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3. Kultur und Moral

Das lenkende Eingreifen des Verstandes in die menschlichen Handlungen, welches gleichbedeutend ist mit der individuellen Differenzierung des Tuns, dem Gebrauch des Werkzeuges und der Entstehung der Technik, muß notwendig zu einer künstlichen Kultur führen? ja besteht nicht schon die Künstlichkeit in diesem Eingriff? Die Frage wäre nur dann zu bejahen, wenn man allein dem Instinktiven, Gattungsmäßigen Natürlichkeit zubilligen wollte, indem man etwa sagt: Die Bauten der Termiten sind natürlich, weil alle Termiten in solchen Gebilden leben und von jeher gelebt haben; die moderne Großstadt aber ist unnatürlich, weil sie eine neuere Erfindung ist und nur ein kleiner Teil der Menschheit in ihr wohnt und zu wohnen wünscht.

Ich glaube aber nicht, daß man gerade dies meint, wenn man das Wort künstlich mit vorwurfsvollem Akzent gebraucht, und in der ersten Betrachtung habe ich auch selbst schon den Standpunkt eingenommen, daß für den Menschen eben die Individualität der Handlung, die verstandesmäßige Werkzeugbenutzung ebenso »natürlich« sei wie das instinktive Verhalten für die Tiere. Aber, so sahen wir zugleich, beim Verstand gibt es etwas, wovon beim Instinkt zu sprechen sinnlos wäre: den Mißbrauch. Durch den Mißbrauch erst entsteht die schmerzhafte Spannung, die wir als das Künstliche der Kultur, als ihren Gegensatz zur Natur empfinden. Richtiger wäre es aber, umgekehrt zu formulieren: Wo wir diese Spannung empfinden, wo die Kultur uns leiden macht, da sagen wir, daß ein Mißbrauch vorliege.

Wie schon früher betont, ist für uns nur der Fall wichtig, wo das Leiden ein moralisches ist, wo wir es als Schuld, nicht als Dummheit empfinden, also dort, wo der Verstand zwar sein Ziel erreichte, wo das Übel aber gerade daraus entsteht, daß er es erreichte. Der Mensch wollte Giftgase erfinden, aber daß es ihm gelang, ist schlimm.

So stehen wir mitten im Moralproblem: Wir verwünschen die Kultur, wo sie uns durch eigene Schuld leiden macht; sie macht uns leiden, wo der Verstand mißbraucht wird; der Verstand wird mißbraucht, wo er in den Dienst des Bösen tritt. Was aber ist das Böse?

So scheint es, daß die Lösung des Kulturproblems die Lösung des Moralproblems voraussetzt. Solange wir aber keine der beiden Lösungen besitzen, kann vielleicht gerade die Beschäftigung mit der Kulturfrage auf die moralische Frage vorbereiten und den Begriff des Sittlichen bedeutend erhellen. Wenn zum Beispiel pessimistische Schriftsteller recht hätten mit ihrer Behauptung, daß alle Kultur ihrem Wesen nach der Natur feindlich sei und umgekehrt, so daß zwischen ihnen ewiger Kampf herrschen müsse, dann würde, da der Mensch sicherlich nicht mehr ohne Kultur, ohne Lenkung durch den Verstand leben kann, für ihn auch die Unmöglichkeit gesetzt sein, ein sittliches Leben, ein Leben ohne Schuldgefühl zu führen, und dies würde für die ethische Theorie ganz beträchtliche Folgen haben müssen.

Es ist gar kein Zweifel, daß das Böse nur durch Schmerz und Leid definiert werden kann: gäbe es diese nicht, so wäre nie ein Anlaß gewesen, vom Bösen, von Sünde und Schuld zu sprechen. (Ein Umstand, der mir genügend erscheint, die Theorie der »absoluten«, das heißt von Lust und Unlust unabhängigen Werte gründlich zu widerlegen.) Die Schilderung der Genesis ist in diesem Punkte verkehrt, denn sie dreht den Sachverhalt um, indem sie es so darstellt, als habe Gott den Schmerz gleichsam erst erfunden, um Adam für seinen Fehltritt zu strafen.

In der ersten Betrachtung unterschieden wir die natürlichen Leiden der Welt von denen, die nur der Kultur, dem überlegten Handeln zu verdanken sind, und wir stellten fest, daß die ersten zweifellos gänzlich jenseits von Gut und Böse sind. Und bei den zweiten unterschieden wir wieder die, welche nur auf der Schwäche des Intellekts beruhen, von denen, welche trotz tadellos richtigen Denkens, ja vielleicht infolge desselben entstehen. Lassen wir auch hier die ersten wieder beiseite, indem wir sie noch zu den »natürlichen« rechnen (daß die Menschen dumm sind, ist ihr Unglück, nicht ihre Schuld), so liegt es nahe, das Böse nicht nur unter den übrigbleibenden Handlungen zu suchen, sondern es einfach mit dieser Gattung von Handlungen zu identifizieren, sie alle als böse zu bezeichnen. Das führen wir also als Definition ein und sehen zu, ob wir auf diese Weise mit dem ethischen Sprachgebrauch in Einklang bleiben.

