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2. Krieg und Wehrpflicht

Der Zweck des Staates ist Schutz und Sicherheit, also Friede. Sehen wir aber die modernen Nationen an, so scheint sein Zweck eher der Krieg zu sein. Gibt es nicht Staaten, deren Führer ausdrücklich und offen sagen, daß der Wehrhaftigkeit, also dem Kampfe, alle anderen Zwecke untergeordnet werden müßten und in deren innerem Aufbau diese Unterordnung wirklich durchgeführt ist?

Man sagt, Kriege seien natürlich. Nun, ich meine, Kriege von der Art, wie wir einen erlebt haben, sind das Unnatürlichste, was es geben kann. Selbst wenn man zugäbe (ich gebe es nicht zu), daß Streit und seine Austragung durch Gewalt vom Wesen des Menschen gleichsam nicht wegzudenken sei, so ist doch die Art des Streits und der Gewalt, die ein Krieg darstellt, für den unvoreingenommenen Betrachter schwer zum Wesen des Menschen hinzuzudenken. Wer schon bei einer Maschine, die Schuhe oder Brote erzeugt, den Eindruck des Unnatürlichen schwer los wird, dem müssen die verderbenspeienden Maschinen, die dazu erfunden sind, um möglichst große Menschenmassen auf möglichst bequeme Weise umzubringen, als wahrhaft teuflische Ungeheuer erscheinen. Das gilt auch von jener ungeheuren, aus Menschen bestehenden Maschine, in welche jene Mordwerkzeuge einbezogen sind: der Armee. Der Staat muß diese Institution mit einem Nimbus und einer Ideologie umgeben, deren Unklarheit sich in der Diskussion »Söldnerheer oder allgemeine Wehrpflicht?« verdeutlichen läßt.

Die Argumente, die man zu Gunsten des »Volksheeres« gegenüber dem Söldnerheer anzuführen pflegt, haben offenbar nur den Zweck, dem Volke die allgemeine Wehrpflicht als eine schöne und edle Sache erscheinen zu lassen; denn keinen Denkenden wird man über ihren Scheincharakter täuschen können. Ihr Trug wird offenbar an der einfachen Tatsache, daß der Söldner freiwillig dient, während die Wehrpflicht ein Zwang ist. Wo der Zwang beginnt, hört das Verdienst auf. Wenn es eine Ehre ist, seinem Vaterland mit der Waffe zu dienen, so hört diese Ehre in dem Augenblick auf, wo dieser Dienst zu einer Pflicht gemacht wird, deren Nichterfüllung durch schwere Strafen bedroht ist. Nur freiwilliges Tun kann Lob oder Tadel verdienen, ehrenvoll oder unehrenhaft sein. Sowie der Bürger mit Gewalt angehalten wird, die Waffen für seinen Staat zu tragen, verschwindet der Unterschied zwischen jenen, die Opfer für ihn bringen wollen, und jenen, die Opfer bringen müssen. Wenn der Staat den letzteren einredet, der Zwang sei ehrenvoll, so begeht er damit ein Unrecht an den ersteren, denn er hebt das auf, was sie auszeichnet. Ja, er nimmt – dies ist logisch völlig klar – dem Worte »Heldentod« seine eigentliche Bedeutung, wenn er es auf alle vor dem Feind Gefallenen anwendet, auch auf die, welche vor dem Feind nur standen, weil sie keine andere Wahl hatten. Erzwungenes Heldentum ist eine Contradictio in adiecto.

Dabei versteht es sich von selbst, daß alle Gefallenen und Invaliden unsere tiefste Sympathie verdienen, daß ihre Gräber gepflegt und die Gedanken an sie im Volke niemals ausgelöscht werden sollten – aber dies gilt für Söldner und Wehrpflichtige, für tapfere und Furchtsame in gleichem Maße, und nicht weil sie Helden sind, die der Ehren bedürfen, sondern weil sie unschuldige Opfer sind, soll ihr Gedächtnis bewahrt bleiben, ihre Grabmäler sollen Warnungen für die späteren Generationen sein.

Die Staaten, welche die allgemeine Wehrpflicht einführen, würden gut daran tun, einzugestehen, daß die Größe (und die geringeren Kosten) des Heeres der einzige wahre Zweck der Institution ist (wie England dies im Weltkriege tat) – das würde dem Staat ein viel würdigeres Ansehen und eine festere moralische Macht verleihen.

