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An einem Dezembertag des Jahres 1813 hatte Jupp Adam, ein langer, hagerer Bauernbursche, sein Pferd aus dem Stall gezogen, die Flinte seines Vaters von der Wand genommen und sich der Behörde seiner rheinischen Heimat zur Verfügung gestellt.
Er war auf einem Ritt begriffen, das rechte Rheinufer hinunter. Am andern Ufer zogen noch oft genug zwischen den Lücken der weißen Häuser schwarze Scharen vorüber – hin und wieder blitzte auch noch ein Schuß auf.
Er hatte einen Kameraden gehabt, einen lustigen, stämmigen Kerl aus der Gegend hinter den sieben Bergen, war aber von ihm abgekommen. Als er nun so dahinritt, die Landstraße hinunter, weit hinauf und hinab kein anderes Haus, als neben ihm ein rauchendes Viereck von Steinen, in dem noch die schwarzen Balken in den Himmel starrten, sah er mit einem Male etwas die Straße heraufkommen: ein Franzose, der irgendwie zurückgeblieben war, mit langen Beinen, mit bloßem Kopf, ohne Waffe, selbst ohne den Riemen des Seitengewehrs, nur einen Laib Brot unter dem Arm – und hinter ihm her, mit kürzeren und schnelleren Beinen eine Bäuerin in den mittleren Jahren, die eine Schürze vorgebunden hatte und in der Hand eine kurze Sichel mit sich schleppte.
Er hielt seinen Gaul an und wartete, ohne seine Flinte vom Rücken zu nehmen und anzuschlagen. Der Bursche kam auf ihn zu mit seinen baumlangen Beinen, und immer hinter ihm her die kleine Frau, die ihm zusehends näher auf den Leib rückte.
Schließlich stand er bei Jupp, nachdem er schon aus der Entfernung sein Gesicht betrachtet hatte, sprach einige französische Worte, und als er sah, daß der andere ihn nicht verstand, faltete er die Hände und lachte ihn mit treuherzigen schwarzen Augen an wie ein Kind.
Die zweite, die bei Jupp stand, war die Frau. Und sofort machte der Franzose zwei lange Schritte und stellte sich hinter ihn.
Jupp lenkte seinen Schimmel zwischen beide, so daß auf jeder Seite seines Sattels einer stand. »Wat es loß, joode Frau?« fragte er.
»Dä Mann dao jehürt mir,« sagte die Frau mit einer leisen, sicheren Stimme und ging um das Pferd herum, indem sie die Hand mit der Sichel hob. Der Franzose ging ebenfalls herum und lachte ihn an.
»Weshalv jehürt ä Üch?« fragte er weiter.
»Denkt Üch, ä hät ming Mädche von vierzehn Jaohr op et Struh jeschmesse, dat se für ihr Levve onjlöcklich jemaaht es, on hät minge Jong von zwölf Jaohr, dä ihr helfen wollt, dud jeschosse.«
»Wat? On jetzt es dat Aos dobei, dä lange Käel, vür Üch dovon zo loofe?«
Sie ging wieder um das Pferd herum, der Franzose ebenfalls.
Der Bauer hob seinen Fuß aus dem Steigbügel und berührte ihn ziemlich derb damit. »Bliev stonn,« sagte er, »du bes jetz minge Jefangene on stehs jetz unge mingem Schotz.«
Er sah die kleine Frau an: das war nur eine einfache, gute Frau mit mageren Händen – ein starkknochiges Gesicht, von der Rheinluft braun gebrannt, mit zwei hellen blauen Augen und gescheiteltem, schon ein wenig grauem Haar darüber, aber auf diesem Gesicht eine so merkwürdige Ruhe, ein so sonderbares Leuchten aus den Augen, daß er sich nicht länger darüber wunderte, daß der lange Kerl vor dieser Frau davon lief. »Jeweß,« sagte er, »dann jehürt ä Üch, ävve die Saach es die: mir mösse in irsch vür et Kreegsjereech brenge.«
»Jaoht mir met däm Kreegsjereech! Wat he zo maache es, dat maachen ech esu jood wie et Kreegsjereech,« sagte die Bäuerin und wollte wieder an den schwarzhaarigen Burschen heran.
