Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In unserer ganzen europäischen Kultur (die ja auch außerhalb Europas Verbreitung gefunden hat) ist nichts, was dem Menschen größere Daseinsnot bereitet, als der Staat. An ihm leiden wir am meisten. Da nun an der ursprünglichen Idee des Staates – Zusammenschluß zu Schutz und Hilfe durch vernunftgeschaffene Institutionen – nichts auszusetzen ist, so muß der Fehler in der Durchführung der Idee liegen. Es müssen ja noch viele andere Gedanken hinzukommen, um die Vereinigung vieler zu einem Verbande zu ermöglichen. Die erste Frage wäre: Wer nimmt denn an der Vereinigung teil? Nach welchem Prinzip findet die Auswahl statt?
Der Erfolg kann nur dann segensreich sein, wenn sich zusammenschließt, was zusammengehört. Und was gehört zusammen? Auf den primitiven Stufen der Vergesellschaftung bereitet diese Frage kaum Kopfzerbrechen: dort ist es einfach das räumliche Beieinanderwohnen, also ein örtlicher Umstand, der den Prozeß bestimmt und der übrigens auch auf den späteren Stufen als »geographischer« Faktor wirksam bleibt. In den Anfängen liegt die Sache sehr klar, denn die übrigen Umstände, die sonst noch gemeinschaftsbildend wirken und die »Zusammengehörigkeit« bestimmen, also Blutsverwandtschaft, gleiche Sprache, gleiche Sitte, gleiche Rasse usw., sie alle fallen mit dem Ortsfaktor zusammen. Menschen, die in einem der genannten Punkte nicht übereinstimmen, leben auch räumlich voneinander getrennt. Wenn es in diesem Stadium ein Problem gibt, so ist es nur dies (in dem sich freilich alle späteren Schwierigkeiten schon leise ankündigen), was hier noch als räumliche »Nähe« zu gelten habe und wo die »Fremde« beginne; ob also zum Beispiel verschiedene Ansiedlungen sich wiederum zu einem Verband zusammentun, was dann gewöhnlich in der Form einer Vereinigung höherer Ordnung geschieht, das heißt einer solchen, in der die einzelnen Glieder nicht mehr menschliche Individuen, sondern selbst schon Gemeinschaften von solchen sind. Noch bei sehr weit fortgeschrittener Kultur, wie wir sie in Hellas finden, können wir wesentliche Züge der beschriebenen Verhältnisse in den griechischen Stadtstaaten beobachten.
Staaten sind Produkte des Verstandes, denn nur mit seiner Hilfe können feste Regeln gemeinsamen Lebens aufgestellt und zu Institutionen verdichtet werden. Was vorhergeht, die instinktive Zusammenrottung zur Horde oder vielleicht zum Stamme, verdient den Namen des Staates noch nicht. Der Staat hat daher keine »natürlichen« Eigenschaften, sondern nur die, welche man ihm gegeben hat. Er hat kein Wesen an sich, sondern er ist so, wie man ihn macht. Man kann ihn gut oder schlecht, natürlich oder unnatürlich machen. Und hier beginnt die Tragödie.
Sehen wir vorläufig ab von den Verwicklungen, die daraus entstehen, daß die verschiedenen Faktoren oder Motive des Zusammenschlusses, die von dem örtlichen Moment anfänglich nicht getrennt waren, sich allmählich von ihm und voneinander loslösen und, jedes für sich, eine unabhängige Wirkung zu entfalten beginnen. Richten wir unser Augenmerk zunächst nur auf die möglichen und tatsächlichen Folgen der Existenz von Staaten, so finden wir schon genug Gelegenheit zur Verwunderung und Kritik.
Der Sinn der Vereinigung von Menschen ist Vervielfältigung der Kraft. Angreifer, gegen welche die Kraft des einzelnen nichts ausrichtet, sollen durch die Stärke des Ganzen zurückgewiesen oder unschädlich gemacht werden. Der Staat hat also nur so lange Sinn, als er mächtiger ist als der Angreifer, und er ist es jedem natürlichen Angreifer gegenüber, denn das kann immer nur ein Individuum oder höchstens eine kleine Bande sein; »natürliche« Aggressivität ist ja eine solche, die aus Instinkten der Gewalttätigkeit oder Bosheit hervorgeht, also aus individuellen Eigentümlichkeiten.
Sobald aber die durch Vereinigung geschaffene Macht zum Angriff statt zum Schutz gebraucht wird, ist sie mißbraucht. Staatsgewalt hat den Zweck, einzelne und kleine Horden im Zaume zu halten; das Unglück ist in dem Augenblick da, in welchem sie gegen Staaten verwendet wird.
Daß die Wurzel des Übels an dieser Stelle liegt, ist das Wichtigste, was der Philosoph zum Staatsgedanken überhaupt zu sagen hat; wenn es ihm gelänge, diese Einsicht so in die Gemüter aller Verantwortlichen einzuhämmern, daß sie die Folgerungen daraus ziehen könnten und danach handeln müßten, so vermöchte die Philosophie vielleicht doch zur Retterin der Welt zu werden.
Sowie jener verhängnisvolle Schritt getan ist, daß Staaten sich gegen ihresgleichen wenden und ihre Machtmittel gegeneinander richten statt gegen kleine Friedensbrecher, ist der ursprüngliche Zweck des Ganzen aufgehoben, es ist die Möglichkeit zu viel schlimmeren Verwicklungen geschaffen, als sie vorher möglich waren. Denn nun wiederholen sich auf höherer Stufe, nämlich zwischen Staaten, Gegensätze, wie sie vorher nur zwischen Individuen bestanden. Hier aber ist ein Ausgleich aus vielen Gründen unendlich viel schwerer.
Wenn Ihr doch nur sehen wolltet, daß diese neuen Gegensätze selbstgemacht und überflüssig sind, nicht im Wesen der Dinge liegen! Im Wesen der Staaten, die Ihr gemacht habt, liegen sie freilich, aber man kann Staaten auch anders machen. Individuen sind so, wie sie geboren werden, wir können sie wohl ein wenig erziehen, müssen uns aber im übrigen mit ihrer Aggressivität und Bosheit abfinden; wenn Ihr aber den Staat boshaft und aggressiv macht, so ist das Eure Schuld in dem vollen Sinn, in dem wir übereingekommen sind, von Schuld zu sprechen. Es ist eine moralische Angelegenheit. Von anderen Angelegenheiten ist ja in diesen Betrachtungen überhaupt nicht die Rede.
Wird der Staat mit denselben Eigenschaften ausgestattet, welche den friedensstörenden Individuen zukommen und bei ihnen die Ursache von Konflikten waren, so ruft er Konflikte in höheren Dimensionen hervor. Diese sind viel gefährlicher, weil zwischen Staaten und Nationen sich jene Prozesse nicht wohl abspielen können, die im Verkehr der Individuen untereinander stattfinden und die Zustände der menschlichen Gesellschaft erträglich machen: die moralbildenden Prozesse. Ihre Grundlage bilden die sozialen Triebe, welche das menschliche Individuum mit seinesgleichen verknüpfen, ja fast mit allem, was lebendig ist: das natürliche Mitfühlen, die Sehnsucht, teilzunehmen und mitzuteilen, das unendliche Bedürfnis, nicht allein zu sein, Güte und Liebe. Der Staat dagegen, »das kälteste aller kalten Ungeheuer«, hat nichts von alledem: er ist ein künstliches Wesen, ein Verstandesprodukt, ein Golem ohne Herz. Gefühle gibt es nur in Individuen.
Aber auch jene anderen moralbildenden Prozesse, die unabhängig von den sozialen Gefühlen sind und die auch solche Wesen, die Sympathie und Liebe nicht kennen, doch durch bloße Utilität zu friedlichem Zusammenleben zwingen – auch diese Prozesse können zwischen Staaten nicht oder doch nur in kümmerlichen kleinen Ansätzen wirksam werden. Hier ist kein Nährboden für das Wachsen einer Moral der Völker oder Staaten, weil die zwingende Triebkraft fehlt: die Sanktion.
Recht, Gesetz und öffentliche Meinung, die dem Individuum sofort automatisch gegenübertreten, wenn es die Harmonie der Gemeinschaft stört, diese überindividuellen Mächte haben kein überstaatliches Äquivalent; es gibt daher kein wirksames Zwangsmittel, um einen Staat zu bestrafen, der den Frieden gebrochen hat, oder – was natürlich der eigentliche Zweck wäre – ihn vom Angriff überhaupt abzuhalten. Der Gedanke, daß ein derartiges Äquivalent um des Friedens willen geschaffen werden müsse, liegt natürlich außerordentlich nahe; jeder Verständige, der über diese Fragen grübelt, wird zuerst auf ihn stoßen und gerne jeden Versuch zur Schaffung eines übernationalen Forums unterstützen. Aber solche Versuche können unter den gegenwärtigen Umständen nur geringen Erfolg haben aus einem einfachen Grunde: die Gesamtzahl der Staaten ist zu klein oder – was auf dasselbe hinauskommt – einzelne von ihnen sind zu groß, und diese können daher einer Vereinigung der übrigen meist ungestraft spotten. Wir erleben es fast täglich: Das übereinstimmende Urteil der anderen wird von dem widerstrebenden Staat nicht als »öffentliche Meinung« anerkannt, sondern scheinbar einfach aus der Selbstsucht der anderen erklärt, vielleicht auch aus ihrem Neid oder gar aus ihrer allgemeinen Verruchtheit, aus ihrer durch die Geschichte bewiesenen angeborenen Perfidität. Eine solche Auslegung oder Konstruktion ist stets möglich, weil in der Tat in der Staatengemeinschaft eine öffentliche Meinung im selben Sinne wie bei der Gemeinschaft der Individuen sich nicht ausbilden kann.
Ein Staat hat ebensowenig eine Meinung wie er Gefühle hat. Man kann höchstens eine Anzahl von Prinzipien ausdrücklich formulieren, sie durch Regierungsbeschluß, Volksabstimmung usw. als unantastbare Grundsätze erklären, und diese können dann formal die Rolle einer Staatsmeinung spielen. Durch Vergleichung und Durchschnittsbildung ließe sich dann eine überstaatliche allgemeine Meinung der Kulturnationen herstellen (wie auf ähnlichem Wege die Satzungen des »Völkerrechts« zustandekommen), aber derartige Konventionen können erstens nur ganz allgemeiner Natur sein (weil sich sonst kleine Einigung über sie erzielen ließe), sie würden also bei der Anwendung immer noch ganz verschiedene Auslegungen zulassen; und zweitens wären sie überhaupt niemals wirklich lebendig, das heißt der Gang der Ereignisse würde durch sie nicht in ähnlicher Weise bestimmt, wie die Handlungen von Individuen durch ihre Meinungen verursacht werden, die in stetem Wandel und Austausch hin und her fließen.
Individuen sind beweglich und mischen sich untereinander, jedes lernt viele andere kennen, und ohne Verkehr mit ihnen gibt es kein menschenwürdiges Dasein; Staaten dagegen beharren stark an ihrem Ort, jeder Austausch zwischen ihnen geht gleichsam in die Ferne, den Begriff des Kennenlernens gibt es eigentlich gar nicht, von ihren Bürgern kommen nur die »Reisenden« miteinander in Kontakt und auch diese meist nur in oberflächlicher Weise; und wenn auch dank den modernen Mitteln und Bedürfnissen des Verkehrs eine völlige Abschließung unmöglich geworden ist, so sucht doch jeder sich nach Kräften »unabhängig« zu machen, und das Liebäugeln mit der selbstsüchtigen Autarkie hört nicht auf.