Immer wieder hört man sagen, daß der Militärdienst, abgesehen von der körperlichen Schulung, einer durch nichts anderes zu ersetzenden Erziehung gleichzuachten sei. Diese Behauptung hängt eng zusammen mit der anderen, daß ohne die stählende Wirkung von Kriegen ein Volk erschlaffen und zu großen Leistungen untauglich werden müsse. Wir wollen uns in der Kürze, welche so schlechte Argumente verdienen, mit beiden auseinandersetzen.

Eine erziehende Wirkung kommt dem Heeresdienst allerdings zu, nämlich bei denjenigen Naturen, die den Drill zu ihrem Schliffe und zur Stärkung ihrer Mannhaftigkeit nötig haben, aber nicht nur ist er durch andere Methoden ersetzbar, sondern diese sind ihm weit überlegen. Dies wird wiederum bereits durch einen leichten Hinweis auf Tatsachen bewiesen. Sind die Engländer vor dem großen Krieg Diese Bemerkungen beziehen sich gleich den vorhergehenden auf den Ersten Weltkrieg. physisch weniger leistungsfähig, sittlich schlechter erzogen gewesen als die Franzosen und die Deutschen, bei denen das System der allgemeinen Wehrpflicht eingeführt war? Wären die angelsächsischen Völker nach dem Kriege zum System der Söldnerheere zurückgekehrt, wenn sie darin den geringsten Nachteil für ihre Nationen hätten finden können? Daß durch Pflege des Sports und friedlicher Wettkämpfe alle Vorteile militärischer erreicht und übertroffen, alle Nachteile vermieden werden können, ist eine so triviale Wahrheit, daß ich sie gar nicht aussprechen würde, wenn es nicht gerade Pflicht des Philosophen wäre, sich, so schwer es ihm auch fallen mag, der Trivialitäten anzunehmen, die so vielen Volksführern unbequem sind.

Beim Militär muß der Rekrut seine Individualität gänzlich aufgeben, er wird zum Teil einer Maschine; beim sportlichen Spiel kommt alles auf die individuelle Leistung an; deswegen ist der Rekrut ein negativer, der Sportsmann ein positiver Faktor der Kultur.

Ferner ist militärische Ausbildung unmöglich, ohne daß dabei täglich an den letzten Zweck der Übungen erinnert würde: den Gebrauch der Waffen gegen einen Feind. Der Gedanke an Feinde, an persönlich nicht bekannte, irgendwo in der Ferne lauernde und drohende Menschen, die angreifen wollen oder angegriffen werden müssen, dieser Gedanke, daß es Menschen gibt, die nicht zu uns, zu unserer Nation gehören, sondern im Gegensatz zu uns stehen, anders sind als wir und anderes wollen, dieser in wesentlichen Zügen falsche Gedanke muß unablässig genährt, der Nationalismus muß gezüchtet werden; denn Soldaten sind ja nicht nur körperlich zu drillen, sondern auch mit Kampfgeist und »patriotischer« Gesinnung zu erfüllen. Alles das fällt im Sportleben fort; dort muß kein anderer Geist gepflegt werden als der der Kameradschaft der Menschen und Verwandtschaft der Völker.

Die Beweiskraft der angeführten Tatsachen könnte nur dadurch geschwächt werden, daß man behauptete, manche Völker bedürften vielleicht der Wehrpflicht nicht, um körperlich und sittlich auf der Höhe zu bleiben, für andere aber sei sie unentbehrlich. Auf dieses Argument gehe ich nicht ein, denn keine Nation wird es für ihren eigenen Militarismus geltend machen, weil sie sich offenbar damit selbst ein Minderwertigkeitszeugnis ausstellen würde.

Wilhelm von Humboldt verwirft die allgemeine Wehrpflicht, weil es von Übel sei, die Maschinisierung des Menschen, die der Dienst erfordert, und eine auf Krieg eingestellte Sinnesart und Lebensweise allgemein zu machen und in das tägliche Leben einzuführen. Er verwirft sogar die Einrichtung stehender Heere überhaupt, denn »wie verderblich muß es sein, wenn beträchtliche Teile der Nationen nicht bloß einzelne Jahre, sondern oft ihr Leben hindurch im Frieden, nur zum Behuf des möglichen Krieges in diesem maschinenmäßigen Leben erhalten werden?« W. v. Humboldt, »Grenzen der Wirksamkeit des Staates«, Breslau 1851. S. 50.

