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Physisch betrachtet ist der Mensch weit davon entfernt, das stärkste Säugetier zu sein; er besitzt im Gegenteil eine verhältnismäßig zarte Konstitution. Dies gilt sowohl körperlich – denn seine Kraft und Gewandtheit sind begrenzt, seine Zähne sind nicht zum Zermalmen von Knochen geeignet –, als auch seelisch, das heißt hinsichtlich seiner Lebensweise, denn er ist seiner tiefsten Anlage nach ein ζῶον πολιτικόν (Gemeinschaftswesen) und wenn er manchmal die Einsamkeit liebt, so ist es nicht die des Raubtiers, sondern des Träumers.
Da seine Stärke in der Vernunft liegt, muß er mit ihrer Hilfe seine physische Schwäche ausgleichen, um sein Dasein zu sichern, und einer ihrer ersten Akte ist der Zusammenschluß zu gemeinsamer Arbeit. Der Zusammenschluß zum bloßen Beieinandersein, zum Leben in der Familie und Horde, ist noch rein instinktiv, aber die Vereinigung zur gemeinsamen Leistung – etwa zum Transport schwerer Dinge, die einer nicht tragen könnte, oder die gegenseitige Vertretung beim Wachen usw. –, die ist beim Menschen das Resultat eines besonderen Entschlusses.
Die verschiedenen Maßnahmen, die der Verstand hier trifft, verdichten sich im Laufe langer Zeiten zu Institutionen der Daseinssorge, die in ihrer Gesamtheit die Organisation des Staates und der Wirtschaft bilden. Die Wirtschaft hat die positive Aufgabe der Erzeugung und Verteilung der zum Dasein und zum Genuß des Daseins erforderlichen Dinge (Güter); der Staat hat die negative Aufgabe, das Leben zu schützen.
Die beiden Aufgaben sind nicht ganz streng getrennt und Staat und Wirtschaft daher nicht unabhängig voneinander: die Schutzmaßnahmen müssen sich zum Beispiel den Methoden der Güterverteilung anpassen, und umgekehrt muß die wirtschaftliche Organisation so gestaltet werden, wie es zu ihrem besseren Schutz erforderlich ist.
Es gibt Ansichten, nach denen die gegenseitige Abhängigkeit von Staat und Wirtschaft zur Durchdringung, ja völligen Verschmelzung der beiden Organisationen führen muß. Die einen glauben, der Staat könne der Wirtschaft nur dadurch vollkommenen Schutz gewähren, daß er selbst alle ihre Maßnahmen bestimmt und leitet, so daß alle Individuen nur Ausführende wären, er selbst aber der einzige Unternehmer – dies der Glaube des Marxismus. Die anderen meinen umgekehrt, daß die Wirtschaft alle Maßnahmen zu ihrem Schutz in ihre eigene Organisation einverleiben sollte, so daß der Staat zu ihrem gehorsamen Diener wird – dieser Gedanke dürfte einen Bestandteil der Idee der »Technokratie« bilden. Vielleicht würden beide Pläne, wenn sie überhaupt mit einigem Erfolg zu realisieren wären, in ihrem Resultat gar nicht sehr verschieden sein, da beide eben doch auf die Schaffung einer einzigen, alles umfassenden Organisation hinauslaufen und die Regierenden sich nur durch den Namen (Staatslenker bzw. Wirtschaftsführer), nicht aber durch die Funktion in beiden Systemen unterscheiden würden.
Mir scheint wichtig, daß in jedem Fall alle Vorkehrungen zur Erhaltung und Förderung des Daseins sich von allen zum bloßen Schutz des Daseins deutlich abheben. Ernährung und Verteidigung sind grundverschiedene Dinge. Die erste hat positiven, die zweite negativen Charakter. Mögen also in der Wirklichkeit beide Dinge noch so sehr miteinander verflochten sein – wir werden dennoch in dem Gewebe Schuß und Kette gedanklich trennen können und stets die Institutionen des Schutzes als die staatlichen von denen der Lebensfristung als den wirtschaftlichen unterscheiden. So dürfen wir jedes von beiden für sich daraufhin ansehen, auf welche Weise sie dem Menschen wehetun.
