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Der Onkel Doktor aus Moderow war mit seinem lahmen Gaul, der ganz von selbst bei den Patienten in den Dörfchen anhielt und nicht von der Stelle zu bringen war, ehe nicht irgend jemand aus der Tür oder Fenster rief: »Nu schicken se mi ook mien Schuldigkeet!« – in die Stadt gefahren, hatte seinen vierbeinigen Heilgehilfen bei Gastwirt Kruse untergestellt und war zu einer großen Doktorenkonferenz mit Eilpost nach der Haupt- und Residenzstadt aufgebrochen. Dazu war die Veranlassung Else. Der Doktor hatte von Mal zu Mal einsehen gelernt, daß die Aussprüche Elseleins über Natur und Geisteswissen, so fremdartig und unheimlich ihn vieles anmutete, doch tieferen Gehalt hatten und vielleicht den Nagel auf den Kopf trafen. Er unterhielt sich gern mit dem Kinde und hatte von ihr schon manche Anregung erfahren. Am meisten aber war er gefesselt von einer Auffassung Elses über die Ursachen der Leiden auf Erden. Auf eine derartige Frage hatte ihn Aldebaran (durch Else) belehrt, daß es nichts sei mit seiner Schulweisheit von Blutstockung, bösen Säften und dem Genius der Epidemien und Dünste. Das seien alles Hirngespinste und falsche Beschreibungen und sähen Erklärungen so ähnlich wie der Pastor dem Abt von Philippsbronn, den sie als Studenten so oft besungen hatten. Menschliches Wissen sei immer in einer Sackgasse gegen den Strom des Lebens, der auf der großen Landstraße mit Galopp einherjage, und die Deutung einer Sache (Aldebaran sagte »Theorie«) hinke der Eilpost der Begebenheiten immer nach wie die alte Möller hinter den schnellen Ponys des Herrn Landrates. Wenn die gelehrten Herren glaubten, eben eine Krankheit zur Genüge erforscht zu haben, so spränge schon eine neue Art scheinbar zur Qual der Menschheit aus dem Rachen der Finsternis. Krankheit sei ein Kampf der Menschen um die Herrschaft auf Erden. Sie sei ein Mittel zu seiner körperlichen und – was immer vergessen werde – zu seiner seelischen Vervollkommnung. Eine Leiter zum Aufstieg des Lebens überhaupt in immer größere Höhen. Sie sei als Ganzes genommen wie alle Geburten, eine schmerzhafte, aber segensreiche Einrichtung der Natur. Da kämen freilich die sämtlichen Onkel Doktors der Welt in eine schlimme Lage. Für ihr gutes Geld wollten die Leute von ihren Ärzten und Apothekern die Gesundheit einhandeln wie einen käuflichen Gegenstand, und von Rechts wegen müßten sie ihnen predigen: »Harret geduldig in der Krankheit aus, ihr wißt nicht, wie gut sie euch ist!« –
Dabei war Onkel Doktor eingefallen, daß Schlächter Ehmcke erst neulich protzig auf seine talergespikte Hosentasche geklopft und gerufen hatte: »Wenn Se, Doktor, miene Fru von ehr Leiden nich' heilen künnt, so war'k jo woll noch'n annern finnen, un wenn't fief Dolers kost't!