Dagegen findet Humboldt für den Krieg lobende Worte. Er sagt: »Ungern seh' ich ihn nach und nach immer mehr vom Schauplatz zurücktreten. Er ist das freilich furchtbare Extrem, wodurch jeder tätige Mut gegen Gefahr, Arbeit und Mühseligkeit geprüft und gestählt wird … Anderen, obschon gleich gefahrvollen Beschäftigungen, Seefahrten, dem Bergbau und so fort, fehlt, wenngleich mehr und minder, die Idee der Größe und des Ruhmes, die mit dem Kriege so eng verbunden ist A. a. O., S. 58.

Ähnliche Erwägungen werden auch heute manchmal noch angestellt, aber sie klingen uns schon fremdartig. Eine veränderte Zeit kommt uns zu Hilfe, sie zu widerlegen. Hatte Humboldt noch Mühe, Taten aufzuzählen, die an Gefährlichkeit den kriegerischen gleichkommen, so brauchen wir nur an die großen Leistungen unserer Alpinisten, Polarforscher, Flieger und auch vieler Ärzte zu denken, um Vorbilder zu finden, die den Kriegstaten nicht nur an Gefahren gleich, sondern hinsichtlich der »Bildung des Menschengeschlechtes« unendlich überlegen zu achten sind. Es dürften sich nicht leicht viele Kriegshelden finden lassen, die mit den Märtyrern Scott und Amundsen zu vergleichen sind. Die Lebensbeschreibungen solcher Männer sollten die Lektüre unserer Jugend bilden. Wehe dem Volk, das seinen Knaben statt dessen blutige Kriegsbücher in die reinen Hände gibt! Die künftige Geschichte, welche Kulturgeschichte sein wird, wird ihm ein hartes Urteil sprechen.

Mir scheint, daß nur solche Gefahren charakterbildend sind, denen man irgendwie begegnen kann, die wenigstens Hoffnung geben, sie würden durch Mut, Gewandtheit und Ausdauer zu überwinden sein. Und das gilt von den Schrecken, mit denen man es in der Natur zu tun hat. Im Kriege, im modernen noch sehr viel mehr als zu Humboldts Zeiten, kämpft man nicht gegen die Gefahr, sondern gegen den Feind. Trotzdem ist er gewöhnlich in großer Ferne, meist sieht man ihn nicht, aber die Gefahr ist nah, doch man kann sich gegen sie nicht zur Wehr setzen; ob ein Geschoß oder ein Sprengstück trifft, ist Sache des Zufalls. Mut kann man nur insofern zeigen, als man sich ihm freiwillig mehr oder weniger aussetzt – und wo man einfach Befehlen gehorchen muß, hört auch diese Möglichkeit auf. Besiegen kann man den Zufall und die Gefahr im Kriege nicht – alles im Gegensatz zum Kampf gegen Naturgewalten, wo man die Gefahr, ihr Wesen und ihren Ort kennt, und der Zufall eine geringere Rolle spielt. Ich glaube daher, daß es genau umgekehrt ist, wie Humboldt meint, wenn er sagt: »Den Elementen sucht man mehr zu entrinnen, ihre Gewalt mehr auszudauern, als sie zu besiegen … Rettung ist nicht Sieg.« Man merkt, dies wurde zu einer Zeit geschrieben, in der die Furcht vor der Natur noch so groß war, daß man etwa die Erkletterung des Matterhorns für eine wahnsinnige Tollkühnheit gehalten hätte; heute führen junge Studenten Erstbesteigungen von gleicher Schwierigkeit aus, ohne daß viel Aufhebens davon gemacht wird. Überhaupt stehen die auf Mut und Tüchtigkeit beruhenden Leistungen unserer Zeit keiner anderen nach, und das verdanken wir nicht der militärischen Ausbildung, die es vor hundert Jahren auch schon gab, sondern dem Sport und Sportgeist, die sich erst in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben. Können wir heute noch wie Humboldt von den Griechen und Römern schreiben, »daß diese Menschen härtere Kämpfe mit dem Schicksal, härtere mit Menschen zu bestehen hatten?«

Es heißt, menschliche »Größe« mit einem sonderbaren Maßstab messen, wenn man sie dem kühnen Krieger eher zubilligt als dem kühnen Entdecker; und was den »Ruhm« betrifft, so ist es wohl das beste, davon ganz zu schweigen.

