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Nur noch drei.


Der Bremser auf dem ersten Wagen hielt die trillernde Pfeife im Mund, die einen langen Ton von sich gab, so lang als sein Atem reichte, und stieß mit der ganzen Kraft seiner großen, schweren Hände den eisernen Griff der Bremse langsam herum. Dadurch, daß er seine mächtige Brust, die in dem enganliegenden Uniformmantel viereckig aussah, dagegen legte, hinderte er die Bremse, zurückzugehen.

Der Zug hielt. Der erste Wagen stand unerschütterlich fest, und die andern schoben sich mit einem kurzen Poltern und Schleifen gegen ihn, prallten ein Stück zurück und standen dann gleichfalls fest da.

Ein langer, klagender Ton kam dabei aus den Rädern, als ob die Wagen traurig wären, nach der lustigen Fahrt durch die Weinhänge und die unübersehbaren Obstfluren nun hier in dem traurigen schwarzen Schuppen halten zu müssen. Man hatte die schnelle, starke Lokomotive schon vorher von ihnen losgekoppelt, die ihren Rädern Leben gegeben hatte und der sie auf der tollen, knatternden Fahrt in frohem Übermut gefolgt waren – verlassen und tot standen sie nun da.

Um so fröhlicher sprangen, wie jeden Abend um dieselbe Zeit, die vier Männer von ihren Trittbrettern auf die Erde herunter, die auch die Fahrt mitgemacht hatten und nun, mit dem Staub und dem Ruß fremder Lust auf den Mänteln, wie die Seefahrer das Land, den festen, asphaltierten Boden des Schuppens begrüßten. Sie spürten plötzlich nicht mehr die schmerzhafte Müdigkeit in den Schenkeln, den Oberarmen und dem Rücken.

Doch es waren heute nur drei Männer.

Einer von den dreien stand da und hörte noch nach dem klagenden Ton hin, als er schon erstorben war. Das war doch heute ein anderer Ton als sonst an den Abenden?

Die andern zwei hatten nicht darauf geachtet, standen da, knöpften die Mäntel auf, wischten sich mit den bunten Taschentüchern den Schweiß von der Stirn und sahen nach dem Himmel hinauf, dessen schwere Regenwolken mit der anbrechenden Nacht ein unheimlich schwarzes Aussehen annahmen.

Der Dritte, kleine, kam zu den beiden Großen heran. Alle drei lachten und zeigten die Zähne, froh wie die Kinder, daß das Tagewerk vorbei, und daß sie nun zu den Frauen und dem kleinen, ungeduldig wartenden Volk daheim gehen konnten. Sie kehrten sich auch gleich um, dem Ausgang zu, um keine Zeit zu verlieren.

Da, auf einmal, empfanden sie alle drei zur selben Zeit, daß der vierte von ihnen fehlte.

Der Kleine, der eingefallene Backen hatte, obwohl er nicht viel älter als dreißigjährig schien, setzte mit einer Schnelligkeit, die die andern überraschte, seine flache Kappe wieder auf und steckte sein Tuch in die Manteltasche. Er sah nach den Wagen zurück.

Auch die übrigen blieben stehen und wandten sich mit ihren schwerfälligen, breiten Schultern.

»He – Andrees!« rief der Größte, der einen buschigen, blonden Schnurrbart unter roten Backen trug.

Und da antwortete wieder derselbe klagende Ton, von dem aber nun sicher war, daß er nicht aus den Rädern kam.

Der Kleine lief mit kurzen Schritten nach dem Wagen hin, öffnete die Türen und horchte.

Der Große stand und lachte, indem er, da der Dienst nun aus war, seine Pfeife stopfte und ein Zündholz an der Rückseite seiner Hose anrieb.

Der zweite aber, ein ungeheuer breiter, dickköpfiger und schweigsamer Mann mit kurzem, grauem Bart und gutmütigen Augen, die sogar in dem Dunkel ihre himmelblaue Farbe zeigten, ging ohne weiteres auf etwas Schwarzes zu, das wie ein Bündel zwischen den Rädern des dritten und vierten Wagens lag.

Die andern sahen ihn eine sonderbare, halb gebückte Stellung annehmen und so stehen bleiben, starr, beide Arme gebogen und vor sich hingehalten. Es war merkwürdig, daß er nicht nach vorne überfiel.

Der Große lachte darüber, brach aber dann sein Lachen plötzlich ab, der Kleine hielt die Füße zum Gehen voreinandergesetzt, traute sich aber nicht, sie zu bewegen. Mehr als irgend ein Schreien, rief das unheimliche, wortlose und regungslose Gebücktstehen des Mannes hinten einen Schrecken hervor.

Jetzt richtete er sich auf, drehte sich nach den andern um, machte zwei breite, täppische Schritte, die laut durch den Schuppen klangen, und stand dann wieder still, indem er wortlos nach ihnen hinsah. Die beiden bemerkten, daß er seinen Mund weit offen stehen hatte, und daß sich seine breite Brust, die sich wie ein schwarzes Viereck gegen den grauen Himmel am Ausgang des Schuppens abhob, erweiterte und verengerte, schnell und ruckweise, wie bei einem, der schnell und aufgeregt atmet. Sie sahen einer dem andern ungewiß und fragend ins Gesicht, gingen dann zu dem dritten hin, langsam, zögernd, widerwillig, hielten auch ihre Augen nicht auf das Bündel, sondern auf das Gesicht des Kameraden gerichtet. Sie schlenkerten nicht, wie sonst beim Gehen, die Arme neben dem Körper her, sondern ließen sie komisch steif zu beiden Seiten herunterhängen. Dabei hielten sie die Köpfe schief nach den Schultern hin gelegt, wie bei einem Verhängnis, dem sie entgegen mußten und das sie nicht abwehren konnten.