Die Aufgabe des Schutzes, die den »staatlichen« Einrichtungen zufällt, besteht in der Verteidigung gegen Angriffe, setzt also Angriffe voraus und zwar kommen hier nur menschliche Angreifer in Frage, denn der Kampf gegen Elementargewalten und wilde Tiere kann zwar ungeheuer und tragisch sein, aber sein Prinzip ist stets einfach; es handelt sich nämlich dabei um eine äußerliche, rein technische Angelegenheit, während unser Interesse erst bei den prinzipiell verwickelten Handlungsweisen beginnt, bei denen, wie wir auch sagen können, die Seele in Mitleidenschaft gezogen wird.
Die Verteidigungsvorkehrungen, welche eine Gruppe von Individuen stillschweigend oder ausdrücklich trifft, um die gemeinsame Arbeit zu sichern und deren Früchte zu schützen, sind teils nach außen gerichtet, teils bezwecken sie den Schutz des Individuums gegen Angreifer aus seiner eigenen Gruppe. Solche Angriffe sind stets vorhanden, denn die Menschen sind begehrlich, rücksichtslos und aggressiv und ihre sozialen Instinkte nicht stark genug, um allen Streit schon im Keime durch friedlichen Ausgleich zu unterbinden. Der Kampf der Menschen gegeneinander ist also natürlich. Die Kultur ist daher nicht schuld daran, daß es Haß und Verfolgung unter den Menschen gibt.
Dies ist eine einfache Tatsachenwahrheit; es ist überflüssig, auf sie hinzuweisen. Dennoch gibt es manche, die uns immer von neuem darauf aufmerksam machen und nicht müde werden, die natürliche Unverträglichkeit, Gewalttätigkeit und Kampflust der Menschen als zu ihrem innersten Wesen gehörend zu erklären. Sie tun das aber, um Streit und Krieg zu entschuldigen und die Kultur gegen den Vorwurf zu verteidigen, daß sie den Völkern keinen Frieden bringen könnte. Soweit gut. Aber sie schließen nun weiter, erstens, daß keinerlei Kultur an jenen menschlichen Eigenschaften etwas ändern und daher dies auch gar nicht zu ihrer Aufgabe machen könne, und zweitens sogar, daß sie den Unfrieden und Krieg als den Vater aller Dinge bejahen und gar in sich selbst aufnehmen müsse. Das heißt, sie fordern von der Kultur, sie solle den Menschen zuerst zum Krieger machen, seinen Kampfgeist pflegen, ihn lehren, das Fremde zu hassen und Mitleid und Versöhnlichkeit als Schwäche zu verachten. Sie glauben sich dabei auf die Entwicklungslehre berufen zu können, die sie nicht verstanden haben, oder gar auf Nietzsche, dessen reine Seele sich mit Entsetzen von der Roheit solcher Gedanken abgewandt hätte.
Denn es ist klar, daß jene Schlüsse schlecht und oberflächlich sind, und es ist auch klar, warum man ihre Haltlosigkeit nicht sehen will.
Der erste Fehlschluß ist, daß man das Natürliche mit dem Unabänderlichen identifiziert. Aber gerade in der Natur ist alles in unablässiger Wandlung und Entwicklung. Aus plumpen Wesen, die auf Bäumen lebten, ist der Mensch geworden – warum sollte aus einem rohen, friedlosen Menschengeschlecht nicht ein edles, friedfertiges werden? Der erste Sprung ist unvergleichlich weiter, von einer ganz anderen Größenordnung als der zweite. Den zweiten kann sich ein ehrlicher Mensch ausmalen, ohne seine Phantasie anstrengen zu müssen, ja er ist in vielen Individuen wirklich vollzogen; der erste aber überstieg alle Vorstellungskraft, denn kein irdisches Wesen konnte den Menschen erdenken, bevor er wirklich da war – ebensowenig wie wir uns höhere Wesen ausmalen können, die das Menschengeschlecht auf der Erde ablösen sollen. Dagegen ist es ein leichtes, sich die Menschheit ohne Krieg vorzustellen. Dazu gehört nicht einmal Phantasie, denn wir erleben ja auch Zeiten des Friedens, und nichts hindert uns, sie ohne große Änderung fortbestehend zu denken. Es gibt auch keine Kriegsursache in der ganzen Geschichte, die wir als wirklich notwendig begreifen könnten. Immer können wir uns, ohne gegen die psychologischen Grundgesetze der Natur der Menschen zu verstoßen, ihre Entschließungen auch anders denken, als sie in Wirklichkeit stattfanden. An die Stelle jeder Kriegserklärung brauchen wir nur eine Note mit neuen Vorschlägen gesetzt zu denken, an die Stelle jedes Gewaltaktes eine Selbstbesinnung und Umkehr.