« – Jeder meine, ein gutes Recht auf Gesundheit zu haben, und kein Gesunder begreife, daß er sein leiblich Wohl Tausenden von vor ihm und für ihn Leidenden verdanke. An den Widerständen zeige sich und wachse allein jede Kraft, im Fieber und im Schmerz werde das leibliche und seelische Getriebe gestählt, um allen Gefahren des Lebens gewachsen zu sein. Auch übertrage sich der Sieg der Einzelnen in seinen Erfolgen auf die Nachkommen und, wo ein Kranker leide, leide er wie eine Art Christus, ohne es zu wissen, für seine Brüder nach ihm. Auch sei die Krankheit meist nur eine Folge des Rückzugs seelischer Mächte aus dem Käfig des Leibes. Die Krankheit bedürfe überall einer Angriffslücke, einer Bresche in den Wällen des Lebens, und diese Bresche reihe ein Herzeleid, ein Kummer ebenso wie eine schlimme Tat, ein schlechtes Gewissen, eine geheime Angst! Auch seien die Krankheiten energische Handhaben der Natur, ständig das Gehäuse des Leibes auf der vollkommensten Höhe der Leistungen zu erhalten, damit die bildende Seele immer reiner und voller ihren himmlischen Willen zum Ausdruck bringen könne. Jedem sei Gelegenheit geboten zum Aufstieg, zum Ausbrechen aus dem Schlendrian der Gewöhnlichkeit und Mittelmäßigkeit, doch selten würden die leisen Mahnungen der Seele beachtet, da müsse denn eine Krankheit erst den gefesselten Willen aufrütteln! –
Das alles hatte Onkel Doktor wohl aufmerksam, aber meist kopfschüttelnd angehört, aber hingerissen war er, als Else den ganzen Apothekerkram mit einem einzigen Ruck vom Tisch des Lebens wegschieben wollte und ihm klar gemacht hatte, daß hinter dem Glauben an die Medizin ein viel größeres Vertrauen auf etwas Wunderbares, Übernatürliches kauere, als hinter dem Vertrauen auf Gott, den Onkel Doktor öfter schon als ein Produkt der Denkfaulheit gescholten habe. Es gäbe nur wenig Mittel, die wirklich nützen könnten, und zwar gleichfalls nur durch Angriff auf die Seele, wie z. B. Mohnsaft und die Abkochung des Fingerhuts, welche Zaubertränke des Bewußtseins, Dämpfer der Qualen seien – aber keineswegs Heilmittel. Alle Heilmittel, die es gäbe, wüchsen im Leibe selbst. Kein Mensch könne in den einmal von Natur gesetzten Leib eine neue Kraftquelle einführen. Freude, Hoffnung, Himmelstrost und Liebe seien oft viel bessere Steuerleute, als alle Mixturen und Extrakte zusammengenommen. Es gälte nur immer die Wundermaschine frei von jeder Art Staub und Dreck zu halten, leiblich wie geistig; ihren himmlischen Wiedererzeugungsgang und Heinzelmännchen-Neubau könne keine Menschenhand antreiben, da keine Feder und kein Rad aus irdischen Werkstätten zu liefern sei, das ein verlorenes zu ersetzen vermöchte. Dies und ähnliches hatte dem Onkel Doktor wohl gefallen, weil er, im Grunde eine ehrliche Haut, längst schon insgeheim mutmaßte, daß in dem Rüstzeug der Gelehrten ebensoviel Humbug stecke wie in der Wehr und den Waffen mancher Pfaffen, die er, einseitig, wie er gebildet war, auf den Tod nicht leiden konnte. Er arbeitete sich ein hübsches Traktätchen »Über die Unmöglichkeit einer Kunstheilung« aus, das er sein säuberlich ins Lateinische übersetzte – wobei er doch manchmal des Pastors Beistand erbat – und steuerte nun mit vollen Segeln in die Residenz, um dort im Kreise hochgelehrter Kollegen sein – wie er glaubte – bescheiden Körnchen Wahrheit zur großen Wissenschaftsmühle beizusteuern.
