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Das vorliegende Buch ist das letzte Werk eines Philosophen, dessen Denken sich vor allem an der mathematischen Naturwissenschaft geschult hatte. Dies war auch der Grund, weshalb Schlick als Nachfolger der Physiker Mach und Boltzmann 1922 an die Lehrkanzel für »Philosophie der induktiven Wissenschaften« der Wiener Universität berufen wurde.
Zweifellos liegen die bedeutendsten Leistungen Schlicks auf den Gebieten der Naturphilosophie und der allgemeinen Erkenntnislehre; sie haben weit über das deutsche Sprachgebiet, ja über Europa hinaus Anerkennung gefunden. Aber schon von Jugend an war das Interesse des allzu früh verstorbenen Denkers auch ästhetischen und ethischen Problemen zugewandt. Die letzteren fanden während der Wiener Lehrtätigkeit in mehreren Vorlesungen und einem Buch über »Fragen der Ethik« eingehende Behandlung. In den letzten Lebensjahren traten die Probleme der Geschichts- und Kulturphilosophie, die für Schlick mit den ethischen Fragen eng verbunden waren, immer mehr in den Vordergrund – wohl eine Wirkung der bedrohlichen Entwicklung des wirtschaftlichen und politischen Geschehens jener Zeit, dessen verhängnisvolle Folgen Schlick mit bewundernswerter Klarheit voraussah. Neben seinen Vorlesungen arbeitete Schlick damals an einem Buch, das den Titel »Natur, Kultur, Kunst« erhalten hatte. Es sollte sein Hauptwerk werden, blieb aber unvollendet, da der Autor im Juni 1936 einem Mordanschlag zum Opfer fiel.
Das nachgelassene Manuskript enthält zunächst eine kulturphilosophische Untersuchung, die von dem Gegensatz zwischen Natur und Kultur ausgeht und auf diesem Weg eine Antwort auf die Frage finden will, die den Autor bedrückte und sein Denken vorwärtstrieb: Wie kommt es, daß wir alle an der Kultur, die doch zur Sicherung und Erhöhung des Menschendaseins geschaffen wurde, leiden? Wenn sich die Lösung finden, die Ursache der Kulturleiden aufspüren läßt, so dürfen wir auf deren Behebung oder Milderung hoffen. Wird diese als möglich erkannt, so steht der Weg zu einer Neugestaltung der Kultur, zu einer Überwindung der mit ihr verbundenen Leiden offen. So eröffnet uns das Buch – ähnlich wie die Kulturphilosophie Albert Schweitzers – den Ausblick auf eine harmonische, die gesamte Menschheit umfassende Kultur.
Als mit der Kulturentwicklung verbundene Leiden betrachtete Schlick vor allem die Daseinsnot, die Liebes- und Geistesnot. Nur die erste ist in dem nachgelassenen Manuskript behandelt; die Abschnitte über Liebes- und Geistesnot blieben ungeschrieben. Leider fehlt auch die Philosophie der Kunst, der offenbar eine bedeutende Rolle zugedacht war. So schien es angebracht, den Titel des Buches auf »Natur und Kultur« einzuschränken. Vermutlich hätten auch die äußerlich schon abgeschlossenen Kapitel noch eine wesentliche Bereicherung erfahren, wenn der Autor dazugekommen wäre, die Gedanken, die sich auf den letzten Seiten seines Manuskripts finden, auszuführen und einzugliedern. Zweifellos hätte Schlick vor der Herausgabe seines Werkes den vorliegenden Text ergänzt und gründlich revidiert, hiebei vielleicht auch Kürzungen vorgenommen.
