuchte seine Festigkeit und setzte sich vor den Tisch, dessen hohlen Raum unten er mit seinen langen Beinen ganz ausfüllte. Gegen das Licht hin sah sein Kopf wie eine viereckige Masse aus, zu deren beiden Seiten die dicken Enden des Schnurrbartes, dessen Haare das Licht durchließen und daher golden glänzten, in die Luft stachen.

Es war alles Mund – Kauwerkzeug an dem Gesicht des Mannes da, wie bei einem Tier. Gegen die Wucht der aufgeworfenen Lippen, des vorgeschobenen, faustdicken Kinnes, des riesigen Schnurrbartes, verschwanden die zurückliegende, nur zwei Finger breite Stirn, die lächerlich kleinen Augen und die kurze, platt geschlagene Nase, die wie abgebrochen aussah. Ein Gesicht von der Sorte derjenigen, deren strotzende Gesundheit wie eine Unverschämtheit und Beleidigung wirkt.

Der Mann saß da, mit seinem mächtigen Rücken, den Kopf in den Schultern, nachlässig, wie ein Mehlsack, auf den Stuhl geworfen, trommelte mit den plumpen, behaarten Fingern auf den Tisch und sah sich im Zimmer um, indem er den Kopf ruhig hielt und nur die Augen über die Wände gehen ließ.

Das war freilich keiner der Offiziere, der Barone oder Prinzen in den Romanen da, von denen das Mädchen zu träumen pflegte. Aber wenn es auch nur ein dicker Mann war, der einen altmodisch geschnittenen, verschossenen Rock trug, an dem die meisten Knöpfe fehlten, so hatte er doch Blut und Augen, atmete und bewegte sich.

Und das Mädchen, das auf dem Sofa saß, nur vorne auf der Kante, bereit, schnell wieder aufzustehen, und die Hände neben sich gestützt hatte, sah ihn mit einem Ausdruck glücklicher Erwartung an. Ihre Augen waren weit geöffnet und funkelten eigentümlich. Und ihre Backen, die sonst die Knochen sehen ließen, waren wie frisch gepolstert und hatten einen schimmernden, rötlichen Glanz, der das Mädchen beinahe hübsch machte.

Sonst, es war jetzt bei dem Licht deutlich zu sehen, war freilich das blonde Haar, das hinten in einem Knoten, der so dick wie der ganze Kopf war, abstand, das einzige Schöne an dem Mädchen.

Sie wußte das ja auch. Aber doch war sie heute stolz und fühlte sich leicht vor Glück, dachte nicht mehr daran. Herrgott, wenn man so allein auf der Welt, nur unter fremden Menschen ist; wenn man wartet, auf irgend etwas, und wieder und wieder einen neuen Kalender an die Wand hängen muß, ohne daß das gekommen ist, worauf man wartet; wenn man schon anfängt, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß man eine alte Frau werden muß, ohne daß jemals ein Tag anders wie der vorige werden soll – soll man da nicht stolz sein und eine unwiderstehliche Lust zu singen in sich verspüren, wenn es endlich da ist, das Erwartete, vor einem im Zimmer sitzt, ›du‹ zu einem sagt und beteuert, einen lieb zu haben? Herrgott, es war doch nichts Schlechtes von ihr, daß sie ihm heute Mittag den Schlüssel gegeben, und ihm erlaubt hatte, zu ihr herauf zu kommen? Wo war ein Mädchen, eine von denen, die wie sie allein wohnten, die das nicht tat? Und kannte sie ihn nicht schon so lange, vier oder fünf Wochen, daß sie ihm vertrauen konnte? Hielt er sie nicht so fest in seinem Arm, wenn sie abends am Rhein entlang gingen, war er nicht ganz verrückt in ihr blondes Haar? Wozu hatte sie denn eigentlich dieses Haar, das ihr dick und kräftig bis zu den Knieen herabreichte, wenn sie nicht einen Mann, der es bewunderte, damit erfreuen durfte? Er brauchte sie nicht zu heiraten, wenn er nicht wollte, aber sie würde sich auch nicht weigern, sich ihm hinzugeben, ihm zu gehören. Sie war so, es war ihr Charakter, und sie würde sich nicht schämen, das jedem, der sie anders bereden wollte, ins Gesicht zu sagen. Herrgott, man ist auf der Welt, um glücklich zu sein! Man hat wenigstens was gehabt vom Leben, wenn man eines Tages sterben soll. Ich denke so, und es ist mir gleich, wie andre denken.