Dann standen sie alle drei und sahen nach dem schwarzen Bündel hin. Sie atmeten nicht, bewegten sich nicht. An dem Bündel schimmerten goldene Punkte. Es war deutlich zu sehen, daß es Knöpfe an einem Mantel waren, gerade, wie sie sie selber an ihren Mänteln trugen.

Der Breite stieß einen kurzen, stöhnenden Laut aus, der über den hohen Kragen der Uniform nicht hinauskommen konnte und deshalb tonlos und abgebrochen klang, bückte sich dann schnell und entschlossen zu den Rädern hinunter und streckte die Arme aus.

Auch die zwei andern bückten sich und stierten in den dunklen Raum da unten hinein, indem sie beide Hände auf die Erde aufstützten.

Jener zog, erst leise und vorsichtig, dann fester und schließlich mit ganzer Kraft. Er gurgelte etwas, was nicht zu verstehen war.

Aber der Kleine hatte es doch verstanden, bückte den Kopf noch tiefer, schob die Hände vor, die Füße vor und kroch unter den Wagen hin. Mit schnellen, sicheren Bewegungen löste er die schweren Eisen, die die zwei Wagen aneinander kuppelten.

Andere Beamte, in blauen Leinenkitteln, mit Schmierkannen und Zangen, gingen vorüber, lachten und riefen, blieben plötzlich stehen, in komischen, verdrehten und erstarrten Stellungen und legten dann bestürzt und mit irren Augen, aber mit der Sicherheit von Leuten, die ihre täglichen Griffe in den Händen haben, Hand an. Sie schoben die zwei Teile des Zuges auseinander.

Endlich war der Verunglückte freigemacht. Die Stirn und die Spitzen seiner Schuhe berührten sich an der Erde, wie bei einer tiefen Verbeugung, der Rücken und die Schenkel bildeten in der Luft darüber einen spitzen Winkel. Es war, als ob eine riesige Faust den Körper bei der hintern Schnalle des Mantels gepackt und hochgehoben hätte, so daß die beiden Hälften nach den Seiten herabhingen. Einen Augenblick stand diese sonderbare, unheimliche Pyramide da, dann fiel sie mit einem dumpfen Hall auf den Boden zwischen den Schienen, ohne daß der Körper sich streckte. Augen und Mund waren weit aufgerissen, wie bei einem, der verdurstet ist.

Alle standen in einem Kreis darum her.

Der Große weinte laut, mit meckernden Tönen, die sich fast wie sein Lachen anhörten, während er mit den Händen nach den Gefährten griff, als ob er sie auf den, der da lag, und die Entsetzlichkeit dieses Unglücks aufmerksam machen wollte. Andere standen etwas zurück, in einem unerklärlichen Grauen, das ihnen die Brust zusammenpreßte, und nahmen die flachen Mützen, wie zum Gebet, vom Kopf.

Nur der Breite zögerte keine Sekunde, legte den Mann auf den Rücken, sah ihm ins Gesicht, das weiß wie ein Leintuch war, und riß den an den Hüften zerfetzten und in Lappen hängenden Mantel auseinander.

Aber das eine nutzte so wenig wie das andere. Der Mann mit seinem schönen, schwarzen Schnurrbart, seinen festen, weißen Zähnen, war tot Die runden, eisernen Scheiben, die Puffer, hatten gute Arbeit getan.

Es blieb nichts mehr zu tun, als die Sache dem Vorstand zu melden. –

Eine Stunde später gingen die drei nebeneinander her über die Landstraße, den Lichtern der Stadt zu. Es regnete und es war so dunkel wie Pech um sie her. Sie hatten die Kragen hochgeschlagen, die Hände tief in die Taschen gesteckt, hielten die Köpfe gesenkt, wie müde Pferde, gingen so nebeneinander her, mit denselben langsamen, schweren Schritten, und sprachen kein Wort. Hin und wieder tat einer den Mund auf, um etwas zu sagen, aber er spürte etwas in seiner Kehle, das vor dem ersten Wort heraus mußte, und fühlte an den heißen, trockenen Augen, daß beim ersten Wort die Tränen darausschießen würden, und so schwieg er.

Ein Bauer ging vorbei, mit einem Korb am Arm und einem Stock, mit dem er laut und regelmäßig in das Regenwasser des Bodens stieß. Er grüßte und bekam keine Antwort als das Nicken der drei Köpfe, die sich nicht einmal nach ihm hindrehten.

Sie gingen an der ersten Laterne vorüber, die einen langen, gelben Streifen über die Straße zog. Da machte der Große zum erstenmal eine andere Bewegung außer dem ewigen, immer gleichen Vorsetzen der Schuhe. Er zog sein Taschentuch, schneuzte sich und benutzte das Geräusch, um heimlich, mit einem stoßenden Räuspern, das, was in seiner Kehle steckte, hinauszuhusten. »Er hät zo vil jedrunke,« sagte er dann mit einer Stimme, die in der stillen, durch keinen Ton als durch das Fallen der Regentropfen gestörten Nacht hier draußen lauter herauskam, als er beabsichtigt hatte.