Kurz, es gibt zwischen Staaten und Völkern keine Moral. Das heißt: es gibt kein System von anerkannten, noch weniger von wirklich befolgten Regeln, welches ein ungestörtes Nebeneinanderexistieren solcher umfassender Gemeinschaften garantierte und jeden einzelnen von ihnen gegen Angriffe der übrigen schützte; kein System von Regeln, bei deren Einhaltung jeder Staat sicher wäre, soviel an ihm selber liegt, alles getan zu haben, was zu seiner Sicherheit und zum Wohle seiner Bürger erforderlich ist. Die überstaatliche Anarchie zeigt sich am klarsten in der Willkür, mit der man für erlaubt erklärt, was zwischen Individuen verpönt ist. Nicht nur die Anwendung von Gewalt zur Überwindung des Gegners wird gebilligt, sondern auch Gift, Hinterlist und Lüge (Spionage, Verbreitung falscher Nachrichten und Dementis, Verschweigung und Entstellung der Wahrheit), und alles das wird als mit der »Ehre« eines Volkes für vereinbar erachtet. Eine Zeitlang galt im Kriege wenigstens die Regel, daß nur die Soldaten des Gegners als Feinde angesehen wurden; aber davon ist man, unter bedauernder Betonung der »Notwendigkeit«, wieder abgekommen, und wenn man Frauen und Kinder auch nicht in die Sklaverei abführt, wie im Altertum, so wirft man doch Bomben auf sie und zerstört ihnen Haus und Habe.
Während Prahlerei und Selbstlob ein Individuum lächerlich und verächtlich machen, bescheidene Zurückhaltung aber und freimütige Anerkennung fremder Verdienste als Tugenden gerühmt werden, verlangt der Staat von seinen Bürgern, über alles gepriesen zu werden, und wer an der eigenen Nation etwas zu tadeln findet – außer zu großer Demut und Selbstkritik –, der beschmutzt, wie man sagt, sein eigenes Nest. Während im Privatleben nur der Unedle immer recht behalten will und es von wahrer Größe der Gesinnung zeugt, wenn man eigenes Unrecht dem anderen gegenüber eingesteht, gilt es als hochverräterisch, auch nur die Vermutung auszusprechen, der eigene Staat verteidige vielleicht eine schlechte Sache. In Wahrheit kann ein solcher Mahner der Retter seines Vaterlandes und der alleinige Verteidiger seiner Ehre sein. Die einzige Erklärung dafür, daß der Staat nie unrecht haben kann, wäre die, daß es hier eben kein Unrecht gibt. Und so hat denn Fichte auch gesagt: »Der Staat hat immer recht.«
Sollte der Grund für die Anlegung so verschiedener Wertmaßstäbe vielleicht darin liegen, daß Selbstüberhebung eines Individuums bei allen Personen seiner gewohnten Umgebung Ärgernis erregt, Lobpreisung eines Volkes aber, zu dem ja auch sie gehören, ihren Ohren schmeichelt? Ich fürchte sehr, an dieser Stelle zeigt sich deutlich, was der Philosoph allerdings auch sonst schon weiß, wie stark die »moralischen« Anschauungen der Menschen durch äußere Sanktionen bestimmt werden, nämlich durch die Wünsche und Neigungen der unmittelbaren Umgebung. Und zwar eben deshalb, weil sie die unmittelbare ist. Andere Völker sind weit weg – was geht uns ihr Wohl und Wehe an? Gut ist, was unsere Nachbarn für gut erklären, Pflicht ist, woran sie uns durch Wort und Schrift und mit allen Mitteln der Suggestion täglich und stündlich erinnern, was sie unaufhörlich von uns verlangen. Und wenn es Wölfe sind, ist es Pflicht, mit ihnen zu heulen.
Aber wehe – so weit weg sind die anderen Staaten doch nicht, daß sie das Geheul nicht vernähmen, das gar zu leicht Vorbote eines Überfalls sein kann. Und da stellt sich bald heraus, daß der eigenen Gemeinschaft, der eigenen Nation keineswegs alles zum Heil gereicht, was ihr schmeichelt. Ein Volk, das bei seinen Bürgern eine Gesinnung großzieht, die es schwer macht, die Eigenheiten, Bedürfnisse oder Wünsche anderer Nationen oder Rassen zu verstehen und sie prinzipiell ebenso anzuerkennen wie die eigenen, ein solches Volk wird durch seine Arroganz ebenso zum Störenfried wie ein arrogantes Individuum in seinem Kreise, und seine Bürger werden schließlich dafür zu leiden haben. Die Wertungen, die einem zu engen Umkreise entspringen – und hier kann ein ganzes Volk, ein ganzer Erdteil, zu »eng« sein –, sind eben nicht die letzten entscheidenden Wertungen, von denen das Wohl und Wehe der Erde und schließlich jedes einzelnen abhängt. Es ist nicht wahr, daß der Staat immer »recht« hat (auch natürlich nicht gegenüber dem Individuum, denn dieses kann ja höheren Interessen dienen), sondern auch hier kann durch Regeln über Recht und Unrecht entschieden werden. Und diese Regeln müssen, um zur Glücksfähigkeit der Völker zu führen, den Regeln der individuellen Moral sehr ähnlich sein.
Seit der Zeit der Aufklärung glaubt man in Europa, daß diese Einsicht mit der Zeit immer selbstverständlicher für alle werden würde; aber heute gibt es Lehren, die diesen Glauben Lügen strafen.
Zwar gibt es einen Punkt, in welchem alle theoretisch darüber einig sind, daß die Individualmoral ohne weiteres auf das Verhältnis der Staaten zueinander zu übertragen sei; es handelt sich dabei zugleich um das denkbar einfachste Rechtsverhältnis: nämlich das Halten von Verträgen. Hier gibt es eine natürliche, automatische Sanktion, die man durch den Abschluß des Vertrages selbst schafft. Denn indem man ihn abschließt, wünscht man ja den durch ihn festgelegten Zustand, und Vertragsbruch bedeutet Aufhebung dieses Zustandes; er hört also auch für den Partner zu existieren auf, und ihn wollte man ja gerade binden. Diese Sanktion ist freilich auch nicht unfehlbar; ihre Wirksamkeit hört leicht auf, wenn die beim Vertragsschluß vorhandenen Wünsche aufhören. Vielleicht will man den Partner nicht mehr binden oder man glaubt, ihn auf andere Weise – etwa durch Gewaltandrohung – besser gebunden; vielleicht hat sich die allgemeine Lage geändert. Das letztere liegt besonders dann vor, wenn, wie man zu sagen pflegt, der Vertrag nicht »freiwillig« eingegangen wurde, das heißt, wenn der Wunsch, aus dem er hervorging, bei dem einen Partner nur ein Produkt seiner zeitweiligen Not oder Schwäche war. Es kommt daher vor, daß der Wiedererstarkte oder seiner Not ledig Gewordene den Vertrag entweder für einen Fetzen Papier oder für ein »Diktat« erklärt.
Verträge, die das Ende eines Krieges bilden, werden in der Regel nicht »freiwillig« geschlossen, ausgenommen den seltenen Fall, daß es nicht zu militärischen Entscheidungen gekommen ist und daß beide Parteien des Kampfes überdrüssig wurden, obwohl sie ihn noch mit unveränderter Erfolgsaussicht fortzusetzen imstande gewesen wären. In diesem Sinn endet also fast jeder Krieg durch ein »Diktat«, denn niemand wird behaupten, daß der Unterliegende zum Abschluß des gleichen Vertrages bereit gewesen wäre, wenn er keine Niederlage erlitten hätte, das heißt nicht in einen Zustand der Bedrängnis und Schwäche versetzt worden wäre. Hätten also Diktate keine bindende Kraft, so wäre es überhaupt zwecklos, nach Kriegsentscheidungen Verträge zu schließen. Als internationale Abmachungen wären eigentlich nur noch Handelsverträge und ähnliche möglich, die nach dem Gesagten eine natürliche automatische Sanktion in sich selber tragen. Im übrigen herrschte zwischen Staaten der Zustand des Faustrechts.
Während ich mich von ganzer Seele der Meinung der älteren Philosophie anschließe, daß dieser Zustand ins Verderben führt und daß eine Staatenmoral nach dem Muster der Individualmoral aufs innigste zu wünschen sei, gibt es, wie erwähnt, jetzt Theorien, welche den Mangel internationaler Sanktionen und sittlicher Normen nicht nur als unvermeidlich hinnehmen wollen, sondern diesen Zustand noch glorifizieren. Sie betrachten die Nationen als höchste Instanzen, über denen nichts mehr stehen könne und dürfe, ja, sie möchten umgekehrt die Normen der individuellen Sittlichkeit nach dem Muster ihrer Staatsidee formen. Friede und Verträglichkeit stehen bei ihnen in geringem Ansehen. »Pazifist«, das heißt Friedfertiger, ist bei ihnen ein Schimpfwort, von Güte, Liebe und Humanität reden sie nicht gern, um so lieber aber von Macht, Kampfbereitschaft und Solidarität. Ich will im Vorbeigehen bemerken, daß diese Propheten sich auf Nietzsche zu Unrecht berufen. Das geht allein schon aus der gänzlich verschiedenen Rolle hervor, welche die Herde bei ihnen und Nietzsche spielt, und wo sie seine Worte gebrauchen, haben diese eine ganz andere Bedeutung und einen ganz anderen Hintergrund als bei ihm.
Nietzsche hat seinem Abscheu gegen alles Kleine und Schwächliche durch seine Lehre vom Willen zur Macht und durch Lobpreisung alles Starken und Kriegerischen Ausdruck gegeben – einen recht unglücklichen Ausdruck; aber er konnte doch erwarten, daß man ihn verstehen würde – darf doch ein großer Denker sogar erwarten, daß hinsichtlich der Trennung der innerlichsten Meinung vom zeitgebundenen Ausdruck spätere Generationen ihn besser verstehen als er sich selbst. Der Krieg, an welchen Nietzsche denkt, ist der Kampf des Individuums gegen Individuen oder der Kampf des Individuums gegen die Masse; und obgleich er nicht als ein rein geistiger Kampf gedacht ist, wäre es doch lächerlich, sich ihn als ein Gefecht mit Gewehren und Schnellfeuergeschützen vorzustellen. Das Wort »Krieg« hat heute und in der Politik eine ganz andere Bedeutung als im Munde Nietzsches: es bedeutet jetzt eine fürchterliche, länderweite Vernichtungsorganisation, durch welche allerlei Maschinen aus möglichst weiter Ferne explodierende Stahlmassen und giftige Gase auf möglichst gut versteckte Menschen schleudern, auf wertvolle und schurkische, glückliche und unglückliche, kluge und dumme, starke und schwache, mutige und feige; es ist ein wahlloses Wüten des Zerstörungswillens, kein Wettkampf, keine Auslese, eine Naturkatastrophe, eine Massenerscheinung – alles ganz unverträglich mit dem, was Nietzsche unter Krieg versteht. Zu dem Kampf, den Nietzsche fordert und als Vorbedingung des höheren Menschen ansieht, bedarf es keines Wütens der Menschen gegeneinander, ja es gibt keinen besseren Kampf als den gegen die Natur, denn Nietzsche sagt: »Das grandiose Vorbild: der Mensch in der Natur – das schwächste, klügste Wesen sich zum Herrn machend, die dümmeren Gewalten sich unterjochend.« »Der Wille zur Macht«. Ausgabe Kröner, Stuttgart 1939, Aph. 856.
