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Sechs zitternde Glockenschläge – der Aschermittwoch war da! Die Straßen waren schon still, die Fenster noch dunkel, um die Ecke herum verhallte der letzte Gesang der Nachtschwärmer – die Tage des Lärmens waren vorbei, die grauen Werkeltage waren wieder da mit ihrer Bedächtigkeit und der rastlosen Mühle der Arbeit.
Eine Tür an dem langen, weißen Haus ging auf, und da kam schon der erste derer, deren Tun jetzt seinen Anfang nahm: der junge Priester. Er war groß und stark, und sein schwarzer Rock ging ihm bis auf die breiten Schuhe herab. Seine Backen waren rot, sein Rücken stolz – der war von einer anderen Art Nachtschwärmer als jene. Er schritt lang und stark aus und war fröhlich. Er zog mit weiter Nase die Morgenluft ein und sann. Eigentlich sollte nur der Buße predigen, der auch die Sünde getan hat – und dazu: wem mußte er das Aschenkreuz der Trauer auf die Stirn malen? Denen, die die drei Fastnachttage ängstlich zu Haus geblieben waren; denn die anderen, die wahren, die Sünder, die die Buße nötig hatten, die lagen noch kreuz und quer in den Betten und schliefen sich aus.
Da! Was denn? So seht doch den da liegen! Der ist noch übrig geblieben als ein Rest der ausgelassenen Tage.
Der junge Mann ging auf das Bündel zu, das am Fuß der Laterne lag. Eine Maske war's – einen Minnesänger schien sie vorstellen zu sollen, sie schlief noch.
Der Priester faßte den Burschen am Arm: »Du – tu' mal die Augen auf – der Aschermittwoch ist da!« Er betrachtete ihn – ein hübscher Junge. Die schlanken Beine. Er zog sie ihm aus der Gosse fort – das war auch der rechte Platz für die weiße Seidenhose. »So – nun laß mal die Laterne los, tu' die Arme auseinander!« Er betrachtete ihn weiter – die zarten Finger, auf den blonden Haaren lagen noch die Papierschnitzel wie Schnee – was denn? die blonden Haare waren ja echt? Wie weich sie sich durch die Finger zogen –
Der Priester faßte den Schläfer um die Brust, um ihn aufzurichten, und war plötzlich erschrocken – das war ein Mädchen, der da.
Ach was! so durfte er sie doppelt nicht liegen lassen. »Liebes Kind, Sie müssen aufstehen – es ist Tag, es ist Aschermittwoch.« Er sagte es mit freundlicher, gutherziger Stimme.
Sie tat die Augen auf und griff gleich nach dem Gesicht, das sich über sie beugte. »Küss' mich,« drängte sie mit Lippen und Hüften.
Als er den Kopf schnell zurückzog, wurde sie ganz wach und war verwundert: »Wer es denn dat dao?« fragte sie.
Er sah ihr ein wenig lachend in ihre verschlafenen, erstaunten Augen.
»Wo es denn minge Kleene? Jang du doch, dich mag ich net.«
»Gleich kommt er, mein Kind,« beruhigte er sie, »aber stehen Sie auf, Sie werden krank.«
Sie sah ihm ins Gesicht. »Dich kennen ich net. Riev mir ens den Schlaof us ming Auge.«
Er tat es, wie man einem Kind den Willen tut, und dachte, wie schöne, braune Augen sie hatte. Er hatte noch nie so nah' in zwei Mädchenaugen gesehen.
»Jesses, ich han op mingem Ärm jeläje, föhl' ens, wie steif der es. Du, fass' mich och ens unger ming Naos', do sticht et mich.«
Er kratzte sie und lachte.
»Du – es denn minge Schnurrbart weg?« fragte sie.
»Links,« sagte er, »ist er weg, rechts klebt er noch.« Er zog ihr das Stück langsam und vorsichtig ab.
»Ach du, du – et waor schön,« träumte sie, »der Kleene hät famos jetanzt. Wo es er nur hinjekomme? Du, sag', wat mähs denn du en dingem lange Rock do?«
»Ich? Ich predige Buße,« sagte er mit verstellter Ernsthaftigkeit.
Sie sah ihn von der Seite an, dann fielen ihr die Augen, die vom Wein klein waren, wieder im Schlafe zu.
Er hob sie, ohne ein Wort zu sagen, mit seinen Armen auf. Ihre nasse Hose löste sich klatschend von den Steinen.
Sie hielt sich mit ihren kleinen Händen, deren Finger vom Nähen zerstochen waren, an seinen Armen fest. »Wat du decke Ärme häs,« sagte sie und stellte sich auf die Füße – aber da schrie sie auf. »Au – minge Foß – du – wat es dat nur?« Sie fiel ganz in seinen Arm zurück.