»Na – häs du nix zo esse do?« fragte der Mann und schob das Glas mit den Blumen beiseite, um den Tisch schon frei zu machen.

»Zo esse?« fragte sie leise und erschrocken. »Häs du noch nix jejesse?«

»Och nix zo drinke?« fragte er weiter.

»Doch,« sagte sie ganz leise und sah ihn an, halb erfreut, daß sie ihm dienen konnte, halb ängstlich, wie er es aufnehmen würde. »Thee –?«

»Thee?« Er knurrte irgend etwas. »Vorwärts!«

Wie war er heute so sonderbar kurz und herrisch, dachte sie. Aber sie wagte es nicht zu sagen. Sie stand schnell auf, ging zur Kommode, nahm Tasse, Teller, Löffel und den kleinen Kochapparat heraus.

Er drehte sich schwerfällig um und sah sich die Dinge an, die auf der Kommode standen, Photographieen, Porzellanfiguren und kleine Kasten. Dabei machte er seine Augen noch kleiner. »On zo esse?« fragte er.

Sie legte ihm mit einem fröhlichen Lachen eine Düte auf den Tisch – kleines Gebäck für Kinder und Mädchen.

Er öffnete die Düte, griff mit seiner mächtigen Hand hinein, hob ein paar Mal die Kinnbacken geräuschvoll voneinander – und drehte den Kopf, um weitere Gaben entgegenzunehmen.

Das Mädchen hatte hinter ihm gestanden und ihm mit glücklichen Augen zugesehen. Als er den Kopf drehte, tat sie plötzlich die Arme auseinander, machte einen schüchternen Schritt an ihn heran, legte die Arme um seinen Hals, sah ihn noch einen Augenblick lachend an und wollte ihn küssen.

Aber er hob, wie überrascht, seinen riesenhaften Arm, der sie wie eine Eisenstange zurückstieß, und sah sie mit seinen kleinen Augen erstaunt, prüfend an.

Sie stand da, bewegungslos, ließ die Arme hängen, gab ihm so ihren Körper und sah ihn mit ihrem verlegenen und ein wenig sinnlichen Lachen an.

Er zog den Kopf langsam zurück, knurrte wieder und trommelte mehr als vorher auf dem Tisch umher. »Loß dat, ming Leevche,« klang es aus dem Knurren heraus, »dat domme Zeug do!«

Da, mit einem Male, leise und plötzlich, warf sie sich neben ihn, an die Erde hin, kniete da, riß eine seiner schweren Hände mit ihren beiden Händen an sich, küßte die Hand und schluchzte mit leisen, heftigen, unschönen Tönen. Seine Hand wurde ganz naß von ihren Tränen, die in dicken Tropfen darauf hinabfielen. »Wat han ich dir jedonn? Wie bes du hück? Häls du mich jetz für schlääch, weil ich dich en ming Zemmer jelaosse han? Weshalv darf ich dich net mieh kösse? Weshalv wells du mich net mieh kösse? Loß mich doch – loß mich doch – ich ben jo su fruh – ich ben jo su jlöcklich –«

Er rückte seinen Stuhl von ihr ab, schüttelte ihre Hände von seiner Hand, und als sie sich an sein Knie klammerten, von seinem Knie ab, sodaß sie mit dem Ellenbogen auf die Erde fiel, lachte breit, geschmeichelt, spöttisch und geringschätzig, und stand lärmend auf. Er trocknete seine Hand an der Jacke ab, goß den Thee in die Tasse, versuchte und stellte ihn wieder zurück, um ihn auskühlen zu lassen.