Eine Widerlegung der »Herrenmoral« Nietzsches ist hier nicht am Platze. Sie könnte nur durch den Beweis geführt werden, daß die Moral der Güte keineswegs eine Erfindung minderwertiger Menschen (sie ist auch keineswegs nur dem Christentum eigentümlich oder nur auf die Verhältnisse des tatenlosen Orients zugeschnitten), sondern daß sie wirklich ein Ausdruck der tiefsten Menschennatur ist und das Produkt einer Entwicklung unseres Geschlechts, die älter und ehrwürdiger ist als alle einzelnen Völker oder gar Staaten. Diesen Beweis vermag die Ethik zu erbringen, ja sie hat ihn längst erbracht. Vom Evangelium der Macht hat Nietzsche dies nicht bewiesen. Ich halte ihn für den reichsten, glühendsten Geist des neunzehnten Jahrhunderts, aber über das Wesen der Macht suche ich bei ihm keine Auskunft, ebensowenig wie etwa über eine mathematische Frage. Es ist das bitterste Schicksal für einen großen Mann, wenn er durch seine Irrtümer mehr wirkt als durch seine Wahrheiten.
Die Aufgaben der Ethik haben wir hier nicht noch einmal zu lösen Vgl. M. Schlick, »Fragen der Ethik«, Wien 1930.; wir setzen sie voraus und wenden sie an.
Wir wenden sie an auf die Ideologie und Mystik, mit denen heute der Staat manchmal umwoben wird. Zwar der bloßen Institution als solcher, der Gesamtheit der staatlichen Gesetze und Veranstaltungen, göttliche Ehren zu erweisen, würde den meisten doch zu absurd erscheinen. Es wird daher ein Unterbau errichtet, es wird versucht, das abstrakte Schema mit lebendigem Blut zu füllen. Zu diesem Zwecke greift man auf die Prinzipien zurück, welche darüber entscheiden sollen, welche Individuen zu einem Staate gehören.
Der nächstliegende Grundsatz war, wie wir sahen, die Ordnung nach dem örtlichen Zusammenleben, und die Ordnung nach irgendeinem der anderen möglichen Prinzipien würde auf niederen Kulturstufen, auf denen ohnehin nur kleinere Gemeinschaften möglich sind, mit der geographischen zusammenfallen. Aber auch schon das Geographische wird auf natürlichem Wege zum Mittelpunkte der stärksten Gefühle, die der Staat in seine Dienste stellen kann. Die Gegend, in welcher ein Mensch sein Dasein verbringt, bestimmt seine ganze Sinnesart, zunächst durch seinen Beruf – indem sie ihn zum Seefahrer, Jäger, Ackerbauer macht –, dann aber auch allgemein, durch das Klima und die wundersamen Wirkungen, welche die Natur auf das menschliche Gemüt ausübt und die sich mit den von nahen Menschen ausgehenden Wirkungen zu jenem tief im Herzen liegenden Grunde verbinden, der bei allen Verpflanzungen erhalten bleibt und auf die Worte »home sweet home« anspricht. Jeder Mensch, der seine Jugend nicht in einer Großstadt verbrachte, hat eine Heimat; aber ein Volk hat keine oder doch nur in einem weit übertragenen Sinne. Und keine Mystik des »Bodens« läßt sich darauf begründen. Aus dem Heimatgefühl läßt sich weder ein Recht noch eine Pflicht in bezug auf den »Boden« ableiten. Wenn ein Bauer mehrere Söhne hat, so können sie nicht alle auf der Scholle bleiben, denn sie finden dort keinen Raum – haben sie nun »Recht« auf irgendeinen anderen Boden? Wenn ein Volk sich vermehrt, hat es dann ein Anrecht auf Länder, in denen bereits andere wohnen? Auch Völker wechseln ihre Wohnsitze; die Fremde der Väter ist die Heimat der Kinder. Hat ein Staat Anspruch auf ein Land, das während einer Generation unter seiner Botmäßigkeit war? Oder wenn er es einmal hundert oder zweihundert Jahre beherrscht hat? Man spricht von tausendjährigen Reichen – was ist eigentlich tausendjährig an ihnen? Der Name? Die Sprache? Die Regierungsform? Die geographischen Grenzen? Am ehestens wohl der Name – alles andere ändert sich langsam oder gar ruckweise.
Kriegerische Herrscher wünschen ihre Untertanen stark zu sehen. Um stark zu sein, braucht man Stolz – irgendeinen Stolz – sein Gegenstand tut nichts zur Sache, seine Wirkung liegt in ihm selbst. Es ist verzweifelt schwer, für jeden Menschen etwas zu finden, worauf er mit Recht stolz sein könnte (gesetzt, daß es ein solches Recht überhaupt gibt), und es ist doch leicht, ihn stolz zu machen. Ist er selbst durch nichts ausgezeichnet, besitzt er selbst keine Vorzüge, so kann er ja auf die Vorzüge, die Leistungen und Tüchtigkeiten anderer stolz sein – man muß nur ein Mittel finden, daß sie ihm als seine eigenen erscheinen. Dazu genügt es meist, daß jene mit ihm irgend etwas gemeinsam haben, z. B. in derselben Stadt wohnen, einmal auf demselben Stuhl gesessen sind – vielleicht hat er gar einmal am selben Tisch mit ihnen gespeist! Wenn jemand einen hervorragenden Menschen in seiner Familie hat, so ist er sehr stolz auf ihn, denn nun ist ihnen das »Blut« gemeinsam. Nicht in jeder Familie sind tüchtige Menschen, wohl aber in jedem Volke. Irgendein Kriegsheld, irgendein Entdecker, irgendein Dichter findet sich immer, der in demselben Lande gelebt und dieselbe Sprache gesprochen hat wie man selber; da man zudem dieses Land und diese Sprache besser versteht als andere, so kann man die Größe dieser großen Männer auch würdigen, die Nähe läßt sie noch erhabener erscheinen. Es ist also nur nötig, die Lehre hinzuzufügen, das Volk habe diese Großen hervorgebracht – das Volk, dem man selbst angehört – und man hat einen Gegenstand des Stolzes, wie er sich größer und dauerhafter kaum denken läßt. Und alle anderen, mit denen man in tägliche Berührung kommt, bestärken uns in diesem Stolz, sie sind sehr zufrieden, daß es gerade dies ist, was uns erhebt. Denn das haben sie mit uns gemeinsam, sie werden mit erhoben. Gerade diesem Volke anzugehören, das hat jeder allerdings vor allen anderen Völkern voraus.
Nun wird der Begriff der »Verwandtschaft« kühn erweitert, indem man von den Angehörigen eines Volkes sagt (manchmal unter Benutzung der Legende des einen Stammvaters), daß sie »eines Blutes« seien. Da nun die Individuen sich in der Vergötterung des Blutes gegenseitig steigern und diesem Prozeß keine Grenze gesetzt ist, so können hier die höchsten Grade der Begeisterung erreicht werden, deren der Mensch fähig ist, besonders wenn planmäßig fördernde Kräfte am Werke sind und mögliche Gegenwirkungen in Gestalt von Äußerungen anderer Völker planmäßig ferngehalten werden. So entsteht das Nationalgefühl, unter den Triebfedern des Völkergeschehens eine der allerstärksten.
Das Nationalgefühl kann, wie jeder Stolz, durch Steigerung beglückender Kräfte sehr wohl zur Minderung der Daseinsnot helfen, indem es zu großen Leistungen antreibt, durch die man bewunderten Vorbildern des eigenen Volkes nacheifern und sich der Größe, deren man bereits teilhaftig zu sein glaubt, würdig erweisen möchte. Einem solchen Stolz kann es nur nützen, auf die Stimmen anderer Nationen zu hören, auch bei ihnen Vorbilder zu suchen und aus ihrem Lob und Tadel des eigenen Volkes Kraft zu schöpfen. Auch aus dem Tadel; denn wenn er unrecht hat, gilt es mit doppeltem Eifer zu beweisen, daß er im Unrecht ist; hat er aber recht, so ist es eine Ehre, ihn zum Anlaß zu nehmen, begangene Fehler in der Zukunft auszugleichen.
Aber ach! in ihrer Kurzsichtigkeit glauben viele Völker, das Nationalgefühl so verderben zu müssen, daß es sich mit dieser letzten Eventualität gar nicht verträgt. Die eigene Nation muß immer recht haben, Tadel durch andere ist eine Unverschämtheit – ja, wenn es sich um Politisches handelt, so haben sie auch mit ihrem Lob unrecht, denn da preisen sie unsere Friedfertigkeit, die doch nichts ist als Schwäche.
Wie gut wäre jedes Nationalbewußtsein, wenn es immer nur zu stärkerer Schaffenslust führte! Wie böse ist es, wenn es nur die Aggressivität und die Gegensätze zwischen den Völkern vermehrt! Unter Individuen unterscheidet man so gut zwischen echtem, vornehmem Stolz und verblendeter Einbildung – weil eben hier durch das soziale Zusammenleben sittliche Begriffe sich entwickeln konnten; aber unter Nationen, wo solche Begriffe fehlen oder nach Belieben nicht anerkannt werden, sieht man die Grenze zwischen Stolz und eitler Verblendung nicht – das heißt, sie spielt in den Taten keine Rolle, wenn man sie auch in Worten gut zu schildern weiß.
Echtes Nationalbewußtsein besteht in einer gewissen Zärtlichkeit und natürlichen Freundschaft für alle Dinge, die wir gut verstehen, weil sie in unserer eigenen Sprache zu uns sprechen.
Das mißleitete, durch Aufblasen entstellte Nationalgefühl ist schuld, daß die Menschheit so schwer am Staate leiden muß. Denn der Staat hat sich mit seinen groben Mitteln und unerbittlichen Institutionen eines an sich harmlosen Gefühls der Zusammengehörigkeit bemächtigt, um es seinen aggressiven Zwecken dienstbar zu machen. Leider ist ihm nicht selten jedes Mittel recht, um die Wirkung zu verstärken. Wenn alle Gründe erschöpft sind, die den Menschen stolz machen, daß er einem bestimmten Volke angehört, so werden neue hinzugefügt, die ihm Stolz einflößen, daß er einem bestimmten Volke nicht angehört. Das muß natürlich ein schlechtes Volk sein, das heißt vielmehr, da es ein solches von Natur nicht gibt, eines, das durch Verleumdung verächtlich gemacht wurde. So benutzen die Staatsmänner den Antisemitismus auf eine wahrhaft bübische Weise: finden sie gar nichts mehr, womit sie ihre Anhänger selbstbewußt machen können, so bleibt ihnen doch dies, daß sie keine Juden sind!
Daß in manchen Beziehungen der Begriff der Rasse vor dem des Volkes noch bevorzugt wird, daß mancher Staat zum Nationalstolz gern den Rassenstolz hinzufügt und mit ihm verschmilzt, liegt daran, daß die Blutsverwandtschaft möglichst stark betont werden soll, durch die ja Rassen definiert sind, während sie innerhalb eines »Volkes« nur eine zweifelhafte Rolle spielt. Freilich, in der Gegenwart fallen die Staaten mit den Rassen noch weniger zusammen als mit den Völkern, und dies ist ein Umstand, der denen, die den Rassismus praktisch betätigen wollen, vielleicht noch einmal die entscheidenden Schwierigkeiten bereiten wird.