Er war erschrocken über den Schmerzensausdruck in ihrem Gesicht, das schmal und in seiner Verschlafenheit niedlich war. Er drehte flüchtig den Kopf nach den einzelnen Fußgängern, die in einiger Entfernung über die Straße weg der Kirche zu schritten. Dann ließ er sie langsam zurückgleiten und auf seinem Arm liegen, damit sie nicht den kalten, nassen Boden berühren mußte.
»Du – du – wat han ich nur do?« wimmerte sie und zog den linken Fuß etwas an.
»Ruhig,« sagte er, »es ist ja nur der Schuh.« Er kniete nieder und befühlte den Fuß – ein leiser Krampf ging da durch, als er an ihn kam. Er strich ganz sacht mit den Fingerspitzen darüber – der Fuß war geschwollen, er war umgetreten, man hatte das arme Ding hier liegen lassen, als man sich genug mit ihr unterhalten hatte und sie nicht mehr mitnehmen konnte.
»Sie sind auf irgend einen Stein getreten,« sagte er, »still – ich werde Ihnen den Schuh ausziehen.«
Sie wimmerte und wehrte ihm. Aber er machte es ganz langsam und leise, wie einer, der es gelernt hat.
»Du bes ene joode Käel,« sagte sie und drückte ihren Arm an sich, während ihr Wimmern leiser wurde.
Er sah sie an dabei und sah zu, wie ihr die Tränen über die Backen liefen. Er hatte ihren warmen, feuchten, seidenen Strumpf in der Hand und in der andern ihren lächerlich kleinen Schuh, der innen warm von ihr war. »Irgend ein Ladenmädchen,« dachte er, »eine Näherin, die die drei Tage mit den Studenten verbracht hat. Ein Kind noch.«
Sie versuchte den Fuß zu wenden und aufzutreten. »Et jeht net,« sagte sie und sah zu ihm auf.
Er gab auf einen Mann acht, der auf der anderen Seite vorbeieilte und hustete und spuckte: das war ja wohl der Meßner, der ihn, den Pfarrer, vom Hause holen wollte. »He! He!« Der hörte nicht – ach, was auch! Er wird schon zur Zeit da sein.
Sie hatte unterdessen ihr Schühchen neben seinen breiten, langen Fuß gestellt und lachte laut.
Auch er mußte lachen, als er es sah.
»Kommen Sie mit mir, Maria,« sagte er dann, »ich bringe Sie fort.«
»Woher weißt du, wie ich heiße?«
»Von Ihrer Nadel da, an Ihrem Hals,« sagte er.
»Wie schlau ihr Männer sed – wie heesch du ävver?«
Er antwortete nicht und hob sie von der Erde auf, während sie mit beiden Händen um sein Bein faßte und sich so an seinem Arm in die Höhe zog, lachend vor Lust: »Jao – jetz bin ich widder fruh – ich han üverhaupt net jeweint, moß du wesse.«
Seine Priestermütze fiel ihm. Sie fing sie in der Luft und wollte sie ihm wieder aufsetzen, reichte aber nicht an seinen Scheitel.
Er wurde ungeduldig und horchte nach der Kirche hin. Von dem kleinen Schieferturm läutete eifrig eine helle Glocke. Mit einem Schwung nahm er sie hoch auf seinen Arm. Sie war leicht und warm, ein dunkler Duft kam aus ihrer offenen Jacke. Sie sagte nichts vor Jubel, erst nach einer Weile, leise: »Du – ich machen dich schmutzig mit minger Hos.«
»Nein, dafür habe ich gesorgt,« sagte er, denn er hatte die Ärmel seines Rockes und seines Hemdes zurückgeschoben, so daß sie mit ihrer anhaftenden, nassen Hose auf dem nackten Fleisch seines Armes saß.
Nun machte sie sich's breit und zurecht auf ihrem Thron, befühlte mit den Fingerspitzen seine kurzen, schwarzen Locken und setzte ihm seine Mütze auf – erst so, dann so, bis sie gefunden hatte, wie es am besten zu seiner breiten, weißen Stirn stand.
Er bückte sich mit seiner Last und hob ihre Laute auf, die im Wasser der Gosse lag, und streifte ihr das blaue Band, an dem das Instrument hing, über den Kopf. Dann trug er sie mit großen Schritten, die weithin hallten, über die stille Straße.
