Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die dumme Großmutter.


Auf dem dreieckigen Marktplatz in Bonn standen die paar alten Häuser, die noch übrig geblieben sind, schon im Abendschatten, während die Dächer der hohen, neuen Bauten noch in der Sonne glänzten. Zwei Fenster breit, drei hoch, weiß gestrichen und mit Giebeln, die von beiden Seiten wie Treppen aufstiegen und oben eine Kugel trugen, sahen sie in ihrer stolzen Umgebung recht schmal und dürftig aus – wie alte Mütterchen, die klein und mit zusammengedrückten Ellenbogen im Gedränge stehen.

Sie hatten sich auch nicht mit goldenen Schildern und elektrischen Lampen behangen, wie die jungen Häuser, damit sie nicht gehindert waren, eins nach dem andern hinüberzusehn, recht fest und lange – und so zu warten, bis man das nächste von ihnen mit Stangen und Beilen zur Erde Herunterreißen würde.

Zusammen mit dem breiteren Rathaus, auf dessen zwei Freitreppen keine dreieckigen Hüte und Zöpfe und keine Kniehosen und zierliche Schnallenschuhe mehr sichtbar waren und mit der umgitterten Säule, die einem guten alten Kurfürsten gesetzt ist und aus deren Seitenbecken das Wasser noch wie früher plätscherte, standen sie da und träumten auf das neuartige, dichtgescharte und lärmende Treiben herab – unbeachtet, und wenn beachtet, dann verspottet und mit wenig guten Wünschen bedacht.

In dem schmalen Haus an der Ecke wohnte im dritten Stock, dessen zwei Zimmer aber schon schräge Decken hatten, ein Mütterchen. Jeden Morgen stieg es mit seiner tadellosen weißen, altmodischen Spitzenhaube auf dem Kopf die drei Treppen herab. Dabei brachte es immer die Füße erst auf eine Stufe zusammen, ehe es nach einer neuen Stufe hinuntertastete. Dann ging es mit seinem kleinen irdenen Topf in der Hand über die Straße hinüber zum Milchwagen und ließ sich mit auch recht altmodischer Genauigkeit sein Maß voll schenken.

Das Mütterchen war noch nicht so alt und hätte nach seinen Jahren erst eine Mutter zu sein brauchen. Aber das rings rauh und hart gewordene Leben hatte die kleine Gestalt, die für einen freundlicheren Zeitraum geschaffen war, vorzeitig zusammengedrückt und den Scheitel mit frühem Schnee bedeckt, der so gut voll blonder, verwirrter Locken gewesen war, wie irgend ein Mädchenscheitel in den Nachbarhäusern jetzt es war. Das Mütterchen war sogar eine junge, lachende Frau mit roten Backen und strahlenden, blauen Augen gewesen, sodaß sein Gesicht aussah wie ein Apfelzweig unter leuchtenden Veilchen. Die junge Frau hatte ihren sonnverbrannten, starkarmigen Mann gehabt, dem sie schon von weitem die Tür aufmachte, wenn er von der Arbeit die Treppe heraufkam, und hatte ihr lärmendes, zwitscherndes Kindervolk, froh wie die Vögel, um sich gehabt, das sich stritt und in den Schoß der Mutter floh und ihr um Kopf und Rücken schmeichelte.

Aber der große Krieg war gekommen, der alles, was ein Gewehr und einen vollgepackten Tornister tragen konnte, in die Wiesen und Felder Frankreichs führte. Und bei Sedan ward der sonnverbrannte, starkarmige Mann mitten aus seiner Jugend, seiner Arbeit und seiner kleinen Familie, die daheim um den Tisch und um die Lampe saß und an ihn dachte, herausgeschossen – wie das so manch anderem Mann und manch anderer Frau nicht freundlicher erging. Die Pferde stampften zweimal über ihn weg, und die Räder der Geschütze fuhren seine Brust noch um eine Hand breiter.

Dann wurde aus der jungen, lachenden Frau eine stille, gekrümmte, die über ihrem Nähzeug gebückt saß, tagsüber am Fenster, morgens und abends bei der Lampe – wie so manche andere auch.

Und endlich – nach langen Jahren – war das Mütterchen von all dem Nähen blind geworden, und das hatte es nun doch vor den meisten anderen voraus. Aber es war auch seine Schuld selber: warum hatte es den Rat des dicken Doktors, nicht bei Licht zu nähen, nicht befolgt?