Die natürlichen Zusammengehörigkeiten der Menschen (die nie aggressiv sind) decken sich eben nicht mit den künstlich geschaffenen staatlichen und sie brauchen sich auch nicht zu decken, solange der Staat seiner ursprünglichen negativen Aufgabe des Schutzes und der Abwehr treu bleibt. Selten bleibt er ihnen treu, meist wird er aggressiv, aber er will die Vorteile weiter genießen, die aus der Einigkeit und dem Zusammenschluß der Individuen sich herleiten. Aus diesem Bestreben entstehen alle die krampfhaften Bemühungen des Staates, sich außer auf das geographisch-territoriale Prinzip auf mehr innerliche Prinzipien, Verwandtschaft und Gemeinsamkeit der Sitten zu stützen, außerdem aber auch das territoriale Prinzip durch eine Mystik des »Bodens« zu vertiefen. Aber alles dies muß letzten Endes vergeblich bleiben. Man kann nicht bestimmte natürliche Bindungen herausgreifen und andere ebenso natürliche Bindungen und Antipathien unberücksichtigt lassen. Denn diese werden alsbald in Streit mit jenen treten und die Rechnung durchkreuzen – es sei denn, man hat sich vorher versichert, daß die Zusammengehörigkeiten, auf die man sich stützen will, wirklich die stärksten sind – so stark, daß sie über alle übrigen Bindungen jederzeit triumphieren werden.
Hier liegt der große Rechenfehler jener Staaten, welche ihre Gottähnlichkeit auf das Nationalitätsprinzip gründen wollen und den Einzelmenschen – dem tiefen Grundsatz Kants widersprechend – nicht als Zweck, sondern als bloßes Mittel im Dienst der Nation betrachten wollen. Denn es ist absolut unrichtig, daß die dem »Blute« und dem »Boden« entspringenden Gefühle die stärksten der Mächte seien, welche die Menschen aneinander binden. Sie sind vielmehr, wie alles Massenhafte und Kollektive, ganz äußerlicher Natur, im Vergleich mit den individuellen Kräften, welche die Natur des Einzelmenschen bestimmen und die wahre Quelle der höchsten Erhebungen des einzelnen und des Fortschritts des Ganzen sind.
Die individuellen Eigenschaften variieren viel stärker als die volksmäßigen, nationalen und gattungsmäßigen. Und das gilt sowohl von den äußeren Merkmalen (ich mache mich anheischig, beliebig viele Ungarn auszuwählen, die wie Engländer aussehen; oder Russen, die man für Franzosen halten würde) als auch – und zwar in noch viel höherem Maße – von inneren, die für die gegenseitigen menschlichen Beziehungen entscheidend sind. Sie sind natürlich die wahrhaft wesentlichen, die für das Moralische allein in Betracht kommen und die zugleich die Basis aller tieferen Sympathie und Antipathie bilden. Und diese Triebe sind – zum Heile der Menschheit – viel, viel stärker als alle Gefühle, die auf Gemeinsamkeiten des Ortes, der Abstammung oder der Sitte beruhen. Sie entspringen der wirklichsten aller Wirklichkeiten, der Berührung zwischen Einzelwesen und Einzelwesen, und in ihrer Wärme zerfließen alle auf irgendein Allgemeines gerichteten Triebe zu einem kraftlosen Nichts, die Gemeinschaften Familie, Stand, Nation, Staat werden zu abstrakten Schatten. Wenn mein Vetter meinem Freunde unrecht getan hat, werde ich etwa für den ersten Partei ergreifen, weil er mir verwandt ist? Wird ein reiner, gütiger Mensch, der zufällig einer anderen Nation angehört, mir nicht unter allen Umständen näherstehen als ein Landsmann, der zufällig einen gemeinen oder rohen Charakter hat?
Sind das genugsam bekannte Trivialitäten? Nun, mich stört es nicht, wenn geistreiche Leute Anstoß nehmen an dem, was ich sage. Die Mathematik lehrt, daß man die nützlichsten Wahrheiten versäumt, wenn man an Trivialitäten vorübergeht.
Aus der bloßen Tatsache, daß in wichtigen Zügen die individuellen Variationen größer sind als die gattungsmäßigen, folgt bündig die Unhaltbarkeit des Rassenwahns, das heißt die Falschheit aller Gründe für ihn und für die Setzung der Nationalität als höchsten Prinzipes. Denn eine Rasse oder eine Nation gegen eine andere auszuspielen hätte nur dann Berechtigung, wenn diese Rasse oder Nation höherstünde, wobei »höher« nur heißen kann »sub specie aeterni« besser, oder »vor Gott besser«, oder, in unserer prosaischen Sprache, moralisch besser. Es möchte nun vielleicht sein, daß wirkliche Wertunterschiede in diesem Sinne zwischen Völkern bestehen – dann aber müßte jedes das Urteil über den eigenen Wert den anderen überlassen; wenn jede Nation sich selbst als die vorzüglichste erklärt (vielleicht noch mit dem hübschen Zirkelschluß, daß sie ja größere Urteilsfähigkeit besitze als die anderen), so ist das Ganze doch eine gar zu tolle Tragikomödie. Aber selbst hievon abgesehen: derartige Werturteile, auch wenn sie richtig wären, könnten sich nur auf den Durchschnitt des Volkes beziehen; es müßte zugegeben werden, daß auch im vortrefflichsten Volke abscheuliche Schurken sich finden, und umgekehrt lauterste Charaktere in einem verachteten. Damit aber ist das Rassen- und Nationalitätsprinzip bereits durchbrochen, denn nun ist prinzipiell anerkannt, daß es eine höhere Ehre ist, der Elite einer fremden als dem Abschaum der eigenen Nation nachzustreben. Hitler dagegen sagte, es müsse eine höhere Ehre sein, Straßenfeger in seinem Reiche als König eines anderen Landes zu sein.
Das ist für den Nationalstolz ein unbequemes Eingeständnis, denn die Nationalität rein als solche kann jetzt keinen Vorzug mehr begründen; es müßte erst bewiesen werden, daß man ihrer Elite und nicht ihrem Ausschuß angehört. Da nun die entscheidenden Differenzen zwischen verschiedenen Völkern sehr viel kleiner sind als die zwischen Ausschuß und Elite innerhalb eines jeden Volkes, so ist klar: entweder man mißt mit den Maßstäben der Moral: dann heißt die Alternative nur noch: Elite oder Ausschuß? – oder man hält sich bei der Bewertung an die Alternative: eigene Nation oder fremde? – und dann stellt man sich mit seiner Wertung außerhalb der Moral. Dies muß der Philosoph feststellen und daran läßt er nichts deuteln.
Eine solche Deutelei, welche dem abscheulichen Rassenhaß und Rassenkampf das Odium moralischer Verwerflichkeit nehmen möchte, liegt in der manchmal gehörten Wendung, man behaupte durchaus nicht, daß andere Nationen oder Rassen minderwertig seien, sie seien nur »anders«, nur »fremd«, und ihr Einfluß auf die heimischen Einrichtungen und Anschauungen müsse daher ausgeschaltet werden. Hier muß der Philosoph zweierlei fragen. Erstens: »Wie, ist ein edler Mensch, der deinem Volk nicht angehört, dir wirklich fremder als ein einheimischer Schurke?« Nun läßt sich wohl zur Not eine solche Definition von »fremd« geben, daß diese Frage tatsächlich bejaht werden dürfte. Dann aber lautet die zweite Frage: »Warum muß denn dies ›Fremde‹ (etwa: römisches Recht, jüdischer Geist, orientalische Selbstbescheidung) beseitigt und ausgeschaltet werden?« Etwa weil es sich mit dem Charakter der eigenen Nation nicht verträgt, nicht ins Volk paßt? Da nun aber soeben das Fremde so definiert wurde, daß einheimische Schurkerei nicht darunter fällt, so muß man fragen: ja »paßt« denn diese letztere zum Volk, »verträgt« sie sich mit seinem Wesen? Wenn ja, dann haben wir den früheren Fall: das Unsittliche widerspricht nicht den Wertungen, die über Passendes und Unerträgliches entscheiden – es sind also unmoralische Wertungen. Wenn aber nein, dann dürfte es doch wohl viel dringlicher sein, Niedertracht und Bosheit auszumerzen, wo man sie findet, den Kampf zu führen gegen Niedrigkeit und Grausamkeit, Frechheit und unmenschliche Härte – lauter Dinge, die hoffentlich in kein Volk hineinpassen –, statt gegen irgendein »Fremdes«, von dem man behauptet, es passe nicht zum nationalen Charakter des eigenen Volkes. Im Rassen- und Blutaberglauben liegt auch logischer Unsinn. Denn man kann eine Rasse nur wegen gewisser ihren Angehörigen zukommenden Eigenschaften ablehnen; diejenigen Individuen, die diese Eigenschaften nicht haben, müssen also von vornherein ausgenommen sein; und nur wenn ihre Vorfahren nicht untadelig waren, ließe sich mit Vererbungs-Wahrscheinlichkeitsgründen gegen sie arbeiten. Man könnte sich also zur Not vorstellen, daß von Anwärtern für gewisse verantwortungsreiche Berufe ein moralischer Stammbaum gefordert würde; aber ein Rassenstammbaum – welcher Unsinn! Ob der Ahne ein Verbrecher war, danach fragt man nicht – es sind ganz andere, und zwar negative Eigenschaften, für die man sich bei Abstammungsfragen interessiert.
Man muß sich eben in Widersprüche verwickeln, wenn man zwei Wertmaßstäbe nebeneinander einführen will, ohne den einen ausdrücklich dem anderen überzuordnen. Entweder man erkennt den moralischen an, dann muß man den rassisch-nationalen aufgeben, wo er mit jenem in Widerspruch tritt – oder man stellt Rasse und Nation offen über die Moral. Man kann also nicht ohne Widerspruch behaupten, der Rassenmaßstab ließe sich anlegen und man bleibe doch mit der Moral in Einklang.
Die große Stärke dieses Gedankenganges liegt darin, daß seine Geltung prinzipiell nicht von der besonderen Art der »Moral« abhängt, die dabei vorausgesetzt wird. Er bleibt bündig, solange man überhaupt annimmt, daß es irgendeine individuelle Moral gibt, das heißt, wertvolle Eigenschaften der Individuen, die von einem zum andern mindestens ebenso stark variieren wie von Nation zu Nation oder von Rasse zu Rasse. Diese Voraussetzung ist aber tatsächlich immer erfüllt – Nationalismus und Rassismus sind also mit jeder Individualmoral unvereinbar.
Die hinter den Worten »Nation«, »Volk«, »Rasse« stehenden Ideale sind von äußerster Verschwommenheit; gerade deshalb aber eignen sich jene als Schlagworte für die denkunfähige Masse, als Reizworte, durch die man Massenhandlungen auslösen kann, ohne eine Rechtfertigung geben zu müssen. Sie werden zu Kristallisationszentren unklarer Gefühle, welche an die Stelle einer Rechtfertigung treten, ja eine solche entrüstet ablehnen. Fragt ein Nachdenklicher: Warum soll ich denn dies tun oder diese Meinung vertreten? – erhält er die Antwort: weil du sonst nicht national (oder rassisch) empfindest!