Die beiden antworteten nicht. Erst nach einer Weile sagte der Kleine mit seiner magern, tonlosen Stimme: »Er es zo fröh eravjeklettert us singem Hüüsche. Er konnt et nie erwaede, bes er naoh Huus kaom. Ich han et im off jesaaht.«

Der dritte, der Breite, schwieg immer noch. Aber er schlug unwillkürlich ein anderes Schrittmaß ein, langsamer und schwerer, so daß auch die beiden andern ihre Schrittart darnach einrichten mußten. Endlich aber sagte er mit einer Stimme, die ganz anders klang als sonst, sonderbar tief und locker, so daß sie sich alle drei darüber verwunderten: »Wat im passiert es, kann ons jeden Dag passieren. Wer weeß, wer morje von ons do lihdd on sich net mieh wääg.«

Der Große machte einige zögernde Schritte und blieb dann stehen. Seine Straße bog links ab – zwei Reihen trüber Laternen, hier und da ein neugebautes, noch nicht verputztes Haus, mehrstöckig, mit wenigen erleuchteten Fenstern, kein klappernder oder schleifender Schritt irgendwo, in der Ferne nur Nacht und Regen.

Alle drei standen da. Mit den Schuhen mitten in einem Tümpel, ohne darauf zu achten. Alle drei hielten die Köpfe noch tiefer an die Mäntel gelegt, jeder sah an der schwarzen Gestalt des andern vorbei.

Keiner sprach.

»Ming Frau steht am Finster,« fing der Große, ohne den Kopf zu heben, zuerst an. »Ich moß jonn.«

Kein Atemzug kam von den drei Männern. Das Wasser, das ihnen von den Ärmeln lief, fiel hörbar in den Tümpel unten.

Wieder lange kein Wort.

»Wer soll er denn sage?« Der Kleine rührte sich nicht, trotzdem ihn in den nassen Schuhen fror. Er hatte die schmächtigen Schultern nach vorne zusammengedrückt, um sich wärmer zu halten.

Das war die Frage, die die ganze Straße her, zwischen den Bäumen und Laternen, in das Finstere hinein, wie ein riesenhaftes, den Atem nehmendes Gespenst vor den Männern hergegangen war. Wer von ihnen sollte dastehen vor der jungen Frau, die ein halbes Jahr erst ihren Mann hatte, der Frau mit den schmalen Schultern und den schief geschlitzten, schwarzen Augen, der Frau, in die sie alle ein wenig verliebt waren und um die sie alle den Kameraden ein wenig beneidet hatten? Wer von ihnen sollte den Mund auftun und die wenigen Worte sagen, die ein Glück, das noch so wenig alt und noch so wenig ausgeschöpft war, in ein paar Stücke brachen? Sie, die älteren, die zehn und zwanzig Jahre mit ihren Frauen lebten, hatten es ja noch in Erinnerung, dieses Heimlichtun, dieses Sich-Verstecken und durch das Zimmer Laufen, dieses Lachen und Singen schon in aller Frühe.

»Es ist das beste, wenn einer von euch das der Frau sagt,« hatte der Vorsteher gemeint, der, sonst ein strenger, jähzorniger Mann, heute weich wie ein Mädchen gewesen war. »Ihr kennt sie, habt Bier mit ihr zusammen getrunken. Ihr könnt ganz anders mit ihr sprechen. Nur nicht zu schnell. Wer es sagt, muß es allmählich machen. Na, das wißt ihr alles so gut wie ich. Ihr habt ja den armen Kerl gern gehabt. Aber geht nicht zu zweien oder dreien hin. Nur einer. Sie erschrickt sonst gleich im Anfang. Macht unter euch aus, wer das sein soll. Gute Nacht.« Er hatte ihnen die kleine, verschlissene Geldtasche des Toten gegeben, sein Notizbuch, in dem eine Photographie seiner Frau lag, seine Uhr, sein rotes Taschentuch, den Taschenspiegel, die Bartbürste und die Pomadebüchse – denn der Tote war ein wenig eitel gewesen. »So. Nehmt das. Sagt ihr, daß wir ihn hier ins Zimmer neben dem meinen gelegt haben, auf eine Bahre, nicht offen, zugedeckt. Sagt ihr nichts davon, wie er aussieht. Warum braucht sie das zu wissen? Also geht. Gute Nacht.« Da niemand der andern die Hand hingehalten hatte, hatte der Breite die Sachen genommen und in seine Manteltasche gesteckt.

Jetzt standen sie auf der Straße. Vor ihnen schimmerten schon die in einem großen Kreis stehenden Laternen des runden Platzes, von dem die Straße der Frau ausging. Wer von ihnen sollte nun der eine sein?

»Jang nur zo,« sagte der Breite, indem er den Kopf ein wenig vom Kragen hob, um Luft zum Sprechen zu haben. »Mir zwei wäeden et schon unger ons usmaache.«

Der Große stand noch eine Weile, ohne zu sprechen. Dann:

»Joode Naach.« Und er ging, nahm nicht die Hände aus den Taschen, sah nicht nach den andern hin.

»Joode Naach.«

Die zwei gingen weiter. Noch langsamer, noch schwerer. Ihre breiten Schuhe drückten den Schmutz der Straße zu beiden Seiten geräuschvoll auseinander.

»Wat die Schoh su schwer sen vom Dreck.«

»Jao.«

Trotzdem der Breite zur Erde sah, stieß er doch an jeden Stein. Einmal zog er sein Tuch aus der Tasche und wischte sich das Gesicht ab, das naß vom Regen war.

Rechts kam die Straße, in die der Kleine einbiegen mußte. Wieder zwei Laternenreihen, aber die Häuser dahinter standen dichter eins am andern – die Stadt war näher.

»Jang,« sagte der Breite, ohne daß der andere zu sprechen angefangen hatte.

Der Kleine sah zu einem hellen Fenster auf, das allein in der Luft hing. Das ganze übrige Haus war von der Nacht verschluckt. »Ming Frau on ming Kinder han et Finster op. Sie sen bang hück, weil ich su spät komme.«

»Adschüß.« Der Breite ging ohne ein Wort mehr weiter.

