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Der neue Ohm.


Lautlose Sonntagsfrühe über dem Dorf, das mit seiner einzigen Häuserreihe neben dem Ufer herstand und seine weißen Lehmwände und schwarzgestrichenen Balken im Wasser noch einmal zeigte.

Kein Kettenrasseln, kein Fensteröffnen, kein Auftreten eines klappernden Holzschuhes auf der von der wochenlangen Hitze klaffenden Straße.

Plötzlich sprang von dem breiten Schieferturm der Kirche helles, schmetterndes Geläut gegen den Felshang, der so nahe hinter der Kirche aufstand, daß er vom Turm aus mit einem langen Stock zu erreichen war. Der Fels warf die Töne mit seinen vorspringenden Ecken und Zacken zurück, auf das Wasser hinaus, über das sie in Absätzen hinliefen, das Wasser berührten und wieder abprallten, wie schnell aufeinanderfolgende Steine, die Kinder in geringer Höhe über das Wasser werfen.

Jetzt kamen vom linken Ufer her tiefere, brummende Töne mit komisch hastenden und polternden Schritten dagegen anmarschiert. Aber sie waren so unbehende, daß sie noch fast an ihrem Ufer mit den schnellen, hellen ineinander gerieten.

Die steilen Weinberge auf diesem Ufer hatten schon die Sonne.

Auch der Rhein fing mehr und mehr an, seine bleiweiße und bleischwere Unbeweglichkeit zu verlieren, die ihm das Aussehen eines langgestreckten, stehenden Wassers gegeben hatte. Auf der endlosen Fläche zeigten sich tausend und tausend kleine, silberne, blitzende Halbkreise, die sich streckten und wieder zusammenbogen, wie fingergroße, bewegliche Schlängchen, aber immer auf derselben Stelle blieben.

Die Luft war so schwül und weich, wie sie am Abend vorher gewesen war, und die langen, gekrümmten Rücken der Berge flimmerten gegen den weißen Himmel, wie immer, wenn der Tag brennend und wolkenlos wird.

Die Kirche auf dem rechten Ufer stand auf einer Schuttablagerung, ein Stück den Berg hinauf, breit hingesetzt und schwarz, sodaß sie sich kaum von dem Fels dahinter abhob. Der weiße Weg zu ihr hinauf war in Brombeergesträuch hineingeschnitten, hatte Holzstufen wie eine Treppe und drehte sich in halber Höhe, um die Kirche in einem Winkel zu erreichen.

An diesem Drehpunkt stand ein Muttergottesbild aus Stein, vor dem ein Lämpchen brannte. Und dann zeigte sich mit einem Male noch ein Haus, mitten in den Sträuchern, auf einem Grasfleck wie ein altes Mütterchen, ganz allein in der Welt. Weder die Kirche oben noch das Dorf unten war von ihm aus zu sehen – das Armenhäuschen.

Wie ein sonderbares Abbild des Hauses im kleinen saß eine alte Frau auf der Bank neben der Tür: eine weiße Schürze, von der nur der untere Teil sichtbar war, und ein großes, dunkles Wolltuch darüber, das die ganze niedere Gestalt zudeckte und über dem Kopf, wie ein Giebel, spitz zusammenlief. Die Frau Quadt gehörte schon so lange zu dem Häuschen, daß es selbstredend schien, daß die zwei einander ähnlich geworden waren. Sie war damit beschäftigt, aus einem Haufen Gräser und Blumen, gewöhnlichen Blumen von der Wiese, einen Kranz zu drehen.

Die Glocken hörten auf zu läuten, und jetzt konnte der Wind ein langgezogenes Lied vom Rhein heraustragen, helle Mädchen- und tiefe Männerstimmen. Sie mußten aus einem Nachen kommen, der schwarz mit weißem Segel sich langsam vom Ufer entfernte.

Die Frau legte die Hände neben sich auf die Bank, auf jede Seite eine, beugte den Oberkörper vor, hielt den Kopf schief und sah mit einem merkwürdig andächtigen Blick dem einsamen Fahrzeug nach.

Mit einem Male, unerwartet, hob eine sorglose Stimme im Wald oben das an der Erde verflatternde Lied auf und warf es kräftig in die nun ganz von der Sonne erfüllte Luft hinaus.

Die Frau nickte schnell mit dem Kopf und zog ihren Mund zu einem Lachen hinauf. Dann ging sie zu dem Fenster um die Ecke herum, dessen oberer Rand nicht höher war als sie selber, und schlug mit dem Knöchel an die grünen, geschlossenen Läden.

Oben, gerade über dem weißen Rauch des kleinen Schornsteins, brachen die Äste im Wald. Es schlug einer die Büsche auseinander und trat ins Freie. Einer im blauen Soldatenrock, mit bunter Mütze und die Hose in den Stiefeln.

Jesses, der Andrees! Den hatte sie gleich erkannt, der war noch nie anders als mit Singen gekommen. Na? nu? hatte der wohl gar Urlaub?

Der Soldat blieb oben stehen und sah, das Kinn auf der Brust, auf das Häuschen herunter. Dann kam er durch die Sträucher hinab, von denen die Beeren schon gepflückt waren, und während seine Stimme frisch und laut aus der breiten Brust flog, raschelten die Amseln vor seinen Schuhen auf, und andere Vögel hoben sich lärmend über ihn. Als er die Frau am Fenster stehen sah, rief er von weitem: »Joode Morje!«

Sie drehte sich nach ihm um und ging ihm entgegen, mit den kurzen Schritten alter Frauen, die ihre Füße mehr nach der Breite als nach vorne setzen. »Na – nu – joode Morje, Andrees! Wer an Üch jedaach hätt!«

Er gab ihr die Hand. Sein verbranntes Gesicht, aus dem die hellen, blauen Augen herausstachen, lachte. Jao, da stonn ich no widder ens he ovve! On esu fruh ben ich – kösse mööch ich Üch, dat ich widder an mingem Rhing darf sen, en mingen Berjen he! On saht: es denn et Traudche no net op de Strömp?«

Die Frau errötete wie ein Kind vor dem Soldaten. Sie, in ihrem Häuschen hier, mit ihrem verschlissenen Tuch, ihren mageren, braunen Händen war ja nicht wert, daß er, der große, breite Bauernsohn, dessen Vater mit einem Dutzend Pferde ackerte, so, gleichsam bittend, vor ihr stand, ihr die Hand gab und sie anlachte. »Ich han ihr jrad jeklopp. Sie schlaöf hück lang, sie hät festere bes en die Naach setze mösse on arbeede.«

»Dommes Züg! die soll opstonn!« Er klopfte, anders wie die Frau, an die Laden. Dann griff er mit beiden Händen in den Blumenhaufen, legte den tauigen, auseinanderfallenden auf die Spalte der Laden und stellte sich mit dem Rücken an die Wand, auf die Zehen, Ferse und die flachen Hände dicht an den Lehm gelegt, den listigen Ausdruck lachender Erwartung auf dem Gesicht.

Hinter den Laden ging das Fenster auf. Dann öffneten sich die Laden selber eine Hand breit. Das Mädchen, im Hemd noch, befestigte die Fensterflügel drinnen. »Wie schön hück! Dat es e rääch Sonndaagswedder.« Sie stieß die Laden ganz auf und wurde von den Blumen überschüttet, sah erstaunt über sich, rief dann aber gleich, noch ehe sie ihn sah: »Andrees –«

Der lange Bursche trat hervor. »Langschlaöferin!« spottete er.

Sie sahen sich an, eins das andere, verwundert, überrascht, wie sich zwei ansehen, die getrennt waren und merken, wie die Erinnerung die Bilder verändert hat.

»Du –,« sagte sie mit ängstlichem Ausdruck.

»Jao ich! Jetzt ben ich widder bei dir, für vierzehn Dääg, Traudche!« Er nahm ihre zwei Hände und sah auf die Hände, die zerwaschen und zerstochen in seinen doppelt so großen lagen, hinunter und war etwas verlegen. »Dat mir uns esu widder seehn mösse! Dir seehn die Dääg us de Auge, die du durchjemacht häs – ding ärm Motter, Traudche.«

Sie sah an ihm vorbei. Leise, glückselig sagte sie: »Dat du do bes! Süch, wie schön dä Morje es! Die Sonn üvver dem Rhing!« Dann packte sie seinen Arm mit beiden Fäusten rasch: »Sag, bes du do?«

Er betrachtete mit schnellen, stolzen, lachenden Augen ihr ungekämmtes Haar, ihr breites Gesicht, das trotz der nur mit Schmalz bestrichenen Brotschnitten und der Brennsuppen mittags und abends, weiß und rot wie Milch und Weinäpfel war, ihre großen, dunklen, strahlenden Augen, die so schön waren, daß es unbegreiflich war, wie ein Mädchen in dem Dorf hier dazu kam. Er hob ihre Hände hoch an die goldenen Knöpfe seines Rockes und zog das Mädchen derb und ohne Zögern an sich. »Su Mädche wie du, jitt et nur am Rhing! Sag, naoh der Kirch wolle mer dä Naache loßbinde on op dä Rhing erusfahre.«

Ihre Augen leuchteten auf. »Jao – jao –«

Er hatte noch irgend etwas, was ihm Mühe machte, vorzubringen. »Nä – hür – irsch han ich dir jet zo sage –«

Sie schlug aber mit einem kreischenden Auflachen das Fenster zu.

Er hörte noch, wie sie vor sich hinsummte, dann ging er um die Ecke vor das Haus zurück. »Jetzt han ich Üch Üeren Kranz von der Bank jenomme,« sagte er.