Worin besteht aber nationales Empfinden? Ich habe aufrichtig, aber vergeblich nach einer Definition gesucht, die den Logiker befriedigen könnte. Welches Ziel muß man sich setzen, um national zu denken? Ich nehme an, daß dies Ziel durch die Worte »das Wohl des eigenen Volkes« bezeichnet wird. Besteht aber dieses Wohl in seinem »Glück«, oder in seiner »Macht«, in seiner »Größe« oder in seiner »Dauer«?
Die radikalste Antwort, die man heute auf solche Fragen hören kann, ist die, daß es sich um alle diese Dinge überhaupt nicht handle; es kommt nämlich gar nicht auf das Wohl des Volkes an, sondern auf seine Ehre. Die Bedeutung dieses Wortes ist natürlich noch viel unklarer als die des Wortes »national«. Es ist eine bloße Form, die mit verschiedenem Inhalt erfüllt werden kann und tatsächlich mit dem verschiedensten Inhalt erfüllt worden ist. Wenn Ehre ein moralischer Begriff sein soll, so kann sie meines Erachtens in nichts anderem bestehen, als darin, daß man ein guter Mensch ist. Diese kann uns von niemand genommen werden außer von uns selbst; ich handle nur dann unehrenhaft, wenn ich übernommene Pflichten nicht erfülle oder sonstwie Menschenrechte mit Füßen trete. Analog könnte für eine Nation kein anderes Verhalten ehrenvoll sein als ein solches, durch das sie sich als ein vertrauenswürdiges, hilfsbereites Glied unter allen Völkern erweist, die gemeinsam diesen Planeten bewohnen.
Aber dieser Ehrbegriff ist nicht überall anerkannt. Aus den Reden und Proklamationen mancher Staatsmänner kann man nichts anderes herauslesen, als daß die Wahrung der »Ehre« hauptsächlich darin bestehe, »daß man sich nichts gefallen lasse«, daß man für sich dieselben Rechte beansprucht wie andere, und daß man einen Anspruch, den man zu besitzen glaubt, gegen jeden, der ihn nicht anerkennt, mit Gewalt verteidigt.
Und während dieser starre Begriff für den einzelnen durch einen moralähnlichen Kodex noch verschiedenen Lagen angepaßt und eventuell gemildert wird, findet bei seiner Übertragung auf das Volk im Gegenteil eine Radikalisierung des Begriffes statt. Dies ist nun freilich eine Vorstellung von Ehre, die in unserer Moral der Güte keinen Platz mehr findet; sie kann von dorther nicht begründet werden. Das sehen die modernen Verfechter jenes Ehrbegriffes auch manchmal ein und dann verkünden sie ausdrücklich, dies sei eben eine andere, eine neue Moral, und sie suchen ihr eine höhere Sanktion zu geben, indem sie diese Ehre – neben dem »Blut« – zum Fetisch einer neuen »Religion« machen.
Gewiß ist Selbstbehauptung und Verteidigung eigener Rechte oft eine sittliche Forderung. Die Moral der Güte ist nicht eine Moral der Schwäche. Allgemeines Nachgeben und Verzichten kann nicht zum Grundsatz friedlichen Zusammenlebens gemacht werden, denn das würde zu einer Herrschaft der Frechen und damit zum Chaos führen. Aber von dieser Einsicht bis zu dem geschilderten Ehrbegriff ist ein ungeheurer Schritt, dessen Weite der großen Menge, die so unfähig ist, geistige und moralische Entfernungen abzuschätzen, nicht zum Bewußtsein kommt.
Was geschieht, wenn der Staat an die Stelle einer Moral der Güte eine Religion der Ehre zu setzen sucht? Zunächst ist klar, daß sie der Willkür der Führer den weitesten Spielraum schafft. Denn der neue Fetisch ist immer noch ein Schatten, und es hängt von der Deutung ab, wovon er der Schatten ist. Wenn nämlich Ehre in der rücksichtslosen Behauptung der eigenen Rechte besteht, so kann sie immer noch das allerverschiedenste sein, je nachdem, was denn alles als eigenes Recht proklamiert wird. Und sowie wir hiernach fragen, erkennen wir, daß es eine Irreführung war, als man uns sagte, die Ehre einer Nation sei ein besonderes Ziel neben dem Glück, der Macht, der Größe und Dauer eines Volkes. Denn die Rechte, deren Verteidigung die »Ehre« eines Volkes ausmacht, müssen sich in irgendeiner Weise auf die genannten Güter beziehen, sie können nicht selbst wiederum durch bloße Formalbegriffe wie Ehre erklärt werden.
Damit nehmen wir die Betrachtung wieder dort auf, wo wir oben ihren Gang unterbrachen. Wenn »nationales Empfinden« alle jene Gefühle umfaßt, die sich aus der Liebe und Ehrfurcht entwickeln, die wir gegenüber den Einflüssen unserer Umgebung, der die Bildung des eigenen Wesens zu verdanken ist, naturgemäß empfinden, so handelt es sich um Triebe, die nicht aggressiv sind und uns zu guten Bürgern der Heimat machen, ohne ein Gefühl des Gegensatzes zwischen dem Vaterland und anderen Ländern zu erzeugen. Das Glück des eigenen Volkes ist in der Tat das Ziel, auf welches alle Handlungen sich richten müssen, die sich irgendwie auf den Staat und seine Einrichtungen beziehen, etwa auf Formulierung von Gesetzen, Einleitung von öffentlichen Arbeiten usw. Und es gibt auch keinen Staatsmann, der den Untertanen nicht Glück verspräche, wenn sie ihm folgen – oder wenigstens die äußerlichen Vorbedingungen dafür, nämlich möglichst gesicherte Existenz und möglichst viel Gelegenheit zur Lebenslust: Brot und Freude, panem et circenses. Ein Blick auf die großen Staats- und Parteiprogramme lehrt unzweideutig – was ja auch selbstverständlich ist –, daß Wohlfahrt und Lebensfreude der Angehörigen des Volkes als Aufgabe aller staatlichen Maßnahmen betrachtet und von den Regierenden als ihre Zwecke angegeben werden.
Die Ausnahmen sind nur scheinbar. Es wird zwar manchmal verkündet, daß nicht Annehmlichkeiten und Freuden des Lebens das Ziel seien, sondern daß diese sogar geopfert werden müßten – um der Macht und Dauer des Volkes, kurz um seiner »Größe« willen.
So sprechen die Führer immer dann, wenn es ihnen nicht gelungen ist, ihre Versprechungen zu erfüllen, durch die sie das Volk für ihre Absichten gewannen. Sie erklären dann, daß die besseren Zeiten, die sie versprachen, nichts mit materiellem Wohlleben zu tun hätten: das sei ein Ziel, welches nur von den früheren miserablen Regierungen verfolgt worden sei, die schändlicherweise ihr Volk zu Schwelgerei und Vergnügungssucht erzogen hätten; das »bessere« Leben, auf welches die Bürger ein Anrecht hätten, sei nicht ein zufriedeneres, sondern ein edleres. Die höhere Existenz sei streng und karg, voller Verzichte, die man um des großen Zieles willen auf sich nehmen müsse. Welches Zieles? Hier begehen die Führer meist die Inkonsequenz, daß sie als Endzweck doch wieder einen Zustand des Überflusses in Aussicht stellen, wenigstens für die Kinder – oder sie versprechen dem Volk »Größe« als Lohn für sein Ausharren.
Aber das sind nur Umschreibungen, durch die der Eitelkeit des Volkes geschmeichelt wird. Das Bewußtsein der Kraft und das Schwelgen in Machtvorstellungen gehört eben auch zur Lebenslust und kann mindestens eine Zeitlang andere Freuden entbehrlich und große Opfer leicht erscheinen lassen. – Aber wenn das Streben nach Macht einmal befriedigt, wenn man endlich in ihren Besitz gelangt ist, dann wird sie immer auch zur Besserung der äußeren Lebenslage, zum Erwerb greifbarer Güter benützt. Das liegt in der menschlichen Natur und ist bei allen Völkern so gewesen. Wozu sollte Macht auch verwendet werden, wenn nicht zu derlei Dingen? Ja, ohne solche Verwendung ist Macht überhaupt ein Abstraktum ohne reellen Inhalt, eine bloße Möglichkeit ohne Wirklichkeit. Wie das Wort »Ehre« leer blieb, solange nicht gesagt wurde, wodurch man sie erwirbt und verliert, so ist das Wort »Macht« ohne Bedeutung, wenn man nicht weiß: Macht wozu? So erhält das Wort »Macht« in seiner Anwendung auf ein Volk schließlich doch nur den Sinn einer Fähigkeit, allen Bürgern ein möglichst sicheres Dasein und reichen Lebensgenuß zu bieten. Und so faßt der einzelne das Wort auch stets auf, wenn von der Macht seiner Nation die Rede ist.
Und wie steht es mit der Größe? Auch hier ergibt sich ein Sinn erst, wenn man weiß, worin ein Volk groß sein soll. Jeder Maßstab ist willkürlich, und die Geschichte fällt kein absolutes Urteil; dies entsteht immer erst durch die Interpretation der Historiker. Bloße Quantität, räumliche und zeitliche Ausdehnung, erregt Bewunderung, aber sicherlich werden wir das Wesentliche des Römerreiches nicht in seinem Umfange erblicken, die Bedeutung der chinesischen Kultur nicht allein an ihrer Dauer durch die Jahrtausende ermessen. Die großen Weltreiche entstehen durch die kriegerische Überlegenheit der herrschenden Völker, die freilich, wenn sie nicht ganz vorübergehend sein soll, auf tieferer Voraussetzung als bloßer Kraft und Geschicklichkeit des Angriffs beruht. Meist lernen die Besiegten allmählich den Gebrauch der Machtmittel, und der Untergang des Weltreichs beginnt. Zweifellos läßt sich der Gebrauch der Machtmittel, so groß auch ihre technische Vollendung sei, leicht erlernen, ohne daß die übrige Kultur in ihrem ganzen Umfang aufgenommen werden müßte; die Japaner beherrschen vollständig die moderne Kriegstechnik, aber Shakespeare und Debussy können ihnen fremd bleiben.
Seit wir verlernt haben, die bloße Dauer zu bewundern und als Zeichen des Wertes anzusehen, betrachten wir auch den Untergang eines Volkes nicht mehr als Schande. Wenn Völker dem Ansturm des Barbarentums unterliegen, so beweist das nichts gegen sie, ebensowenig wie Nietzsches Krankheit etwas gegen seine Philosophie, Keats' früher Tod etwas gegen seine Dichtung beweist. Vielleicht, meine Freunde, ist Untergang gar der letzte Beweis höchster Blüte, wie die Agave stirbt, sowie der größte Augenblick ihres Daseins vorbei ist; vielleicht ein Zeichen vollkommener Reife, wie der Apfel vom Baum fällt, wenn er nicht mehr süßer werden kann. Kraft und Gesundheit sind unermeßliche Werte, aber laßt uns nie vergessen, daß sie es nicht an sich sind, sondern nur als Mittel und Vorbedingung der Freude, welche zuletzt der einzige wahre, in sich selbst ruhende Wert ist! Wie, wenn sie keine notwendigen Bedingungen wären, wenn es etwas gäbe, das so fein und rein ist, daß selbst Krankheit und Schwäche ihm nichts anhaben können? Würden die Götzenanbeter der Kraft und Gesundheit es verantworten wollen, wenn man etwa alle kranken Dichter getötet hätte? Was sind hundert gesunde, rohe Lümmel gegen einen glühenden Geist, wenn er auch in einem kranken Leib wohnt?