»Adschüß, Christian!« Der Kleine setzte in einer warmen Regung den Namen hinzu, sprach aber nicht so laut, daß es der Davongegangene noch hören konnte. Er stand noch und zögerte, dann sah er zu dem Fenster auf und ging langsam, nach einem schweren Atemzug, zu seiner Frau und seinen Kindern.

Der andere ging allein weiter, immer die Hände in den Taschen, den Kragen hoch und das Kinn tief auf den Mantel herunter gelegt. Er setzte die Beine so schwer und langsam, als ob er hinter einem Sarg herging.

Er kam an den runden Platz, kam an die Straße, wo der Tote in einem dritten Stock seine zwei Zimmer hatte. Er kannte die Straße genau, aber er sah nicht einmal hinunter, blieb auch nicht stehen – und ging vorbei. Er hatte ja noch nicht einmal darüber nachgedacht, was er denn eigentlich zu sagen hatte. Er ging um den Platz herum, dicht an den Häusern entlang, damit ihm keiner aus den Fenstern zusehen konnte. Herrgott, hatte er da nicht zu viel auf sich genommen? Wäre doch nicht einer der andern geeigneter dazu gewesen?

Er war ein einfacher Mann von fünfzig Jahren, fast immer ernst, früh grau geworden durch allerlei Unglück mit den Kindern, las alle Jahre einmal in einem Buch, das eins der Kinder mitbrachte, und war das Denken nicht gewohnt. Deshalb fiel es ihm jetzt schwer, sein Gehirn, dem das Unglück einen wuchtigen Schlag gegeben und das dadurch in ein dumpfes Brüten versetzt war, zu den Gedanken anzuregen, die er jetzt nötig hatte. Was war zu sagen? Wie sollte er anfangen? Denn das fühlte er wohl, daß alles auf den Anfang ankam. Auf das erste Wort, das aus seinem Mund kam, auf das Gesicht, das er dazu machte, auf den Ausdruck seiner Augen, auf die Bewegungen seiner Hände.

Sein Mund und seine Augenlider hingen herab, als ob sie von Blei wären. Er versuchte, sie zu heben, den schweren und traurigen Ausdruck von seinem Gesicht zu nehmen. Er versuchte es wieder und wieder. Schließlich glaubte er, daß es ihm gelungen sei. Nur die Augen selber fürchtete er. Er fühlte, daß da ein sonderbares Glühen brannte. Er durfte die Frau nicht zu viel ansehen damit.

Die Hände mußte er wohl aus den Taschen nehmen. Er mußte ihr ja überhaupt die Hand geben, zur Begrüßung, aber keine schwere Hand, sondern eine leichte, erfreute. Sonst war ja gleich alles verraten. Er zog die rechte Hand heraus und versuchte, sie leicht und schnell hinzuhalten. Das ging ganz gut, wenn er nur in dem Augenblick, wo es drauf ankam, darauf achtete und sich nicht von dem Brüten in seinem Kopf beherrschen ließ.

Aber das erste Wort? Das erste ›Guten Abend‹?

Er hustete und versuchte seine Stimme. Er hatte keinen rechten Atem, weil ihm das Herz bis in den Hals hinauf klopfte. Er löste die Haken an seinem Kragen. Jetzt hatte er mehr Platz. Er versuchte wieder die beiden Worte zu sprechen, und es gelang ihm schon besser.

Jetzt tat er alle drei Sachen zusammen, hob die Lippen und die Augenlider, gab die Hand und sagte: »Jooden Aovend.« Es gelang. Er war diese Art, sich eine Sache einzuüben, von der Eisenbahn her gewohnt, wo auch jeder Griff einzeln gelernt werden mußte, ehe sie sich vereinen ließen.

Er war rund um den Platz gegangen. Und als er wieder an die Straße kam, machte er wirklich eine Drehung und ging hinein. Es war etwas in ihm, das ihn verleiten wollte, nochmals um den Platz zu gehen. Aber er hörte nicht darauf, drückte es nieder und ging weiter in die Straße hinein.

Zum ersten Male hob er den Kopf und sah nach dem Haus hin, in das er hinein mußte. Und da entsetzte er sich. Er zog die Hände aus den Taschen, stand da mit vorgestrecktem Kopf und starrte hin: an der Tür da, im gelben Licht der Laterne, stand die Frau, ein Tuch um den Kopf, die Hände unter der Schürze, und den Oberkörper weit vorgebeugt, um die Straße hinaufsehen zu können, ohne in den Regen hinaus zu müssen.

Er machte sich ganz klein, wie durch einen plötzlichen Schlag zusammengedrückt, und mit einem Mal drehte er sich um, schnell, vorsichtig, und ging mit kurzen Schritten, nur mit den Zehen auftretend, die Straße wieder zurück, so nahe an den Häusern, daß er mit den Schultern die Wände berührte.

Jetzt war ein Fieber in ihn gekommen, eine Hast und eine Aufregung, Seine Schläfen klopften, und das Dunkel vor seinen Augen nahm eine rote Farbe an und fing an, sich zu bewegen und im Kreis zu drehen.

Er öffnete den Mund, wider seinen Willen, und ein stöhnender Laut kam heraus, mißtönend, dem Blöken eines Schafes, das Salz will, ähnlich.

Wieder ging er um den Platz herum, mit hastigen Schritten. Die Hände waren draußen, waren zu Fäusten zusammengedrückt und gingen neben seinem Mantel schnell hin und her.

Auf der Stirn und der Kopfhaut prickelte und stach es ihn. Der Regen, der über sein Gesicht herablief, war mit Schweiß gemischt.

Es war ihm so heiß, daß er den Mantel öffnete und den Regen gegen den Rock und die Beine schlagen ließ.

Herrgott – was, wenn er guten Abend gesagt hatte? Daran hätte er bald nicht mehr gedacht gehabt, und alles wäre verloren gewesen.