Die Frau hatte, ohne den Kopf hinzudrehen, nach den beiden hingehorcht und mit einem halb lächerlich, halb rührend glücklichen Ausdruck dazu gelacht. »Ach, der waor doch dem Kind bestimmt. Den soll et op de Kirchhoff draage.«

»Sed doch dovon stell! Dat sen jo jetz fönf Woche, dat die Frau dud es. Doran soll dat Mädche net mieh denke, hück an dem Sonndaagmorje.«

Sie sammelte den Rest der Blumen in ihrer Schürze und nickte mit dem Kopf, ein paar Mal, sonderbar langsam und so tief, daß das Kinn die Brust berührte. »Jao – jao – laot nur mich aale Frau doran denke.« Dann ging sie plötzlich auf den Soldaten zu und sagte ernst, während ihre blauen, noch scharfsehenden Augen naß wurden: »On saht, jelt? Ihr sed dem Kind ene räächte, joode Fründ? Dat hät jo jetz su jar keen Minschensiel mieh op de Welt. Seht, wenn ich Üch esu aansehn: Ihr, mit Üerem riche Vatter, met Feldere on Wingberg, on et Traudche, e ärm Waisekind, die nix hät on nix kritt – on wenn ich dann sehn, wie die Lück unge met de Auge zwinkere üvver Üch zwei – nemmt et mir net üvvel, ävver do komme mir och oft su Jedanke. Ich han et ihrer Motter versproche, als sie op dem Bett laog, dat ich für dat Kind sorje wöll – jelt? Ihr sed jood met dem Kind? Ihr dood ihr nix Schläächtes aan?«

Er drehte erst den Kopf und warf den Mund auf. Dann aber wandte er sich wieder der Frau zu und sagte, indem er nach Worten suchte, die das ausdrücken könnten, ohne daß es sich lächerlich anhörte: »Die Saach es die: et es jet en mir, wat mich zom Traudche hinrieß. Ich moß bei ihr sen, ich kann net stonn on net setze, wenn ich net bei ihr bin. Wat dodrus wied – dat weeß ich selber net. Ävver nix Schläächtes – dat versprechen ich üch.«

Traudchen kam aus dem Haus, im blauen Kattunkleid, aber doch mit einer Schleife sonntäglich aufgeputzt, mit noch kindlich schmalen Schultern und schon dicken Hüften, die keine Falte in ihrem Rock ließen. Ihre Backen waren vom Waschen noch rot. Sie trug ein paar Blumentöpfe, einen auf den Rand des andern gestellt, die sie in die Sonne setzte.

Frau Quadt ging mit dem glücklichen Lachen auf ihrem mageren, zerarbeiteten Gesicht hinein. Sie trat so leise auf, daß das Mädchen nicht einmal acht auf sie gab.

Andrees zog das Mädchen zur Seite. »Du – weeß du, wat ich dir metjebraht han?«

»Sag et!«

»Mach ding Auge zo.«

Sie schloß die Augen, erst lachend, dann fast ängstlich. Er schob den Kopf zu ihrem Ohr herunter, indem er sie listig, von unten herauf dabei ansah, und flüsterte ihr hinein, jedes Wort langsam und für sich sprechend: »Ich brenge dir met ene – Ohm.« Das letzte Wort sagte er schnell und lachte sie gespannt an dabei.

Sie zog den Kopf zurück, streckte den Arm wie zur Abwehr aus und sah ihn mit großen, fragenden Augen an.

»Jlööv et nur,« sagte er, mit einem Male geheimnisvoll still und sah von ihr weg, als ob er noch etwas im Rückhalt habe. »Er es he, er küt heeher.«

»Sag, jelt – du mähs Spaß?« Sie forschte in seinem Gesicht und faßte ihn bei seiner Jacke. »Es et waohr? es dat waohr?«

Zum Teufel, es war wahr. Andrees hatte auf dem Kirchhof oben einen Mann knieen sehen, einen alten, mit weißem Bart, zu seiner Verwunderung gerade am Grab von Traudchens Mutter. Er war zu ihm hingegangen, hatte ihm die Hand auf den Rücken gelegt und lange mit ihm gesprochen.

»Jao,« sagte Traudchen vor sich hin, »ich han enen Ohm, ävver ming Motter hät nie dovon spreche wolle.«

Und da hörten sie einen Lärm näher kommen. Er drehte den Kopf darnach hin, und sie ging seinem Blick nach. Sie sahen durch die Sträucher hindurch.

Mitten in einem Kinderhaufen, der sich drängte und schrie, kam ein langer Mann mit kurzem Weißbart. Trotzdem er gesund und stark aussah, ließ er sich von einem kleinen Mädchen an der Hand führen, und machte langsame, kurze Schritte. Dabei tastete er mit einem mächtigen Stock vorsichtig vor sich her.

Die beiden starrten nach dem Mann hin. Traudchen steckte den Daumen in den Mund und biß am Nagel, ängstlich und ratlos.

»Dat es er,« sagte Andrees und setzte seine Mütze gerade.

»Sag du – wat soll ich im sage?«

Andrees sah starr, mit ganz andern Augen wie sonst, auf einen Stein an der Erde hinunter. »Jao – du – hür – met däm moß du joob sen. Weeßt du? er hät keen joode Auge, dinge Ohm –«

Das Mädchen sah ihn ängstlicher an und sah dann wieder zu dem Kommenden hin.

Durch die Sträucher, zu beiden Seiten des Weges, schoß eine Anzahl Kinder auf den Platz, die die Kappen in die Höhe warfen, sich umdrehten und kreischten.

»Spill jet – spill jet – Speelmann – Speelmann –« riefen sie, im Chor, in gleichmäßigem Tonfall und im Takt. Und immer wieder: »Speelmann – Speelmann –«

Andrees ging dem Alten mit ein paar langen Schritten entgegen, der an einem dünnen Strick eine Violine von der Schulter hängen hatte. Er löste die kleine Mädchenhand aus der großen Hand des Mannes und nahm sie selber.

Das Mädchen lief rot vor Stolz und Freude zu den übrigen vor, die es gleich in einen Hausen einschlossen. »Wat hät er dir jejovve?« fragten sie.

Andrees führte den Mann langsam heran, der einen blauen, hemdartigen Kittel trug, wie ein Bauer, darüber aber einen städtischen Hut mit handbreitem Rand, wie ein Professor, und unter dem Hut, von dem Rand verdunkelt, ein rotes, stolzes, scharfes Gesicht, mit starker Nase, das fast wie das Gesicht eines alten Offiziers aussah. Aber der Bart, der von den Ohren her unter dem Kinn herhing, war ungebürstet, rauh, und hatte hier und da Haare, die gelb unter all den weißen und andere, die ein ganzes Stück länger waren als die übrigen. Merkwürdig waren die Augen in dem Gesicht. Sie waren groß und hellblau, fast weiß, ohne jeden Glanz und bewegten sich nicht.

»Su, jetz sed Ihr do,« sagte Andrees und führte ihn zu der Bank hin. »Hee es et, wovon ich Üch jesaht han.«

Der Alte schien durch das Schreien der Kinder unsicher und verlegen gemacht. Er blieb stehen und drehte den Kopf nach dem Rhein hin. »Ich hüre de Rhing. Linker Hand,« sagte er mit einer Stimme, die lächerlich hell für seinen langen Körper war, richtete seinen Rücken gerade und atmete auf, als fühle er sich nun erst, da der Rhein wieder da war, wohl.

»Setzt Üch nur. Op die Bank he.«

»Jääge de Rhing hin,« sagte der Mann, setzte sich und fühlte mit beiden Händen, sonderbar tastend, über die Bank hin. »Wat es die Luft schön on sonnig he.« Er atmete seine breite Brust voll und streckte die Hand in die Sonne aus.

Alles war still rund umher. Der leichte Wind hatte sich gelegt. Ein strömender Geruch von geschnittenem Gras zog durch die warme, schwerer werdende Lust.

»Alsu he es et, wao die jeleev hät?« Der Mann fragte das mit einer Lebhaftigkeit, mit einem leidenschaftlichen Ausdruck, für den man keine Ursache sah und der deshalb in Verwunderung setzte. »He es die jejange? In derselben Luft? Saht, am Engk hät se of he jesesse, op derselven Bank, on op de Rhing erus jesehn?« Er griff mit den gespreizten Fingern nach der Stelle, wo Andrees vorher gestanden hatte.

Der aber war zu dem Mädchen hingegangen und hatte sie, die widerstrebte, doch immer nach dem Fremden hinsah, beim Ärmel ihres Kleides gepackt, um sie nach dem Ohm hinzuziehen.

Die Kinder, klein und groß, standen mit neugierigen, klugen und beobachtenden Augen da, die Jungen mit kurzen Jacken und langen Hosen, wie Erwachsene, die Mädchen mit weißen Schürzen und kleinen Zöpfen. Sie flüsterten nur zusammen.

»Der redd met sich selver,« sagte ein Mädchen.

»Er süht emmer esu jrad vür sich,« sagte ein andres.

Plötzlich fiel ein Stein und schlug gerade auf das Holz der Bank hin. Zugleich stieß ein Junge mit roten Haaren und blauen Augen, die schlecht zueinander paßten, einen andren Jungen auf den Mann hin.

Traudchen faßte den erzürnt und schlug ihn mit der flachen Hand ins Gesicht, während Andrees das ganze Volk davontrieb. »Ihr Lotterbove! Ihr Aöster!« Wie die Hühner, zerstob es nach allen Seiten ins Gesträuch.

Der Mann, ängstlich geworden, was sich bei seiner Länge und Breite komisch ansah, wollte aufstehn. Aber Traudchen nahm ihn schnell bei der Hand und schob ihn auf die Bank zurück, indem sie ihm immer starr und verwundert in die weißen Augen sah.

Der Alte hielt die Mädchenhand fest und betastete sie. »Wer es dat?« fragte er und ließ die Hand langsam und zögernd fallen.

Andrees sah Traudchen an. »Jao – die do – von der han ich Üch no nix jesaht.«

»Die süht mich aan,« sagte der Mann schüchtern, wie ein Mädchen, und drehte den Kopf weit auf die Seite.

»Saht – hat Üer Schwester net e Kind jehatt?«

Der Mann hob schnell den Kopf, senkte ihn dann wieder und strich sich mit dem Rücken der Hand über die Stirn, die Furchen entlang. »Nä. Nä. Die waor net verhieraod.« Dann fragte er schüchtern und flüsternd, daß nur Andrees es hören sollte: »Steht die noch do?«

»Jao – hee! Traudchen heeß sie, wie Üer Schwester.« Andrees nahm ungeschickt von jedem der beiden die rechte Hand und legte die beiden Hände, die nacheinander verlangten und doch widerstrebten, zusammen. Er wurde verlegen, verwirrt und rot, während ein gutmütiges Lachen über sein Gesicht ging. »Dunnerkiil – saht – Ihr hat am Engk doch noch e Schwesterkind –«

Der Alte drehte den bärtigen Kopf mit dem breiten Hut nach ihm hin, und seine Hand zitterte plötzlich, so arg, daß die andern es sahen.

»Ihr haalt sie jao an der Hand,« rief Andrees schnell und setzte hinzu, nicht so laut: »Dat es jao Üer Schwesterkind, dat Mädche he, dat Traudche he.«

Der Mann hielt eine Weile den Kopf starr in einer Richtung. Dann zog er seine Hand halb zurück. »Nä,« sagte er, unsicher, fragend, gleichsam tastend.

»Dommes Züg – jao!« Andrees nahm seine Mütze, schwenkte sie in der Luft, wie um Traudchen Mut zu machen, und ging mit langen Soldatenschritten den Berg hinunter. »Bes Hück Nohmeddag!« rief er zurück, schon unsichtbar hinter den Sträuchern.

Die Sonne war unterdessen immer höher gestiegen. Die Schatten waren schon schwarz. Eine Biene flog surrend über das taunasse Gras. Ein Vogel schoß auf sie zu und trug sie blitzschnell davon. Gräser und Blätter richteten sich auf, wurden größer und streckten sich verlangend der steigenden Sonnenwärme entgegen.