Da sollte er aber gut ankommen! Kaum hatte er seinen Vortrag geendet, so entstand ein furchtbares Tosen und Brüllen der Hunderte von Doktoren, die in einem großen Saale wie eine Herde zusammengepfercht waren, die auf Futter harrte. Perücken, Krückstöcke, Folianten, Tabaksdosen hagelten gegen ihn, Stuhlbeine winkten und der Präsident dieser würdigen Versammlung goß ihm von hinten eine große Kanne Wasser über das schuldlose Haupt. Dabei brüllte alles: »Raus! Raus!«
»Meine Herren,« sagte der Präsident, als sich der rasende Orkan endlich etwas gelegt hatte, »wenn uns solche unsern Stand und unser Einkommen direkt vernichtende Dinge entgegengeschleudert werden, dann muß ich beantragen, den Inseldoktor ohne weiteres in seine Heimat zurückspedieren zu lassen, aber nicht ohne Begleitung. Es soll sofort festgestellt werden, ob er nicht dauernd unschädlich zu machen ist. Dazu mögen ihn die drei Kollegen Doktor Langsamius, Doktor Kanniccius und Doktor Bloedenius begleiten. Ich bitte das hochehrwürdige Kollegium, sich unverzüglich auf den Weg zu machen!«
So wurde der anfänglich ganz betäubte Onkel Doktor auf den Schub gebracht. Unterwegs knüpften die Gendarme des Verbrechers, die ihn anfangs wie ein lebloses Gepäck mit stolzer Nichtbeachtung behandelt hatten, allmählich mit ihm Beziehungen an, weniger aus Mitleid mit der armen Seele, als aus Langeweile, denn die Gespräche, welche Doktor Langsamius, Kanniccius und Bloedenius miteinander führen konnten, waren in der ersten halben Stunde erschöpft. Dann kam eine Zeit, wo jeder, mit sich allein beschäftigt, schwieg, und die Öde der leeren Chausseen sich in ihrem Gemüte und Mienen immer deutlicher widerspiegelte. Bloedenius hielt's nicht länger aus, er begann ein Gespräch mit dem völlig in sich zusammengesunkenen Delinquenten.
»Wie kamt Ihr nur auf die vermaledeite Idee, im Kreise so illustrer Geister solchen stockdicken, hanebüchenen Quatsch vorzutragen?«
Da unser armer Doktor nicht antwortete, sagte nun Kanniccius: »Ihr habt euch um Ehr' und Reputation gebracht.«
Keine Antwort.
»Ich habe überhaupt nicht kapiert, was er meinte,« knurrte Langsamius.
Da fing unser Freund aber mächtig an zu wettern: »Und doch hab' ich recht, und ihr seid die Narren! Natur könnt ihr nicht drehn und wenden wie's euch beliebt. Der Mensch heilt aus sich selbst. Der beste Doktor ist ein alter, adliger Kollege, der noch dazu alle umsonst behandelt; ich kenne ihn ganz gut und werde ihn nun erst recht schätzen!«
»Wo wohnt denn dieser Ausbund von Geschick und Klugheit?« höhnte Kanniccius. »Nennt uns seinen Namen, daß wir ihn vor die Zunft und Vehme laden,« schrie Bloedenius.
Da rief Onkel Doktor:
»Er heißt Doktor von Selber! Sucht ihn nur! Ihr findet ihn überall! Ihr seid Narren! Ein Kind kann mich besser begreifen als ihr! Ich weiß sogar eins, das steckt euer ganzes Kollegium in den Sack und könnte euch Dinge sagen, bei denen euer stuckriger Prinzipiengaul euch einfach in den Sand setzen würde. Kommt nur mit mir nach Haus! Ich hoffe, ihr werdet doch noch andern Sinnes werden!«
Anfänglich hatten die drei kaum zugehört, als Onkel Doktor von Elselein zu erzählen begann und sich in immer größere Begeisterung hineinredete. Es war ein hübscher Zug seines Herzens, daß er Else, die doch die Ursache seines öffentlichen Mißgeschicks war, auch nicht einen Augenblick gram war. Im Gegenteil, ein Gefühl ungeheurer Dankbarkeit überkam ihn, daß sie ihm so die Augen geöffnet hatte und ihn sehen ließ, welch ein großer und tiefer Spalt klafft zwischen der schlichten Wahrheit und der perückten Gelehrsamkeit. Er mußte lächeln. Elsens schönes, welliges Blondhaar und ihre freudenhellen, blauen Augen: das war das Bild der reinen Natur, und Jener Perücken und große Scheuklappenbrillen, die waren der