Der bewußte Zusammenschluß der Menschen zum gemeinsamen Schutz ist zweifellos der Ursprung des Staates. Vielleicht würde man nicht schon jede solche Vereinigung »Staat« nennen, aber die Merkmale, die möglicherweise noch hinzukommen müssen (etwa festumgrenzte, dauernde Wohnsitze, ausdrückliche Formulierung von Gesetzen usw.), interessieren uns hier ebensowenig wie die Modalitäten, unter denen die Staatenbildung vor sich gegangen sein mag und die gewiß bei verschiedenen Völkern verschieden waren (die nächstliegende Form mag das Königtum gewesen sein, das von den Griechen auch für die ursprüngliche gehalten wurde). Denn uns interessiert nicht das Wesen des Staates als solches, sondern nur die Frage, wie er die Aufgabe der Sicherung löst, und besonders, ob er das vielleicht auf eine solche Weise tut, daß dadurch Kulturleid erzeugt wird.
Gegen was müssen denn menschliche Wesen sich schützen? Erstens gegen die Elementargewalten der Natur; zweitens gegen andere Lebewesen; drittens gegen menschliche Feinde.
Über das erste ist nichts zu sagen, weil der Kampf gegen die Naturgewalten ganz gradlinig verläuft und zu keinerlei Verwicklungen Anlaß gibt. Er wird gänzlich durch den Staat oder dem Staat untergeordnete Gemeinwesen geführt, sein Erfolg ist der aufgewendeten Arbeit und Intelligenz proportional; es kann nicht die Rede sein von irgendwelchen Schmerzen, die den Erdbewohnern aus der Eindämmung reißender Flüsse und Sturmfluten, aus vorsichtigen Bauvorschriften in Erdbebengebieten und ähnlichen Maßnahmen erwüchsen.
Was das zweite betrifft, so ist die Abwehr wilder Tiere seit den ersten Stadien der Zivilisation kein Problem mehr und der Kampf gegen drohende Mikroorganismen in ihrem letzten Stadium wenigstens eine klare Angelegenheit geworden; die schlimmsten Seuchen sind ausgerottet, wir fürchten keine Pestilenz; aber die Kenntnisse, die der Mensch sich von den Lebensbedingungen der Mikroben erwerben mußte, um das Ziel zu erreichen und sich noch weitere zu stecken – werden sie von keinem Staate mißbraucht werden? Schon ist das entsetzliche Wort vom »Bazillenkrieg« gefallen – wird ein Volk die unauslöschliche Schande auf sich laden, zum Werkzeug des Todes zu machen, was zum Segen des Lebens entdeckt wurde? Sollte dergleichen je geschehen, so können wir sicher sein, daß die Führer jenes unglücklichen Volkes ihre Schandtat noch durch die erbärmliche Begründung »rechtfertigen« werden, daß im Kriege jedes Mittel zur Vernichtung des Feindes erlaubt sei, und daß sie diesen Krieg führten, weil ihre »Ehre« es erforderte. Damit sind wir schon beim dritten Punkt angelangt, dem einzigen, der in unserem Zusammenhange die Aufmerksamkeit des Philosophen erheischt: wie steht es mit dem Schutz gegen Angriffe durch Menschen?
Dieser Schutz ist in allen Kulturländern seit langem dem Staate, und eigentlich nur ihm, anvertraut. Der Fall der unmittelbarsten körperlichen Bedrohung durch Räuber ist hier naturgemäß ausgenommen. Vorüber sind die Zeiten des Faustrechts, der Blutrache, der privaten Züchtigungen, und an ihre Stelle ist ein geordnetes System getreten, in welchem die zum Schutze nötige Macht – denn der Macht bedarf es zu diesem Zwecke – in die Hände einer staatlichen Institution gelegt ist. Es ist das System des »Rechtes«.
