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Mit still staunenden Sinnen lauschte Faber hinaus auf das helle Prasseln. Sein Grimm verdunstete wie eine entladene Gewitterwolke. Gelassen tupfte er mit dem Tuche die Blutstropfen, die aus den Wunden am Halse in den Kragen hinabsickerten. Dann ging er hinaus auf den Flur. Dort kauerte Sophie am Boden und las die Scherben zusammen. »Laß den Glaser noch heute kommen!« sagte er obenhin und trat zurück in sein Zimmer. Gleich darauf öffnete er aber wieder die Tür.
»Die Sache nimmt einen wilden Gang,« erzwang er ein Lächeln.
»Der Regierungspräsident war hier?« riet sie, ohne aufzublicken.
»Ja,« lachte er wild auf. Steckte die Daumen in die Armlöcher der Weste und blähte die Brust.
»Gut, daß es so kommt, Fieze. Die Schwüle weicht. Die Toten schweigen. Die Lebenden schreien. Mit den Lebenden bin ich noch immer fertig geworden.«
Sie hob das bleiche Gesicht. Da beugte er sich zu ihr nieder, strich ihr ermutigend über die Wange und trat in sein Zimmer zurück.
Noch immer die Daumen verwegen in die Armlöcher verbohrt, marschierte er auf und nieder. »Was hatte der gelästert?« Er lachte tief in der Kehle trocken auf. »Meuchelmörder!« Hm – »Meuchelmörder!« Ha, als ob ihn das traf! Als ob das ihn traf! Das berührte ihn nicht mehr als der Fleck, den die Fliege da an der Scheibe hinterließ. Fliegendreck, pah! Was ihn das scherte, wie der Mann es sah. Er wußte, er hatte wie ein Ehrenmann gehandelt. Donnerwetter, ja. Unsinn. Hm, feiger Lump hatte er gebrüllt. »Überfallen wie ein Strolch.« Und Hand an ihn gelegt. Nun, er hatte ihn auch nicht gerade sanft in die Daumenschrauben genommen. Aber feiger Lump und Strolch hatte er gesagt! Nun ja – es war ein bluttriefender Schmerz für ihn. Gewiß. Aber feiger Lump! Es war kein Bierkutscher, der ihm das ins Gesicht geworfen. Zum Donnerwetter nein, er hatte kein Schuldbewußtsein! Rasendes wehes Mitleid hatte er mit dem armen Weibe und ihrem unsinnigen Geschick. Mit dem Weibe, ja. Herrgott auch mit dem Manne. Es war viel grausam Vernichtendes heut' über ihn hereingebrochen. Man mußte milde denken. Die erste begreifende Wut konnte mit einem durchgehen. Ja – ja – Aber feiger Lump! Das auf sich sitzen lassen? Teufel noch eins, feiger Lump, das einfach hinnehmen! Daß er hinging und glaubte, er fühle sich schuldbewußt. Oder gar – ?!
Das Blut stieg ihm in die Schläfen.
Was denn? Er konnte doch den Mann heute nicht vor die Pistole fordern, dessen Weib durch seine Schuld – was denn, seine Schuld? Ausschalten. – Frage der Schuld ausschalten. – Aber sein Weib lag zerschmettert im Hause. Er konnte den todwunden Mann nicht vor die Pistole fordern. Er setzte sich still nieder.
Und jetzt brach der zurückgestaute Schmerz um Manja über das dämmende Wehr der Tagessorgen. Die Achtung vor ihrem Todesmut sank wieder erschütternd auf ihn nieder. Wie eine der gerühmten und der zahllosen stillen Heldinnen der großen Revolution war sie gestorben. Nein, anders, anders. Nicht in der sorglos tänzelnden Grazie des Rokoko, die mit einem geistblitzenden Bonmot auf das Schafott tanzte, nein, wie ein großes Weib des zwanzigsten Jahrhunderts war sie in das All zurückgesunken. Als Kind der ernsten, daseinerweiternden Zeit innigsten Naturverstehens, so war sie gestorben. Ein würdiger Schlußstein ihres nach Erkenntnis dürstenden Lebens war ihr Tod. Als würdige Tochter des großen van Deelen war sie in ihre Unsterblichkeit hinübergegangen.