Sie barg den Kopf an seiner Schulter, ihr Herz klopfte, und mit einem Male jubelte sie auf, schlang sie die Arme um seinen starken Hals und küßte ihn mitten auf den Mund.
Er war ganz starr vor Schrecken, sein Herz stand still – aber sie war schon wieder artig, sie löste die Arme von seinem Hals und kroch ganz in die warme Höhle seines Armes hinein.
Mit gerunzelter Stirne trug er sie weiter, immer bereit, einem zweiten Überfall zu wehren.
Sie hatte die Augen geschlossen und, ohne daß er es merkte, legte sie das Ohr auf den Schlag seines Herzens. Ihr Körper wurde wärmer, ihre Schenkel und Hüften wurden unruhig.
Aber er fühlte es wohl nicht. Seine Füße schritten schneller aus und nahmen mehr Raum zwischen sich. Er trug seine Last durch das Gittertor und die wenigen Steinstufen hinab. Dann stieß er die kleine, ledergepolsterte Tür zurück und trat in den schmalen Gang – plötzliche Wärme und Stille schlugen ihnen entgegen, nur ein trübes Licht brannte hinter staubigem Glas. Jetzt schallte eine eintönige, singende Stimme.
Sie hob den Kopf. »Wo brengs du mich hin?« fragte sie mit einer Stimme, die nicht laut zu sein wagte.
Er öffnete mit dem Knie und dem Ellenbogen eine zweite Tür – sie waren in der Kirche.
Sie sah erstaunt um sich, sie wollte lachen und sah ihn wieder an, und für einen Augenblick schien ihr die Erkenntnis ihrer Lage aufzudämmern. Er trug sie, indem er auf den Zehen ging, an der Wand und den leeren Bänken vorbei. Ganz in einem Winkel, im Dunkel eines mächtigen Pfeilers ließ er sie nieder. »Nun leben Sie wohl,« flüsterte er.
»Wo wells du hin?« sagte sie erschrocken.
»Still. Ich komme zurück.«
»Nä. Du moß bei mir blieve.«
»Still doch, bitte, – ich habe ja keine Zeit.«
»Ich well net allein sen. Ich well dich bei mir han, du langen Käel du.« Ihre Augen, die noch immer vom Wein starr waren, glänzten ihm in die seinen. Sie wühlte ihre Finger in seine Hand. »Du – nur einmaol es Fastnacht, mir wollen ens su rääch wild on löstig sen.«
»Nein, Aschermittwoch ist, mein Kind.«
Sie sah ihn an. »Aschermettwoch?« Sie sagte es lang gedehnt und fast bang. »Ich jläuven et net. Ach du – et es su schön, et es noch net zo End, ich mag noch net traurig sen. Ach du, wat häs du wieße Zäng!«
Er zog seine Hand aus der ihren, immer ruhig, zugebend, immer wie zu einem Kind. Er nickte ihr mit dem Kopf zu und wendete sich zum Gehen.
Da begann sie mit einem Male wieder über ihren Fuß zu jammern, mit einem Male schmerzte er sie wieder, so daß er stehen bleiben und sich wieder zu ihr hin drehen mußte. Er hielt ihr die Hand auf den Mund und nahm mit der andern besorgt ihren Fuß. »Brennt er?« fragte er.
Sie wimmerte stärker und wollte seine Hand von ihrem Mund tun.
»Gib mir dein Taschentuch, wir müssen es naß machen. Ich weiß, wo Wasser steht.«
Sie wollte ihm ihr Tuch geben, aber sie wußte noch nicht recht Bescheid mit den Männerkleidern und konnte es in ihrer Lage nicht erreichen. Er zögerte, aber dann griff er schnell in ihre Tasche, tief, noch tiefer, ganz bis in die Wärme ihres Leibes – bis er es faßte und hervorbrachte.
Sie hielt den Atem an und sah nach seiner Hand, als sie herauskam – ja, die zitterte, ein wenig. Aber an seinem Gesicht ließ sich nichts merken.
»Jevv hä,« sagte sie und tauchte das Tuch in das Weihwasserbecken über ihr.
Nun wurde es aber doch ernst. »Das dürfen Sie nicht,« sagte er, »Sie sind wohl ein Weltkind, aber in diesem Raum und vor mir muß Ihnen das heilig sein.«
Sie sah ihn einen Augenblick an und ließ sich dann mit leisem Jubel lang auf die Bank fallen. Sie legte ihm den Fuß auf den Schoß. Er breitete das nasse Tuch darüber, ihre Zehen zuckten unter der Berührung der Kälte. Sie schlug die Arme unter dem Kopf zusammen, und ihr schönes, blondes Haar fiel ihr über Hals und Jacke. Ihre Hüften und Schenkel lagen ganz und rund und weich in der Seidenhose da.