Der Mann hob langsam, zögernd seine andre Hand und befühlte die Hand des Mädchens. »Nä,« sagte er. Er strich mit den breiten Kuppen der Finger über Gesicht und Haar. »Nä, nä.«

Das Mädchen sah scheu, aber hingezogen zu ihm in die Höhe. »Ohm.«

Der Mann öffnete den Mund, erschreckt, bestürzt. »Minger Traudchen Stimm – janz minger Traudchen Stimm – redd – redd noch –«

»Ohm.« Sie faßte seine Hand mit ihren beiden Händen. Er war am ganzen Körper erregt. Es war komisch, daß ihm der Klang des einen Wortes nun mit einem Male Beweis genug war. »Jao – jao – du bes et. Minger Traudchen Kind. Es et denn waohr? Soll ich et jlööve? Komm naöher aan mich – dat ich dich faöhle kann.«

»Ihr jooder Ohm.«

Er zog sie zu sich, mit seinen merkwürdigen, hastigen und aufgeregten Bewegungen. Sie hob ihren Rock hoch und setzte beide Kniee an die Erde vor ihm. Ihre gefalteten Hände lagen in den seinen. Er ließ sich von ihr erzählen. Von ihrer Mutter, wie sie gestorben war. Er erzählte auch von sich selber, von sich und der Toten. So lange es auch her war, daß er sie zuletzt gesehn – an die zwanzig Jahre. Ja, früher hatte sie bei ihm gewohnt, früher. Da war das Leben noch schön zu leben! Er sprach alles mit seiner erregten Stimme, saß keinen Augenblick ruhig da, begleitete seine Worte mit unaufhörlichen, zuckenden und zitternden Bewegungen der Hände, er sprach mit den Händen. Und es kam dem Mädchen so vor, als ob in seiner hellen Stimme eine Anklage gegen ihre Mutter grolle, ein unbesänftigter Zorn, eine Bitterkeit, die mit einem leidenschaftlichen Liebhaben ringe. Er sprach von seinem Alleinsein, Ganzalleinsein, in seinem Häuschen, eine Stunde den Rhein hinauf, von seinem Hund, der zu Haus geblieben war, von seiner Wanderung in aller Frühe mit einem Bauern, der in die Stadt ging.

Sie erzählten sich eine Stunde lang, hatten die Hände immer ineinander. Sie sprachen zusammen, als hätten sie schon jahrelang jeden Morgen auf der Bank da gesessen. Sie drückte sich an ihn und sah furchtsam und ehrerbietig, trotz seines blauen Kittels, zu ihm auf. Nur hin und wieder sah sie mit einem schnellen Blick, forschend, neugierig, ängstlich, nach seinen Augen, nach diesen weißen Augen, die er so hielt, daß sie nicht hineinsehen sollte.

»Du bes jood,« sagte er, »wie ding Motter. Dich könnt' ich leev han, wie ich sie leev jehatt han. Ävver, wer hät mich leev? Wer hät den aalen Thomas leev?«

»Ich han Üch leev.«

Der Mann schwieg. Dann sprach er: »Su hät ding Motter och jesaht.« Er drehte den Kopf ganz weg, als wenn hinten, neben dem Haus, etwas zu sehen gewesen wäre, lachte ein wenig und streichelte ihre Hände. »Nä, mich soll keener leev han. On ich well keenen leev han.«

»Doch, Ohm, mich häs du leev.«

»Dich? Mingetwääje. Et es jo en Stond Wääg zweschen ons.« Er ließ ihre Hand los und machte einen Atemzug, der stärker war, als seine vorigen. »Nä, jang jetz. Zo dinger Arbeet.«

»Doch, Ohm! Ich well Üch leev han, wie Üch ming Motter leev jehatt hät.«

Er sprach lange nichts. Dann: »Wie ding Motter? Ding Motter es mir dovon jeloofe.«

Sie sah ihm erschreckt ins Gesicht, hielt den Mund offen und konnte nichts sagen.

»Rof e Kind, dat mich weg brängk. Ich well jonn jetz.«

»Wenn soll ich rofe?«

»Dich well ich net leev han,« murmelte er im Selbstgespräch. »Ich han en Siel en mingem Levve leev jehatt – noch kann ich et net verjesse.« Er stand auf, schnell und ungeschickt. »Laoß et dir jood jonn.« Er machte einen Schritt.

»Jaoht net weg.« Sie hielt ihn an seinem Rock fest.

Aber er ging weiter, mit sonderbar täppischen Schritten.

»Ihr loft jo jääje de Bronne, Ohm.«

»Rääch! Heeher wollt ich.« Nach wieder einem Schritt blieb er stehen und tastete mit seinem Stock in einem Kreis um sich her über den Erdboden hin.

Sie sah ängstlicher und forschender nach seinen Augen. »Ihr sed schwaach. Kot doch en et Huus! Ich machen Üch en wärm Sopp.«

Er setzte zu einem langen Schritt an. »Laoß mich. Ich ben schon stark jenoog.«

»Nä – Üer Auge sen et – die sehn esu.«

Jetzt kam er nicht weiter, streckte die Hände aus und fühlte in die Luft.

»Üer ärm Auge, Ohm. Kot, ich well Üch bei der Hand haale.«

Er wich ihr aus, mit einer schnellen Bewegung, sodaß er fast stolperte. »Ich kann sehn – jlööv dat nur.« Er faßte den Rand des Brunnens an und schien sich nun mit einem Male sicherer zu fühlen.

»Üer Auge sen von der Sonn jeblendt he druße, Ohm.«

»Jao – rääch. Ich moß de Kopp andersch eröm haale.«

»Nä – net – Ihr wollt jao jääje de Sonn.«

Er zog die weißen Brauen zusammen und kaute mit den Lippen. »Wat soll ich mich schamme? Ming Auge sehn de Sonn net. Dat d' et weeß.«

Sie machte ihm den Ausdruck seines Gesichtes nach, während sie ihn starr ansah. »Ohm, könnt Ihr de Sonn net sehn? Sed Ihr –«

»Süch mich net esu aan.«

»Ohm, könnt Ihr ming Hand net sehn?«

Er drehte sich um, mit dem Rücken gegen sie.

Sie ging um ihn herum, daß sie wieder vor ihm stand.

»Ohm, Ohm, könnt Ihr dat Huns net sehn? Könnt Ihr den Boom net sehn?«

»Nä« – seine Stimme war tief und rauh – »ich ben blend. Laach mich us.«

»Blend, Ohm?« Ihre Stimme flüsterte nur, zitterte, daß es deutlich zu merken war. Ihre Hände hielt sie mit gespreizten Fingern in der Luft hoch, als ob sie ihre Finger nicht um das herumschließen und es annehmen wolle, was er ihr da gäbe. »Blend, Ohm!« Sie griff schnell nach seiner Hand, bückte sich darüber und drückte ihre Stirn daran. »Jetz laossen ich Üch net.«

Er schüttelte sie von sich. »Jang.«

»Nä. Ich well bei Üch blieve.«

»Ich jonn naoh Huus.«

»Ich well met Üch naoh Üerem Huus.«

»Met mir?«

»Jao.«

»Met mir?«

»Jao. Ich well och nix als Wasser on Brut han. Ich well setze on nähe, dat mir die Finger bloodig sen. Ich well Üch esu leev han. Alle Dag well ich Üch löstig maache on morjens an Üer Dür kloppe on Ohm! rofe – Ohm, dat ich en Siel han op der Welt, für die ich sorje kann on arbeede –«

»Jevv mir ding Hand – wao häs du sie? Su – jang jetz on holl mir dat Kind,« sagte er kurz.

Die hellen Töne der Glocken von der Kirche oben fingen wieder an zu springen, als ob sie hinuntergeschüttet würden.

Die beiden standen da und horchten darauf. Er hielt ihre Hand fest. Sie sprachen beide nicht, lange Zeit nicht.

»Jevv Aach,« sagte er endlich, ganz leise. »Ich weeß e Meddel, öm dich von mir zo jage. Breng mich an de Kirch.«

Sie lachte mit dem ganzen Gesicht vor Freude. »Jao. Ich well Üch esu leis an der Hand haale.«

Sie führte ihn über den Platz, langsam, ängstlich besorgt, schob jeden Stein mit den Schuhspitzen beiseite. Mit der freien Hand zog sie ihr Haar fest und richtete ihren Rock, der Leute wegen.

»Net esu langsam,« sagte er barsch.

»Net esu langsam, Ohm,« wiederholte sie.

»Net esu schnell.«

»Nä, net esu schnell.« Jeden Ast bog sie zurück und hielt ihn fest, bis der Ohm mit dem Rücken daran vorbei war.

Jetzt war der Absatz da.

»He mööt Ihr Üer Krüz maache,« sagte sie und machte das ihre.

Dann kam die Treppe – schmale Hölzer, die quer in die Erde geschlagen waren und Stufen bildeten. Sie ging neben ihm, indem sie ihren Fuß immer zusammen mit dem seinen auf eine Stufe stellte. »Stüßt Üch net, do steht en Bank.«

»He well ich mich setze,« sagte er hastig und fühlte mit seinem Stock herum.

»Net he. Dat es de Beddelbank.«

»De Beddelbank?« Er setzte sich so schnell, daß er sich stieß.

»Dao, setz dich zo mir.«

Sie sah ihn an, lachend. »Nä Ohm, do könne mir ons net setze – dat es jao de Beddelbank.«

»Setz dich zo mir – flink.«

Sie setzte sich, zu furchtsam, um zu widersprechen, aber nur auf den äußersten Rand.

»Dä – nemm minge Hoot.«

Sie nahm den Hut beim Rand, sah den Ohm an, dessen kurzes, weißes Haar jetzt bloß lag, und fing an ängstlich zu werden.

»Lääg en vür dich hen. Offen. Op de Äed.«

»Ohm – wat maht Ihr?«

»Ich beddele.«

Sie stand schnell auf und hielt den Hut, wie etwas Schreckliches, mit steif ausgestrecktem Arm von sich ab.

»Dat es ming Jeschäf. Schammst du dich?« Er fragte es fast mit einem Lauern und Hinhorchen.

»Ich han nie beddele jebruch, Ohm – dat waor der Motter ihr Ihr.« Sie hielt den Hut immer mit ihrem steifen Arm, sah vor sich herunter, auf ihren Rock, und atmete schnell.

Thomas triumphierte. »Sühs de? Dat han ich dir zeije wölle, jetz wiest du wahl weg wölle. Jetz sühs de, wat ich für eene ben, wat ich alle Sonndäg donn moß.«

»Doch! Ich well bei Üch blieve.« Sie setzte sich wieder neben ihn und legte beide Arme um seinen Hals.