Bis tief in die Nacht hinein feierte er ihr in seinem Herzen die Totenmesse. Groß und leise spielte Sophie drüben ihren geliebten Bach. Einmal ging er hinüber und küßte sie wortlos auf die Stirn.
Dann ward es drüben still. Sie war zartfühlend zu Bett gegangen.
Faber saß in seinem Sessel, bis der Tag graute.
Am nächsten Morgen bellte das Gerücht durch die engen Gassen der Stadt. Geheimrat Helmholtz und Doktor Wurm hatten nicht gesprochen. Sie band das Amtsgeheimnis. Auch Seebeck blieb treu seinem Versprechen. Ingenheim aber schwieg wie sein totes Weib. Er forderte den ›Meuchelmörder‹ nicht, um die Ehre seines toten Weibes zu retten. Und doch! Und doch! Trotz der strengsten Diskretion aller Beteiligten bellte das Gerücht am Morgen dieses Tages bereits durch die engen Gassen der Stadt. Wer will sagen, wie Gerüchte aufspringen! Wie ein tollgewordener Hund stob es dahin, rechts und links blindwütig jeden arglosen Fußgänger anfallend. Da war ein Stehenbleiben und Herbeiwinken und Tuscheln auf allen Gassen. »Wissen Sie schon?« »Ja, denken Sie bloß!« »Ich habe mir gleich gedacht, daß das kein Unfall war.« »Aber nein, wie entsetzlich! Da mit dem Pferde runter zu galoppieren.« »Das arme Weib.« »Was sollte sie aber tun, wenn der Mensch sie im Stich ließ?« »Nu eben.« »Nein, solch ein feiger Patron, dieser Faber! Und mein Sohn, der Student, der Jurist studiert, der schwärmt doch nu geradezu von ihm. Immer redet er daher: ›Das ist nicht manneswürdig. Was würde Professor Faber dazu sagen!‹ Und nu hat der Mensch doch 'n Verhältnis mit der Ingenheim gehabt!« »Er soll sie doch überrumpelt haben!« »I, gehen Sie mir ab! Das sagen sie nachher alle. Überrumpelt? Warum hat mich noch keiner überrumpelt? Weil ich eine anständige Frau bin. Na also!« »Jedenfalls hatte der Professor keinen schlechten Geschmack,« lächelte eine Frivole. »Und wie nun die Sache herauszukommen drohte und sie zu ihm kam und bettelte, flehte, er solle sie retten – da war doch 'n Prozeß, wo er Zeuge sein mußte –« »Ach, nee, ein Prozeß?!« »Wie ich Ihnen sage, Frau Schulze. Und da hat er doch gesagt: Nee, Hilfe ist nich.« »Was sagen Sie, Herr Kollege, obwohl die Frau ihm gesagt hat und geschworen, glaube ich, hat sie auch, daß sie sterben würde, hat er die Arme verschränkt und kaltblütig gelächelt: ›Geh' ins Kloster, Ophelia!‹«
Und alle ließen ihr Nachrichtenboot stranden an den Klippen tiefster Empörung: »So eine Gemeinheit!!«
Am lautesten bellten aber die feigen Hunde, die bei einer Panik tausend Frauen schonungslos unter die Füße getreten hätten, um ihr eigenes kostbares Leben zu retten; die bellten am lautesten: »So eine Gemeinheit!«
In Professorenkreisen raunte man sich den Skandal zu: »Hm, hm,« machten die einen; »Ho, ho,« zogen die andern die Brauen empor. Die meisten hatten es natürlich schon immer gewußt, daß Faber nichts als ein Maulheld war. Immer schon. Andere freilich zogen die Lippen ein und sagten mit bedenklichem Schütteln des Kopfes: »Wer hätte das gedacht!«
Und nur sehr wenige stellten sich stumm auf die Seite des verfemten Mannes.
Die menschliche Bestie feierte wieder einmal ihren Triumph. Der Mann war eine der lautersten ragendsten Gestalten der Stadt gewesen. Wie ein Frühlingsföhn war er mit seiner jungen Mannschaft freudeklingend durch die Straßen gebraust. Wie zu einem Lebensheiland wanderte die studierende Jugend in seine Kollegien, wie zu einem Wunderapostel schwärmten die Frauen in seine öffentlichen Vorträge in der Lessing-Akademie. Hoch ragte er über die Stadt.