»So,« sagte er, »jetzt ist es aber zu Ende.« Sie hielt ihn mit den Füßen fest.
Er lachte. Es kam über ihn, den Jüngling, daß er mit ihr wie ein Kind sein möchte – aber dann wurde er gleich wieder ernst. Er ging schnell – aber noch schneller packte sie ihn hinten an seinem Rock. »Ich schreien!« flüsterte sie. Er schüttelte verzweifelnd den Kopf und setzte sich neben sie, nur für einen Augenblick, nur auf die Kante, um sie zu beruhigen. Er zog eine ihrer langen Locken langsam durch seine Hand. Sie legte ihm ihre beiden Beine ganz auf den Schoß und saß und war mit ihrem Atem ganz nahe bei ihm. »Bes du net gäen bei mir?« fragte sie. Die Trunkenheit und der Schlaf, die auf ihrem Gesicht lagen, gaben diesem einen sonderbaren Reiz, so daß er nicht wegsehen konnte.
Sein Gesicht bedeckte sich mit einem zarten Rot, und als er es merkte, wurde er verwirrt, und in seiner Verwirrung war er noch schöner, rein, gesund, unverbraucht. Er wollte ihre Beine mit den Händen wegschieben. »Au –« hauchte sie und faltete die Stirn, und er zog ihre Beine langsam wieder zurück, wo sie gelegen hatten.
Nun schwiegen sie.
Vorne immer die eintönige Stimme, und um sie her alles so hoch und weit und leer, ein Geruch von Weihrauch in der Luft, und sie beide so eng aneinander.
Sie erzählte ihm von allen Freuden, die sie gehabt, gestern, vorgestern, oder vor drei Tagen – was wußte sie? Und er ging unwillkürlich aus ihren zutraulichen Ton ein und fragte sie. In wenigen Minuten waren sie gute Freunde und saßen ganz nahe beisammen.
Dann nahm sie ihre Laute und begann zu spielen, kaum hörbar, nicht geschickt, aber es klang doch wunderlich und zauberhaft in dem weiten Raum. Sie sah ihn an: er saß ganz still da, die Hände auf ihre Füße gelegt. Er kam ihr traurig vor – das rührte sie, und sie setzte sich ihm fast auf den Schoß. Aber er zog sich langsam, unmerklich, nach der Kante, und plötzlich legte er ihre Füße beiseite und ging auf und davon, um den dicken Pfeiler herum. Die Laute fiel zu Boden, daß alle Saiten aneinander klirrten.
Das Mädchen war ganz still, wie eine Katze. Dann, wie der Blitz, stieß sie sich mit den Händen ab und schoß auf der glatten Bank hin, wie auf einer Eisbahn. Ein Griff, und sie hatte ihn, sie faßte mit ihren zwei Armen fest um seine Beine, die sich nicht halten lassen wollten und weiter ausschritten. Sie rutschte an ihm hinunter, zur Erde, indem sie den kranken Fuß hochhielt. Sie jauchzte mit sonderbaren, leisen, wollüstigen Tönen, wie eine Bacchantin.
Er bückte sich und hielt ihr beide Hände auf Mund und Gesicht, sie biß hinein mit ihren festen, kleinen Zähnen und schüttelte daran. »Lass mich,« sagte er, »oder ich stoße dich weg, mit den Schuhen.«
»Köss' mich,« sagte sie, »einmaol köss' mich, einmaol nur!«
Es gelang ihm, ein Bein frei zu machen, und rücksichtslos schritt er vorwärts. Sie hing fest an seinem anderen Bein, und er zog das andere Bein nach und schleifte sie so über die Erde. Sie war toll und lachte und jauchzte, mit heller, perlender Stimme – sie war betrunken, sie war sinnlos.
Dann kam er nahe an Leute. Er keuchte. Vorne schien Unruhe zu entstehen.
»Köss' mich – du solls mich kösse! –« Und mit einem Male hing sie an seinem Halse und küßte ihm mit leisen, schnellen Küssen Mund und Augen und Stirn.
Leute liefen herbei, Männer in Arbeitskleidern und schweren Schuhen. »Stell, stell!« riefen sie. Aber das Mädchen hatte den Priester schon losgelassen. Sie sank auf die Erde hin, saß einen Augenblick und sah die Männer an. Dann legte sie den Kopf auf die Erde, drehte sich auf die Seite, legte einen Arm unter den Kopf und schlief mit einem glücklichen Kinderlachen ein.
So! Jetzt war der Aschermittwoch da!