Er atmete mit hochgehender Brust.

»Ihr hatt su e schön Jeseech,« flüsterte sie.

Er sprach mit sich selber, indem er die Lippen heftig bewegte.

Zugleich hörten sie Schritte.

Traudchen sah durch die Büsche und faßte ihn am Arm. »Ohm – die Frau Quadt.«

Die Frau kam mit rüstigen Schritten heran, Rosenkranz und Gebetbuch in der Hand. Sie war sonntäglich gekleidet. Über den Kopf hatte sie ein weißes Tuch gelegt, das unter dem Kinn zusammengeknotet war.

»Ohm, dä Hoot, Ohm.« Traudchen legte den Hut schnell auf die Bank, war aber dann, vor Scham rot, unfähig, die Hand zurückzuziehn.

Als die Quadt das Mädchen erkannte, wollte sie erst mit einem verwunderten Blick auf Thomas vorübergehn. Dann blieb sie stehn. »Traudche –«

»Wellst du jetz jonn?« flüsterte Thomas.

»Wer es dat, Traudche?«

»Wenn du net wells,« sagte Thomas, immer noch leise, heftig und knirschend. Dann aber laut: »Der ihr Ohm ben ich! Für ene ärme Blende! Jott verjelt et Üch! Der Traudchen ihr Ohm ben ich.«

»Nä – sag –« Die Frau stand vor dem Mädchen und wußte nicht, was sagen.

Traudchen legte den Kopf schief und hatte keinen Tropfen Blut mehr in den Backen.

Jetzt kamen viele Schritte näher.

»Ohm, Ohm,« flehte Traudchen, »kot doch he weg! Sed doch jood! Laot mich nur hück bei Üch blieve, nur hück morje!«

»Heeher!« rief Thomas laut. »Kot all heeher! Seht et Traudche setze on de Hoot haale! Bei ihrem Beddelohm! Beddelohm! Beddelohm!«

Drei Mädchen kamen, Arm in Arm, aneinander gedrängt, weil der Weg schmal war, durch die rufende Stimme erschreckt, die vorige Fröhlichkeit noch halb auf den Gesichtern. Hinter ihnen eine Anzahl lachender Burschen, die Weiden abgebrochen hatten und die Mädchen, unter neckenden Zurufen, an Hals und Backen damit berührten.

Traudchen sprang mit beiden Füßen zugleich auf. Thomas saß mit seiner unruhig arbeitenden, breiten Brust, mit aufeinander gebissenen Zähnen da.

»Wat röf der? Beddelohm?« fragte eine Blonde, deren Nase fast in den roten Backen versteckt war.

»Et Traudchen op der Beddelbank!« rief eine Kleine, Schwarze, und brachte die Hände unter die rote Schürze, um jede Berührung zu vermeiden.

»Jräfin op der Bank!« rief ein Langer, Dünner mit viereckigem Hals, und alle lachten.

Traudchen stand und kehrte dem Ohm halb den Rücken. Sie hielt den Kopf tiefgelegt und hob mit der Hand ihren Rock, ohne daß die Bewegung einen Zweck hatte. Sie hatte vor Aufregung die Zehen des linken Fußes gehoben, sodaß die Schuhspitze in der Luft stand.

Neue Mädchen und Burschen kamen hinzu, alle verspätet, besorgt zur Kirche zu kommen, Sonntagsglanz in Kleidern und Gesichtern.

Thomas zog bei jedem Hohn, der Traudchen traf, wie unter einem selber erhaltenen Schlag die Schultern zusammen. »Jang jetz! Jang! Ich kann dich net met mir nemme. Süch, ich well dir sage, woröm. Du kannst mich net leev han. Ich ben zo alt für dich, Ich den blend, ich manchen dir zo vil Möh. On süch, ich tät dich esu rääch leev krijje, ich föhlen dat – on dann – naohher – wenn du dann von mir lose däts – ich könnt dat net zom zweite Maol ushaale – Traudchen, ich bedden dich, jang, jang! Laoß mich alleen he setze.«

»Komm doch,« sagte die Quadt.

Die Mädchen und Burschen, stolz in ihren hellen, geputzten Kleidern, sahen sich an, das eine verwunderter, spottlustiger als das andere, und lachten.

Frau Quadt legte Traudchens Kopf an ihre magere Brust und hielt ihre Schürze darüber.

Da stand Thomas plötzlich auf, entschlossen, tastete nach dem Hut, hielt ihn hin, die offene Seite nach oben, und sagte wieder, mit brüchiger, rauher Stimme: »Für ene ärme Blende! Jott verjelt et Üch! Für ene arme Blende on sing Schwesterkind! Für et Traudche!«

Alle waren mit einem Male still und sahen dem Alten neugierig, verwundert, unheimlich berührt in die Augen.

Aber da machte Traudchen sich unter der Schürze los, nahm den Hut zwischen die Finger, und während ihr dicke Tränen über die Backen liefen, sagte sie fest, eigensinnig, lauter, als nötig war und alle nach der Reihe ansehend: »Für minge blende Ohm! Jott verjelt et Üch!«

Eins von den Mädchen ging. Noch eins. Dann folgten alle, erst langsam, dann schnell.

»Jang jetz endlich – ich mag dich net!« schrie der Blinde, hatte einen Kopf wie Feuer, riß ihr den Hut aus der Hand und hielt ihn hoch in seiner Faust, als ob er sie schlagen wolle.

Frau Quadt umfaßte das Mädchen und führte sie langsam zur Kirche hinauf.

»Ohm, adschüß!«

Thomas jubelte auf, mit einem gurgelnden Ton: »Sie es weg!«

Oben blieb Traudchen stehn, sah zurück und ließ sich von der Frau nicht wegziehn.

Thomas stand unten, faßte seinen Stock fester und richtete seinen Rücken gerade, sodaß er einen halben Kopf größer wurde.

Die Sonne war jetzt hoch über die Berge getreten und warf ihr Gold über das weite, wandernde Wasser. Durch die Gräser unten an Thomas Schuhen ging ein sinnliches Zittern. Käfer in allen Farben haschten und flohen einander. Die Luft war unbewegt, und die Steine an der Erde brannten. Darüber in seiner lautlosen Stille der nun tiefblau gewordene Himmel.

Der Blinde stand da, mit vorgestrecktem Kopf und nach der Seite hingehaltenem Ohr. »Sie es weg,« murmelte er.

In der Kirche stimmte die Orgel an. Ein heller Chor von Knabenstimmen, ungetrübten, sieghaften, fiel ein. Wie mächtige Wellen fluteten die Tonmassen aus den schwarzen Mauern in die weite Sonne hinaus.

Der Blinde stand immer da, andächtig die Hände über dem Stock gefaltet. Auf seinem roten Gesicht spiegelte sich ein Vorgang seiner Seele ab. Ein Schatten von Wehmut legte sich darüber, sodaß es plötzlich dunkler aussah. Seine Brust unter dem abgetragenen blauen Kittel hob sich in einem endlosen Atemzug.

Da löste sich oben Traudchen leise von der Quadt, kam unhörbar herab und stellte sich vor ihm auf die Schuhspitzen, indem sie ihre zwei Arme um seinen magern, langen Hals legte. »Ohm, sed Ihr drurig?«

Die Quadt ging mit schüttelndem Kopf und hochgehobenem Rock.

In dem Alten drängte alles Blut nach dem Herzen. Er stand unbeweglich, zu Stein geworden. In seinem Kopf aber sauste und blies es. Er hob unbewußt die Hände, an denen die Finger weit auseinanderstanden, um das Mädchen von sich wegzustoßen. Aber plötzlich wurde der ganze, lange Körper von einem Schlag getroffen. Die Arme gingen zusammen wie die zwei Hälften einer riesigen Zange und umklammerten die kleine Gestalt des Mädchens, die mit der hochgehobenen Stirn dem Mann nicht höher als bis an die Mitte der Brust reichte. Kein Wort kam noch aus seinem Mund.

»Ohm, ich moß Üch noch ens Adschüß sage. Ich well och jeden Aovend für Üch bedde, wenn Ihr weg sed.«

Er starrte eine Zeitlang. Dann brach es endlich auf in ihm, alles, was er zurückgehalten hatte, alles, was er die zwanzig Jahre in seinem Alleinsein in sich geschlossen.

»Jang met mir! Breng mich noh Huus. Bliev bei mir. Hück. Ich han dich jo leev.«

Andrees Stimme brach aus dem Wald heraus, mitten in die letzten Worte des Blinden hinein, fröhlich, unbesorgt, verwundert. »Traudchen!«

»Weg! Weg!« flüsterte Thomas. »Wao häs de dingen Ärm?«

»Jao Ohm, kot! Ich brengen Üch nach Üerem Huus.«

Andrees erschien, frisch geputzt, stolz auf seine Uniform, und sein verbranntes Soldatengesicht lachte. Er hatte Eile, weil er der letzte in der Kirche war, wo er sich dem ganzen Dorf zeigen wollte.

»Andrees!« rief Traudchen und blieb stehen, »Ohm, der Andrees!«

Thomas packte leidenschaftlich ihre Hand in seiner Faust und sah mit seinen leeren Augen nach Andrees hin.

Traudchen streckte die freie Hand aus, um sie dem Soldaten zu geben. Aber der Ohm zog sie mit merkwürdiger Hast fort, indem er mit dem Stock vor sich her über die Holzstufen tastete.

»Adschüß Andrees!« rief Traudchen zurück und drehte den Kopf nach ihm hin. Die Freude, mit ihrem Ohm gehn zu dürfen, lachte von ihrem Mund. »Ich kommen hück Aovend zoröck.«

Andrees stand und sah den beiden nach, ohne daß ihm klar war, was Thomas mit dem Mädchen vorhatte. Er bog einen Ast beiseite, um ihnen länger nachsehen zu können.

Eine Schar Tauben, deren weiße geöffnete Flügel hin und wieder in der Sonne aufblitzten, flatterte über den Vorgebeugten weg. Von unten herauf schnitt das Geräusch der schleifenden Sohlen des Blinden immer kraftloser durch die Luft. Und weit vom Rhein her rief ein Schiffer einem, der irgendwo am Ufer stand, in breiten Lauten zu, indem er seine Mütze über sich in die Luft hielt.

 

II.

Die Sonne ist schon hinter den langen Strich der Berge gesunken. Auf dem Wasser liegt bereits weißer Nebel, gerade abgeschnitten, flach wie ein Tischtuch, nicht höher wie die Ränder der Nachen, die mit Ketten ans Ufer gebunden sind.