Ha, nun zeigte sich ein Makel. Ha! Die eklige Genugtuung der Kalibane, die freudekrächzt, daß die Sonne Flecken hat, ringelte sich an ihm empor. Ha, auch das strahlende Licht hat dunkle Stellen, ha, es ist nicht fleckenlos! Ha, wir wachsen. Die Zwergslust war es, die triumphiert, wenn sie hört, daß Goethe einen schwachen Darm hatte. Ha, er ist uns verwandt! Ha, er war auch nur ein schwacher Knirps. Ha, Faber hat geehebrüchelt, wir sind ihm verwandt. Ha, er hat die Frau kaltblütig in den Tod gestoßen. Ha, er ist ein Schuft wie wir alle!
Es brauste und siedete an ihm empor, wie wenn die Flut kommt. Erst lecken einige vorwitzige schwarze Spritzer am Fuße der ragenden Klippen aufgurgelnd dahin. Dann saust es schon mit klatschender Gewalt. Giftgrüne Gischtfontänen sprühen auf und sickern an ihr herab. Dann klimmen gelbschleimige Wassersäulen mit grimmigem Fauchen an ihr empor wie ringelnde Schlangen. Und dann – dann brandet mit donnerndem Dröhnen ein gärendes schwarzes Meer über die ragende Klippe hinweg.
Wie wenn die Flut hereinbrandet, so brach der Schwall des Gerüchts über den Professor Fritz Faber herein.
Nur die Studenten, die wußten noch nichts. Sie waren in dichten Scharen im Auditorium maximum der Universität versammelt und berieten über die Ehrung, die sie dem Professor Fritz Faber als Dankovation für die Ablehnung des Rufes nach München bringen wollte«.
Fackelzug, natürlich. Und ferner – – – Es wurde flammenzüngig beraten. –
Die Flut spülte den Oberst Pahlow in die Fabersche Wohnung.
Der kleine quecksilbrige alte Soldat stürzte herein, einem Igel nicht unähnlich mit all den erregungstarrenden weißen Borsten in dem roterglühten Gesicht. Haare, Brauenbüsche, Schnurrbart bildeten struppige Bürstenhürden.
»Der Professor zu Hause?« Er stieß das Mädchen zur Seite.
Faber arbeitete still, Sophie saß im Klubsessel und las. An ihr vorbei klirrte er zum Tisch hinüber, riß die Mütze von dem schweißtriefenden Schädel und schnaubte: »Was ist das? Was reden die Leute da?«
»Aber, – Papa!« legte Sophie die Hand auf seine Schulter.
Ernst erhob sich Faber, reichte dem Schwiegervater die Hand und fragte gelassen: »Ja, was reden die Leute denn?«
Zögernd griff der Oberst nach der dargebotenen Hand. »Ich glaube,« wandte er sich zur Tochter, »es ist besser, du gehst hinaus. Wir haben hier einiges zu besprechen.«
»Laß sie ruhig hier,« sagte Faber, »sie weiß alles.«
»So – so,« machte der Oberst und öffnete die Säbelkoppel, »sie weiß alles. Was ist das nun eigentlich?«
Der Oberst verschränkte die Hände auf der Brust und blickte zu dem großen Schwiegersohne auf. »Sag mal, Mensch, die ganze Geschichte ist wohl erlogen und erstunken?!«
»Welche Geschichte? Ich weiß ja noch immer nicht, was du meinst. Aber setz' dich doch!«
Der Oberst setzte sich. »Na, dann will ich dir also erzählen, was die Leute munkeln. Ich glaube, es ist aber doch besser, Sophie läßt uns allein.«
»Mein Weib kann alles hören, was über mich gemunkelt wird,« beharrte Faber.
»Na denn. Ich dachte mir gleich, daß die Sache irgendwie anders zusammenhängen muß. Also denkt euch –« er rückte etwas zurück, um Sophie nicht den Rücken zuzukehren – »eben treffe ich auf der Kaiserstraße den Generalmajor. Winkt mich heran und sagt: ›Sagen Sie mal, lieber Pahlow, was ist das mit Ihrem Herrn Schwiegersohn?‹ Ich bekam keinen schlechten Schreck, könnt ihr euch denken.