Eine solche Revision und Abrundung des Textes zu versuchen, ohne etwas Fremdes einzufügen, war die schwierige Aufgabe, vor die sich der Unterzeichnete gestellt sah. Als Lösung bot sich die Eingliederung oder Anfügung einzelner Gedanken an passender Stelle und die Streichung einiger weniger Aphorismen, die sich im vorliegenden Text nicht unterbringen ließen. Diesem Programm gemäß wurden die Gedanken über die Entwicklung zur Freiheit als letztes Kapitel dem grundlegenden Teil angegliedert; einige Bemerkungen über den Staat und die Schulung der Politiker konnten nur am Ende des betreffenden Kapitels angefügt werden. Den Abschluß bilden Gedanken über die Kunst, die sich nicht in dem nachgelassenen Manuskript finden, sondern der Vorlesung über Ethik und Kulturphilosophie (Winter-Semester 1935/36) entnommen sind.
Wurde auf solche Art der Text bereichert, so schien es sich anderseits zu empfehlen, in den Partien über Krieg und Wehrpflicht und über den Staat einige zeitgebundene oder mehr dem Anwendungsbereich zugehörige Stellen zu streichen und dadurch die dauernd giltigen Grundgedanken deutlicher hervortreten zu lassen. Ferner war es ratsam, zur Vermeidung von Mißverständnissen kleine Änderungen stilistischer Art vorzunehmen. Während im Manuskript die meisten Kapitel nur mit Ziffern bezeichnet sind, wurden sie nun mit Titeln versehen und der gesamte Stoff in zwei Hauptpartien – allgemeiner Teil und Daseinsnot – gegliedert.
So ist zu hoffen, daß auch dieses Werk Schlicks in der vorliegenden behutsamen Überarbeitung durch das allgemein interessierende Thema und die klare, leichtverständliche Sprache weit über die Gelehrtenwelt hinaus Verbreitung und Anerkennung finden wird.
Der Autor des vorliegenden Buches, Moritz Schlick, wurde 1882 als Sohn eines Fabrikanten in Berlin geboren. Nach Absolvierung des Realgymnasiums in seiner Heimatstadt wandte er sich der Physik zu und studierte in Heidelberg, Lausanne und Berlin. Als Schüler Plancks behandelte er in seiner Dissertation ein physikalisches Thema und wurde 1904 zum Doktor der Philosophie promoviert. Sechs Jahre später habilitierte er sich in Rostock mit der Arbeit »Das Wesen der Wahrheit nach der modernen Logik«. Im Jahre 1922 erhielt Schlick nach kurzer Lehrtätigkeit in Kiel eine Berufung an die Universität Wien. Hier sammelte sich um ihn bald ein Kreis von Gelehrten und Studenten, die sich unter seiner Leitung in wissenschaftlichem Geist um die Klärung philosophischer Probleme bemühten. Es waren nicht nur Philosophen, wie Carnap, Gomperz, Kraft, Waismann, Zilsel, sondern auch Vertreter von Fachwissenschaften, wie die Mathematiker Goedel, Hahn und Menger und der Soziologe Neurath, die an diesem Zirkel teilnahmen. Was die Mitglieder des »Wiener Kreises« zusammenhielt, waren nicht bestimmte Lehrmeinungen, sondern die undogmatische Art des Philosophierens, die Bereitschaft, jede Behauptung ausreichend zu begründen.
1927 hielt Schlick Gastvorträge an den Universitäten Oxford, Cambridge und London, 1929 lehrte er durch einige Monate an der Leland-Stanford-University in Kalifornien. Im September des gleichen Jahres nahmen führende Mitglieder des »Wiener Kreises« an der Prager Tagung für Erkenntnistheorie der exakten Wissenschaften teil und traten dabei mit der von Dubislav und Reichenbach geleiteten »Gesellschaft für empirische Philosophie«, die ihren Sitz in Berlin hatte, in Verbindung. Gemeinsam schufen sich beide Philosophengruppen in der Zeitschrift »Erkenntnis« ein eigenes Organ.
Viel Wertvolles hätte uns Schlick noch schenken können, wenn nicht die Schüsse eines Psychopathen das Leben des Vierundfünfzigjährigen vorzeitig beendet hätten. Im Andenken seiner Schüler und Verehrer lebt er fort als bedeutender Denker und Lehrer, als unbeugsamer Kämpfer für geistige Befreiung und als gütiger Mensch.
Dr. Josef Rauscher
Wien, am 14. April 1952