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XIX.

Vom tiefen Schlaf in allen Gliedern erfrischt, war Manja von Ingenheim am Morgen erwacht. Schon im Auftauchen zum Bewußtsein lächelte ein freudiges Ahnen um ihre noch schlummerumfangenen Augen. Endlich, endlich, wieder einmal ein Empordämmern zum Tage, in das sich nicht schon im Unbewußten Ängste und Schreckensschauer einkrallten.

Wohlig durchrieselt, schlug sie langsam die Lider mit den dunkeln langen Wimpern empor. Ah – war das gut. War das heute gut! Sie lag tief in den Kissen und badete den Körper in dieser kosenden Lindheit. So dämmerte sie eine lange Weile zum Licht.

Dann dachte etwas lächelnd in ihr: »Ich brauche nicht zu sterben, alles ist gut.« Da war sie plötzlich bei vollem Bewußtsein. Sie setzte sich im Bette aufrecht und sah auf die rotgoldenen Flammenfahnen vor den Fenstern. Es mußte schon spät sein, wenn die Sonne so lohend auf die Vorhänge brannte.

Ja doch – sie brauchte nicht mehr zu sterben. Auf die roten Damastvorhänge starrend sammelte sie ihre schlafgeruhten Gedanken. Wie war es doch gewesen? Ja doch. Da hielt sie es in den Händen. Weil es eine Komödie war, eine lächerliche Farce. Das – was? Was denn? Was war eine Farce?

Und da durchlebte die kluge Manja von Ingenheim die vernichtende Wahrheit, daß die schonungslos grelle Helle des Morgens die Dinge des Lebens entzaubert und sie entmummt der milden, müden, phantastischen Schleier, in die das weich zerfließende Licht des Abends sie sanft bergend hüllt.

Sie saß und starrte auf die Fenster und sah die Posse nicht. Sie suchte und suchte in ihrem Hirn nach der grotesken Komik, die ihr gestern abend das Leben gerettet hatte.

Was war ihr nur so überwältigend schwankhaft erschienen? Was? Was?

Sie schleuderte in aufsiedender Todesangst die seidene Decke zurück, warf die Füße aus dem Bette und saß in qualvollem Grübeln. Wo war die Komik ihrer Todesrolle? Wo – wo?

Ihr Mann hatte von Fabers Frau geschwärmt. Nun ja. Ja doch. Wo lag da die Farce? Deshalb sollte sie gerettet sein! Was hatte ihr gestern abend den verwegenen Trotz zum Leben gegeben? Eine Stimmung? Eine Überreizung der zerschundenen Nerven? War es nicht schön, wie herzhaft er sich an andern Frauen freuen konnte und doch – das wußte sie, wie sie wußte, daß die Erde kreist – rein in jedem Gedanken blieb? War diese rüstige Begeisterungsfähigkeit in seinen Jahren nicht köstlich! Wie poetisch er in seiner Hingerissenheit geworden war. Wie die Schönheit alles Edle und Zarte tief im Grunde seine Alltagsseele aufwühlte. Wie zart war es, als er sagte: »Die Frau ist nicht zum Verlieben. Wie eine glockenklare Altstimme unter ausgestirntem Himmel, so ist sie.« Wunschlos, wie von einem Stern, hatte er es gesagt und rührend beschämt ob seines Überschwanges. Das sollte grotesk sein! Bloß weil es zufällig Fabers Weib war, der es galt?

Sie verrankte die Finger und legte das Knie in die Schlinge der Hände. Freude am Schönen hatte in ihm ihre Andacht gehalten, das wußte sie. Sein empfängliches Herz pochte freudig beim Anblick eines schönen Weibes, wie sein Gemüt in inbrünstiger Schauensfreude auflebte vor der Erhabenheit eines zum blauen Himmel trotzenden Firns, vor der milden Lieblichkeit einer sanften grünen Wiese in Sonnenduft und Blumenschmelz. War das eine Farce, die ihr das Recht zum Leben gab? War sie deshalb weniger tief gefallen vor ihm? Nein. Im Gegenteil, sie sank noch schmachvoller. Gerade weil sie erfahren hatte, wie gefahrvoll ihr das Hinausschweifen aus der eng geborgenen Sicherheit der Ehe geworden war, mußte sie seine nachtwandlerisch unfehlbare Lauterkeit nur um so ergriffener hochachten. Grotesk war da nichts.

Ja – aber dann – sie glitt von der Matratze auf die Füße nieder und stand und fühlte das Blut tropfenweis weit, weit fort vom Herzen sickern, dann stand sie doch wieder am Rande des geheimnisvollen, brodelnden Schlundes, in den sie hinabtauchen mußte! Dann blieb ihr nur das Abstürzen beim Morgenritt.