Umweg, die Sackgasse; in dieser lag Täuschung, Irren, Mißverstehen, dort in eines Kindes ahnungsvoller Ursprünglichkeit war ein ewiger Quell der Gewißheit. Und er begann – fast für sich selbst – den ganzen Entwicklungsgang des Kindes zu erzählen: wie sie plötzlich von heut' auf morgen von einem kleinen Mamsellchen Ungeschick sich gewandelt hätte zu dem aufgewecktesten, adrettesten Kinde, das man je gesehen. Wie sie bald in der Schule alle überflügelt und staunenswerte Dinge über Blumen, Steine und alles, was ihr begegnet, habe sagen können. Wie sie allmählich ein herrliches musikalisches Talent entwickelte, und daß Piepkorn, der Schullehrer, behauptet habe, sie sei allmählich eine der ersten Orgelspielerinnen der Welt geworden. Wundersame Verslein schreibe sie in ein kleines Buch mit goldenem Schlüssel, und in den Sand zeichne sie sinnreiche Figuren von wunderbarer Schönheit! Der ganze Kreis hätte von ihr Nutzen und Segen gehabt: nicht nur ihrem eigenen Vater habe sie ein Kalkbergwerk im Innern seines Ackers nachgewiesen und ihm sonst allerlei gewinnbringende Arten von Bodenausnutzung gezeigt, sondern sie sei auch wie eine kleine Quellsucherin von Gehöft zu Gehöft gegangen, um ohne Wünschelrute bohrbare Brunnenwässer nachzuweisen. Er könne nur auf Ehr' und Gewissen sagen, daß einige Dutzend Schwerkranker, bei denen seine bisher immer in gewohnten Geleisen gehaltene Kunst einfach versagt habe, durch das Kind geheilt wurden. Die Leute hatten nach ihr gerufen und sie flehentlich bitten lassen, ihnen beizustehen. Sonderbarerweise habe das Kind niemals etwas Neues im Heilverfahren angewendet, es meist bei diesem oder jenem Kräutlein wohl belassen, aber es sei ihm aufgefallen, daß sie immer geraten habe, manches von den Mitteln oder den Verordnungen augenblicklich fortzulassen und daß sich die Sache dann stets gewendet habe.
»Onkel Doktor,« habe sie einmal gesagt, »das andere könnt Ihr lassen, das schadet nicht! Aber Ihr verschreibt manchmal Dinge, die sind schlimmer und schwerer als das Leiden. Laßt sie weg, und dann kommt Doktor von Selber!«
So gehe sie wie ein kleiner Sonnenengel durch das Land, und jeder habe sie gern und möge ihr was Freundliches sagen.
»Natürlich, da haben wir's!« sagte einer der Gelehrten, »wo die Wünschelrute umgeht, blüht auch Kurpfuscherei!«
Da bekam der Wagen solchen Schubs von einem Prellstein, daß die drei Köpfe zusammenstießen und Bloedenius' Brille ein Glas verlor, Langsamius blutete die Nase, Canniccius wurde beinahe seekrank. Als sie sich etwas beruhigt hatten, begann einer der drei:
»Immerhin! Immerhin! Man müßte das Wunderkind entlarven! Solchen Erscheinungen, letzte Nachklänge von Teufelsspuk und Hexenzauber, sollte man mit aller Gewalt zu Leibe gehen. Natura non facit saltum! Natur bleibt immer im Schneckengang. Pah! Genies – gibt's gar nicht! Es sind Verrückte oder Verbrecher! Man muß versuchen, auch dieses Kind zu entlarven! Es wird sich schon herausstellen, wieviel Nutzen die Eltern von dem Taschenspiel der Kleinen ziehen!«
Da fuhr Onkel Doktor aber auf!
»O, ihr Lästerer und Doudezherzen! Nicht einen Pfennig nimmt unser liebes Elselein für all ihre Güte! Da ist der Fischer am See, dem riß in einer Nacht ein verirrter Hai das ganze Schleppnetz entzwei. Er, sein Weib, sein Sohn, flickten tagaus, tagein, ohne recht vorwärts zu kommen. Da ging Else des Weges, und in einer ganz neuen Art von Fadenführung zeigte sie den Fischerleuten, wie man zehnfache Arbeit leisten kann. Des Müllers Frau litt an offenen Wunden am Bein. Nichts half. Elselein riet, Schmiedewasser und frische Hühnereigallerte anzuwenden, und in kurzer Frist heilte der Schaden.
So könnte ich viele, viele Dinge erzählen. Aber niemals hat das Kind oder ihre Eltern ein Entgelt beansprucht!