»Halt!« rief er, »jetz jehürt ä mir: mir sen doch keen Straoßeräuvere. Ech bedden Üch, leeve Frau, blievt rohig he, wao Ihr zo Huus sed: ech wäede däm Käel alt sing letzte Sopp jevve.«
»Nä, ä jehürt mir,« versetzte sie eigensinnig, »wat hät ä Üch jedonn?«
»Loß Käel,« sagte Jupp, »nahm seine Flinte und stieß ihm den Kolben in den Rücken, »setz ding Been en Bewäjung.«
Der Franzose lachte dankbar zu ihm herauf.
»Eene Schrett, dä du naoh en ander Sick dees als du solls, on du häs ding Blei em Schädel.«
Der Franzose verstand die breiten, deutschen Worte nicht und lachte. Da legte Jupp die Flinte quer über den Sattel vor sich hin und entsicherte das Schloß: das verstand er und trottete nun vor der Schnauze des Gaules her, indem er beide Hände in die Taschen steckte und vorsichtig den Kopf nach der Frau hindrehte.
Die Frau ging neben dem Pferd her, faßte Jupp an den Stiefel, um ihn zurückzuhalten, und sagte: »Sed Ihr onsere Fründ oder sed Ihr ene Fründ dä Franzuse? Ech han Üch doch jesaht, wat dä Mann mir jedonn hät.«
Und er: »Leeve Frau, ä hät Üch jeweß e jruß Leed aanjedonn, on et waör wohl et beste, enem solche Lomp aohne lange Prozeß dä Schädel enzoschlage. Jlöövt nur net, dat me do lang Jescheechte met im määht: morje öm diß Zick hevv dä Käel sing lang Been net mieh von dä Äed op.«
Und die Frau wieder: »Nä, driht Üer Päed öm on riggt naoh irjend en Sick dovon – mir zwei he wäeden ons Saach schnell avjemaht han.«
Und er wieder: »Wat wollt Ihr met dem Mann? Ä es wehrlos, ä steht en mingem Schotz.«
Die Frau sah eine Zeitlang geradeaus, dann sagte sie leise: »On minge Jong on ming Mädche, waoren die villeech net wehrlos? Ihr wäed mir doch erlööve, dat ech ming zwei Kinder en Schotz nemme?«
»Joode Frau,« sagte er, »es dat net jääje Üer Chrestendhom, wat Ihr do donn wollt?«
Sie antwortete nicht und sah immer geradeaus mit ihren so sonderbar hell aus dem verbrannten Gesicht hervorstrahlenden blauen Augen.
»Ihr dood mir jeweß von Häzze leed,« tröstete er sie, »ävve jääje 't Jesetz kann ech deshalv net handele.«
»Hät er naoh dem Jesetz jehandelt?«
»Et es alles ömesöns bei Üch,« sagte er, schüttelte ihre Hand von seinem Stiefel und ließ seinen Schimmel einen frischeren Schritt nehmen. Der Franzmann vor ihm fing infolgedessen ebenfalls an, flinker auszugreifen, indem er dabei von seinem Brot große Stücke mit den Zähnen abriß und mit Heißhunger hinuterschlang.
Aber die Frau blieb immer bei ihnen. Mit ihren kurzen und schnellen Beinen war sie immer dicht hinter dem Schweif seines Pferdes. Sie schürzte ihren Rock mit der freien Hand und bewegte fortwährend die Lippen im Selbstgespräch. Ob sie ihr Vorhaben vor sich selber rechtfertigen wollte, ob sie Verwünschungen gegen ihren Gegner, Klagen um ihre Kinder murmelte, ob sie betete – man sah es nicht. Hin und wieder wischte sie sich mit der Schürze den Schweiß von der Stirn. Einmal drehte Jupp sich herum und sah, daß sie Tränen in den Augen hatte.