Ihre grauen Angstaugen irrten im Zimmer umher nach einer Hilfe.

Und plötzlich sah sie sich tief unten im Abgrund liegen mit zerschmetterten Gliedern. Sie zuckte noch, wie eine Biene, die man erschlagen hat, vom Todeszittern überrieselt wird – so lag sie dort in dem Abgrund, und die arme »Lenora« bei ihr mit klagenden, sterbewehen Augen.

Sie schloß matt die Lider.

Da durchlebte sie mit stockendem und wieder angstgepeitscht ausbrechendem Herzen den Moment des Abstürzens, dieses wahnsinnige Gefühl des Schwebens im Luftraum, das Eingeweide zerreißende Niedersausen, das schädelspaltende, hirnverspritzende, dumpf klatschende Aufschlagen am Grunde.

Sie hastete im Zimmer umher, als jage ein Mörder mit glühendem knisternden Eisen hinter ihr drein. Das mußte sie morgen durchleben – mit klarem Bewußtsein durchleben – mußte sie – kein Ausweg war da, in dieses Vernichtende mußte sie hinein, mitten hinein.

Sie rannte immer schneller rings im Zimmer umher, immer keuchender. Und plötzlich schrie sie gell: »Nein, nein!« Und warf sich nieder auf den Teppich, schlug dumpf mit der Stirn gegen den Boden und preßte die Hände krampfhaft vor die Augen, als könnte sie so ihren marternden Gedanken entgehen.

Es war die letzte Angst der Kreatur, die den zum Tode Verurteilten einmal menschentkleidend umkrallt, auf Sekunden, auf Stunden, gerade den Tapfersten, gerade den Vergeistigtsten, der das Grauen des Vernichtetwerdens zu erdenken, gerade den Beseeltesten, der diese irrsinnige Marter des Ausgerodetwerdens mit tausend blutigen lebentriefenden Wurzelfasern bis ins Letzte vorzuahnen weiß; gerade denjenigen, den es bis ins Mark durchwühlt, daß er nur dieses eine Leben hinzuschleudern hat, dieses eine einzige, solange Welten sich drehen, solange Sterne im Weltall stehen, solange geblutet und gerungen, geliebt und gedacht wird auf Erden, nur dieses eine einzige unersetzliche Leben. Gerade die heulen einmal auf wie die Bestie in Todesqualen, die, für die es keine Wiederkehr gibt, keine Auferstehung, kein Aufflackern je wieder, gerade die, die wissen, daß sie ausgetilgt sind aus dem bewußten fühlenden All in alle Ewigkeiten. Und wenn sie jung sind wie Manja von Ingenheim, kaum dreißig, und wissen, daß der Kelch ihres Saftes noch schäumt, wenn der Durst noch glühend brennt, dann ist die Verzweiflung grell wie schlagende Wetter und von den Balken der Kultur in ihrem Schädel nicht zu tragen. Dann brüllt aus der Menschenform das kriechende Tier der Urzeit.

Lange bäumte sich die schöne feine Manja wie ein gefangener Fisch, der ins Boot geworfen wird, vom Boden auf und schrie in den Teppich und biß in den Flausch und krallte die blinkend gepflegten Nägel in das Gewirke, daß sie splitterten und rissen. Und hob den zarten Kopf mit dem verwühlten spinnwebfeinen blonden Haar und dem verängstigt rasenden Hirn. Und sie suchte mit Augen, in denen flackernd der Irrsinn brannte, im Zimmer umher nach dem Ausschlupf. Suchte, suchte in ihrem zierlichen Schlafgemach umher wie der Verurteilte in seiner nackten Zelle. Plötzlich bog sich der Körper auf, wie der Leib einer Wildkatze vor dem Sprunge, schnellte empor, krallte den Hörer des Telephons von dem weißen Tischchen und schrie Faber ihre Todesnot entgegen. Und riß das Nachtgewand vom Leibe und schleifte an verzweifelt kreischender Klingel die Zofe herbei und sackte die Kleider an den Körper. Und vergaß alle Vorsicht und alles Vertuschen und alle Furcht vor den Menschen. Der Tod stand hinter ihr, der Tod, und grinste. Er warf sie in die Equipage und schrie aus ihr zähnefletschend dem Kutscher zu, zu rasen, rasen, und fegte sie die Treppe hinauf und krallte ihre eisstarren Finger um den Klingelzug, daß er aus dem Gefüge brach, und stieß das Mädchen zur Seite und schmiß sie wie ein Bündel Elend in des Professors Stube. Und riß sie nieder auf die Knie und schüttelte ihr die Arme wie Weidenzweige im Sturm. Und winselte aus ihrem garstig vergeiferten Munde: »Ich will nicht sterben – ich will nicht sterben!«