Die Berge auf dem rechten Ufer brennen noch in der Sonne. Jeder Weinstock, jeder Riß im Anstrich des blendenden Schlosses, jeder Stein der zwei düsteren, wie von innen heraus erglühenden Burgen ist vom Strom aus zu sehen. Allmählich wird der Schattenstrich, vom Fuß der Hänge an, breiter, der obere, besonnte Teil wird schmäler und färbt sich rötlich.

Auf dem Rhein noch hier und da schwarze, segellose, durch den Nebel schimmernde Nachen, die den Zwischenraum zwischen sich und dem Ufer erweitern oder verengern. Schwer den Strom herauf ein Dampfer mit qualmenden Schornsteinen, stöhnend, mit den Schaufeln in das Wasser schlagend, hinter sich im Schlepptau einen Zug von Lastschiffen, die tief in den Wellen liegen und vor deren Brüsten das Wasser rauscht. Von ihrem Bord her Hundegebell und laute Zurufe, streitend und lachend, vom letzten ein eintöniges Wiegenlied, ohne, daß die Frau, die es singt, zu sehen ist. Plötzlich, wie ein Traum vorbei, ein mächtiges weißes Schiff, dessen Fenster und Metall noch glühen. Auf ihm schnell durcheinander gehende Männer und Frauen in ihren hellen Kleidern, deren Farben über das Wasser leuchten. Gläserklingen und der Gesang einer Männerstimme, dann lachender Stimmenwirrwarr.

Am Ufer, an dem die Wellen in langen, graden Linien erst rauschend, dann plätschernd anschlagen, ein einsam wehendes Tuch, nach dem Schiff hingehalten. Von fern der Lärm einer schleifenden und sausenden Sägemühle. Dazu das unaufhörliche Trillern und die sonderbaren pfeifenden Töne der Vögel, von jeder Dachrinne, aus jedem Nußbaum, aus jeder Stachelbeerhecke.

Auf dem braunen Ackerland sogar noch gebückte Frauen, mit roten Kopftüchern und hin und her gehenden Armen, auf der Landstraße heimkehrendes Winzervolk, ohne Singen, ohne Lachen, mit krummen Rücken und müd hingesetzten Beinen, die Köpfe nach dem Strom hingedreht.

Auf einer Bank, dicht am Wasser, drei alte Männer, die Backen in die Hände gelegt, die kurzen Pfeifen zwischen den Zähnen, – sprechen nicht und sehen nicht auf, denken vielleicht nicht einmal.

Arbeit und Feierabend durcheinander. Der Tag, der so laut und voll Farben gewesen ist, bäumt sich dagegen, von der lautlosen und eintönig schwarzen Nacht verschluckt zu werden. –

Des alten Thomas Häuschen, das letzte des Städtchens, war in die schwarze Mauer hineingebaut, die noch aus alten Zeiten her um den ganzen Ort lief, und sah nicht darüber hinweg. Es steckte so in grünem Epheu, daß gerade noch Platz für die kleine Tür und die zwei Fenster war.

Auf dem Wiesenstück hinter der Mauer lief Traudchen mit klappernden Holzpantoffeln, die von ihrem Ohm waren und ihr hin und wieder von den nackten Füßen fielen, hin und her und breitete Wäsche aus. Sie sang kein Lied vor sich hin, wie sonst.

Als sie durcheinanderschallendes Lachen und Aufkreischen hörte, hob sie den Kopf, von dem sich ein paar Strähnen ihrer schwarzen Haare gelöst hatten. Durch eine Lücke in der Mauer konnte sie an einem schiefergedeckten Turm vorbei auf den Rhein hinaus sehen.

Bald zeigte sich ein langer Nachen, mit Mädchen besetzt, die die Arme nackt und die Röcke über die Kniee hinauf gehoben hatten. Zwei von ihnen stießen das Fahrzeug mit langen Stangen kräftig gegen den Strom.

Traudchen streckte den Kopf vor, fast unmerklich, und sah ihnen bescheiden und mitglücklich zu.

»Komm met!« rief es von unten. Alle Mädchen sahen zu ihr in die Höhe.

»Ich darf net.« Ihre Backen glühten. »Der Ohm well et net.« Sie sagte es so leise, daß die unten es nicht einmal hörten.

»Dat domme Ding! Stoß avv!« Der Nachen verschwand schnell unter dem Lachen und Aufkreischen von vorher, das bald verhallte.

Traudchen stand da und starrte mit weiten Augen. Sie sah unwillkürlich an ihrem Rock hinunter und wischte mit der flachen Hand darüber.

Plötzlich kam der Kopf der Frau Quadt über einem Mauerstück hervor, ihre Schultern und Arme kamen nach, und dann schritt sie ganz, mit einem großen Korb am Arm, über das kurze Gras heran.

Traudchen warf ihre Wäsche hin und zwitscherte ihr entgegen, wie ein Vogel. »Frau Quadt – Ihr!«

Die alte Frau, mager im Gesicht und müde von dem Weg, gab ihr die Hand. »Do bes du, ming jood Kind.«

»Kot en et Huus! Ihr mööt Üch setze. Mir han en Flasch Wing em Schrank. Die mööt Ihr janz usdrinke.«

»Süch, do han ich dir dä Korb metjebraht. Sen ding Saache dren.«

Traudchen sah die Frau an.

»Du wells jo net mieh zoröckkomme. Du wells jo he blieve.«

Traudchen antwortete nicht. Sie hob das Tuch vom Korb und nahm einen kleinen Vogelkäfig aus ungestrichenen Holzstäben heraus. »Kenns du mich noch? Häs de Hunger? – Ihr joode Frau Quadt! – On dat rude Kleed – dat hät im emmer su en Freud jemaht.« Sie beugte den Kopf ganz tief und sah eifrig in den Korb hinein. Leise: »Saht, wat fängt der aan?«

»Der Andrees – aoh! – der es löstig wie emmer. Dän hürt me schon en aller Fröh hinger de Hase herscheeße, on dann poussiert er met de Mädche om Feld on em Wing.«

»Jao, jao?« Traudchen schien erfreut.

»Nä, nä. Der Andrees es drurig. Er küt alle Aovend on setz sich zo me op de Bank on red keen Waot on steck de Kopp en de Füüß.« Sie nahm das Mädchen, das schwieg, beim Arm. »Sag, bes de no zofreede bei dingem Ohm he?«

Traudchen schwieg immer. Aber ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen.

»Maöchs du net widder met? Soll ich dingen Ohm fraoge, ob du metdarfs?«

»Nä, nä – er löß mich net.«

Die Frau strich ihr mit der ausgezehrten Hand über das Haar, steckte ihr die gefallenen Strähnen durch den Kamm und sagte nichts mehr. Dann drehte sie sich um, sah prüfend die Wäsche an, bückte sich und breitete hier ein Stück und da ein Stück aus. Als sie gerade ein langes Leintuch hinlegen wollte, kam ein schmutziger, ungeschorener weißer Pudel bellend durch die Mauertrümmer heraus, lief mit langen Sätzen über die Wäsche und sprang an Traudchen in die Höhe, die ihm den Kopf mit den flachen Händen rieb und ihm den Rücken klopfte. Dann nahten schleifende Schritte, und bald kam Thomas, ohne Stock, nur mit den Händen tastend, über der Mauer hervor.

Er ging mehr aufrecht als früher, trug den Kopf höher, die unbedeckten weißen Haare waren frisch geschnitten und der Bart glatt gebürstet. Im Arm hielt er eine Last von Weidenruten, die er sich am Ufer geholt hatte. Er blieb stehen, legte den Kopf auf die Seite und horchte, mit seinem ganzen Körper. Er schien die Nähe Traudchens zu fühlen, denn er lachte mit breitem Mund und streckte die Hand aus, um nach ihr zu tasten, während er weiter ging.

Traudchen trat ihm entgegen und nahm seine Hand, um ihn an der Wäsche vorbeizuführen.

Er drückte die Hand schnell, mit seiner alten, unerklärlichen Hast und Leidenschaft, und hielt sie fest. »Ming leev Kind – mir es emmer, wenn ich weg waor on zoröckkomme, als wenn du net mieh do waörsch.«

Sie leitete ihn auf seinen Platz in der Mauerlücke, auf den abgebrochenen Steinen, die den ganzen Tag von der Sonne gewärmt wurden und wo die gesunde, reine Luft vom Rhein herauf blies, die alle die Geräusche still gedämpft herübertrug, die in dem Blinden das glückliche Gefühl der belebten Ferne hervorriefen und nach denen er stundenlang hinhorchte.

Er setzte sich und stellte die Füße in den breiten Schuhen auf die Steine, die er sich dafür zurechtgelegt. Er griff nach seinem starken, langstieligen Messer und fing an, die Weiden zu beschneiden. Rings standen halbe und fertige Körbe an der Mauer, die er mit seinen großen, zitternden Fingern geflochten hatte. Jede sechs Wochen wurden die Körbe von den Karren abgeholt, die, bis hoch hinauf bepackt, sie auf beiden Ufern von Städtchen zu Städtchen fuhren.

»Bes du baal fäedig met dinger Wäsch?« fragte er.

»Baal, Ohm, wenn ich mich draan haale.« Traudchen sah zur Quadt hinüber.

Die stand da und betrachtete den Blinden mitleidig, aber auch etwas feindselig. Sie traute sich nicht, den Fuß zu wechseln, nicht den Kopf zu drehen, als ob schon das Rascheln der Schürze und das Reiben der Kleider am Hals zu viel Geräusch wäre.

»Ich fraogen et dich doch,« sagte der Blinde, ohne in seiner Arbeit aufzuhören und wie in Fortsetzung eines erregten Selbstgespräches. »Morje sen dat aach Dag, dat du bei mir des – saag, bes du no och jäen bei dingem Ohm?«

»Ach Ohm – do sed Ihr schon widder domet! Ihr weßt dat jao.«

Er senkte den Kopf tiefer auf seine Weiden und sprach eine ganze Zeit lang nichts mehr. Dann sagte er, kaum hörbar: »Sag doch du zu mir.«

Traudchen sah ihn an. »Nä, dat kann ich net.« Dann schnell, indem sie zu ihm ging: »Du, du, du! Ohm – du!«

Er streckte seinen Arm nach ihr aus und legte beide Hände um ihren Kopf. »Bliev bei mir, Traudchen. Für emmer. Jang net mieh weg. Du häs jo keen Motter mieh. Ich well dinge Vatter sen. Ich han dich leev, ich kann aohne dich net mieh sen. Du solls et och jood bei mir han. Sonndags han mir Fleesch, dat häs du jo jesin, on och e neu Kleed solls du han. Ich han noch Jeld en der Schublad lijje. Süch Traudche, ich ben su alleen jewäs, on jetzt es alles widder su schön, jetz es alles so jlöcklich, dao, unger minger Jack!« Der alte Mann sprach das alles mit einfacher, plötzlich sonderbar rauher und tiefer Stimme.