Er hielt an: »Wollt Ihr no net endlich vernönftig wäede?« sagte er, »seeht, ech wäede jetzt mingem Schimmel die Spoore jevve.«
»Ä jehürt mir,« murmelte sie.
»Ech wäede dä Franzus zo mir en de Sattel nemme, on me wäede Üch op die Art doch dovon komme. Also blievt leeve von selve zoröck on jaoht naoh Huus. Ech jevven Üch ming Waoet, dat Ihr zo Üerem Rääch komme sollt.«
Damit fuhr er dem Gaul in die Seiten, und notgedrungen lief auch der Franzose mit langen Sätzen dahin, indem er sein Brot wieder unter dem Arm trug.
Aber da scheute das Pferd und stellte sich und biß an seinem Eisen: die Frau hing mit beiden Händen am Schweif und ließ nicht los.
Jupp sprach einen Fluch aus und überlegte kurz. Dann sprang er aus dem Sattel, klopfte dem Gaul beruhigend auf den Hals, nahm einen Strick aus der Satteltasche und ging zu dem Franzosen hin, um ihm die Hände zu binden.
Der schien das schon zu kennen, denn wie er den Strick sah, legte er seine Hände wie ein Kreuz übereinander und hielt sie hin, immer mit seinem dankbaren Kinderlächeln, während ihm sein Brot zur Erde fiel.
Jupp tat nicht, als ob er es mit zwei Damenhänden zu tun gehabt hätte: das Lächeln des Franzosen nahm für einen Augenblick einen sehr schmerzlichen Ausdruck an. Aber als er da oben gefesselt war, sagte er ihm außerdem: »Lääg dich hen!« und als er das nicht verstand und ihn ansah, stieß er ihm die Fäuste in die Kniekehlen und setzte ihn so ins Gras.
Dann band er ihm die Füße, einen an den andern, wobei der Franzose mit sachverständiger und sogar ein wenig beifälliger Miene zusah.
Er ließ nun seinen Schimmel gehn und grasen und setzte sich in einiger Entfernung von seinem Gefangenen, sein gutes Gewehr über die Schenkel gelegt, gleichfalls an die Erde. Er holte sein Abendbrot aus der Tasche und wollte so seinen Kameraden erwarten.
Die dritte, die sich niedersetzte, war die Bäuerin. Und wie jener seine Flinte, legte sie ihre Sichel vor sich in ihren Schoß.
Jupp beobachtete sie.
Sie brachte mit den Fingern ihren Scheitel in Ordnung und steckte die Strähnen fest, die bei dem schnellen Lauf heruntergefallen waren. Sie zog ihre Schuhe aus und schüttete die Steine, die sich darin angesammelt hatten, zur Erde.
Er rief ihr zu, ob sie mit ihm zu Abend essen wolle. Sie sah ihn an und antwortete nicht. Er ging trotzdem zu ihr hin und schnitt ihr mit seinem verrosteten Messer von seinem Wenigen ab, so viel wie auf einen jeden von ihnen kam.
Der Franzose war unterdessen damit beschäftigt, seinem Laib Brot, so oft er ihm davon rollte, nachzurutschen und ihn mit seinen weißen Zähnen wieder zu holen.
So saßen die drei da. Die Sonne ging unter.
Die Frau sprach kein Wort mehr, ließ aber auch ihren Franzosen nicht aus den Augen.
Jupp nahm ihre Sichel, trat sie in zwei Stücke, drehte diese schief und krumm und warf sie in weitem Bogen in den Rhein. Die Frau ließ es mit einem traurigen Ausdruck in ihrem Gesicht geschehen.
Es wurde dunkel, und vom Wasser herauf stieg ein kalter Nebel.
Jupp ging zu seinem Schimmel hin, schnallte seine Decke ab und brachte sie der Frau. Sie dankte ihm, indem sie flüchtig wie ein junges Mädchen errötete, und legte sich die Decke um die Schultern. Dann setzte er sich wieder neben seinen Gefangenen, in der Absicht, wach zu bleiben.