Und als der Mann sich zu ihr niederbeugte, sie aufzuheben, umkettete sie mit beiden Armen sein Bein, verbiß sich in sein Knie und pfiff keuchend zwischen den Zähnen: »Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben!« Und alle Tapferkeit war ein Nichts geworden, alle Frauenwürde ein Schatten, alle Gelehrtheit und aller Liebreiz dieses klugen blaublütigen Weibes eine bleiche Nichtigkeit des Tages. Nichts von ihr war geblieben als elender winselnder Jammer.

Und als Faber sie endlich in einen Stuhl gelegt hatte und ihre Wirrnis wieder Worte fand, war in ihrem irr spulenden Verstande nur der eine Gedanke: Rette mich – rette mich!

»Ja doch – ja doch!« gelobte er immer wieder. »Ja doch!«

»Rette mich!« umtastete sie seine Hände.

»Ich bringe dich fort,« hastete er, »weit fort, in Sicherheit, kehre zurück und sage deinem Manne alles.«

»Ja – ja – nur leben – nur leben!«

Aus dem Nebenzimmer schallte das frohe Lachen der Verlobungsfreude.

Er holte Wasser, gab ihr zu trinken, legte ihr feuchte Tücher auf Augen und Nacken und sprach ihr zu, leise flüsternd, fiebernd, beruhigend. Sie legte seine Hand auf ihr furchthämmerndes Herz. Und endlich, endlich sprangen die Tränen, die milden, erlösenden lösenden Tränen, in Tropfen zuerst, in stürzenden Bächen dann, in flutenden Strömen endlich. Und die Besinnung kehrte zurück und das Menschentum, als würde in die schlotternde Hülle wieder Gottes Odem geweht.

Doch aus dem nachbebenden Todesgrauen keimte lebensstark der Egoismus der Selbsterhaltung auf. Sie wollte leben, sich anklammern an den, der die Rettung in Händen trug, sich ankletten und von ihm zurückschleifen lassen in das alte, gute, reiche, ach so reiche Leben! Nicht in Verachtung und Verbannung, nein, nein, in ihrem alten, guten, reichen Leben leben! Nicht leben, um Not und Verderben zu haben! Nein, nein!

Alles das schoß in Sekunden durch ihr wund wallendes Hirn. Sie blickte auf zu dem sorgenbleichen Manne und flüsterte: »Erfahren darf er nichts. Ich habe nicht mehr die Kraft, als verstoßene Frau dort draußen irgendwo zu leben. Ich bitte dich jetzt um etwas Großes, Fritz. Es fiel mir gestern ein, als eine Rolle in einer Posse. Heute ist es eine tragische Heldenrolle für dich geworden. Ich weiß, was ich von dir fordere. Ich weiß auch, ich gebe mit diesem Verlangen alles preis, was du in mir geliebt und geachtet hast. Ich kann nicht anders. Du bist der Mann. Du hast zu handeln. Du mußt mich retten. Ich bin ein Weib. Ich bin schwach – ja – ja, jetzt wo es zum Äußersten kommt, bin ich feig wie die feigste Dirne.« Sie schüttelte es hervor, sprang auf, schwankte, griff die Lehne eines Stuhles als Halt: »Schwöre den Eid!«

»Wie?!« er taumelte.

»Schwöre den Eid! Keinem tust du unrecht. Du bist nicht religiös. Dir ist es keine Sünde vor deinem Gotte. Und vor den Menschen! Was schert die Menschen das, was zwischen uns beiden gewesen ist! Was haben sie da mit ruchlosen neugierigen Händen hineinzutasten!«

»Aber – Manja!« Er bewegte nur die Lippen. Keinen Ton hatte seine verdorrte Kehle.

»Es gilt mein Leben! Ein Leben gegen ein Wort!«

»Manja« – er fingerte zerrend an seinem Kragen, »ich – mein ganzes Leben schreit dagegen. Nein – nein doch! Verlange eher den Tod!«

»Du hast für dein Weib und deine Kinder zu leben.«

»In Ehren!« schrie er auf.

»Es kann nicht herauskommen!« flüsterte sie beschwörend. »Keiner außer uns beiden weiß Bestimmtes.«

»Ich weiß es!« die Fäuste dröhnten auf seinem Brustkasten.