Traudchen hatte den Mund fest geschlossen, die Nasenflügel geöffnet und die Stirn zusammengezogen. Dann machte sie den Mund auf und sah wieder mit ihren großen Augen, die voll Tränen standen, nach der Quadt hinüber.

Die schüttelte heftig mit dem Kopf.

»Wells du net?« fragte Thomas.

»Doch Ohm!« sagte Traudchen schnell und brach in Weinen aus. »Ich well bei dir blieve.«

Thomas sprach kein Wort. Er legte ihren Kopf in seinen Schoß, deckte ihn mit seiner alten Jacke zu und strich ihr unter seiner Jacke mit seinen beiden Händen nur immer über das Gesicht, tröstend und dankbar, während ihm auf Stirn und Mund ein sonderbares Strahlen lag, dem die leeren Augen etwas Unheimliches gaben.

Aber da ging die Quadt auf den Zehen um die Wäsche herum und legte ihm die Hand an den Arm. »Jooden Aovend – ich ben die Quadt.«

Der Blinde zog erschreckt die Schultern zusammen. Dann machte, er eine heftige Bewegung. »Wer es – wat wollt Ihr he?«

Sie griff nach seiner Hand, um ihn zu begütigen.

Aber er stand schnell auf, geschickt und sicher. »Wat wollt Ihr he?« wiederholte er, während das Messer aus einer Falte seiner Jacke zur Erde fiel, und tastete nach der Mauer, um sich daran zu halten. »Jaoht,« sagte er gebieterisch, »ich han Üch net jerofe, Ihr wollt nix Joodes he.«

»Ich wollt et Traudche widder met mir nemme,« sagte die Quadt leise, voll Achtung.

»Nä! Wat jeht Üch et Traudche aan? Nä! Die bliev bei mir.«

»Zappermoot! Ihr mööt doch dat Mädche net für Üch alleen han! Jung Blot well ustobe, will singe on loofe, will Minsche sehn, will singesjlichen han. Sie es Üch zo onrohig en Üerem Huus.«

Thomas schwieg. Nichts bewegte sich in seinem Gesicht.

Die Quadt kam näher. »Sie es Üch jo zor Laß. Ihr hatt jo selver net ens Brut zom Esse.«

Thomas faßte seinen Stock fester, mit einer ruckartigen Bewegung der Faust.

»Nä, seht, Ihr dürft doch su e jung Kind, e fruh Ding, net bei Üer wieß Haor ensperre. Bei Üer blend Auge.«

Thomas öffnete den Mund und horchte noch. Dann nahm sein Gesicht, unvermittelt, wie alles bei ihm geschah, den Ausdruck des Entsetzens an. »Ich han et jewoß,« sprach er vor sich hin. »Dat hät op mir jelääje Dag on Naach. Sie es net jäen bei mir. Ming Auge sen et. Weil ich blend bin, weil ich met enem Stock üvver de Straoß föhle moß –« Er faßte plötzlich mit der Hand in die Luft und flüsterte: »Traudche – woröm sprichs du net?«

Das Mädchen stand, ließ die Arme hängen und sah die Quadt flehend, hilflos an.

»Donn de Mond op! Woröm sprichs du net?« Thomas atmete hörbar, mit seiner mächtigen Brust. Er wartete mit hingehaltenem Kopf auf Antwort. Aber es kam keine. Er stöhnte, drehte sich zur Mauer und begann mit zitternden, heftig bewegten Händen wieder an dem Korb zu flechten. Aber dann ergriff er Traudchens Schürze, hielt sie fest daran und flüsterte ihr ins Gesicht, erregt, mit plötzlichem, wildem Entschluß: »Jood! Jetz sagen ich dir: ich jonn en de Stadt zom Dokter. Ich well sehn – sehn! Wie du on ding Quadt do. Wie dinge Andrees. Ich weeß et wahl. Ich laossen mir de Auge schnigge. Jood – jood!«

»Nä, nä, Ohm,« stammelte Traudchen, »net wääje mir. Ich blieven jo bei dir.«

Er ging nach dem Haus. »Ich well zom Dokter. Ich well sehn – sehn –« murmelte er mit grollender, drohender Stimme, »breng mich hen, morje. Morje breng mich hen. Jood – jood.« Er zitterte an seinem ganzen, langen Körper und lief mit der Stirn gegen die Tür. Er kehrte sich noch einmal um und wandte der Quadt sein Gesicht zu. »Ich well keen fremde Lück he han!« schrie er und hob die Hand in die Luft. »Komm Traudche!« Er ließ die Tür hinter sich auf, um Traudchen einzulassen, und die beiden hörten seine schweren, aufgeregten Schritte durch das Zimmer schleifen und sahen ihn, durch das Fenster hindurch, heftig den weißen Kopf bewegen.

»Wat han ich jedonn? Wie kaom dat alles esu schnell?« Traudchen schüttelte den Kopf. »Ach, saht Ihr mir, joode Frau Quadt, ob ich Sönd donn? Ich weeß et net, waorhaftig net. Ich moß bei dem Ohm blieve, er es su alt on aohne Hölf – ävver jelt? ich darf doch och an de Andrees denke on an Üch on an onser Hüüsche? Ich han Üch all zosamme leev.« Sie bückte den Kopf über die Hände der alten Frau.

»Stell. Et wied alles, alles jood. Bliev nur he. Ich well schon sorje, dat ihr zwei üch als hin on widder de Händ dröcke könnt on en de Auge sehn. Jao – jao – bliev du nur he.« Sie drückte ihren Mund auf Traudchens Stirn.

»Noch ens! Dood mich noch ens kösse! Op de Mond. Dä es von imm – on jett im dän, jett dän dem Andrees!«

»Traudche!« rief Thomas aus dem Haus heraus, noch immer mit seiner heftigen, grollenden Stimme.

»Adschüß Traudche!« Die Quadt nahm ihren Korb schnell, hob den Rock auf und ging mit ihren kurzen, leisen Schritten. »Ich schecken en dir – der Andrees köt bei dich.«

Traudchen nahm die Gießkanne und ging ins Haus, mit hängendem Kopf und schleppenden Beinen. –

Die Vögel waren überall still. Der Himmel, so weit er zu sehen war, glühte in einem düsteren Rot, dem nur das Knistern und Prasseln der Feuersbrünste fehlte. Schwarz krümmten sich die Rücken der Berge hinein.

Von dem Wasser war unter dem Nebel nichts mehr zu sehen. Nur das unablässige, endlose und urewige Rauschen, hin und wieder durch irgend eine Ursache verstärkt, war noch zu hören.

Eine geheimnisvolle Seligkeit lag über dem Tal. Die Menschen in den Gassen, an den Türen und Zäunen, lärmten nicht mehr, waren alle schweigsam geworden, und nur die Liebespaare bewegten sich noch, eng aneinander gedrückt, hinter den Obstbäumen her.

 

III.

Im Armenhäuschen saß die Quadt in dem geflickten, ledergepolsterten Lehnstuhl, eine Näharbeit im Schoß und schlief.

Es war spät nach Mitternacht. Die Lampe, die an der Wand hing, war klein geschraubt und färbte das kleine Zimmer mit einem gelben, ungewissen Licht.

Draußen hatte sich der Wind im Hof gefangen, konnte nicht mehr heraus und schrie gegen die Mauern. Im Dorf unten klirrten zerbrochene Fensterscheiben. Dann ein dumpfes Aufschlagen von fallenden Ziegeln.

Hin und wieder das Wimmern der Kettenhunde, vermischt mit dem Lärm einer Schiffsglocke, die durch die Nacht jagte und nach Hilfe schrie.

Zu dem allen tönte unaufhörlich, mit einem rollenden Rauschen und Planschen als Grundbaß, das unheimliche Schlingen und Gurgeln des Rheins, der seine hochgehende Wassermasse unten am Dorf vorbeischob.

Als das Geräusch einer hingeworfenen Schiffskette trotz des Sturms ganz deutlich heraufdrang, erwachte die alte Frau, entsann sich, sah auf die tickende Uhr an der Wand und sprang verwundert auf die Füße. Sie horchte auf den Wind und schüttelte den Kopf. Dann ging sie ans Fenster und sah hinaus. Sie zündete eine Kerze an, blies die Lampe aus und nahm den Schlüssel vom Nagel, um die Laden draußen vorzumachen, die Tür zu sperren und zu Bett zu gehen.

Gerade als sie den Schlüssel in die Tür steckte, klopfte es.

Eine Stimme flüsterte: »Ich stonn he.«

Die Frau erschrak, horchte und öffnete behutsam.

Der einstürmende Wind fegte die Zeitung und die Brille vom Tisch und trug schwere Regentropfen bis ins Zimmer. In der Ferne leuchtete der Himmel für einen Augenblick schwach auf.

Traudchen trat ein. Ihr Haar war verwirrt unter dem Hut. Sie hatte ein sonderbar strahlendes, rotes Gesicht, feuchte, große Augen, die wie im Traum nach etwas aussahen, was irgendwo weit in der Welt draußen war. Vorne an der Brust trug sie ein paar Blumen, die die nassen Blätter hängen ließen.

»Du?« fragte die Quadt.

Das Mädchen lachte nur, merkwürdig, verloren, mit einem, den sie nur im Traum sah, und ging an der Frau vorüber bis in die Mitte des Zimmers, wo sie stehen blieb und den regenschweren Hut abnahm. Sie legte den Hut nicht hin, und es war kein Grund zu sehen, weshalb sie da stehen blieb und gegen die Wand starrte.

Frau Quadt wollte die Tür zumachen. Aber eine Faust stieß dagegen und Andrees schob sich schnell hinein. Er ging mit zwei langen Schritten zu Traudchen hin, stellte sich vor sie und faßte sie an beide Schultern.

Sie sah zu ihm hinauf und lachte mit ihrem stillen, märchenhaften, glücklichen Lachen.

»Do sen mer,« sagte er, ohne die Hände von ihren Schultern zu nehmen. »Mir sen op dem Rhing jewäs, em Naache, m'em Segel, do kaom dat Wetter, on do sen mer, lebendig on zosamme.«

Die Frau war erschrocken. »Kinder, wie leechsinnig – zo diser Naachzick – Jesses, on sag Traudche – jetz bes du jo net zu Huus?«

»Die bliev bei Üch – diese Naach nur, jelt du?«

»Nä, saht – hück küt jo der Ohm zoröck – denkt ihr do net draan? Traudche – nä – brengt sie naoh Huus – schnell – ich bedden Üch –«

»Bliev bei mir,« sagte Traudchen leise.

Er legte den Arm um ihre Hüfte.