Er zwang jetzt seine Gedanken, nur noch auf diesen einen Punkt hinzulaufen. Er fing sie ein, wie herumweidende Pferde, und peitschte sie nach diesem Punkt hin. Es war, als ob sein Gehirn sich bäumte und knirschte. Er faltete die Stirn, wie um diesem Gehirn zu drohen. Er zog die Haare seines Bartes mit den Lippen in den Mund und biß mit den Zähnen darauf.

Aber hundert Gedanken schossen vorbei, kamen zurück, kämpften miteinander. Er dachte an Dinge, an die er seit Jahren nicht mehr gedacht, sah alte Schulkameraden vor sich und hörte sie sprechen. Er hörte plötzlich ganz deutlich, wie seine Frau sagte: »Hück Aovend jitt et jebraodene Kartoffel.« Er keuchte unter dieser Qual, die, er wußte nicht woher, über ihn kam.

Ohne daß er darauf geachtet hatte, war er wieder an die Straße gekommen. Und da, ehe er sich klar machen konnte, was endlich zu tun war, streckten sich zwei Arme hinter der Ecke des ersten Hauses hervor nach ihm aus, sein Kopf wurde nach der Seite und nach unten gezogen, und über einen Teil seines Bartes und seiner Backe ging ein weicher, nasser Mund. »Du Räuver,« lachte eine helle, klare Frauenstimme, als ob über etwas Komisches zu lachen gewesen wäre, »bes du endlich do?«

So arbeitete ihm sein Schicksal in die Hand. Er hatte nicht mehr nötig, zu der Frau des Toten hinzugehen – die Frau kam zu ihm.

Und mit einem Male war die Qual und die Verwirrung von ihm genommen. Es war ganz sonderbar, es war wie ein Wunder. Das Dunkel der Nacht schien ihm mit einem Male klar und durchsichtig geworden zu sein. Die Falten waren von seiner Stirn weggestrichen. Er hatte das Gefühl, daß ein kalter Luftzug, innen in seiner Schädelhöhle, über sein Gehirn hinblies.

Das Ziel, auf das er hingehen mußte, stand nun ganz klar vor seinen Augen, und mit der Ruhe und sichern Kraft, die ihm sonst im Leben bei seinem Handeln eigen war, ging er daran, zu tun, was seine Pflicht erforderte.

Mit ganz leichten Armen entfernte er die fremde, junge Frau von seinen Schultern, um die sie ihre Arme gehängt hatte. Er fühlte, wie auch seine Lider leicht waren und wie selbst der Mund seine Schwere verloren hatte.

»Jooden Aovend,« sagte er, ernst und ruhig, mit der warmen Freundlichkeit, mit der er immer im Leben sprach, und ging neben ihr her die Straße hinunter, dem Haus wieder zu.

Und nachdem sie schon vorher einen Augenblick eine verwunderte Bewegung mit dem Kopf gemacht hatte, fuhr die Frau nun bei dem fremden Klang der Stimme flink wie eine Eidechse zurück. Sie wartete, bis der Schein einer Laterne auf sein bärtiges Gesicht fiel, dann lachte sie mit ihrer klaren Stimme, nahm die Zipfel ihres Tuches in die Hände und steckte die Hände wieder unter die Schürze. Sie wiegte ein wenig mit den Schultern hin und her und sah ihn an, aus ihren schiefgeschlitzten, schwarzen Augen, die in dem Laternenlicht wie Steine funkelten. Sie hatte halb ein Schämen, halb eine unschuldige Freude über den Vorfall auf ihrem Gesicht, das noch ganz das Gesicht eines jungen Mädchens war. »Ihr?« sagte sie. »Sed net bös! Jetzt sed Ihr doch noch ens su breed wie minge Mann, und ich han Üch doch für in jehaale!«

Er schüttelte mit dem Kopf, gutmütig wie er sonst war, um auszudrücken, daß er gewiß nicht beleidigt war.

Sie drehte sich um und sah nach dem Platze zurück. »Küt er noch net? Wo bliev er? Er es jeweß noch eene drinke jejange?« Sie sah ihn an, ängstlich, denn sie sorgte sich um ihren Mann, der vor der Hochzeit ein leichter Vogel gewesen war und die letzte Zeit sogar wieder angefangen hatte, hin und wieder noch um zehn Uhr des Nachts hinunter in die Wirtschaft zu gehen, die sich im selben Haus befand.

»Nä,« sagte er ganz ruhig, »er hät noch Deenst.«

»Wat?« sagte sie schnell und laut und faßte ihn am Ärmel an. »Küt er net? Wie lang hät er noch Deenst?«

»Zwei Stond vielleech. Er moß noch ene Zog de Rhing erav bejleede. Nur zwei oder drei Stationen.« Er zuckte nicht dabei, er log kalt und mit Überlegung und legte einen gleichgültigen Ton in seine Stimme. Das war doch keine Sache, die weiter der Rede wert war.

Er ging weiter.

Sie stand noch, zögerte, sah nach dem Platz hinunter und wollte es noch nicht glauben. Dann kam sie langsam und widerwillig hinter ihm her. »Dä Teufel soll üere Deenst holle. Jetzt hät er doch hück schon vierzehn Stond Deenst jedonn – es dat emmer noch net jenoog? Die Vürjesetzte, die huhe Hääre do, die blieve net su lang do druße, die setze längs bei ihrem Wing. Saaht, weshalv donn denn die keen vierzehn Stond Deenst on naohher noch ens zwei?« Sie sagte das alles mit leiser, unzufriedener Stimme, wie ein Kind, das zu weinen anfangen will.

Er sah nicht nach ihr hin, aber er sah doch ganz deutlich, wie ihr Gesicht traurig geworden war.