Es ist zweifellos richtig, das Individuum durch ein derartiges System an der Selbstverteidigung zu hindern und ihm dafür die Machtmittel der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen, denn sonst wäre Sicherheit überhaupt nicht zu erreichen, jeder wäre im besten Falle vor den Schwächeren und weniger Listigen geschützt, und auch der Stärkste wäre unaufhörlich bedroht, da er jederzeit Verschwörungen der von ihm Unterdrückten fürchten müßte. Reste der primitiven Zustände sind bei einzelnen Nationen oder Gemeinschaften – wahrlich nicht zu ihrer Ehre – noch erhalten geblieben, zum Beispiel in der Sitte des Zweikampfes. Der Unsinn derartiger Pseudojustiz ist offenbar. Erstens ist die völlige Vernichtung des Gegners, welche die gewöhnliche Absicht des Duells ist, eine Art der »Strafe«, deren Angemessenheit gar nicht erst untersucht wird, zweitens ist die Erreichung der Absicht teils von der Geschicklichkeit des Verteidigers, teils vom Zufall abhängig, also Einflüssen, die jede vernünftige Regelung ganz und gar auszuschalten suchen muß; drittens kann gerade der Angreifer frei ausgehen und der Beleidigte mit dem Leben zahlen. Der Rechtsgedanke des Schutzes ist also hier ganz aufgegeben, seine Stelle vertrat anfänglich wohl eine mystische Idee des Gottesgerichts, der Glaube, daß eine geheimnisvolle Macht die Waffen schon so lenken werde, daß der Gerechtigkeit Genüge geschehe.
Eigentümlicherweise ist es nur eine gewisse Art von Angriffen, für welche die Sitte bei manchen Völkern den Zweikampf vorschreibt oder zuläßt, nämlich bei Angriffen auf die »Ehre«. Was der Mensch durch den Zweikampf schützte, war nicht sein Leben, seine Güter, seine Angehörigen, sondern seine – oder der Seinen – Ehre, ein in tiefe Mystik eingehülltes Wort, das oft genug denen, die es im Munde führen, zur Beschönigung und Bemäntelung der heftigsten Aggressionsinstinkte dient. Die echte Ehre ist von der Art, daß im Kulturstaate ihr Schutz dessen Institutionen überlassen werden kann. Der Staat muß dem Individuum verbieten, seine eigene Polizei und sein eigener Richter zu sein, denn sonst könnten die staatlichen Institutionen ihren Zweck nicht erfüllen. Auch den Regierenden selbst kann er nicht gestatten, irgendwelche Angreifer – mögen es Feinde ihrer Person oder der Staatsordnung sein – anders als mit Hilfe des regulären Rechtsapparates zu bekämpfen. Der Machthaber, welcher die Gegner seiner Person oder seines Systems ohne gerichtliches Verfahren im Namen der Sicherheit des Staates ermorden läßt, begeht ein fluchwürdiges Verbrechen; er schützt nicht etwa den Staat, sondern hebt dessen Prinzip auf. Denn es ist für den Staat wesentlich, daß die Macht, die ausübende Gewalt in ein Rechtssystem eingebaut ist, außerhalb dessen sie nicht verwendet werden darf. Geschieht dies dennoch, so sind Sicherheit und Ordnung aufgehoben; auch wenn äußerlich alles ruhig bleibt, ist doch Chaos und Gefahr in die Gemüter gesät. Und wenn der Despot das Mißtrauen der eigenen Untertanen ersticken kann – die übrige Welt wird sich gegen ihn und sein System schützen müssen.
Sofern also der Staat für die Sicherheit seiner Bürger gegen innere Angreifer sorgt, werden wir gegen sein Prinzip und gegen die Mittel, deren er sich im modernen Kulturleben zu diesem Zwecke bedient, wenig einwenden. Die Unzulänglichkeiten, auf die wir hinzuweisen hatten, waren ja im Gegenteil Beispiele mangelnder oder mangelhafter Wirksamkeit des Staates. Ein ganz anderes Bild aber zeigt sich, wenn wir nun fragen, wie es um den Schutz der Bürger gegen äußere Feinde bestellt ist. Trägt alles, was in dieser Hinsicht heute in der Welt geschieht, wirklich zur Minderung unserer Daseinsnot bei oder schafft es uns neue Leiden? Hier wird es sich zeigen, inwiefern unsere Staaten wahrhaft natürlich sind und welche ihrer Institutionen als künstlich, als Abirrungen vom rechten Wege angesehen werden müssen.