Dann machte er keine Umstände mehr.

»Su, ming Leevche,« knurrte er, »jetz kann et loßjonn.«

Mit einem einzigen plumpen Schritt ging er zur Kommode, stellte sich mit breiten Beinen davor und zog die Schubladen, eine nach der andern, auf. Alles warf er durcheinander, Kleider, Hüte und Wäsche, ohne Hast, Stück für Stück, mit einem rohen Ausdruck geschäftsmäßiger Gleichgiltigkeit auf dem roten Gesicht.

Er trennte die Sachen. Einiges warf er in die Schubladen zurück, wie es gerade fiel, das Wertvollere legte er in einem Haufen auf die Erde zusammen. Er nahm die kleinen Gegenstände, die auf der Kommode standen, einzeln in die Hände, brachte sie näher ans Licht, betrachtete und befühlte sie prüfend. Die meisten davon warf er zurück, die einen und andern steckte er in seinen Rock, nachdem er sie sorgfältig in die Taschentücher gewickelt hatte, die er aus den Schubladen genommen.

Das Mädchen hob, am Boden liegend, den Kopf und sah ihn mit großen, aufgerissenen Augen an. Dann kroch sie, ohne sich aufzurichten, an der Erde weiter, um ihn herum, unter dem Tisch her, stand schließlich zwischen der Tür und dem rostfleckigen, kleinen Eisenofen, einen Finger im Mund, den Kopf vorgestreckt und sah ihm zu, wie ein verwundertes, neugieriges, nur wenig ängstliches Kind.

»Schrei nur net, oder et jitt jet op dä Kopp!« sagte er, ohne es der Mühe für wert zu halten, auch nur einen Augenblick von seiner Beschäftigung aufzusehen.

Aber sie dachte auch nicht daran zu schreien. Sie löste langsam den Finger aus dem Mund, brachte ihre Hände vor dem Schoß zusammen, als ob sie beten wolle, legte den Kopf schief und sah dem Mann da mit einem sanften, ergebenen, liebenden Ausdruck zu. Ihre blauen Augen hatten nichts von ihrem warmen, glücklichen Glanz verloren. Sie schienen in einen schönen Traum hineinzusehen, während sie sich an jeden gehobenen Arm, an jede greifende Hand des Mannes festhingen.

Einmal drehte er plötzlich den Kopf, von ihrem Stillschweigen betroffen, nach ihr hin. »Wat es dat für ene Kraom?« herrschte er sie an, nachdem er einen Augenblick ihr Gesicht betrachtet hatte, und sprach zum ersten Male mit seiner ganzen, lauten Stimme, »nix als Lumpen häs du!«

»Nimm nur, nimm nur,« sagte sie kurz und abgebrochen, ängstlich, weil sie ihn unzufrieden sah, »nimm nur, wenn du et nüdig häs, et jehürt alles dir.«

Er ging zum Schrank, riß ihn auf und hielt auch da Musterung. Aber da war noch weniger, was ihm gut genug war. Er pfiff leise, stand da, alle Taschen dick, warf noch einmal alles über und über und sah sich dann im Zimmer um.

»Wo häs du ding Jeld?« fragte er, indem er einen kleinen Thermometer, der in einem Metallrahmen hing, von der Wand nahm und in die Tasche steckte.

»Dä, dä,« sagte sie, nahm ihr kleines Portemonnaie aus ihrem Rock und gab ihm den Schlüssel zu dem Korb, der unter dem Fenster stand.

Er nahm Schlüssel und Portemonnaie und öffnete den Korb, in dem ihre Briefe, ihre Ballandenken und sonstige kleine Schätze lagen. Ganz unten, sorgfältig versteckt, stand das Kästchen mit dem Geld.

Sie zeigte es ihm, schnell, erfreut.

Er hob den Deckel ab und zählte mit den Augen. Alles Silber, Mark- und Halbmarkstücke, wie sie sie von den Herrschaften, bei denen sie nähte, bekommen und jeden Tag hineingelegt hatte.