Doch auch die blinden Augen waren zu etwas gut. Das Mütterchen, das nun von der Welt draußen nichts mehr sehen konnte, sah dafür in seinem Innern alle die schönen, sonnenbeschienenen Bilder, die aus seinen jungen Jahren noch da ganz unten schimmerten, und spann sich so auf seine alten Tage in seine eigene Art von Glück ein.

Es sah nur noch den starken, frohen Mann und hörte ihn dazu mit seiner klingenden Stimme lachen, es schöpfte ihm wieder die Suppe aus und strich ihm die Butter aufs Brot, es saß wieder auf seinen Knieen und hing mit den Armen an seinem Hals und ließ sich unter Lachen und Wehren einen Kuß rauben. Es sah ihn wieder mit einem Paar Stiefel in der Hand und seiner alten Soldatenmütze auf dem Kopf in den Zug steigen, es sah ihn über die Äcker stürmen, sah sein Gewehr blitzen und rauchen, sah die feindlichen Soldaten vor ihm hinter die Bäume fliehen, sah ihn Schlachten gewinnen, sah ihn die Kugel empfangen und sterben. Es sah vom ganzen Krieg nur ihn.

Ringsumher wurden die Kinder groß, und die Welt hatte andere Dinge, die ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Der Krieg schien vergessen, und nur das Mütterchen, dem er alles Glück genommen, sprach noch davon – so viel, daß es auf die Dauer ein wenig langweilig wurde, und daß die Leute zu denken anfingen: das Mütterchen wird schwachköpfig. –

Es war um die Stunde, wo wie alltäglich der blaue Himmel blaß wurde und langsam auf den Marktplatz und die Dächer rund herum herabsank, wo die Menschen die Hände an die Hüte hielten, weil der erste kühle Luftzug durch die Straßen ging, der die glühenden Dunstmassen des Tages vor sich herschob.

Heute war der Sedantag, den die Bürger durch eine Beleuchtung ihrer Häuser feiern wollten. Darum strömte es heute mehr als an anderen Abenden aus allen Türen heraus. Aus den engen Gassen, die zu dem Marktplatz von allen Seiten her führen, schälten sich schwarze Menschenscharen los, um hier im Gewühl der Tausenden unterzutauchen. Und bald brandete hier eine sonderbare Musik, die von dem Orchester der tausenden lachenden, erzählenden, rufenden, schimpfenden Stimmen hervorgebracht wurde, der steinschlürfenden Sohlen, der auf- und zuklinkenden Türen, der schnellen Wagen, der schweren Karren, der Pferdebahnen, die sich langsam einen Schacht brachen, wie Schiffe, hinter denen die Flut gleich wieder zusammenschlägt – eine sonderbare Musik, die den, der lange hinhörte, betrunken machte: die Nerven begannen mit zu schwingen und schienen zu tönen, der betäubende, ohrenschreiende Lärm nahm erst schwach, dann ganz deutlich erkennbar einen bestimmten, mitreißenden Rhythmus an, und geisterhaft klang ein schwebender, brausender, singender Akkord daraus hervor.

Das schwarze, vieltausendfüßige Treiben wurde mehr und mehr von der stiller und dichter werdenden Dämmerung eingehüllt, bis mit einem Male die Nacht da war mit ihrem finstern Himmel und ihren goldenen Sternen.

Und jetzt blitzten auch die kleinen Lichter vor den Fenstern auf, erst hier, dann da. Die Lücken füllten sich, schnell und schneller, und zuletzt schlang sich um den ganzen großen Platz eine dreifach übereinander strahlende Kette von Lichtern. Und diese einfachen Lichter, von Frauen- und Kinderhänden hingestellt, machten aus diesem zusammengeworfenen Menschenwirrwarr einen einzigen Kinderhaufen. Und als erst, von einem Garten hinter den Häusern aus gesandt, hoch über den spitzen Dächern lautlose Raketen erschienen, die lange Feuerlinien in den schwarzen Himmel zogen, da standen alle – Männer mit grauen Bärten und feierlichen Cylinderhüten, Frauen mit erregten Gesichtern und sinnlichen Augen, in atemloser Spannung.

Auch das schmale Haus an der Ecke war zwei Stockwerke hoch in Licht getaucht. Man sah deutlich die Flecken in seinem Anstrich, und hoch über ihm zeigte sich im Widerschein und Qualm der Kerzen eine Schar Tauben, die aufgeschreckt umherflatterten.

Aber das höchste kleine Fenster, das von dem spitzen Giebel eingerahmt wurde, war geschlossen und dunkel.