Selbst wenn die zugunsten des Krieges meist vorgebrachten Erwägungen früher einmal gegolten hätten: heute, angesichts der Entwicklung, welche die Kriegskunst genommen, sind sie null und nichtig; mehr: sie sind gewissenlose Verhöhnungen der Vernunft und des Gefühls. Blinde Vernichtung und Verheerung, Massenmord der Bevölkerung durch Maschinen und Gifte – das sind Dinge, die auf keine Weise mehr gerechtfertigt werden können, es sei denn, man hielte die Ausrottung der Menschheit und den Untergang ihrer Kultur für ein erstrebenswertes Ziel.

Die Schrecken künftiger Kriege brauche ich nicht auszumalen; das ist oft genug geschehen. Aber es ist auch schon oft ein naheliegender Gedanke ausgesprochen worden, der vielleicht wirklich tröstlich ist: daß nämlich der Krieg durch die Übersteigerung seiner Methoden sich selbst ad absurdum führt. Seine Mittel entwickeln sich zwangsläufig so, daß ihr Zweck nicht mehr erreicht werden kann. Ihre vernichtende Wirkung wird so stark, daß die Güter, um deren Erhaltung willen der Krieg sich lohnen würde, auf jeden Fall längst zerstört sind, bevor der Kampf entschieden ist, so daß jeder Sieg vergeblich wäre. Noch sind wir nicht so weit. Noch sind die Kriegsmittel nicht schrecklich genug, so daß ihre Anwendung schlimmer erscheinen würde als das Aufgeben der Kriegsziele. Aber so weit sind wir, daß es ganz sicher ist: durch einen großen Krieg kann die Lage keiner Nation auf der Erde verbessert werden; es muß notwendig allen, und nicht nur den Kämpfenden selbst, nachher schlechter gehen als vorher. Ich glaube sogar, daß man dies eigentlich bereits einsieht und daß man Kriege als unvermeidlich betrachtet, nicht weil durch sie positiv erfreulichere Zustände herbeigeführt werden könnten, sondern weil es nur durch sie möglich sei, späteren größeren Übeln vorzubeugen, etwa der Ausbreitung unsittlicher Gesinnungen und kulturfeindlicher Kräfte, die den ganzen Erdball verseuchen würden, wenn ein Volk, das sie nährt, nicht durch Gewalt in seine Grenzen zurückgewiesen wird, solange es noch Zeit ist. Die Entscheidung aber, ob ein solcher Fall vorliegt, bedeutet für die Herrschenden eine so furchtbare Verantwortung, ein so gewaltiges Zutrauen zur eigenen Einsicht in schwierigste Verhältnisse, daß es fast unbegreiflich bleiben wird, wenn sie den Entschluß zum Krieg wirklich fassen und nicht eher an dem Glauben festhalten, die friedenstörende Nation werde doch durch andere Mittel als offene Gewalt zur Vernunft gebracht werden können.

Angesichts des Maschinenkrieges von heute kann niemand mehr an einen erzieherischen Wert des Völkerkampfes glauben; deshalb ist Lobpreisung des Krieges jetzt ein Verbrechen. Was man manchmal an ihm rühmt: das Unsichtbarwerden aller kleinlichen Sorgen, die gänzliche Verschiebung der Wertmaßstäbe infolge der Nähe des Todes, das Gefühl der Solidarität mit dem Nächsten, die unerhörten Gelegenheiten zum Opfern und Helfen – alles das gibt es auch bei Naturkatastrophen, Orkanen, Überschwemmungen, Erdbeben; aber es ist noch niemandem eingefallen, solche Ereignisse als Mittel des menschlichen Fortschritts zu preisen.

Nein, nicht dadurch wird der Mensch sittlich erhöht, daß ihm äußere Anlässe und große Gelegenheiten zum Heroismus geboten werden, sondern vielmehr dadurch, daß seine innere Bereitschaft entwickelt wird, so daß schon die unscheinbarsten Situationen des täglichen Lebens zu Gelegenheiten starker und großer Haltung werden. Der Heroismus begeisterter Rauschzustände ist viel billiger als der Heroismus der Stille.

Das ist gerade die paradoxe Entsetzlichkeit des modernen Krieges, daß er ganz den Charakter eines Elementarereignisses angenommen hat, an Umfang jede Naturkatastrophe sogar übertrifft. Denn nun erscheint das Unnatürlichste als Naturereignis, als im Wesen der Dinge begründet; und wenn einer, der höher über den Dingen steht, den Kurzsichtigen die Wahrheit sagt, so wird er als weltfremder Utopist verspottet. Aber vielleicht ist die Welt ihm nicht so fremd wie seinen Gegnern der gute Wille.


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