Endlich nahm er seinen Hut vom Bett, wo er ihn hingeworfen hatte, und ging zur Tür. Er war jetzt etwas zufriedener.

Da stieß sie zum ersten Male einen kurzen Schrei aus – er klang wie der pfeifende Ton eines Vogels. Und dann stand sie, schneller als er, an der Tür, hielt die Arme breit und versperrte ihm den Weg. »Jang net – noch net – wat han ich dir jedonn?« »Loß mich dich doch nur een Maol, een Maol kösse, – ich han dich doch su leev –«

Eine Strähne ihres Haars fiel ihr über die Stirn ins Gesicht.

Und wirklich hob er auch die Hand, und sie ging mit dem Kopf der Hand entgegen, um eher an die Liebkosung zu kommen.

Er strich ihr tatsächlich mit der flachen Hand über das Haar, er löste es, und es fiel ihr wie ein märchenhaft schönes Tuch über die Schultern und die Arme bis zu den Knieen herunter.

Sie stand da, hielt den Kopf etwas geneigt, stolz, daß er ihr Haar bewunderte, und sah von unten zu ihm herauf, mit Augen, die sonderbar strahlten und mit einem Male ein viel tieferes Blau zeigten.

Plötzlich nahm er ihren Kopf fest zwischen seine gespreizten Finger, daß er wie in Eisenklammern lag, und holte ihre Schere aus seiner Tasche.

»Nä, nä,« flüsterte sie, vor Entsetzen nicht fähig, laut zu sprechen, »wat mähs du? Nä – nä – donn et net, bitte, bitte – loß mir ming Haor – loß mir –«

Einen Augenblick zögerte der Mann, indem er mit einer Verwunderung, die den rohen Ausdruck von seinem Gesicht nahm, auf das tränennasse und unter dem Naß ganz weiß gewordene Gesicht des Mädchens hinuntersah. Dann aber schnitt er das ganze Haar mit wenigen schnellen Griffen ab, wickelte es um seinen nackten Arm und streifte die Jacke darüber. »Haal et Muul!« Er schlug das zuckende und winselnde Mädchen mit der Faust ins Gesicht.

Sie fiel in die Kniee, hockte am Boden, an das Holz der Tür gedrückt, den Kopf tief auf die Brust gelegt, wie sie ihn zum Schneiden hatte halten müssen.

Der Mann sah zu ihr hinunter. »Wenn du zehn Jaohr jünger waörsch!« Er sah geringschätzig auf ihren flachen Busen. »Bes net noch ens su domm on loß ene Mann en ding Zemmer.« Er sagte das mit einer gewissen Gutmütigkeit, denn er war durch das reiche Haar, das er am Arm trug, zufrieden geworden. »Adschüß!«

Er nahm den Hausschlüssel, den er neben den Hut aufs Bett gelegt hatte und ging zur Tür hinaus. Er mußte alle Kraft seiner fleischigen Arme aufwenden, denn er mußte das hockende Mädchen langsam mit der Tür am Boden weiter schieben.

Als er die Tür hinter sich zuzog, fiel der Körper des Mädchens, der nun keinen Halt mehr hatte, lang hin, so laut, daß es wie der Fall eines schweren Möbels klang. –

Der alte Lehrer unten stieß von neuem heftig und drohend gegen die Decke.

Der Wächter aber, der verwundert das Licht und die zwei Schatten oben gesehen hatte, ging seinen Gang weiter, mit schlürfenden Sohlen, den rechten Arm in den linken Ärmel seines Mantels und den linken Arm in den rechten Ärmel geschoben. Er hatte die schläfrigen Augen geschlossen und ging, mit der Geschicklichkeit eines Blinden, die er sich längst erworben, weiter, ohne je einmal an eine Wand zu stoßen.

Es hatte sich ja auch weiter nichts Schlimmes ereignet. Es war ja kein Leib erwürgt worden – nur eine Seele. Und darauf zu achten, das gehörte nicht zu seiner Pflicht.


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