Im übrigen, meine hohen Herren von Zunft und Zopf: Da sind wir am Ort! Wir brauchen bloß ein kleines Stückchen in diesem Wald links abzubiegen. Dort geht's zur Försterei, und da lebt Else.«
Alle stimmten zu, und die drei Perückendoktoren standen bald darauf vor Elselein; die saß in der Laube tief im Schatten und las.
»Else,« rief Onkel Doktor, »hier bringe ich dir drei gelehrte Herren! Die wissen alles, sind aber doch so gnädig, dir einen Besuch abzustatten. Sie haben mich erst tüchtig ausgelacht mit meiner Weisheit, dann wurden sie bös, und jetzt wollen sie im einzelnen feststellen, wie ich beim hohen Kollegio anzuschwärzen sei. Man will mich zwingen, meine Tätigkeit einzustellen. Wenn's irgend möglich ist, heize ihnen ordentlich ein, liebes Elselein, und geh' ihnen tüchtig zu Leibe!«
»Ei, ei, Onkel Doktor! Das sind ja böse Sachen!«
Aldebaran rieb sich vor Vergnügen die Hände.
»Pass' auf, Elselein, die wollen wir einmal tüchtig aufsitzen lassen! Sprich und tu' genau, was ich dir sage, du sollst deine Freude haben, wie sie Mund und Nase aufsperren werden!«
Von da an richtete sich Else genau nach Aldebarans Führung und sprach durch ihn voller Übermut:
»So, so, meine Herren, also ein bißchen Neugier nahm euch bei der Hand, und ein bißchen Parfüm des Wunderbaren gab euren ehrwürdigen Nasen Witterung! Aber was soll ein kleines Förstermädchen euer Gnaden Erkenntnis noch hinzusetzen? – Kennt ihr das Makroskop? – Nicht Mikro-, sondern Makroskop. Nicht den Tubus und die Linse, die alles Kleine vergrößert, nein, das kennt ihr schon. Ich will euch das Makroskop zeigen, eine schöne, neue Einrichtung, die euch doch sehr sympathisch sein müßte, weil sie nämlich das Größte verkleinert und alles Hohe herunterreißt auf eine kleine, gut übersehbare Fläche! Lassen Sie mich nur aus Mutters guter Stube einige Instrumente holen!«
Sie ging.
»Aha! Die Zauberapparate!«
»Geschwindigkeit ist keine Hexerei!«
»Sie steckt sich erst die Taschen voll!«
»Kennimus,« sagte Canniccius.
Da kam Else wieder, hatte unterm Arm eine große spanische Wand, eine Muschel vom Silberschranke ihrer Mutter und einen kreisrunden Hohlspiegel, den ihr Vater beim Bartkratzen benutzte.
»Hier, meine Herren, hier ist das Makroskop!«
Aldebaran nahm ein Blatt, auf dem ein Tautropfen perlte. Er hielt diese Wasserperle so in die Sonne, daß ihre zurückgeworfenen Strahlen ein Bündelchen von Licht, nicht dicker wie ein Spinnenfaden, niederrichteten auf den Hohlspiegel, der vor den Herren auf dem Laubentisch lag.