Die »Größe« eines Volkes, wie sie in den Worten und Gedanken seiner Staatsmänner lebt, ist, fürchte ich, oft etwas, das ein Barbarenvolk viel leichter haben und erreichen kann als eine Kulturnation. Da sprechen sie mit Stolz von der Zahl der Jahrhunderte, die ihr Volk schon existiert habe und mit Prahlerei und erstaunlichem Ernst von den Jahrtausenden, die es noch existieren werde; da suchen sie ihre Volkszahl unablässig zu vermehren und neue Landflächen als Lebensraum zu gewinnen, obgleich sie wissen, daß die Erde bald zu klein würde, wenn alle Völker dasselbe täten. Ist eine solche Überschätzung von Zeit, Raum und Zahl mit dem Begriff des Kulturvolkes vereinbar? Hat eine Nation wirklich Anlaß zum Jubel, wenn ihre Zahl um eine neue Million zugenommen hat, oder wäre nicht auch ein Volk der Bewunderung wert, das da sagte: »Was ist Menge? Was ist Dauer? Wozu soll es immer mehr von unseresgleichen geben? Laßt uns doch einmal versuchen, ein kleines, aber dafür wahrhaft großes Volk zu werden! Wir wollen nur eine Million sein – aber dafür jeder einzelne ein Wesen, das die Erde zu tragen stolz sein darf –, jeder einzelne gütig und klug, mutig und schön, adelig durch hohe Gedanken und starke Gefühle!« Wie wäre es, wenn die Völker einmal darin wetteiferten, nach solchen Ideen zu leben? Es gäbe keinen Kampf um die Erde, und die bejahende Arbeit an der eigenen Vollendung ließe ihnen keine Zeit für die verneinenden Gefühle des Hasses und Neides.
Es ist naturnotwendig, daß die Menschen sich einst mit dem Gedanken der Beschränkung ihrer Zahl vertraut machen müssen, denn die Erdoberfläche ist endlich; da wäre es kein schlechter Anfang, wenn sie diesem Gedanken nicht erst durch groben Zwang, sondern durch frühe und tiefe Besinnung nähergebracht würden. Seitdem ärztliche Kunst und Hygiene die Ursachen einer natürlichen Beschränkung der Volkszahlen fast beseitigt haben, muß immer wieder erwogen werden, wie man zu einer Regelung kommen kann, ohne den brutalen Weg der Tötung zu beschreiten (die auf jeden Fall brutal bleibt, ob sie nun einen Monat nach der Konzeption oder [im Kriege] zwanzig Jahre danach geschieht.) Es bedarf keines großen, verwickelten Systems, sondern nur eines Verantwortungsgefühles und einer ruhigen (nicht asketischen) Selbstbeherrschung. Selbstbeherrschung ist ja – neben der Güte – die Grundlage aller Moral, ihre vornehme Grundlage. Auch für eine Nation ist Selbstbeherrschung, Haltung, maßvolle Besonnenheit die Voraussetzung einer vornehmen Existenz. Kann aber ein Volk groß sein ohne Vornehmheit? Ich meine, seine Größe wäre höchstens die eines Heuschreckenschwarmes oder einer Elefantenherde: auch die könnten sich über die ganze Erde ausbreiten und vieltausendjährige Reiche bilden. Und gesetzt, der Heuschreckenstaat und der Elefantenstaat lägen in erbitterter Fehde miteinander, die Jahrtausende lang auf und ab wogte: gäbe das eine »Geschichte«, die des Aufschreibens wert wäre? Wie unvorsichtig geht Ihr mit dem Worte »Größe« um! Nicht einmal der Ozean und die Berge sind groß durch ihre bloße räumliche Erstreckung, sie sind es nur durch ihre Wirkung auf den Menschen – also ist auch ihre Größe »geistig«.
Weshalb ist räumliche Ausdehnung seines Herrschaftsbereiches für ein Volk wertvoll? Nicht an sich selbst, sondern dadurch, daß die Hilfsmittel der beherrschten Länder zur Erhöhung des Lebens beitragen, wie das bei den Römern der Fall war und wie es im Britischen Weltreich heute der Fall ist.
Es ist aber klar, daß politische Herrschaft über alle Bezirke der Hilfsquellen bestenfalls eine hinreichende, nicht aber eine notwendige Bedingung für den Austausch der Werte bietet, die ein Volk dem anderen, eine Landschaft der anderen zu geben vermag; sondern dasselbe Ziel ist auf dem Wege gegenseitiger Vereinbarung zu erreichen. Und im Prinzip führt dieser Weg viel weiter, denn man kann sich mit den Menschen aller Himmelsstriche verständigen und mit ihnen verkehren, aber man kann nicht alle unterjochen. Je weniger »künstlich« die Begrenzung und Regierung der Staaten ist, desto mehr findet Austausch und Anregung ganz von selbst statt, und zwar besonders in der wirksamsten Form, nämlich zwischen Individuen und kleinen Gruppen. Die Aufrichtung der Grenzen zwischen den Staaten, die in der Gegenwart uns das Leben so schwer macht, unterbindet diesen Prozeß, und jeder Staat muß für sich versuchen, den angerichteten Schaden durch künstliche Handelsverträge wieder auszugleichen. Es steht so schlimm, daß oft sogar gegen den geistigen Austausch unsichtbare Grenzen gezogen werden, indem man von Staats wegen innere Widerstände gegen die Aufnahme »volksfremder« oder auch »rassenfremder« Ideen züchtet. Derartiges blieb unserer Zeit vorbehalten. In der Zeit, in der Schiller schrieb: »Es ist ein ärmliches Ideal, nur für eine einzige Nation zu schreiben«, ahnten wohl wenige, daß der Staat einst den Versuch machen würde, auch die Ausbreitung des Geistes räumlich einzuschränken. Dankbar muß man den Regierungen sein, welche mit anderen sogenannte »Kulturabkommen« schließen und Institute zur Pflege der geistigen Beziehungen zwischen Nachbarvölkern errichten – aber daß solche Maßnahmen überhaupt nötig sind, daß die Ströme der Ideen nicht ganz von selbst über alle politischen Grenzen frei und leicht hinüber- und herüberfluten: das ist kein gutes Zeichen der Zeit.
*
Wenn das räumliche Beisammenwohnen zum Prinzip der Zusammengehörigkeit gemacht wird, so entstehen alle jene Übel des Gegeneinander, unter denen die in Staaten zerstückelte Welt am meisten leidet. Denn es sind in letzter Linie territoriale Fragen, aus denen der Unfriede entspringt. Bodenschätze, Rohstoffe, Fruchtbarkeit des Landes, Vorzüge seiner geographischen Lage: das sind die Dinge, die als treibende Kräfte das Verhältnis zwischen den Völkern bestimmen und von denen Krieg und Frieden abhängt.
Welche Prinzipien der Zusammengehörigkeit gibt es noch außer dem räumlichen? Am wirksamsten scheinen in der Geschichte die folgenden gewesen zu sein: gemeinsame Abstammung, gemeinsame Beschäftigung, gemeinsame Überzeugungen, besonders auf politischem und religiösem Gebiet.
Die Abstammung bildet das Prinzip des Rassenstaates, die gemeinsame praktische Tätigkeit das Prinzip des Ständestaates, die Überzeugungen politischer Art geben das Prinzip des Parteienstaates, gemeinsamer religiöser Glaube aber führt zu den großen Organisationen, die man Kirchen nennt.
Die Trennung der Menschheit nach Rassen geht meist, von den bekannten Ausnahmen abgesehen, mit einer räumlichen Absonderung Hand in Hand. In geringerem Grad gilt dies von der Trennung nach Glaubensbekenntnissen. Die verschiedenen Stände und Parteien aber wohnen stets ganz und gar durcheinander; Zünfte und Parteien versuchen im allgemeinen nicht, ihre Mitglieder räumlich voneinander zu sondern. In den beiden letzten haben wir es also mit rein innerlichen Grundsätzen der Trennung und der Zusammengehörigkeit zu tun, deren Auswirkung wir studieren können.
Man kann nicht einfach fragen: welche Menschen sollten sich zusammenschließen? – sondern die Frage hat nur Sinn, wenn der Zweck des Zusammenschlusses angegeben ist. Es könnte ja sein – und es verhält sich wirklich so –, daß für verschiedene Zwecke verschiedene Gruppenbildungen erforderlich sind, so daß die Grenzen der Gruppen sich überschneiden müssen. Zwei Menschen können innerhalb eines Tierschutzvereines vortrefflich zusammenpassen, während sie sich innerhalb eines politischen Vereines nicht vertragen würden.
Unsere Frage war aber, welche Menschen sich zur Staatenbildung zusammentun sollen. Was heißt das aber eigentlich? Was ist das für ein Zweck, um den es sich hier handelt? Offenbar hängt das davon ab, welchen Zweck der Staat selber hat. Der Zweck, den wir ihm zuschrieben, war der des Friedens und der Sicherheit. Nach welchem Prinzip muß die Gruppierung stattfinden, damit dieses Ziel erreicht wird? Wenn sich herausstellen sollte, daß andere Ziele andere Gruppierungen erfordern, die der staatlichen widersprechen, so würde alsbald folgen, daß der Staat es nicht auf sich nehmen kann, jene anderen Ziele zu seinen eigenen zu machen; er muß sie anderen Organisationen überlassen; sonst gerät er in Konflikte durch die Unmöglichkeit, mit seinen Mitteln Zwecke zu verfolgen, die mit seinem höchsten, dem Frieden, nicht ohne Rest vereinbar sind. Die Mittel und Zwecke des Staates können wir zum Unterschied von allen anderen Mitteln und Zwecken als politische bezeichnen. Dann folgt – und an diesem Satze halte ich unter allen Umständen fest: der höchste Zweck der Politik ist der Friede.
Welche Grundsätze sind es, die den politischen Zusammenschluß der Menschen bestimmen müssen, damit der Zweck des Staates, der Friede auf Erden, erreicht werde? Ich habe keinen Grund, mit dem Leser Verstecken zu spielen oder ihn erst durch vorsichtige Vorbereitungen für die Wahrheiten empfänglich zu machen, die ich zu sagen habe. Deshalb erkläre ich schon jetzt ohne Umschweife, daß von den aufgezählten Prinzipien des Zusammenschlusses kein einziges mir geeignet zu sein scheint, als Grundlage des natürlichen Staates zu dienen. Rasse, Religion, politische Überzeugung, Interesse und Beschäftigung – sie sind alle nicht das Wichtige, sie können alle nicht Fundamente des großen Friedens sein, sondern die einzig zuverlässige Grundlage ist der Charakter der Menschen, ihre ethischen Eigenschaften (nicht »Überzeugungen«).
Die Menschen von Charakter, die Gütigen und Friedfertigen, gehören »von Natur« zusammen, sie bilden die unsichtbare Civitas dei, die Gemeinschaft, welche überstaatlich, übernational, überkonfessionell und überparteilich ist. Die Bande, die sich zwischen Charakteren knüpfen und aus Sympathie gewoben sind, haben mehr Kraft als die der Sitte, Erziehung, Religion, des sogenannten Blutes und alle anderen. Werde ich nicht tausendmal lieber mit einem Chinesen gemeinsame Sache machen, den ich als zuverlässig und von gütiger Gesinnung erkannt habe, als mit einem Europäer, der unaufrichtig und selbstsüchtig ist? Was nützt es, daß der Weiße im übrigen dieselben Lebensgewohnheiten besitzt wie ich, dieselben Studien getrieben hat, derselben Konfession angehört? Und was verschlägt es, daß der gelbe Mann ganz anders lebt und denkt als ich, sich anders kleidet und anders speist? Ist nicht trotzdem die Scheidewand zwischen ihm und mir viel dünner, verstehe ich mich mit ihm im letzten Grunde nicht unvergleichlich besser als mit jenem anderen, der äußerlich so viel mit mir gemeinsam hat?