»Denk' daran, daß es ein edles Werk ist,« sie hob die gefalteten Hände, »eine Heldentat!«

Er wandte sich fort, trat zum Fenster und kämpfte den schwersten Kampf seines Lebens. Sein ganzer Körper nahm teil an diesem Ringen der Seele. Das Gesicht verzerrte sich zu grausamer Grimasse, die Hände griffen in die Luft, die Lungen schnaubten. Sie stand und horchte weit vorgebeugt mit würgender Erwartung auf das sausende Atmen der kampfverbissenen Mächte in seiner Brust.

Da wandte er sich ins Zimmer zurück. »Nein!« unerbittlich wie ein schwingender Sensenhieb mähte das Wort ins Zimmer, »das kann ich nicht. Es gibt etwas, das heißt Mannesehre!«

Da sprühte wie eine steigende Rakete eine purpurwilde Zornesglut aus ihren Augen. Es war, als ob sie wüchse. »Es gibt auch etwas, das heißt Frauenehre!« zischte sie.

Besänftigend entgegnete er: »Manja, bei ruhiger Überlegung kannst du das nicht verlangen.«

»Ich verlange es!« raste sie in der entzügelten Heftigkeit ihres Wesens, die er nie an ihr gekannt.

»Komm!« bat er und nahm ihren Arm. Sie riß sich los. »Setz dich in den Stuhl! Sei erst wieder du selbst! Dann wirst du einsehen, daß ich es nicht kann, Ein meineidiger Lügner kann nicht Lehrer und Vorbild der Jugend sein. Das wirst du einsehen, Manja, wenn du ruhiger geworden bist. Wenn ich das tue, was du verlangst, bin ich ein toter Mann.«

»Und wenn du es nicht tust, bin ich ein totes Weib.«

Ihre in hundert gelehrten Gesprächen geschärfte Disputierkunst hatte den Kampf um das Leben aufgenommen.

»Ich habe Weib und Kinder.«

»Ich Mann und Kind.«

Da siedete auch er auf. »Du brauchst nicht zu sterben. Leb' und trage deine Folgen!«

»Trag' du deine Folgen!«

»Ich will sie tragen.«

»Dann handle an mir als Ehrenmann!«

»Das nennst du als Ehrenmann handeln?« fuhr er bitter auf. Und ruhiger setzte er hinzu: »Ich werde noch heute mit deinem Manne sprechen.«

»Das wirst du nicht!« verbot sie hart, »Du weißt sehr gut, daß das heute nichts mehr nützt. Heut stehen wir vor dem Skandal.«

Und plötzlich umschwingend, klagte sie: »Pfui, wie ist dieser Auftritt unser unwürdig!« Sie trat zu ihm und legte die Hand auf seinen Arm: »Fritz, das kann ich doch wohl verlangen, daß nicht gerade du mich in den Tod treibst!«

Er zog den Arm zurück und ging mit gesenkter Stirn im Zimmer umher. Ihre grauen blutunterlaufenen Augen liefen wie feindliche Späher hinter ihm her. Da hob er langsam den Kopf und sah sie an mit einem langen Blick. Grün glommen die Augen unter tiefgedrückten Brauen. »Fritz,« sagte sie leise, »wie hast du dich jetzt erniedrigt. ›Wenn sie sich mir doch damals nicht ergeben hätte!‹ das hast du eben gedacht.«

»Ja – ja,« er stieß den Hals weit vor. Der Haß glitzerte in seinen Pupillen.

Ihre Nasenflügel schlossen sich verächtlich. »Feigling!« Sie stieß es wie eine Dolchklinge durchs Zimmer, dann ging sie zur Tür.

Er hörte die Entreetür sich öffnen und rührte sich nicht. Er hörte die Tür ins Schloß fallen und rührte sich nicht. »Jetzt geht sie und tötet sich,« dachte automatisch sein Hirn. Er rührte sich nicht. »Gleich – jetzt – im Zorn wird sie es tun,« wußte er und rührte sich nicht.

Und plötzlich faßte er einen Stuhl, hob ihn hoch empor und schmetterte ihn zu Boden, daß er zersplitterte. »Dann soll sie es tun! Ich kann ihr nicht helfen. Ich habe mein Weib und meine Kinder.«

Da öffnete Sophie erschreckt die Tür.

»Aber, Fritz,« sie starrte auf den zerborstenen Sessel.

»Laß!« er stieß die Leisten mit dem Fuße, »ich habe mich ausgetobt. Nun ist's gut. –«

Damit ging er hinaus, nahm den Hut und eilte zur Universität, seine Vorlesung zu halten.

Verzagt sammelte Sophie die Trümmer des Stuhles.


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