Hier kniete auf einem Lehnstuhl ein sechsjähriger Junge, dessen Schattenbild sich gespensterhaft an der Decke des Zimmers bewegte. Er drückte die Stirn an die Scheibe und erzählte mit aufgeregter Stimme und immer neuen Ausrufen des Erstaunens von den Wundern, die er unter sich sah.

Im Hintergrund lag das blinde Mütterchen zu Bett, hatte sich auf die Hände gestützt und horchte nach der Tür hin. »Halt ens dingen Mund, Schäng,« sagte sie, »ich well ens hüre, ob der Vatter noch op der Trepp es!«

Der Junge war still, und die Großmutter hob sich höher und horchte eifriger. Dann nahm ihr Gesicht plötzlich einen listigen Ausdruck an. »Jetz maach dat Finster op,« sagte sie. »Nä, Jrußmotter. Der Vatter well et net han.«

Die alte Frau, deren Gesicht so klein und herzensgut war, richtete sich im Bett auf, schob die Kissen zurück und stellte die Füße auf die Erde. Sie griff nach den Kleidern und schlüpfte hinein, während sie immerzu mit dem Kopf nickte, der nur noch wenige weiße Haare hatte, und vor sich hin kicherte.

»Du darfs net us dem Bett, Jrußmotter, sagte der Junge, »du bes krank, der Vatter hät et dir verbodde.«

»Bes stell, Schängche! Weiß du denn, wat ich well? Möchs du denn net och e paar Lichter an't Finster stelle? Wat?«

»Der Vatter well et jo net,« sagte der Junge und fing fast das Weinen an.

»Komm her, leeve Jung, wo bes du?« Die alte Frau tastete nach ihm mit ihren braunen Händen, auf denen man die dicken blauen Adern sah.

Der Knabe ging zu ihr, und sie nahm ihn und hielt ihren Mund an sein Ohr und flüsterte: »Steig doch op ene Stohl on jevv mir de Schlössel vom Schrank.«

Er wollte sich ihr abwehrend entziehen, aber sie hielt ihn mit beiden Händen fest. »Ich han fönf Lichter en der Schublad,« flüsterte sie eifriger und schmeichelnd, mit einem verschlagenen Zug um die Lippen.

Das Kind sah sie erstaunt an, ein freudiges Lachen ging über sein Gesicht, es hörte flüchtig nach der Tür hin und kletterte dann wie eine Katze auf den Stuhl, vom Stuhl auf die Kommode und reichte von dort auf den Schrank hinauf.

Wie die Großmutter ihm den Schlüssel abnahm, kam es wie ein anderes Leben über sie. Ihr krummer Rücken streckte sich, ihre gelben, ledernen Backen färbten sich mit leichtem Rot. Mit sicheren, schnellen Händen nahm sie die fünf irdenen, kleinen Schalen, die bis zum Rand mit weißem Talg gefüllt waren. Der Junge machte vor Freude sonderbare Bewegungen mit Armen und Beinen und versteckte seinen Kopf in die Sofaecke, um nicht laut aufzuschreien. Dann sprang er zum Fenster und zog es auf.

Mit einem Male schlug nun der Lärm von da unten in das schmale Zimmer herein. Die beiden mußten lauter sprechen und näher aneinander kommen, um sich zu verstehen.

Tastend setzte die Blinde die Schalen, eine neben die andere, auf das Brett draußen, und der Kleine durfte ein Streichholz nehmen und ein Licht nach dem andern aufblitzen lassen.

Der helle Schein zeigte seine roten Backen und seine blauen Augen, die vor Freude glühten.

Er warf triumphierende Blicke nach den Menschenmassen unten und nach den Fenstern, die gegenüberlagen, als ob er sich überzeugen wollte, daß seine fünf Lichter auch bemerkt würden. Er war ängstlich bemüht, sie mit den kleinen Händen vor dem Wind zu schützen, der hier oben abendkühl vorbeizog. Er schwitzte vor Stolz, er hielt sich für den Mittelpunkt des Festes und glaubte alle Augen und Finger auf seine fünf Lichter gerichtet.

Die alte Frau hatte sich mit den schwachen Armen den Lehnstuhl zurecht gerückt, ein wollenes Tuch um die Schultern gelegt und saß da und fror und hatte ein sonderbares, geheimnisvolles Lächeln von Glück und Stolz auf dem Gesicht, das sie fast wieder jung machte. Sie hielt den Kopf auf die Seite gelegt, um mit dem linken Ohr, das schärfer hörte, auf das Stimmengewirr zu lauschen, das immer stärker heraufwogte.