»Nehmt euch jetzt auch ein Laubenblatt; ich steche euch in jedes ein Löchelchen. Nun schaut durch dieses Lichtkreislein fest auf die runde Spiegelscheibe! Was seht ihr jetzt? Ist es nicht, als ständet ihr auf einem hohen, hohen Berge, mit Augen niederschauend, wie die Falken haben mögen, und sähet die Insel, auf deren Boden wir hier stehen, gar winzig verkleinert und doch ganz scharf? Ist das nicht wunderbar? Seht, ihre Buchten, ihre Seen! Seht, wie das Meer um ihre Flanken spielt! Und weiter im Umkreis das Festland und seinen Strom mit Haff und Wiesen und seinen drei Armen, die er der Mutter See entgegenstreckt! Was ihr dort oben schaut, ist Schweden. Dort England, und oben, oben links Island. Dann hört das Bildchen auf, weil der Rand des Spiegels beginnt. Ist das nicht ein großes Wunder? Ein einfaches Instrument, das euch gestattet, alles Große klein und übersichtlich zu schauen! Das ist nur ein den Gelehrten noch nicht geglückter Beweis dafür, daß, ebenso wie alles unendlich vergrößert werden kann, uns nun auch die Welt der Verkleinerung offenbart werden wird. So ist es auch möglich, das Größte und unbegreiflich Riesige unserem Auge durch eine umgekehrte Kunsthilfe anzupassen, so daß das Gigantische, Unüberschaubare seine wirkliche Form zeigen muß. Ich fand dies liebliche Spielzeug einst im Gras, als ein Tautropfen sein Bildchen auf ein im Rasen liegendes Stückchen Glas warf. Da dachte ich so: eigentlich muß ja in jedem Tautropfen, in jeder Träne nach Gesetz und Recht des Lichtes, nach den Gesetzen der Optik, wie ihr hohen Herren sagt, die ganze Welt gespiegelt sein. Sie ist in ihm enthalten, eingerollt mit kleinsten Streifchen von Lichtern und Schatten! Wären unsre Augen nur fein genug, sie müßten das kleine Knäuelbild der Welt mit allem, was in ihr ist, wieder zurück aufrollen lassen. Hier habt ihr den Beweis dafür! Der große Spiegel entfaltet das Bildchen dieses Tautropfens, der auf dem Blatt hier thront, wieder weit auseinander; das Löchlein eures Blattes schärft euren Blick zu Messerschärfe, und ihr seht einen Teil Europas aus Tautröpfchens Spiegelbild zu euren Füßen liegen, als wäret ihr unendlich weitsichtige, hoch, hoch auf Wolken beseligte Reiter! Denkt euch diesen Spiegel größer, das Licht noch heller und das Tautröpfchen noch kleiner! Ihr würdet bald glauben, halb zum Mond gestiegen zu sein und doch alles klar zu erkennen. Ihr würdet es so weit treiben können, die Erde als eine Kugel rollen zu sehen, und immer weiter aufwärts – bei völlig klarer Nacht würdet ihr Sonnen, Planeten und Sternnebel überschauen können! Was würdet ihr wohl sagen, wenn ihr nun merktet, wie das Ganze nur eine Feder bildet in der Schwinge eines Lichtengels, der die Ewigkeit bewacht, und dessen Leib ein wundersamer Staat von Sternen ist, ähnlich wie euer hochwürdiger Korpus aus lauter kleinen Kohlenkästchen zusammengesetzt ist. Das mag wohl einst alles offenbar werden! Ich wollte euch nur zeigen, daß jedes Ding auf Erden für euch noch immer neue Seiten hat.«
Obwohl Langsamius, Bloedenius und Canniccius in gleicher Weise verwundert waren, glaubten sie doch an einen Spuk und irgendeine Fakirkunst.
»Na ja,« sagte einer, »man hat ja wohl schon von Wahrsagen aus Glaskugeln und Waschschüsseln gehört.«
»Jawohl,« sagte Else, »und wenn man über den Sinn dieser Märchenhandlungen – denn es gibt auch märchenhafte Handlungen – etwas nachgedacht hätte, wenn man dem naturanbetenden Spürsinn des gemeinen Volkes etwas nachgegangen wäre, so hätte man mein Makroskop vielleicht schon wirklich gefunden. Die Zauberer, die Spielmänner, die Riesen, Drachen unserer deutschen Mären und Sagen sind alles tiefsinnige Akteurs geheimnisvollen Geschehens! – Aber traut ihr nicht euren Augen, vielleicht euren Ohren!«
Aldebaran hieß sie die Muschellefzen gegen die Perückendoktoren halten. Ihre große Mündung nahm sich in der Sonne aus wie ein großes, innen rosig glühendes Elefantenohr. Er sprach etwas Leises hinein in die zarten Lippen dieses sonst so still murmelnden, gleichsam erstarrten Kelches einer Riesenblume. Plötzlich erscholl daraus laut der Trompetermarsch von Lützows wilder, verwegener Jagd, den gerade die Blechmusik der Garde vor dem Palast des Königs von Preußen zur Wachtparade blies.