Da jeder Kampf unmoralisch ist, außer wenn er sich gegen Unmoralisches richtet, so darf man nie eine politische Partei als solche bekämpfen, sondern nur das Unsittliche an ihr. Sowie dies aber geschieht, ist der Parteienstreit eigentlich kein Streit der Parteien mehr, sondern von Gruppen, die sich mit den Parteien nicht mehr decken, sondern ganz anders definiert sind als durch deren politische Ziele. Mit anderen Worten: Die moralische Einstellung würde die Auflösung der Parteien selbst bedeuten. Oder sie würde dahin führen, daß neue Parteien sich bilden, die sich aber nun durch ihre moralischen Anschauungen unterscheiden. Da wäre man denn bei den wirklichen Gegensätzen angelangt, die auf einer höheren Ebene Ausgleich finden müssen.
*
Unser Begriff vom Staate ist: Zusammenschluß zum Schutz aller gemeinsamen Lebensnotwendigkeiten. Bei dieser Definition bleibt es gänzlich offen, ob die Grenzen des Staates – das heißt: der Umkreis der Bürger, die zu ihm gehören – durch örtliches Zusammenwohnen bestimmt werden, ob es also Grenzen im Raum sind, oder ob die Trennung durch ein anderes Prinzip erfolgt. Also nicht nur Länder oder Ländergruppen verdienen den Namen des Staates, sondern er könnte auch ganz anderen Organisationen zukommen, vorausgesetzt nur, daß sie dem Zweck des allgemeinen Schutzes dienen. Dies letztere trifft z. B. für die Kirche offenbar nicht zu, wir dürfen daher von ihr zunächst nicht wie von einem Staat reden, obwohl es natürlich vorkommen kann, daß sie sich zu einem Staat entwickelt, indem sie seinen Zweck in sich aufnimmt und ihre Prinzipien mit den seinen verschmilzt.
Die nächstliegende Möglichkeit, durch ein nicht räumliches Prinzip zur Staatenbildung zu gelangen, scheint der Zusammenschluß nach politischen Überzeugungen zu sein. Auf den ersten Blick ein sehr natürlicher Prozeß, denn das Politische ist ja das Staatenbildende. Ansätze dazu liegen, wie gesagt, im Parteienstaat vor – aber es sind nur Ansätze, da die Parteien normalerweise keine Staaten im Staate sind. Dazu fehlen ihnen die typischen Machtmittel, die zum Schutz nach innen und außen nötig sind; diese bleiben dem Lande und seiner Regierung vorbehalten. Wissen sie sich die Machtmittel dennoch zu verschaffen, sei es durch geheime Rüstungen, sei es durch Überredung eines Teiles des Heeres oder der Polizei, so wird sich die Spannung alsbald in Revolution und Bürgerkrieg entladen. So schrecklich solche Ereignisse auch sind, so ist doch zu bemerken, daß sie unvergleichlich weniger verlustreich und blutig zu verlaufen pflegen als Kriege zwischen räumlich getrennten Staaten, also zwischen feindlichen Ländern. Dies spricht wiederum dafür, daß man entgegengesetzte Tendenzen, wenn sie schon vorhanden sind, nicht auch räumlich voneinander trennen, sondern die Gegner untereinander mischen soll. Dann erfolgt der unvermeidliche Ausgleich in geringeren Katastrophen. Wenn die Gegner und die Anhänger der Sklaverei in den Vereinigten Staaten nicht auch geographisch in Nord- und Südstaaten voneinander geschieden gewesen wären, so hätte der Bürgerkrieg nicht so gewaltige Dimensionen annehmen können.
Stellen wir uns einmal vor, daß die Trennung nach politischen Überzeugungen an die Stelle der Einteilung in geographische Staaten träte. Dann gäbe es keine Länder im üblichen Sinn, wohl aber politische Organisationen, deren Mitglieder durch alle Erdteile und Gegenden zerstreut ihre Wohnsitze hätten. Jede dieser unsichtbaren Gemeinschaften könnte ihre eigenen Gesetze, ihre eigenen Sitten, ihre eigene Rechtspflege und Exekutive und auch ihre eigene Staatsform haben, es könnte unsichtbare Republiken und Monarchien geben, aber die Präsidenten und Fürsten würden nicht über Territorien herrschen, sondern nur über Menschen, die ihrem Staat freiwillig angehören. Denn da die Überzeugungen des einzelnen sich ändern können, so liegt es im Prinzip der Sache, daß der Übertritt von einer Organisation zur anderen jederzeit stattfinden kann.
Allerdings wäre ein solcher Zustand nur dann von innerer Festigkeit, wenn er auch besondere Regeln für das gegenseitige Verhältnis zwischen den Mitgliedern verschiedener Organisationen (ich sage absichtlich nicht: zwischen den Organisationen selbst) gäbe; man müßte sich also auf ein gewisses Minimum von überstaatlichem oder interstaatlichem Recht geeinigt haben und, wenn man will, kann man sagen, daß dies eben auf die Konstitution eines einzigen Weltstaates hinausliefe. Aber die Grenzen zwischen einem umfassenden und vielen kleinen, durch Regeln verbundenen Staaten sind immer fließende; es ist unwesentlich, welchen Namen man der Sache gibt. Der »Weltstaat« wäre unter den gedachten Umständen sehr verdünnt, er wäre durch relativ sehr einfache Regeln konstituiert, die sich wahrscheinlich auf Festsetzungen über Schiedsgerichtsbarkeit beschränken könnten. Man würde etwa – um ein Beispiel anzuführen – bestimmen, daß Streitigkeiten zwischen zwei Mitgliedern verschiedener Parteien durch ein Gericht zu schlichten wären, das sich aus lauter Mitgliedern anderer Parteien zusammensetzt, die auch im Notfall durch ihre vereinte Polizeimacht für die Durchführung der Beschlüsse zu sorgen hätten.
Es wäre durchaus nicht schwer, derartige Weltstatuten aufzustellen (oder vielmehr anzuwenden, denn die Aufstellung ist immer leicht); denn wenn man sieht, mit welchem Minimum von internationalen völkerrechtlichen Bestimmungen selbst heute die Staaten in normalen Zeiten erträglich nebeneinander existieren, so erkennt man, daß solche allgemeinste Regeln die Tendenz haben, gleichsam von selbst zu funktionieren, weil das allgemeine Interesse an ihrem Bestehen groß ist. Immer nur kleineren Gruppen oder Individuen können sie vorübergehend hinderlich sein und schlecht erscheinen, aber diese haben dann sofort den Willen der mächtigen Majorität gegen sich, dem sie sich fügen müssen.
Die wesentliche Voraussetzung ist allerdings wieder, daß die Mitglieder der Gruppen miteinander vermischt leben, denn sowie eine räumliche Trennung eintritt, entstehen neue Interessen und Komplikationen. Die Wirksamkeit unserer Kriminalgesetze beruht auch darauf, daß Verbrecher Leute sind, die einzeln oder in kleinen Gruppen innerhalb der menschlichen Gesellschaft leben. Täten sie sich zu Zehntausenden zusammen, um etwa eine eigene Stadt zu bilden, so kämen wir mit den gewöhnlichen Gesetzen und Maßnahmen nicht mehr aus. Durch räumliche Absonderung wird allgemein die Notwendigkeit verringert oder aufgehoben, aufeinander Rücksicht zu nehmen. Die Interessen werden isoliert und jede Gruppe kann ungestört ihre eigenen verfolgen – oder glaubt wenigstens, dies tun zu können, während in Wirklichkeit früher oder später doch eine Berührung mit den anderen eintritt, aus der sich alsbald ein feindlicher Gegensatz entwickelt.
Die Konflikte zwischen Staaten, die die gegenwärtige Menschheit peinigen, entstehen dadurch, daß es eben Länderstaaten sind, durch räumliche Grenzen getrennt. So kommt es, daß jeder Staat glaubt, sagen zu dürfen: »Das ist eine innere Angelegenheit, in die hat uns kein anderer etwas dreinzureden.« Wenn an die Stelle der räumlichen Trennungen rein innerliche, seelische träten, so gäbe es keine »inneren« Angelegenheiten mehr – oder, was auf dasselbe hinausliefe –, alle Angelegenheiten wären »innere«. Die Interessen ließen sich nicht isolieren, die Andersgesinnten wären immer in der Nähe; was wir tun, ginge sie stets auch etwas an, alle Pläne müßten von vornherein mit Rücksicht auf sie geformt werden, die Gegensätze könnten sich nicht zu Völkerkonflikten zuspitzen.
Das Unnatürliche an unseren Staaten sind ihre Grenzen. Jede räumliche Grenze ist unnatürlich, weil es nie einen vernünftigen Grund gibt, daß auf der einen Seite gut heißen sollte, was auf der anderen schlecht heißt. Ursprünglich, als es an Mitteln des Verkehrs noch mangelte, waren die Völker durch Meere und Gebirgszüge getrennt, sie konnten nicht zueinander kommen und konnten sich daher nicht gegenseitig anpassen. Da dachte man: Grenzen müssen sein, denn es gibt sie sogar in der Natur, und man führte Trennungslinien ein, wo gar keine waren. Gebirge und Meere hat man zu überwinden gelernt – aber die von Menschen gemachten Grenzen zu durchbrechen –, das scheint eine zu schwere Aufgabe zu sein.
Man führt in der Gegenwart ja oft eine platonische Klage über das Vorhandensein von Grenzen, besonders wirtschaftlichen. Aber man sieht wohl nicht, wie tief die Quelle des Übels liegt, nämlich in dem Wesen der Staaten selber. Dieses muß geändert werden, nur dann können die Grenzen verschwinden.
Es ist nicht so, daß man die Ländergrenzen durch Übereinkommen einfach auslöschen könnte, denn sie sind höchst reale Erzeugnisse menschlichen Handelns. Wenn wir von Italien nach der Schweiz, von Deutschland nach Frankreich hinübergehen, so finden wir, daß es diesseits der Grenze wirklich ganz anders ist als jenseits. Die Grenzen können natürlich nur wegfallen, wenn diese Unterschiede verschwinden, ebenso wie die Trennungslinie zwischen zwei Farben einer Fläche erst dann nicht mehr existiert, wenn beide Teile gleichfarbig geworden sind.
Man muß unwissend und beschränkt sein, wenn man glaubt, daß durch solche Mischung die bunte Mannigfaltigkeit der Erde, die ich doch gerade preise, in Eintönigkeit verwandelt würde. Durch Mischung der Individuen entstehen im Gegenteil immer neue individuelle Verschiedenheiten, und auf diese kommt es beim Kulturfortschritt an. Ein Volk, das nur aus sich selbst sich vermehren will, verzichtet auf einen wichtigen Faktor der Erneuerung und Überwindung der eigenen Eintönigkeit. Durch Mischung wird die individuelle Verschiedenheit größer, aber die räumliche Verteilung gleichförmiger. Gleichförmige räumliche Verteilung mit möglichst großen individuellen Unterschieden bedeutet nicht Eintönigkeit, sondern das Maximum an Buntheit.