Die Definition läuft offenbar darauf hinaus, daß wir unvermeidliche und vermeidliche Leiden sondern und als unsittlich alles Verhalten betrachten, welches die letzteren verursacht.

Für die übliche Betrachtungsweise erheben sich hier alle die enormen Schwierigkeiten, die von der Ethik her wohl bekannt sind. Ich zähle diese Schwierigkeiten kurz auf, um dann zu sehen, welches Gesicht sie für die kulturhistorische Betrachtungsweise zeigen.

Erstens: Da nie das Leiden selbst, sondern nur seine in den menschlichen Entscheidungen liegenden Ursachen als »böse« bezeichnet werden, so melden sich die Unzulänglichkeiten an, die im Begriff der Ursache liegen. Wegen der undurchdringlichen Verflechtung alles Geschehens ist es in jedem Einzelfalle prinzipiell unmöglich, ganz bestimmte Leiden ganz bestimmten Entscheidungen als deren »Ursachen« zuzuordnen und umgekehrt. Die Wirkungen jeglichen Verhaltens breiten sich, streng genommen, ins Unendliche aus und jede Wirkung ist, streng genommen, zufällig, das heißt dem Zusammentreffen vieler unüberschaubarer Umstände zu verdanken. Es kann also nicht gelingen, aus der Fülle des menschlichen Geschehens das »Böse« reinlich abzusondern.

Zweitens: Selbst in den Fällen, wo wir den Zusammenhang zwischen Willensakt und Folgen deutlich zu sehen meinen, und unter der Voraussetzung, daß wir richtig sehen, werden meist mehrere Folgen in Betracht zu ziehen sein, und zwar – in unserer Terminologie – natürliche und künstliche: solche, die dem Gattungswesen, und solche, die dem Kulturwesen des Menschen entspringen, und unter diesen werden wieder ebensowohl freudvolle wie leidvolle sein. So entsteht eine komplizierte Situation, in der wir nicht wissen zu können scheinen, was böse ist, ohne zunächst Freude und Schmerz gegeneinander abzuwägen und von dem Resultat dann noch »die natürlichen« oder unvermeidlichen Leiden abzuziehen. Das Ganze ist aber absurd, da auf dem Gebiete der Gefühle eine Vergleichung und Summierung prinzipiell unsinnig ist. Auch hierin scheitert also der Versuch, zu einer Erkenntnis des Bösen zu gelangen.

Schon für die Ethik gibt es keinen anderen Ausweg aus diesen Schwierigkeiten als den Verzicht auf eine eigene Definition des Bösen durch das Leid und die Übernahme der Wortbedeutung, wie sie sich im Zusammenleben der Menschen ausgebildet hat: an die Stelle des sinnlosen Lust-Unlust-Kalküls tritt die Einstellung der menschlichen Gesellschaft, die auf Grund angesammelter Erfahrungen von gewissen Verhaltungsweisen oder Gesinnungen glaubt, daß sie leidbringend sind. Und dieser Glaube allein ist es, der in der Verurteilung eines Tuns als »böse« seinen Ausdruck findet. Während die Ethik erst langsam und spät gelernt hat, daß die im Leben von Generationen gebildete Meinung der Gesellschaft (die trotzdem nicht richtig zu sein braucht) nicht durch ein einfaches Räsonnement à la Bentham ersetzt werden kann, gerät die philosophische Betrachtung der Kultur nicht in die Versuchung, einen ähnlichen Fehler zu begehen, denn sie hat es von vornherein nur mit Institutionen der menschlichen Gesellschaft zu tun, nicht mit Einzelhandlungen – oder doch mit diesen und überhaupt allen Äußerungen des Menschlichen nur insofern, als sie sich in den Institutionen spiegeln. Wir fassen die menschlichen Einrichtungen ins Auge und beachten die typischen Einstellungen zu ihnen; wir nehmen an, daß diese Einstellungen ihren guten Grund haben, daß die Sterblichen die Gaben der Kultur nicht umsonst hier segnen und dort verfluchen. Wir nehmen an, daß Lobpreisungen und Flüche Anzeichen echter Freuden und echter Leiden sind und daß der Mensch mit Recht bestimmte künstliche Institutionen für sie verantwortlich macht. Es versteht sich von selbst, daß wir nur den immer wiederkehrenden, typischen Klagen Beachtung schenken und den Stimmen einzeln keine Bedeutung beimessen, auch dann nicht, wenn es laute Stimmen sind, denen viele nachsprechen, ohne selbst etwas zu fühlen. Wohl ist es uns um die gegenwärtige Lage der Kultur zu tun, aber die Sensationen des Tages gehen uns nichts an. Wo wir im Streit der Tagesmeinungen Stellung nehmen, müssen wir erst beweisen, daß wir recht haben; wo wir aber auf Äußerungen der modernen Seele hinweisen können, die zu den typischen Zügen im Bild der Gegenwart gehören, da hat die Erfahrung bereits für uns gesprochen. Lauschen wir hinab zu den Wohnungen der Menschen, so hören wir aus den Tälern einen dreifachen Notschrei schallen: den Schrei aus der Not des Daseins, den Schrei aus der Liebesnot und den Schrei aus der Geistesnot.