»Kinder – ich will jo nur üer Joodes – ihr waort jo alle Dag zosamme – nur hück net, nur jetz net. Traudche, jang naoh Huus – denk doch, wenn der Ohm dat Huus offe fendt on du net do bes –«

»Seht,« sagte Andrees, ohne auf sie zu hören, »esu leev han mir ons. Morje moß ich jonn, morje es der Urloob zo Engk – laot ons doch noch jet zosamme.« Er küßte Traudchen, und sie nahm den Kuß mit geschlossenen Augen und halboffenen Lippen.

»Jesses – denk doch, Traudche – wenn der dich sööch – der ärme Mann met singen Augen – alleen op der Straoß – bei dem Wetter –«

Die beiden hatten ihre Stirnen eine fest an die andere gelegt und sahen und hörten nicht.

Die Frau überlegte einen Augenblick. »Weßt ihr jet? Dann jonn ich den Ohm sööche. Der küt heeher, der küt secher heeher.« Sie nahm ihr Tuch vom Stuhl, trat an die beiden heran und betrachtete sie, gerührt, wollte sprechen, aber: »ihr zwei!« sagte sie nur. Dann warf sie das Tuch um und ging schnell. Der Sturm schlug die Tür hinter ihr zu. –

Jetzt war alles still.

Andrees drückte das Mädchen mit ihren Hüften gegen die seinen.

Sie schmiegte sich, in seinem Arm liegend, an ihm in die Höhe und berührte seinen Mund von unten, geschickt, in jeder Bewegung schnell und sicher.

Er küßte sie, verlegen, ungeschickt, derb, indem er ihren Kopf zwischen seine großen Hände nahm.

Dabei sprachen sie kein Wort.

In der Ferne donnerte es. Hin und wieder schoß ein schwacher Blitzschein durch die Fenster und warf ein flackerndes Licht durch das von der Kerze halbdunkel gelassene Zimmer.

Andrees zog sie auf das Sofa hin, ohne sie aus seinen Armen zu lassen. Ihre Füße verwirrten sich dabei ineinander.

Sie saßen Kopf an Kopf, ihre vier Arme ineinander vergraben.

Traudchen sang ganz leise:

Minge Vatter wollt en die Eh mich jevve,
An ene riche Mann, an ene aale Mann.
Met enem aale Mann mag ich net levve,
Ming Motter saoh mich weinend an.
Mingen Vatter han ich usjelaach,
Minger Mutter ben ich dovonjesprunge,
Die is jestorve dieselve Naach,
Han e Flötche jemaht,
Han e Leedche jesunge.

Dann ben ich jeloofe zo mingem Schatz,
Der dheet mich an singem Hals ophänge:
Du häs ming Motter dud jemaht,
Doraan wolle mer net mieh denke.
Kein Siel es rings mieh waach,
On su stell es die Naach.

Es blitzte und donnerte, schon aus größerer Nähe, in das Lied hinein. Von der andern Rheinseite tönte schwach der Schrei eines Feuerhorns durch die Finsternis und den Regen.

Die beiden krochen tiefer eins in das andere, als ob sie so Schutz fänden vor dem zornigen Himmel.

Sie nahm ihren Kamm ab und schüttelte mit dem Kopf, daß ihr Haar herunterfiel. Dann faßte sie schnell mit den Armen um seine Uniform herum, so daß ihr Gesicht dicht an seine Brust gedrückt war.

»Eisemann – su breet – su stark –«

Er packte mit seinen zwei täppischen Händen in ihr Haar und warf es über sich, bis sein blonder Kopf ganz in dem Schwarz versteckt war, und küßte ihren Hals mit schnellen, lautlosen Küssen.

In einem sonderbaren Stillschweigen geschah das alles.

Es blitzte. Darauf langsam rollender Donner.

Ihre beiden Herzen schlugen jagend, hörbar gegeneinander. Ihre zwei Körper fröstelten und schüttelten mit den Schultern.

Er hielt plötzlich den Atem an, daß ihm die Adern am Hals dick wurden.

Ihr ganzer Körper zuckte, hob und senkte sich.

Er gab rauhe und heisere Laute von sich, abgebrochene, während sie bewußtlos und schwer an ihm hing und nur: »Nä, nä!« stammelte.

Ein Blitz!

Und da – in den ausrollenden Donner hinein, eine Fortsetzung davon, ertönte ein hilflos schwacher Ruf, von Menschenmund, ein Wimmern, klagend, flehend, drohend.

Andrees stand, als ob der Blitz vorher ihn getroffen hätte.

Von neuem kroch der Ruf, langgezogen, durch die Nacht heran, deutlich und unheimlich: »Traud-che – – Traud-che –«

Sie schlug langsam, verständnislos die Augen auf.

Andrees horchte ohne Bewegung, mit vorgestrecktem Kopf.

Jetzt ein Treten und Schlagen gegen die Tür – sie faßte seinen Arm, er stieß sie mit merkwürdiger Wut von sich. Er drückte die Innenseiten der Fäuste gegen die Schläfen, ging schnell zur Tür und riß die Tür auf.

Traudchen schrie und stierte mit angsterfüllten Zügen hin. In die schwarze Nacht hinein sahen sie Thomas hingefallen an dem Holz der Schwelle liegen, größere leidenschaftliche Bewegung als je im Gesicht, ohne Hut, das weiße Haar naß und der Bart glatt und triefend vom Regen. Über den Augen hatte er ein breites, weißes Tuch, in der Hand hielt er krampfhaft Andrees Mütze.

Der Sturm warf ein Fenster auf. Der Regen goß und prasselte in Strömen gegen die Mauern. Im Blitzschein tauchte der über die Ufer getretene Rhein mit seinen schmutzig-gelben, sich schiebenden Wellen auf und am abschüssigen Ufer hinten die Weiden, die entblättert im Wasser standen und sich im Wind gespenstisch beugten und streckten.

Thomas hob eine Hand hoch. »Wo bes du?«

Andrees wollte ihn rauh anfassen, aber Traudchen, in Angst für ihn, lief herbei, schob seinen Arm weg und hob den schweren Mann auf.

»Bes du do?« Thomas griff hastig nach ihrem Rock.

»Jooden Aovend, Ohm,« sagte sie.

»Wao es der? Es der bei dir?«

»Nä.«

Er richtete sich auf, knetete die Mütze in seiner Faust und atmete tief, erlöst. »Et hätt e Onjlöck jejovve – setz mich – minge Kopp – mir driht sich alles.«

Sie rückte ihm den Sessel herbei. Andrees schloß kräftig das Fenster und stellte sich hin, die Arme trotzig und streitlustig über die Brust gelegt.

Heftig fuhr Thomas auf. »Wer es am Finster?«

»Der Wind, Ohm.«

Der Alte schüttelte drohend den Arm. »Wenn er et jewäs waör –« Er setzte sich und sagte ruhiger: »Jetz ben ich bei dir. Setz dich her zu mir. Du ming Traudche! Jetz well ich net mieh weg von dir.« Er streichelte ihre Hand. »Süch, dat hät alles en mir opjeräch. Ich hatt esu en Freud jehatt op dat Widdersehn. Ich hatt mir dat alles esu schön usjemaolt – wie du vür der Dür staönds on mir entjäjekaömst. Süch, wie der Wagen heelt, ben ich zom Huus jeschleche, op de Zihe, han janz leis de Dür opjemaht – on do – keene Laut – wie ich Traudche! reef, janz leis – keene Laut. Wie ich durch die Zemmer tappe on Traudche! Traudche! on wie ich do die Mötz – sag, was häs du met däm? Mit däm wollst du net beienander sen?«

Traudchen zog trotzig die Hand halb weg. »Nix.«

Thomas zog die Hand wieder an sich. »Jao. Jao. Ich well rohig sen. Ich well nix fraoge. Ävver weeßt de, der es schlääch, der well nix Joodes von dir.«

Andrees stand in finsterem, erregtem Schweigen da und hing seine Augen drohend an jede Bewegung des alten Mannes.

»Süch,« fuhr Thomas fort, »wie leev ich dich han, jetz en dene aach Dag han ich dat irsch esu rääch jeföhlt. Ich moß ene Minsch han op de Welt. Ich han keen Frau jehatt on keen Kinder. Jetz bes du ming Kind. On doröm, süch, als ich dich net finge konnt doheem, hät et mich jepack. Do hätt ich schreie maöje, wih em Enjeweid he, on Haß on Bei-dich-wollen. Met de Häng han ich de Wänd avjekratz em Zemmer. Dann op de Straoß – Traudche! Net do. Dohen jetapp – Traudche! Net do. Dohen jekroche op Häng on Föß. On wigger, links, räächs, henjeschlage on dojeläge – op! Traudche! Emmer wilder. Met dem Stock an de Steen jeföhlt zor Sick der Straoß, emmer wigger, durch de Sturm, en et Jeseech eren, emmer wigger, Hot weg, durch de Räje, en Hals on Schohn, emmer wigger, bes ich an üerem Berg waor, bes ich de Bronne en de Häng hatt, vür üerer Dür. On jetz bin ich do.« Er warf die Mütze zur Erde und steckte die nassen Hände unter die Jacke, um sie zu wärmen. »Weeß du, ich han dich für schlääch jehaale – met däm do. Vür der Dür he han ich noch jedaach, als die net opjing: der Andrees es bei der. Ävver du bes jood, du bes besser als ich.« Er legte eine Hand auf ihren Schoß, nahm eine von ihren Händen und deckte die über die seine. »Saag,« sprach er dann weiter, leise, schüchtern, ohne den Kopf nach ihr hinzudrehen: »On dat Mihtste weeß de noch net ens. Süch dat Toch hee, üvver ming Auge. Dat darf morje av. On dann darf ich sehn. On du – du jlöövs et net – du laachs mich us –«

Es blitzte und donnerte ganz in der Nähe, Schein und Schlag folgten schnell aufeinander.

»Do – do!« rief Thomas, »do es et widder! Vür dem Donner jedesmaol. Dat müssen Blitze sen.« Dann ganz schnell, zitternd: »Do han ich et blitzen jesin! Jelt? Do han ich et blitzen jesin?«

Traudchen trat etwas von ihm zurück.

»Sehn! Sehn!« rief er. »Sag jelt? Dat Sehn es schön?«

Wieder Blitz und Donner.

Er klammerte die Finger um ihre Hand, beugte den Kopf vor und hielt ihn steif: »Do! Do! Do es et schon widder! Häs du et jesin?« Er streckte die Hand aus und tastete in komischer Weise darnach. »Jetz es et weg, jetz es et widder schwarz vür mir.«

»Ich well ding Bett maache,« sagte Traudchen und entzog sich ihm.

Wieder Blitz und Donner.

»Do widder! Hell, janz hell! Esu – esu – ich weeß net, wie ich et dir beschrieve soll. Traudche – bliev bei mir.« Er richtete sich starr auf. Er stand und hielt sich am Sessel und atmete schwer, während das Wasser immer noch von seiner Jacke herablief. »Es et denn waohr? Soll ich sehn? Met mingen Augen? Wie alle Minsche? Traudchen, soll ich dich sehn?«

»Ohm, komm schlaofe,« sagte Traudchen.