Sie nahm den Knaben auf den Schoß und hielt die kleinen, erregten Glieder mit ihren Händen, sie kroch tiefer in das wärmende Tuch und lauschte und strahlte immer mehr. Es war fast, als ob sie eine Lampe in ihrem Innern trüge, deren Schein nach außen dringe. Aus den zwei Winkeln der blinden Augen traten zwei dicke Tränen hervor, die langsam über die eingefallenen Backen herabliefen. Sie fielen dem Kind auf die Hand, daß es verwundert zu der Großmutter aufsah. »Weshalv weinst du, Jrußmotter?«

Die alte Frau streichelte seine Hände. »Ich weine doch net,« sagte sie, indem sie sich die Tränen abwischte, »ich freue mich jo nur. Weißt du net, dat die Lichter all für mich brenne, dat die Lück unge all für mich op dem Markt stonn?«

»Für dich, Jrußmotter?« Das Kind lächelte ungläubig.

»Jo, für mich – Sedan, dat es ming Fest.«

Über ihren schmalen Leib lief ein plötzliches Zittern, sie stieß unwillkürlich den Knaben zurück, um die beengte Brust frei zu bekommen. Aber dann zog sie ihn gleich wieder an sich, der sie mit seinen klugen Kinderaugen noch verwunderter ansah, und drückte einen Kuß auf seine Stirn.

Jetzt verdoppelte sich der Lärm unten. Soldaten mit lodernden Fackeln, von denen der Rauch bis zu ihrem Fenster hinaufstieg, kamen aus der Gasse unten heraus und zogen über den Platz, von den Menschenmassen verfolgt und umdrängt. Vor dem Rathaus machten sie Halt und bildeten einen Kreis.

Und nun wurde es plötzlich still.

Man hörte eine einzelne Stimme, oft stärker, oft schwächer, je nach der Seite, nach der der Redner sich drehte.

Die beiden am Fenster hörten nicht, wie die Tür hinter ihnen sich auftat und der Vater ins Zimmer trat – ein großer, starker Arbeitsmann in blauem Schurz und rheinischer Kappe. Er stand einen Augenblick überrascht und ging dann schnell zum Fenster hin. »Han mir Jeld für dat domme Zeug do?« Er machte die Lichter, schnell eins nach dem andern, mit der flachen Hand aus. »Loß ander Lück Lichter aanstecke, wat jeht dich dat aan?«

Draußen war es eine Sekunde still geworden, um dann loszubrechen, mit dem von innen heraus schlagenden Feuer, wie es nur die glücklichen, gesegneten Menschen am Rhein in sich tragen, unter diesem milden, klaren Nachthimmel, wie er nur den Menschen am Rhein geschenkt ist: das dreimalige Hoch auf den Kaiser. Die Musik fiel ein, die mächtige Musik der Metallinstrumente der Bonner Husaren, ein tausendstimmiger Chor schwang sich mit tausend Flügeln über den Platz weg, stieg zu den Dächern auf und verflatterte am Himmel droben. An allen Fenstern sangen die Frauen und Kinder mit.

Die Alte hatte sich aufgerichtet und die Hände gefaltet. Ihr Gesicht war mehr als vorher von dem sonderbaren Lichtschein übergossen, von dem man nicht wußte, woher er kam. Bebend öffnete sie die schmalen Lippen, als wolle sie mit ihrer schwachen Stimme gegen die Macht der Tausenden ankommen.

Und – was war das? – sie neigte den Kopf ein paar Mal, sie neigte ihn nach allen Seiten, und immer wieder, sie verbeugte sich mit ihrem krummen Rücken, immer wieder und wieder, sie hob die Hände mit einer halb lächerlichen, halb rührenden Bewegung des Abwehrens – wirklich, die Großmutter bedankte sich für die Huldigung, die die Leute da unten ihr hier oben brachten – war so etwas dagewesen?

Der Mann legte den Arm um ihren Leib und führte sie in ihr Bett mit den blaugewürfelten Kissen zurück.

Der Knabe hatte der Frau nun ganz verwundert zugesehen. »Vater,« fragte er arglos, »weshalv ist dat der Jrußmotter ihr Fest?« Der Vater antwortete nicht.

»Dat es ävver doch domm von der Jrußmotter,« sagte der Junge.

Die alte Frau lag auf dem Rücken unter den drei Kissen, die nötig waren, um ihren Leib warm zu halten. Nur ihre zwei braunen Hände sahen heraus, die gefaltet waren. Und dazu hörte man sie gerührt und dankbar schluchzen, während sie immer, bescheiden und abwehrend, mit dem Kopf schüttelte, und während die dröhnende Reitermusik das Zimmer füllte.


 << zurück weiter >>