Die Frage war: Nach welchem Prinzip sollen sich Menschen zu Gemeinschaften zusammenschließen, um des Schutzes gegen äußere Feinde teilhaftig zu werden, den der Einzelne sich nicht selbst geben kann, weil dazu die vereinte Stärke vieler nötig ist? Daß das Räumlich-geographische dabei auf jeden Fall eine Rolle spielen muß, geht schon aus dem Begriff des »äußeren« Feindes hervor, der »Zusammenschluß« wird immer auch ein räumlicher sein müssen; die Frage ist also die, nach welchem Prinzip die Menschen beieinander wohnen sollen: ob es etwa gut wäre, daß alle die einen Staat bilden, die ihre Wohnsitze in einem geographisch definierten Bezirk (Halbinsel, Raum zwischen zwei Gebirgszügen etc.) durch Zufall erhalten haben, oder ob vorher dafür gesorgt werden muß, daß sich in einem solchen Raum nur solche ansiedeln, die vermöge eines anderen Prinzips schon zusammen »gehören«. Wann gehören Menschen von Natur zusammen? Wenn sie so beschaffen sind, daß sie sich gegenseitig verstehen, vertragen und fördern. Aber wann ist dies der Fall? Wenn alle derselben Idee dienen? Vielleicht, aber wenn dies nun eben die Idee ist, daß sie zusammengehören, so sind sie in den tragischen Zirkel eines sinnlosen Nationalismus verwickelt. Gibt es echte Ideen, die wirklich zusammenschließen? Religionen? Auch sie haben die Probe nicht bestanden, denn sie haben nicht nur die Gläubigen geeint, sondern gegen die Ungläubigen die blutigsten Kriege entfacht; auch das Christentum vermochte die große Hoffnung nicht zu erfüllen, die Dante und Campanella darauf setzten: es hat die europäische Menschheit nicht geeinigt. Wie eine Kriegserklärung gegen jede Einigung der Völker durch Religionen muten die modernen Versuche an, das Volk (das »Blut«) selber zum Gegenstand religiöser Verehrung zu machen und die nationale Glut durch das religiöse Feuer zu vermehren. Nationale Gegensätze würden beim Gelingen solcher Versuche immer auch religiöse sein, die Idee einer übernationalen Religion würde so lächerlich gemacht wie die einer völkerverbindenden Humanität.
Diese Idee der Humanität – hat man ihr je Gelegenheit gegeben, ihre ganze Macht zu entfalten? Täte man es, so brauchte man nach keinem anderen Leitstern zu suchen. Denn der Gedanke der Menschlichkeit ist zugleich der moralische Gedanke und der einzig echte Kern aller Religionen. Ja, auf unsere Frage: »welche Menschen gehören denn zusammen?« brauchen wir keine andere Antwort als: »die guten Menschen«. Der gute Wille ist die einzige Gewähr des gegenseitigen Verstehens und Förderns, und wenn die Homines bonae voluntatis gegen alle anderen kämpfen, die keinen Frieden halten, so ist dies der einzige Krieg, der seine Rechtfertigung in sich selber trägt, der einzige, in dem auch der Philosoph die Fahne vorantragen kann, der einzige vernünftige und natürliche Krieg. Der gute Wille allein kann letztes Prinzip des Zusammenschlusses sein; der so gebildete Staat ist die wahre Civitas dei, und alle Staatenbildungen, die auf anderen Prinzipien beruhen, sind Civitates diaboli.
Streben nach Abtrennung, Isolierung verhindert die Entwicklung eines Zustandes friedlichen Zusammenlebens, es verhindert die Entstehung einer Völkermoral. Sittlichkeit ist immer das Produkt des Zusammenlebens. Lebten die Menschen völlig voneinander getrennt und abgeschlossen, so gäbe es kein Gut und Böse im Handeln, sondern nur Nützliches und Schädliches im gröbsten Sinn, es gäbe keine Güte, keine Gerechtigkeit, keine Rücksicht, niemand würde vom Handeln des Einsamen berührt, denn niemand wüßte davon. Wer sich sein eigenes Gesetz allein geben will, muß sich räumlich absondern, mit Grenzen umgeben. Bei Staaten nennt man das »Autarkie«. Autarkie verhindert zwischenstaatliche Moral. Damit Sittlichkeit sich entwickeln kann, muß jeder einzelne mit vielen anderen seinesgleichen täglich in Berührung kommen. Unablässiger Verkehr und wechselseitiges Handeln bilden die Voraussetzung jener Prozesse, die zu Gewissensbildung, zur Ehrfurcht vor den Regeln des Zusammenlebens führen.
Es gibt nur ein Fundament des wahren, dauernden Staates, das ist die Moral. Sucht nach keinem anderen! Wenn Ihr die Welt nicht durch Güte und Gerechtigkeit regieren wollt, so werdet Ihr sie überhaupt nicht regieren, sondern Kampf und Zwist werden aus Eurer Saat aufgehen und Eure Werke verschlingen.
*
Schützt der Staat das Individuum gegen äußere Feinde? Geschieht es nicht oft genug, daß er ihm neue schafft? Ja, wird er nicht selbst zum Feind des einzelnen, zum unerbittlichen Zwingherrn? Und manchmal wird es so arg, daß der Mensch lieber eine noch größere Unsicherheit mit Gefahren von außen in den Kauf nehmen würde, als die Tyrannei des Staates zu ertragen, der ihn ständig mit seinen Drohungen verfolgt und ihm dadurch mehr von seiner Freiheit raubt als ein äußerer Feind tun könnte. Beeinträchtigung der Freiheit aber ist überall dort, wo verboten wird, was »vor Gott« erlaubt ist (viele moralische Dinge lassen sich immer noch am besten in der theologischen Sprache ausdrücken).
*
Es ist vollkommen richtig, daß die Interessen des Individuums, der Nation und der ganzen Menschheit letzten Endes zusammenfallen. Aber ebenso wie das Individuum am glücklichsten wird, wenn es sich dem Dienst der anderen widmet und nicht seine eigenen Zwecke direkt verfolgt, so wird der Menschheit nicht dadurch am besten gedient, daß wir alles nur für die Nation tun, sondern umgekehrt: der Nation dienen wir am besten, wenn wir den Blick auf die Ziele der Menschheit gerichtet halten.
*
Unterdrückung der Gewissensfreiheit muß schließlich jedem Machtstaat gefährlich werden. Die Gefahr besteht für ihn darin, daß er sich lächerlich macht – und je mehr er lächerlich erscheint, desto weniger wird er fürchterlich erscheinen. Der Politiker, der dem Bürger eine bestimmte Weltanschauung vorschreiben will (denn hierin artet die Lenkung der Meinungsäußerungen leicht aus), ist in der Tat eine komische Figur. Wer ist er denn, daß er sich zu entscheiden anmaßt, welche von allen Philosophien die einzig wahre sei? Denn den Zynismus dürfte sich kein Herrscher erlauben können, daß er seinen Untertanen erklärt: »Ich weiß zwar nicht, ob die Weltanschauung wahr ist, die ich von euch fordere, aber ich fordere sie!«
Die Erfahrung lehrt, daß ein Staat eine Zeitlang ganz wohl dabei fahren kann, wenn kein Bürger eine Meinung äußern darf, die von der der Regierung abweicht – aber er ist doch ein Koloß mit tönernen Füßen. Denn ein Staat, der bewußt auf die Intelligenz seiner Bürger verzichtet, verzichtet auf ein lebenswichtiges Vitamin.
Wenn man die sittlichen Entschlüsse des einzelnen unter dem schönen Bild darzustellen pflegt, daß sein »Gewissen« in ihm seinem Egoismus entgegentritt und ihn überwindet, so brauchen auch Menschengruppen – Parteien und Staaten – ein Gewissen, wenn sich eine überindividuelle Sittlichkeit entwickeln soll. Die Repräsentanten der Gruppen und Völker, die in nationalen und internationalen Parlamenten zusammentreten, sollten das Gewissen ihrer Auftraggeber sein, nicht ihr Egoismus. Bisher vertreten sie fast immer nur den letzteren, besonders bei internationalen Verhandlungen. Sie haben den Auftrag, die »Interessen« ihrer Wähler oder ihres Staates zu verteidigen, sie sollten aber den Auftrag erhalten, für die Interessen der Menschheit zu sorgen, ob nun dabei dem eigenen Volk ein Opfer zugemutet werden muß oder nicht. Aber ein Diplomat oder Volksvertreter gilt als unfähiger Idealist, wenn es ihm einfallen sollte, einmal für ein höheres Interesse zu sprechen und zu stimmen als das des eigenen Volkes. Dabei würde er diesem letzten Endes dadurch gar nicht schaden, denn zum Schluß könnte es doch aus der von den höheren Prinzipien geforderten Harmonie nur Vorteil ziehen.
Es ist freilich schwer, auf das Wohl des Ganzen zu schauen und allein auf dieses, wenn man in einem bestimmten Kreise oder Volk erzogen wurde und auf Schritt und Tritt der Forderung gegenübersteht, dessen Anschauungen nicht zu widersprechen und dessen Wohl zu dienen.
Es müßte daher eine internationale Diplomatenschule geben, die nicht unter der Leitung eines einzelnen Staates steht und in welcher die Schüler in objektiver Weise die Anschauungen und Wünsche aller Völker gleichmäßig zu studieren hätten. Jeder Staat müßte verpflichtet sein, begabte Köpfe in jugendlichem Alter in diese Schule zu schicken, wo sie dann jahrelang jedem einseitigen Einfluß entzogen wären, etwa auf einer fernen schönen Insel lebend; und nur solche Absolventen dieser Schule dürften von ihrem Staate später zu diplomatischen Vertretern ernannt werden, deren Befähigung dazu durch das internationale Forum der Schule ausdrücklich anerkannt wäre. Dabei würde es natürlich nicht nur auf Wissen ankommen, sondern auch ganz besonders auf Charakter, auf Menschenliebe und Unbestechlichkeit des Urteils. Ich würde sogar dafür eintreten, daß nicht nur die Diplomaten, die ein Volk nach außen repräsentieren, diese Schule durchmachen müßten, sondern auch die Regierenden, welche an der Spitze ihrer eigenen Völker stehen. Denn ich glaube, daß nur der ein Volk gut leiten und behüten kann, der die Nöte aller Völker kennengelernt und dafür Verständnis gewonnen hat.
Aus der Geschichte, wie sie in Schulen und Universitäten betrieben zu werden pflegt, kann man ein solches Herzensverständnis im allgemeinen nicht erlangen. Die Historiker stehen in erschreckendem Maße unter der Herrschaft von Vorurteilen. Jemand, der gewohnt ist, in den reinen Atmosphären der Mathematik und Naturwissenschaft zu atmen, muß durch diesen Eindruck erschüttert werden, wenn er einen Blick in diejenigen Werke der meisten Geschichtsforscher wirft, in denen sie auf Fragen ihrer eigenen Zeit oder ihres eigenen Volkes zu sprechen kommen. So große Erscheinungen wie Ranke und Gibbon sind selten. Viele sind fast mehr Politiker als Historiker. Man sehe sich einen Menschen wie Treitschke an!
Deswegen sollte es auch internationale Universitäten geben, wo Geschichte, Literaturwissenschaft und besonders auch Jura in wahrer Objektivität gelehrt werden. Medizin, Naturwissenschaften und Mathematik sind Gott sei Dank ihrem Wesen nach so objektiv, daß es keiner Maßnahmen zu ihrem Schutz bedarf.