»›Was ist mit ihm?‹ frage ich. Da sagt er leise, vertraulich: ›Man erzählt – ich habe es aus ganz authentischer Quelle – ganz authentischer,‹ sagt er, ›Ihr Herr Schwiegersohn hat mit Frau von Ingenheim ein – na also – ein Verhältnis gehabt. Nicht jetzt, mein lieber Pahlow,‹ sagt er noch, ›Sie brauchen nicht aufzufahren, vor der Ehe mit Ihrer Frau Tochter,‹ sagt er. ›Na, nun sollte die Sache durch einen Prozeß ruchbar werden, eine verzwickte unklare Geschichte, jedenfalls sollte Ihr Schwiegersohn als Zeuge über seine Beziehungen zu der Frau vernommen werden.‹ Ist denn das richtig, Fritz?«
»Erzähle bitte erst zu Ende!«
»›Die Frau ist nun in ihrer Angst zu Ihrem Schwiegersohn gelaufen,‹ sagt er, ›hat ihn angefleht, sie nicht zu verraten. Hat geschworen, sie würde sich töten, wenn er ihre Beziehungen aufdeckt. Ihr Herr Schwiegersohn‹ – ihr hättet hören sollen, wie er das betonte, der – der –! –« Der Alte ballte die Fäuste.
»Erzähle nur, Papa,« sänftigte Sophie.
»Ja, also du hättest sie hinausgewiesen. Und sie ist dann hingegangen, hat das Pferd satteln lassen und ist in der Verzweiflung von der Sankt Annenhöhe hinuntergesprengt.«
Hier flatterte das Brautpaar herein, bedrückt wie eingeregnete Turteltauben.
»Was geht denn bei euch vor?« sagte Helene ganz bleich.
»Ihr wißt es auch schon?« nickte Faber bitter.
»Die ganze Stadt spricht heute von nichts anderem,« klagte Hancke.
»Ist es denn wahr?« wandte Helene sich an die Schwester.
Da brauste der kleine stachelige Oberst auf wie eine Hornisse. »Du hörst ja doch, kein Wort ist daran wahr!« schrie er los.
»Das dachte ich mir doch gleich,« erholte sich der lange Bräutigam.
»Solch eine Infamie!« Helene stampfte den temperamentvollen Fuß auf den Teppich.
Nun endlich kam Faber zu Wort.
»Im großen ganzen – von einigen unwesentlichen Entstellungen abgesehen – ist das Gerücht wahr,« bekannte er.
»Was?!« Des alten Soldaten Oberkörper klappte in den Hüftgelenken zurück wie der Deckel einer Kiste.
Das Brautpaar starrte sich an.
»Ja – aber – aber – Fritz –!« stotterte der Oberst mit unbeherrschten Lippen, »dann – du sprichst als ob – Mensch, bist du denn nicht mehr bei Verstande!«
»Doch, Papa,« sagte Faber ruhig, »doch durchaus.«
»Aber ist dir nicht klar, daß du – Sophie, ist euch denn gar nicht klar, daß – das ist doch furchtbar!« Er sank im Stuhle zusammen und ward ganz winzig.
Da sprach Faber: »Nun hört einmal zu,« er richtete sich auf und stellte sich breitbeinig in den Kreis. »Hört mich nun auch einmal, ja? Ich nehme an –« wandte er sich an die Schwägersleute – »Ihr werdet dieselbe Version gehört haben wie Papa. Ich könnte euch dieselben Tatsachen erzählen mit ganz anderem Unterton. All die tausend psychischen Zartheiten fehlen in dem öffentlichen Bericht.«
»Erzähle du,« riet Helene.
»Nein,« lehnte Faber ab. »Ich kann von einem Gerücht keine psychologische Studie verlangen. Ich vertrete das Gerücht, wie es läuft. Ich bin bereit, die Verantwortung für die nackten Tatsachen zu übernehmen.«
Der Oberst klirrte unruhig mit den Sporen.
»Die Sache liegt klipp und klar so: Vor vier Jahren – stand dieses arme Weib mir nahe. Die Einzelheiten sind so zart. Lassen wir sie! Die Tatsache, daß sie mir nahe gestanden hat, nehme ich auf mich. Daß ich die Frau überfallen habe, ist natürlich Unsinn. Aber – wenn irgendeine Schuld dabei gewesen ist – will ich sie auf mich nehmen. Dann hat sie sich völlig von mir zurückgezogen. In all den Jahren, die ich hier lebe, habe ich sie nicht gesprochen, bis sie vor einigen Tagen zu mir kam. Einzelheiten übergehe ich. Richtig ist, daß sie schließlich in der Todesverzweiflung den Meineid von mir verlangte. Richtig ist, daß ich ihn verweigert habe.«
Es war lange still.