Er fing nun an, über dies und das nachzudenken. Er war die ganze vergangene Nacht nicht aus dem Sattel gekommen und so müde, daß er die Kniee hochzog und das Gesicht darauf ruhen ließ. So schlief er ein. –
Er schlug aus einmal die Augen auf, hob den Kopf und sah die Sterne über sich. Erschrocken sprang er auf. Aber da saß der Franzose und lachte ihn an wie immer, und da hinten saß die Frau wie ein formloses Bündel im Dunkel und regte sich nicht.
Er ging zu ihr hin und sah ihr ins Gesicht. Natürlich, sie hatte die Augen zu und schlief – nein, sie hatte die Augen auf und sah ihn ruhig an.
»Zom Teufel!« dachte er, »ech well jetz schlaofe. Der Franzus wied schon waach blieve on dich wecke, wenn ä dich nüdig hät.« Er legte sich auf die Seite, nahm sein Gewehr fest in den Arm und schlief, zusammengekauert, das Kinn an den Knieen, wieder ein.
Und wirklich – der Franzose weckte ihn.
Er sah ein Gesicht über sich – nicht mehr das lachende, sondern ein verzerrtes jetzt und totenweißes. Er gab einen unwillkürlichen Laut von sich, ehe er noch sah, was los war, und griff nach seiner Flinte – sie war nicht mehr da. Er sprang auf mit Knieen, die vom Schrecken gelähmt waren.
Der Mond war aufgegangen, und zwanzig Schritte vor sich sah er die Frau an der Erde knieen und sein Gewehr zum Anschlag an die Backe halten. Die erhobenen Hände blieben ihm in der Luft stehen.
»Om Joddeswelle, Frau!« rief er, »wat dood Ihr? Et es jo onmöglich, dat Korn zo seehn, Ihr trefft jo mich!«
Der Franzose wälzte sich winselnd, mit Tönen, die nichts Menschenähnliches mehr hatten, an der Erde herum und versuchte aufzustehen. Er wollte hinter den andern, um Deckung zu finden. Endlich arbeitete er sich mit Knieen und Ellenbogen in die Höhe und fiel mit seiner Schulter gegen Jupps Schulter.
Die Frau folgte mit ihrem Flintenlauf allen seinen Bewegungen. Jupp packte ihn mit kräftiger Faust beim Nacken und hielt ihn, so weit als sein ausgestreckter Arm reichte, von sich ab. Wie eine Zielscheibe hielt er ihn dem Flintenlauf hin – da! der Schuß!
Er wich noch unwillkürlich vor dem Franzosen zurück, aber da lag der lange Bursche auch schon bäuchlings im Gras und zuckte merkwürdig mit den Händen. Jupp atmete auf und bückte sich, indem er ihm den Schweiß von der Stirn wischte: hinten am Schädel des Franzosen, mitten in dem krausen Schwarzhaar, war ein kleines, dunkles Loch, aus dem ein Tropfen Blut sickerte.
»Teufel!« dachte er, »dat waor zwei Händ breit nevve dingem Häzzschlag,« und ein Gefühl freudiger Bewunderung der guten Augen und der starken Hände der Bauernfrau da durchströmte ihn.
Der Bursche lag nun ganz still. Jupp drehte ihn um, daß er auf dem Rücken lag, und drückte ihm sein rechtes Auge zu, das allein noch offen stand und ihn im Mondlicht anstarrte.
Die Frau kam und gab ihm sein Gewehr zurück.
Er gab ihr die Hand und sah ihr ins Gesicht, in dem die Augen immer noch so sonderbar leuchteten.
»Et es schad für dä höbsche Jong,« sagte er, »ä es höchstens sing achtzehn alt, ävve ech han ming Pfleech jedonn – on, zom Donnerkiil, Ihr och, joode Frau.«
Damit nahm er seine Decke, kletterte in den Sattel und ritt weiter den Rhein hinab.
Vom andern Ufer drang leise das Geräusch von Feldflaschen herüber, die an die Bajonette anschlugen – ein Geräusch, das die jedesmal vorgesetzten Beine einer marschierenden Abteilung hervorbrachten.