»Me hät su singe Mann nur e paar Stond, on jetz donn se do och noch e paar von weg.«

»Et es jo net su schlemm,« sagte er, indem er in seiner Tasche mit den Fingern die Gegenstände des Toten, die er in eine Zeitung gewickelt hatte, befühlte und zählte. »Ihr zwei hat jo noch naohher Zick jenoog, üch zo freue.« Sein Atem stockte nicht, sein Herz klopfte nicht schneller, als er das sagte. Er freute sich darüber und war zufrieden mit sich.

Sie ging nun neben ihm her. Sie war ruhiger und hielt den Kopf nach der Seite, damit er nicht sehen sollte, daß sie sich bei seinen letzten Worten schämte. »Nä, et es nur – ich han Riivkooche jemaahd hück Aovend, die hät er su jäen. Sie sen schon om Teller, jetz wäeden se kalt.«

»Weßt Ihr wat? Ich johnn met Üch on helfen Üch esse.«

»Jao, dood dat.« Sie machte schnellere Schritte in der Freude hierüber. »Blievt bei mir, bes er küt. Ich bin emmer su bang, wenn ich alleen em Zemmer bin.«

»Jao, jao.« Nur Zeit haben, um es ihr allmählich beizubringen – das war das, worauf jetzt alles ankam. Der Vorsteher hatte recht.

Sie gingen zusammen die Treppen herauf, weiße Holztreppen, ohne Teppich, an getünchten Wänden und einfach gestrichenen Türen vorbei. Im Wirtshaus unten war noch großer Lärm. Gläser wurden auf den Tisch geschlagen, bis endlich der, für den das eine Aufforderung war, mit einer trompetenähnlich schmetternden Stimme zu singen anfing.

Oben brannte die Lampe schon im kleinen Zimmer. Zwei Teller warteten auf dem Tisch. Auf dem Sessel lagen die Zeitung und die gestopfte Pfeife, unten an der Erde standen zwei Bierflaschen: das Zimmer war bereit, seinen Herrn zu empfangen, der nach der Arbeit des Tages in ihm die glückliche Behaglichkeit des Abends finden sollte.

Die junge Frau nahm ihr nasses Tuch vom Kopf. Sie hatte eine neue, rote Bluse darunter versteckt, die gut zu ihrem schwarzen Haar paßte und die von den schmalen Schultern eng über die volle Brust gezogen war. Sie stand einen Augenblick verlegen und lachend da und doch stolz, mit einem schnellen Blick, der das Lob des Beamten herausfordern wollte. Dann rückte sie den Tisch vom Sofa. »Setzt Üch doch!« Er strich mit der Hand über das neue, dunkelgrüne Tuch, das ihm kostbar vorkam gegen den alten Lederüberzug seines Sofas daheim, und setzte sich. Und während sie mit kurzen, klappernden Schritten in die Küche ging, sah er mit starren Augen in die Lampe und überlegte den nächsten Schritt, den er auf seinem Weg machen mußte.

Die Schüssel mit den platten, braunen, glänzenden Kuchen kam. Die Frau legte, dem Gast zu Ehren, Messer und Gabel neben die Teller. Sie machten beide eine Weile davon Gebrauch, dann legten sie sie wieder hin und nahmen, wie sie es von Kind auf gewohnt waren, die Kuchen mit der Hand.

Sie biß flink mit ihren winzigen, weißen Zähnen in die Kuchen, daß sie krachten. Sie aß viel schneller als er, der mit seinen braunen, abgebrochenen Zähnen nicht nachkam. Dann machte sie eine Pause und wartete auf ihn, um nicht unhöflich zu sein. Dabei stützte sie beide Arme auf den Tisch und sah ihm zu. Mit glücklichen Augen. »Schmeck et Üch? Sen sie jood?«

»Jao, jao.« Nur nicht zu viel sprechen! Von vornherein nicht zu große Fröhlichkeit aufkommen lassen! Allmählich jetzt anfangen, sie schweigsam und nachdenklich zu machen!

Aber das war schwer. In dem ganzen Stolz und Glücksgefühl der jungen Frauen sprach sie unaufhörlich, sah ihn an, stieß ihn an, wenn er nur durch ein Kopfnicken antwortete, und lachte laut und ausgelassen. Sie sprudelte über wie eine kochende Suppe.

Sie erzählte von ihrem Mann. Ja, das war einer! Sie kam nicht aus dem Lachen heraus, wenn er abends da im Sessel saß, fast wie ein altes Männchen, und seine Zeitung studierte. Ja, seine Zeitung! Er kam ja gar nicht dazu. Er hatte so viel zu erzählen: er machte ihr seine Vorgesetzten vor, seine Kollegen, wie sie gingen und sprachen, wie sie husteten und sich schneuzten, auch ihn, den Christian nicht ausgenommen. Und wenn er dann doch endlich einmal ordentlich an die Zeitung wollte, dann wußte sie es auch wieder einzurichten. Da war nicht mehr nötig, als daß sie sich auf seine Kniee setzte, ihm durch die Haare griff und ihm hin und wieder einen schnellen Kuß gab. Erst schimpfte er wohl, aber dann – dann fing er selber das Küssen an. Na, und wenn das erst einmal anfing, dann hörte das Küssen sobald nicht wieder auf.

Zwischen dem Erzählen sah sie immer nach der Uhr. Die ging ja überhaupt nach! Sie stieg auf einen Stuhl und stellte die Zeiger um zehn Minuten vor.

»Et kann och leech en Stond länger duere, wer kann dat vürher esu wesse?« sagte er unvermittelt und sah mit seinen blauen, starren Augen in die Lampe hinein.