»Du wußtest, daß sie sich dann das Leben nehmen würde?« Das sonst so rote Gesicht des Obersten war ohne Blutstropfen.
»Ja,« sagte Faber klar und fest. »Das habe ich gewußt.«
Da steckte der Oberst die Hände in die Hosentaschen und marschierte klirrend durchs Zimmer. Das Brautpaar stand bedrückt.
»Ich könnte beweisen,« sagte Faber unbeirrt, »daß sie selbst meiner Entscheidung recht gab. Ich verzichte darauf. Die Tatsache, daß ich bis zum letzten Augenblicke mit Ingenheim sprechen und die Frau retten wollte, übergehe ich. Das glaubt mir jetzt ja doch keiner. Ich nehme die Wahrheit auf mich, daß ich die Frau habe gehen lassen, als sie mich um Hilfe bat. Das will ich vertreten.«
Der Oberst räusperte sich laut und marschierte.
»Die Frage,« fuhr Faber etwas heftiger fort, »die ich zu entscheiden hatte, war einfach, glatt herausgeschält, die: Wem gehört mein Leben: meinem Weibe oder, kraß gesprochen, meiner früheren Geliebten?«
Der Oberst machte hitzig auf dem Absatz kehrt. »Wenn du unverheiratet gewesen wärest, was hättest du getan?« fragte er haarscharf.
»Ich wäre vor dem Termin ins Hochgebirge gefahren und verunglückt.«
Hancke nickte wohlwollend.
Der Oberst zog die buschigen Brauen ganz tief über die Augen. »Und weil du verheiratet bist, glaubst du, dich den Folgen deiner Handlungen entziehen zu können! Donnerwetter, ist das eine Ansicht. Glaubst du, die Ehe ist ein Riegel, den du einfach vor deine Vergangenheit schieben kannst. Das wäre ja noch schöner. Der Henker verstehe dich!«
Da fuhr Sophie auf. Plötzlich stand sie neben ihrem Manne, groß und flammend. Ihr Gesicht brannte vor Erregung. »Papa,« rief sie heftig, »du hast kein Recht, hier so zu sprechen. Der Mann hier hat schwerer gekämpft, als ihr ahnen könnt. Wie dürft ihr oder irgendeiner wagen, ihm Vorwürfe zu machen! Er hat vor der schwersten Wahl gestanden, vor die ein Ehrenmann gestellt werden kann. Leben zu bleiben, war für ihn tausendmal bitterer, als hinzugehen und in eine Schlucht abzustürzen. Wer das nicht versteht und glaubt, für den ist in diesen vier Wänden kein Raum!«
Sie keuchte. Faber legte den Arm beruhigend um sie. Ner Oberst murrte: »Nu – nu – nu! Man wird wohl noch seine Meinung äußern dürfen.«
»Sprich du ruhig,« bat Faber.
Da sprang Helene ein. »Ganz recht hast du gehandelt, Fritz. Ich will gar nicht entscheiden, ob du für dein Weib und deine Kinder zu leben hast. Aber das weiß ich: Herrgott normal, ist denn ein Weib nicht auch ein vollbürtiger Mensch! Muß es sich hilflos im Schatten des Mannes verkriechen? Die Zeiten sind doch wahrhaftig vorbei. Sapperment, ist diese ganze Geschichte für uns Frauen entwürdigend! Sie beweist wieder einmal sonnenklar, wie herrlich weit wir Frauen es in unserer innersten Emanzipation vom Manne gebracht haben. Statt daß die Frau genau so wie der Mann die Folgen ihrer Handlungen auf sich nimmt, duckt sie sich jämmerlich hinter den Mann wie hinter ein bergendes Bollwerk, sowie Gefahr droht. Einfach schmachvoll!«
Da lächelte Faber. »Laß, kleine Schwägerin! Die Frau ist so groß gestorben, daß das emanzipierteste Weib daran lernen kann.«
Jetzt hatte der Oberst sich wieder in der Gewalt. »Das sind ja törichte frauenrechtlerische Theorien, die gar nicht hierher gehören,« fegte er die Erörterung wie Schutt beiseite. »Gott sei Dank gibt es noch Ritterlichkeit in der Welt. Gott sei Dank, sage ich. Ich weiß, in der ganzen Armee sind nicht zehn Offiziere, die nicht bereit sind, für eine Frau unter solchen Umständen zu sterben.«
»Na, na,« zweifelte Hancke.