Andrees stand da, drückte seine Erregung unter, stets auf dem Punkt, aus seinem Schweigen herauszutreten.

Thomas packte Traudchen plötzlich beim Ärmel ihres Kleides. »Sag – sag – röck dat Toch e bische –«

»Nä, nä, nä,« sagte sie hastig. »Komm doch.« Sie zog an seinem Arm.

»Wenn ich jeblendt werde, es dat Sehn vürbei für emmer – nä, net – komm Traudche!« Er nahm ihren Arm und ließ sich zum andern Zimmer führen.

An der Tür aber blieb er wieder stehn. »Dat sagen ich dir: wenn ich sehn darf – alle Dag sehn ich, den janzen Dag sehn ich, Dag on Naach durch sehn ich. O, wie schön es dat Sehn!« Er faltete die großen Hände und hob die Stirn, die halb von dem Tuch bedeckt war, zur Zimmerdecke, mit einem merkwürdigen leuchtenden Ausdruck der Dankbarkeit und Frömmigkeit. Dann, plötzlich, kam ihm ein Gedanke. Er runzelte die Stirn, hob die Hand, bog die Finger, als wenn er etwas fassen wolle. »Sag, häs du ding rud Kleed aan? Wo du su schön sen solls? Ich maöch ming Kind beim irschte Maol su jäen schön sehn. Steck dir ding Haor op. Nur ene Augebleck well ich dich sehn.«

»Nä, nä,« rief Traudchen, »du solls jetz schlaofe jonn.«

Thomas faßte sein Tuch an. »Soll ich?« Er lachte in der Freude der Erwartung.

Eine plötzliche, unheimliche Pause im Gewitter. Dann Blitz und Donner auf einen Schlag.

Mit einem jubelnden Keuchen, schneller als der Blitz, riß der Alte das Tuch fort.

Traudchen und Andrees liefen mit kurzen, komisch trippelnden Schritten auf einander zu. Er legte seinen starken Arm um sie herum, sie klammerte sich an ihn, mit ihrem ganzen Körper und versteckte ihren Kopf zwischen seinem Arm und seiner Brust, um nicht sehen zu müssen.

Thomas starrte mit weitaufgerissenen Augen nach ihnen hin. Er stand da, lautlos, die Arme von sich gehalten, Falten des Schmerzes um Stirn und Augen. Der Schein war weg.

Alles war still.

Er verharrte ohne eine Regung in seiner Stellung. Dann ging ein stoßendes Zittern durch seinen Rücken, seine Schenkel wankten, er ließ die Arme sinken und zu beiden Seiten des Körpers herabhängen, während er den Kopf noch vorgestreckt hielt.

Er tastete nach dem Sessel zurück, er ließ sich hineinfallen, saß da, auf dem Rand, mit hängenden Knieen, mit immer vorgestrecktem Kopf und offenem Mund, ohne Atemzug, ohne Bewegung, als ob ein schwerer Schlag auf sein weißes Haar heruntergefallen wäre.

Andrees zog Traudchen nach der Tür. Er hielt sie immer in seinem Arm. Und sie ließ sich ihm ganz, sie hatte keinen Willen mehr. Er öffnete die Tür und trug sie hinaus, und die Tür schlug hinter ihm zu.

Der Blinde saß lange da. Nichts bewegte sich an ihm als die Augenbrauen, die hin und wieder zuckten und sich hoben. Plötzlich fingen seine Hände, die auf den Armlehnen lagen, an zu zittern. Er hob sie, er lachte mit einigen sonderbaren Lauten, er drehte den Kopf aufwärts, als ob er nach der Decke hin horchen wolle, er krümmte den Rücken, er bückte sich, er griff auf der Erde umher, er faßte seinen Stock an, er verharrte eine Weile an der Erde, wie eine Katze zum Sprung gebückt, und plötzlich richtete er sich auf, seine schweren Schuhe schlugen an das Holz des Bodens, er hob beide Arme mit dem Stock hoch über sich in die Luft und ließ den Stock niederschmettern, auf die Stelle hin, wo die zwei gestanden hatten.

Aber der Stock traf auf die Erde. Er hob ihn wieder hoch, ging einen Schritt weiter, schlug wieder, traf wieder die Erde, ging wieder einen Schritt, kehrte sich um, dahin und dorthin, schlug wieder und wieder, und traf wieder die hölzerne, nackte Erde, den Tisch, die Stühle, den Schrank. Einmal traf er etwas Weiches, packte schnell mit den Fäusten hin – aber es waren nur Röcke der Quadt, die an der Wand hingen.

Er knirschte mit den Zähnen, der Schweiß stand ihm auf der Stirn, er lallte unverständliche Worte, er lachte laut auf, er schrie. Bilder, Tassen und Geschirr lagen an der Erde, Tisch und Stühle standen von ihren Plätzen gerückt – da ging die Tür auf, von einer Hand gehalten.

Thomas Hund, naß vom Regen, stellte sich, winselnd vor Freude, an ihm auf, zerkratzte mit den Vorderpfoten seine Brust, suchte mit der hochgestreckten Schnauze sein Gesicht zu erreichen, wurde von dem schweren, genagelten Schuh seines Herrn ins Zimmer zurückgeworfen und von dem letzten, gewaltigen Schlag des Stockes getroffen.

In der Tür stand die Quadt, streckte den Kopf vor, sah entsetzt den Wütenden an, kam ins Zimmer, warf ihr Tuch ab und hob den Arm, um den Mann an den Rock zu fassen.

Aber der Blinde hatte ausgetobt. Er fiel erschöpft auf den Holzkoffer hin, der zwischen den Fenstern stand, steckte das Gesicht an die Wand und legte die Arme darüber. So lag er da, wie tot.

Die alte Frau stand eine Weile und sah ihm zu. Dann ging sie auf den Zehen, holte ein Tuch und wischte ihm das nasse Haar ab. Sie trocknete ihm Hals und Hände. Sie zog ihm die Schuhe aus und stellte sie an den Ofen. Sie zog ihm die nassen roten Strümpfe aus und trocknete ihm die Füße. Dann ging sie ins Nebenzimmer, holte Leintuch und Kissen und machte ein Bett, an die Erde, vor den Ofen. Sie zündete Spiritus an und setzte Wasser auf. Die Uhr war stehen geblieben. Sie zog die Gewichte an den Ketten nach oben und stieß den Pendel an.

Der Hund kroch mit gebrochenem Rückgrat und hängender Zunge über den Erdboden hin, leckte seinem Herrn ein paar Mal über die Füße und legte sich über die Füße hin.

Die Quadt setzte sich neben den Blinden auf den Koffer. »Ihr mööt jetz schlaofe jonn,« sagte sie.

Er regte sich nicht.

»Ihr mööt us Üerem nasse Züg do, sed doch vernünftig. Ihr hollt Üch den Tod, wenn Ihr noch lang esu do setzt.«

Er regte sich nicht.

Sie rührte an seine Hände und zog sie ihm vom Gesicht. Aber er lag mit dem Gesicht ganz an der Wand, sodaß sein Gesicht weiß war vom Kalkbewurf der Mauer, und sie konnte ihm nicht hineinsehen. »Morje könnt Ihr der jo naohloofe on sie schlage. Dat es e schlääch Mädche, bat Traudche.« Ihre Züge drückten eine List aus.

Und wirklich hob der Alte den Kopf und schüttelte ihn, still und traurig. Er richtete sich auf, legte die Hände auf die Kniee und saß so.

Sie zog ihm seine Jacke aus, die schwer von der Nässe war, streifte ihm die Ärmel seines blauen, wollenen Hemdes hoch, trocknete ihm die Arme ab und breitete ihm einen dicken, roten Unterrock um die Schultern.

Er ließ alles geschehen wie ein Kind. Er atmete nur schwer und bewegte die Lippen im Selbstgespräch. Seine Erregung war ihm nicht mehr anzusehn. Nur um den Mund trug er einen Zug von Schmerz, wie ihn Kinder haben, ehe sie zu weinen anfangen.

Die Quadt brachte ihm in einer großen, bemalten Tasse, der der Henkel fehlte, warmen Kaffee, hielt ihm die Tasse an den Mund, und er trank in kleinen Zügen. Dann nahm er die Tasse selber in beide Hände und trank lang und schlürfend.

Sie sah ihm mit warmen Augen zu. »Su,« sagte sie, »on jetz läht Ihr Üch en dat Bett do on deckt Üch jood zo on schlaoft. On morje es Üer Traudche schon widder do.«

Da löste er eine Hand von der Tasse, hob sie abwehrend und tat den Mund auf. »Nä,« sagte er leise, »sie soll nur.« Sein Gesicht sah ans einmal traurig und gebrochen aus.

Sie faßte ihn am Arm, legte eine Hand auf sein Knie und sagte: »Seht, dat es su. Et drieven esu vil Hölzer met dem Rhing herav, on de ärm Lück stonn am Ofer on wollen Holz fesche on naoh Huus drage. Ävver mänche, die stonn de janzen Dag on sehn keen Holz. On wenn se e Holz sehn on met de Häng donaoh lange, dann driev dat Holz vorüvver – et es zo wick för sie. Nä, dat moß me nemme, wie 't küt. Däm eene es 't jejovve on däm andere net.«

Thomas nickte langsam mit dem Kopf.

Die Quadt streichelte sein Knie. »Laot die jlöcklich sen. Die wied widderkumme, zo Üch, wenn se Üch nüdig hät; wenn dat Glöck do vorbei es.«

Ein Lachen leuchtete, wie von ferne, über sein Gesicht. Große Tränen traten aus seinen blinden Augenhöhlen heraus und liefen ihm über die Backen in den Bart hinein.

»On mir zwei?« sprach die Frau weiter, »ben ich jetz net och alleen wie Ihr? Blievt bei mir, on ich blieven bei Üch. So wolle mer zosamme op et Traudche waede. Dat es för ons aal Lück Jlöck jenog.«

Der Alte tastete nach ihrer Hand, während ihm die Tränen immerzu herabliefen, und nickte mit dem Kopf, und seine Lippen, die sprechen wollten, zitterten und brachten nur ein kindliches, verlorenes Lachen zustande, das aber fast wie ein glückliches aussah.

Sie stand auf und warf das Kissen von seinem Bett auf, damit er sich hineinlegen konnte. Sie rührte den Hund an, der auf seinen Füßen lag. Der Hund war tot.

Sturm und Gewitter hatten sich verzogen.

Die ersten Vögel pfiffen schon in den Brombeeren. Und durch die Scheiben sah schon der weiße Himmel herein.


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