Die Frau sah in diese Augen und wunderte sich, daß sie so blau und leuchtend waren. Sie brannten ganz sonderbar, als wenn eine Lampe hinter ihnen stände. Sie hatte nie solche Augen gesehen. Sie lachte aber, denn sie glaubte nicht, was er sagte. Und als sie dann merkte, daß es ihm ernst war, behielt sie ihr Lachen bei, damit er sich bei den übrigen Beamten nicht lustig über sie machte: jao die! die kann et net ens en Stond aohne ihre Mann ushaale!

Sie schenkte Bier ein und holte dann einen ganzen Haufen Blumen herbei, der auf einem Stuhl in der Küche lag. Sie war am Nachmittag allein durch die Wiesen gegangen, hatte ja im Haushalt noch nicht viel zu tun – sie erschrak, als sie dieses Noch gesagt hatte, lachte ihn dann aber aus kleinen, sinnlichen Augen an und wurde rot.

Und während er da saß, ohne zu sprechen, und an seiner längst ausgegangenen Cigarre kaute, legte sie die Blumen zu einem Strauß zusammen, der so groß wie ein Männerkopf war, und stellte ihn in einem grünen Glas auf den Tisch.

Allmählich wurde sie aber nun doch stiller, sprach nur noch in Absätzen, einmal sprach sie fünf Minuten lang nicht.

Er saß da und rührte sich nicht. Er wartete. Er wußte genau, daß sie dachte: ›Weshalb geht er denn noch nicht? Er hat ja nun gegessen und getrunken! Er kann doch nicht die halbe Nacht hier bleiben!‹ Aber er wartete. Bis sie ganz still geworden. Bis sie sozusagen reif war und anfing einen Verdacht zu fassen. Er belauerte sie und merkte ohne Furcht, grausam gegen sich selbst, mit immer größerer Genugtuung die Fortschritte, die er auf seinem Weg machte. Es war doch nun gut, daß er den Auftrag übernommen hatte. Die andern wären gewiß so schnell mit der Sache herausgeplatzt, daß die Frau hingeschlagen wäre.

Und dann sagte er, ganz plötzlich, wie erschrocken, laut und bestimmt, starrte aber immer mit seinen Augen in die Lampe: »Wat han ich jesaht? Er küt jo hück üverhaupt net. Er moß jo met dem Zog de janze Rhing erav. Dat hat ich jo janz verjesse.« Dann, nach einer Pause, noch lauter und noch bestimmter: »Nä, er küt irsch morje fröh.« Trotzdem er die Augen starr hielt, schielte er dabei nach ihr hin und horchte auf jeden Atemzug von ihr.

Aber sie war jetzt ganz still. Sie rührte sich nicht einmal.

›Jood,‹ dachte er, ›jetz fäng sie an, naohzodenke. Jetz moß sie bald fraoge. Jetz moß sie mir entjääjekomme.‹

Aber sie fragte nicht, sie kam ihm nicht entgegen, sie fing nicht einmal an nachzudenken. Sie stellte nur einen Kasten mit Flickzeug auf den Tisch und begann zu nähen. Sie sang sogar ein Lied, nur so vor sich hin, um den Gast nicht zu beleidigen.

Aber dann fing sie doch an zu sprechen. Als ob das Bewußtsein, ihren Mann so lange weg zu wissen, eine geheime Traurigkeit und Innigkeit über sie geblieben hätte, sah sie ihn mit größeren Augen, als sie sonst hatte, an. »Jetz moß ich Üch öm jet bedde,« sagte sie leise und hielt ihre Nadel still.

›Jetz küt et,‹ dachte er, ›jetz fraösch sie mich. Jetz will sie Waohrheet han.‹ Er atmete nicht, kein Knopf seiner Uniform hob sich auf seiner Brust. Jetzt fest sein, wie von Eisen, wie in seinem Bremserhäuschen, wenn er einen Zug auf denselben Schienen entgegenkommen sieht.

Aber sie kam mit einer ganz andern Bitte. »Ihr weßt et jo och, minge Mann drink jäen. Ich spreche nur met Üch dorüvver. Ihr sed der Älteste. Saht, er drink sujar während dem Jahre. Er sääht et selver, wie jefährlich dat für en es. Er kann doch leech ens donevve tredde on falle. On do wollt ich Üch bedde – jedd doch op en aach, red doch ens aödentlich met im. Jao, daot et doch!«

Die Tränen standen ihr in den Augen.

Er sah es, obwohl er in seine Lampe starrte.

Was war jetzt? Jetzt war er auf seinem Weg aufgehalten. Es war plötzlich ein Hindernis da, über das er nicht wegkam. Jetzt, in dem Augenblick, wo sie da saß und von ihm sprach, mit Tränen in den Augen – »nä, nä, nä! öm Hemmelswelle, nur jetz net! Noch waede, noch waede!« Er gab ihre seine breite, plumpe Hand über den Tisch hinüber. Er bekam es sogar fertig, ihr in die Augen zu sehn.

Aber schon veränderte sich der Ausdruck ihres Gesichtes wieder, schnell, wie sie in allem und wie alles bei ihr war. Mit einer Verschlagenheit in den Augen, die klein wurden, und in den Mundwinkeln, die sich zusammenzogen, sah sie ihn an, von der Seite, mit halb auf die Schulter gelegtem Kopf. Und mit einem Male zog sie, ganz unten aus dem Flickzeug hervor, ein weißes Etwas, breitete es aus, hielt es ihm vors Gesicht – ein Kinderjäckchen, aus Wolle gestrickt, halb fertig, rührend und lächerlich in seiner Kleinheit.