»Ja, sage ich,« schrie der Oberst erbittert, »habe es selbst so und so oft miterlebt. Da war der junge Sydow, der Lindequist, der Rahmer, der Below. Ach, und Arnholz, ein prachtvoller Kerl, aber ein bißchen leicht, hatte eine Liaison mit der Frau unseres Hauptmanns. Eines Tages kommt sie zu ihm: ›Mein Mann hat etwas gemerkt, er wird dich auf Ehrenwort fragen.‹ Arnholz kommt zu mir. Ich war sein Premierleutnant. Fragt mich, was er tun soll. Habe auch nicht eine Sekunde gezögert, kann ich euch sagen.«
»Was wurde draus?« drängte Helene interessiert weiter.
»Was wurde? Was sollte werden! Er hat das Ehrenwort natürlich gegeben und ist einige Zeit darauf beim Baden ersoffen. Solche Fälle passieren zu hunderten. Wäre mir nie eingefallen, daß man anders entscheiden kann. Mir nicht.«
Das kam sehr weh.
»Der Leutnant war doch aber nicht verheiratet,« rief Hancke, »das Beispiel paßt ja gar nicht.«
»Aber lieber Schwiegersohn,« bäumte sich der Oberst auf, » den Unterschied verstehe ich eben nicht. Entweder ein Mann hat für seine Handlungen einzustehen oder nicht. Ich spreche doch hier wahrhaftig gegen mein eigenstes Wohl und Wehe. Aber, Herrgott, es gibt eben im Leben eines Mannes Dinge, die sein Weib auf sich nehmen muß.«
»Das weiß ich,« sagte Sophie schlicht und groß.
»Ich kann es nun mal nicht einsehen, daß die Ehe ein Mauseloch sein soll, in das der Mann sich vor den Konsequenzen vorehelicher Handlungen verkriechen kann.«
Faber ruckte auf. Da fügte der Oberst bei: »Aber vielleicht hast du recht. Ich weiß nichts mehr. Ich weiß gar nichts mehr, als daß ich alt bin, steinalt. Untauglich, des Königs Rock weiter im Dienste zu tragen. Das weiß ich.«
»Aber, Papa!« umschlang Sophie ihn bittend.
»Laß – laß!« wehrte er müde und setzte sich gebrochen in einen Stuhl. »Vergebt, wenn ich mich nicht richtig benehme. Ich bin ein alter Mann, ich muß dieses Neue erst einschlucken.«
Ein langes schweres Schweigen schwelte unter der Decke des großen Zimmers. Endlich wagte Hancke: »Aber, lieber Papa, Fritz hat doch aber recht, nach meinem Gefühl ganz unzweifelhaft. Heute gehört er seiner Frau und seinen Kindern und sonst niemandem auf der Welt.« Und er umfaßte sein junges Mädel mit lindbehütenden Blicken und wurde ganz rot. Denn er dachte an die Wirtschafterin, von der er doch ein Kind hatte. Für die sollte er –! Freilich konnte man die feine Manja von Ingenheim nicht mit seiner etwas robusten Hanna Schulze vergleichen. Nein, nein. Aber im letzten Kern – ein lieber Mensch war sie doch auch gewesen.
»Ja doch – ja doch,« hustete der Oberst bitter auf, »auf der ganzen Linie geschlagen. Beide Herren Schwiegersöhne gegen mich. Also – basta! Ich bin passé.« Er stand mühsam auf und nahm die Mütze vom Tisch.
»Willst du nicht noch bleiben?« bat Sophie innig.
»Nein, danke. Ich habe noch zu tun. Gute Nacht, alle.«
Und kleiner als je ging er hinaus. Fast schien es, als ob der eine Fuß nachschleife.
»Der arme Vater!« klagte Sophie.