Der Mensch will leben. Einmal in die Welt hineingeboren, erhebt er Anspruch auf Existenz und folglich auf die in ihr zur Existenz notwendigen Mittel: Nahrung, Kleidung, Wohnung für sich und die, für welche er sorgt. Und es scheint, daß die Einrichtungen unserer Gesellschaft ihm diese Notwendigkeiten versagen oder mißgönnen. Es gibt Slums, es gibt Arbeitslose, es gibt Bettler, es kommt auf der Erde immer noch vor, in China oder Indien, daß Hunderttausende Hungers sterben; es kommt vor, daß mitten in den lichterfüllten Straßen unserer zivilisierten Städte Elende in hoffnungsloser Armut zusammensinken, während in der gleichen Stunde auf derselben Erde köstliches Korn vernichtet wird, damit die Kornpreise gehalten werden. Und dabei will der Farmer ja die Kornpreise nicht aus bloßem Mutwillen und unersättlicher Gewinnsucht halten, sondern weil es ihm sonst an Kleidung und Wärme mangeln würde. Dergleichen ist verträglich mit unseren Institutionen. Aber wir alle wissen, daß diese unerhörten Leiden nicht unvermeidlich wären. Dennoch sind sie nicht vermieden. Dürfen wir uns wundern, wenn die Rufe der Entrüstung darüber noch die Schreie des Jammers übertönen? Das ist die Daseinsnot.

Bloßes Dasein ist zwar die Vorbedingung für alles andere im Leben, aber eben weil es immer nur Vorbedingung ist, nicht das Wichtigste. Dies kann nur in dem liegen, was das Leben erfüllt. Wenn es nun dem ungeheueren Apparat der Kultureinrichtungen nicht gelingt, die Existenz des einzelnen zu sichern und zu hüten, so sollte man denken, daß er wenigstens dort, wo diese nicht in Frage gestellt ist, den Reichtum des Lebens gesteigert, das heißt: die Gefühle der Menschen erhöht habe. Daß dies in historischen Zeiten geschehen sei, wird in der Gegenwart öfter bestritten als behauptet; es besteht die Neigung, anzunehmen, daß zumindest in der neuen Zeit das Gefühlsleben nur Fortschritte in der Verflachung gemacht habe. Wo die höchsten Regionen des Gefühls sind, da ist die Liebe. Wenn irgendwo, so müssen sich in ihren Gefilden die Blüten zeigen, die der künstlichen Pflege (cultura) zu verdanken sind. Ach, wie steht es damit? Wird nicht gerade hier Klage geführt, daß das Ergebnis der ganzen langen Entwicklung schließlich eine Auflösung der Liebe in oberflächliche sexuelle Beziehungen sei und daß auf der anderen Seite die Institutionen der Sitte und des Rechts frech und höhnisch über echte, tiefe Liebe, wo sie noch aufblüht, hinwegstampfen? Das sind die beiden Aspekte der Liebesnot.

Es genügt nicht, daß der Mensch lebe, das heißt im Besitze seiner Gesundheit und aller Mittel sei, um sein Dasein zu fristen, es genügt nicht, daß Liebe ihn von seiner Einsamkeit errette, in der er noch gar nicht ganz Mensch sein kann; er bedarf einer Fülle, die ihn selbst bei hinschwindendem Dasein und in der Einsamkeit nicht in die letzte Armut sinken läßt: er bedarf der Erhebung. Große, brausende, starke Gefühle sollen ihn über Trübes und Gemeines emportragen in eine zweite Welt und Heimat, die aber nicht außer oder über der unsrigen, sondern mitten in ihr ist, als ihr klarster und friedlichster Bezirk. Das ist die Welt des Geistes. Sie gilt ganz und gar als Schöpfung der Kultur. Hat die Kultur ihre Sache gut gemacht? Oder hat sie uns zwar dieses Reich erbaut und erschlossen, zugleich aber und im gleichen Zuge der Entwicklung uns aller Fähigkeit beraubt, der Klarheit und des Friedens teilhaftig zu werden, die dort herrschen? Hat sie des Geistes freies Reich nicht sogleich wieder durch künstliche Einrichtungen eingehegt und verunstaltet, hat sie ihn nicht alsbald in unnatürliche Fesseln gezwängt und Kunst, Wissenschaft, Religion und Philosophie zu Tummelplätzen der ärgsten Mißbräuche gemacht? Ist Geist wirklich Leiden (»Leben, das selber ins Leben schneidet«), oder wird er erst dazu durch die schlechten Institutionen, die der Verstand ihm schafft? Das ist die Frage der Not des Geistes.

Wir hören die drei Notschreie – niemand kann sie überhören –, aber wir stellen uns durchaus nicht von vornherein auf die Seite der Anklagen, sondern unsere Sache ist es, die drei Fragen eine nach der anderen in Ruhe zu prüfen, um dann nachzuschauen, ob sich die Resultate der Betrachtungen auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen.


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