Erst jauchzte sie, mit geschlossenem Mund, mit leisen Tönen, die sie in der Kehle zurückhalten wollte. Dann machte sie den Mund auf, ließ ein Singen heraus, ein Schreien, ein Lachen – wie ein Kind, das sich vor Freude nicht mehr zu lassen weiß. Sie packte mit beiden Händen, schnell, ohne das Jäckchen loszulassen, nach seiner Hand auf dem Tisch, rieb das Jäckchen an dieser Hand, sonderbar flink und fest, legte den Kopf auf die Hand und das Jäckchen, rieb ihre Backen und ihre Stirn daran, und schluchzte dann laut auf, indem ihre Schultern jedesmal auf das Holz des Tisches schlugen und ihr Oberkörper, durch das Heben der Brust sich jedesmal ein wenig vom Tisch entfernte. »Ich moß et Üch sage – Ihr sed der irschte – denkt, denkt, er weß noch nix – ich sagten et im morje fröh – ich sagen et im –«

Er saß da, den Kopf zu ihr vorgestreckt, ein ungewisses Lächeln auf dem Gesicht – und da, was war das? Er lachte – lachte herzlich, warm, breit, teilnehmend, lachte und drückte ihr die Hand – wie man einer jungen Frau, die sich Mutter fühlt, die Hand drückt, etwas lustig, blinzelnd; denn wenn sie auch weint, es liegen ja so viele Gedanken an Freuden und glückliche Stunden dahinter.

Er saß noch eine Weile da. Mit demselben Ausdruck auf dem Gesicht. Ja, in der Tat, nun war er ja ganz von seinem Weg weggedrängt. Der Weg lag weit von ihm, er sah ihn nicht einmal mehr, er war weiter von seinem Ziel als am Anfang. Und er kann nicht mehr hinkommen. Er fühlt das, es ist etwas in ihm, was es ihm sagt. Jetzt, nach diesem Lachen, ist es nicht mehr möglich. Wer hat ihm nur das Lachen eingegeben? Es ist von selber, wider seinen Willen gekommen. Und er hat nicht einmal die Kraft, es jetzt von seinem Gesicht wegzutun. Es liegt darauf, er fühlt es genau, seine Augenlider sind hochgehoben und sein Mund offen und in einem Halbkreis nach oben gebogen.

Und alles, was er jetzt tat, tat er in diesem merkwürdigen Bann. Das, was in ihm war, und was er bis heute nie kennen gelernt hatte, zwang ihn dazu. Er stand auf, wie man aufsteht, um so eine junge Frau, die weint und glücklich ist, nicht zu stören. Er streckte die Arme in die Höhe und verkroch sich in seinen Mantel, nahm die Mütze vom Nagel und ging zu der Frau hin. Mit aller Kraft, die er noch hatte, drückte er seinen alten, stöhnenden Ton, der wieder kommen wollte, in die Brust zurück.

Noch war es Zeit. Jetzt war noch ein Augenblick, wo es möglich war, die drei oder vier Worte zu sagen.

Er machte den Mund dazu auf. Aber es kam etwas ganz anderes heraus. Er wollte seine rechte Hand fest in die Tasche stecken, aber sie streckte sich von selber aus, der Frau über die Schulter, nahm ihre Hand und drückte sie wieder. Und dazu sprach der Mund: »Joode Naach.« Wirklich: »Joode Naach.«

Sie drehte dem Mann den Kopf zu, mit den verweinten und lachenden Augen, sprang dann auf und rief: »Ich jonn mit Üch, die Huustür es zo.«

Sie gingen zusammen die Treppen hinunter. Das Wirtszimmer war still. Sie standen noch unten und sahen nach dem Himmel hinauf.

»Joode Naach,« sagte er zum letzten Male.

»Seht,« sagte sie, während sie seine Hand hielt und ihn mit ihrem verschmitzten Ausdruck von unten ansah, »wenn ich och mingen Mann net bei mir han, su kann ich doch von im drööme.«

Sie lachte noch leise und glücklich hinter ihm her. Dann hörte er, wie sie die Tür hinter sich zuzog und verschloß. Er hörte noch ihre flinken, klappernden Schritte die Treppe hinauf.

Dann ging er langsam die Straße hinunter, seinem Hause zu. Es regnete nicht mehr. Am Ende der Straße kam sogar ein fahler, gelber Schein hinter den Wolken her, sodaß ihre zackigen Umrisse zu erkennen waren. Und zwischen den Lücken der Häuserreihen hindurch, vom schwarzen Feld her, drang grausam und höhnisch das Poltern eines Zuges zu ihm, das Pfeifen der Lokomotive und das Läuten der wärterlosen Schranken, die sich senkten und hoben.

»Morje well ich et sage, morje,« murmelte er in seinen kurzen, grauen Bart hinunter.

Dann schloß er seine Haustür auf, scheu und furchtsam, mit schielenden Augen und zusammengezogenen Schultern, wie ein Verbrecher, der auf der Flucht ist.

»Morje.« Er stieß es abwehrend und drohend zwischen den Zähnen hervor, so daß es sich wie eine Verteidigung anhörte gegen Ankläger, die rechts und links mit ihm die Treppe heraufstiegen, ihn an den Armen hielten und ihn zu der Frau des Toten zurückreißen wollten. –

Mitten in der Nacht legte er beide Hände über sein Gesicht und weinte, verzweiflungsvoll, sich selber anklagend, sich schmähend. Er spie Schimpfwörter gegen sich aus, wie er sie nie in seinem Leben in den Mund genommen hatte.

Seine Frau, klein und abgezehrt, mit ihm grau geworden, legte sich zu ihm in sein Bett und streichelte seine Hände.

Er erzählte ihr alles.

»No jao – no jao,« sagte sie und strich ihm mit ihren mageren, aufgeregt zitternden Fingern das Haar aus der Stirn, »jetz es sie winigstens noch en Naach lang jlöcklich.«


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