Alle Anwesenden drehten die Augen verdutzt zum Waldrand: von dort mußte unbedingt der Orchesterklang kommen; aber undenkbar – wie sollte die königliche Garde hier auf diese Insel kommen, und wie sollte das Kind sie hinter den Bäumen versteckt haben. Elselein, die selbst nicht weniger erstaunt war, als die anderen Pfiffikusse, schaute Aldebaran fragend an. Der sagte:
»Laß nur, ich erkläre dir das alles später. Jetzt will ich sie wahrhaft graulen machen, daß sie davonlaufen, als sei ein Gottseibeiuns hinter ihnen her!«
Er ließ sie von Else in den Stall des Schimmels führen und half ihr die große spanische Wand mit hineinschleppen. Dann mußte Else sagen:
»Hochwürdige Herren! Es gibt Geister! Ihr werdet es glauben müssen!«
Sie stellte den Schimmel am Halfter quer zu seinen Schwengeln, die ihn von den Kühen, Lise und Trud, trennten, und breitete den großen Wandschirm der Länge nach vor ihm aus, so daß er unsichtbar wurde. Aldebaran, der hinter den Schimmel gekrochen war, entzündete heimlich ein grünliches Licht, das unter Schnurren verbrannte. Während plötzlich der ganze Schirm hell aufleuchtete, stand mit einem Male das Skelett des Schimmels auf dem Bilde! Alle Anwesenden bekamen das Zittern. Selbst Else graulte sich, bis Aldebaran rief:
»Es ist nichts weiter, beruhige dich und sie!«
Da sprach sie den Erschrockenen gut zu und bat auf Aldebarans Rat einen der Herren, hinter den Schirm zu kommen, um sich zu überzeugen, daß kein Betrug dahinter stecke. Wie erschraken aber Canniccius und Bloedenius erst, als sie auf der hellen Schirmwand jetzt auch den guten Langsamius als leibhaftiges Skelett, ohne Perücke, ohne Kleid, nur mit Uhrkette, Westenknöpfen und Brillengestell bekleidet, einherspazieren und – o Graus und Schrecken! – mit spinnernen Gespensterfingern dem armen Schimmelgeist die Wirbelgelenke abtasten und die Schwanzstümpfchen herunterstreichen sahen! Dieser, der Schimmelgeist, schien solche Zärtlichkeit aber falsch zu verstehen: die Knochenpferdebeine schlugen mild aus; Langsamius' Geistergerippe bekam einen Schlag gegen die Beckenschaufel. Man hörte ihn heulen, während am gräßlichen Schädel sichtlich der Kiefer auf- und zuklappte. Dann aber wußte sich Langsamius vor dem tanzenden, sich bäumenden Pferdeskelett scheinbar nicht anders zu retten: das schreckliche Menschengeripp hüpfte auf die Rückenwirbelsäule des alten Schimmelgespenstes, und nun war da ein Totenritt zu sehen, der zum Lachen hätte reizen können, wenn es in der Dunkelheit des Stalles nicht so entsetzlich schaurig ausgesehen hätte. Bloedenius und Canniccius rissen aus, der abgeworfene und beim Hervorkriechen vor den Zauberschirm wieder langsam fleischig werdende Langsamius lief behende hinterher. Sie fluchten und wetterten alle drei unaufhörlich, befahlen dem aufgefundenen Wagenlenker, so schnell als möglich kehrt zu machen und diese Zauberinsel zu verlassen.
Erst als sie das Försterhaus schon ein gut Stück hinter sich hatten, beruhigten sie sich wieder und kamen glücklich zu Hause an. Sie hielten sich für gräßlich an der Nase herumgeführt und erzählten darum dummerweise aus falscher Scham niemandem von ihren Visionen, sonst wäre die Wissenschaft vielleicht schon damals um einige Neuheiten reicher geworden. Sie schlurrten in ihren Filzpantoffeln noch viele, viele Jahre weiter, während die Göttin der Zeit auf dampfenden Rädern dahinsauste, – und – wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heut', die guten Doktoren Langsamius, Canniccius und Bloedenius.