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XX.

Als der Diener öffnete, überreichte er Manja von Ingenheim einen geschlossenen Brief des Barons mit dem Bericht, der Herr Regierungspräsident wäre nach Hause gekommen und dann gleich zur Bahn gefahren.

Mit einer Ruhe, die sie überraschte, nahm Manja den Brief und ging in ihr Zimmer. Ohne Hast, mit einer interesselosen Gleichgültigkeit öffnete sie das Kuvert. Nein, dachte sie gleich, es ist nichts. Der Präsident teilte ihr mit, daß er plötzlich nach der Residenz berufen worden sei; morgen mittag werde er zurück sein. Und dann stand da zum Schluß: »Ich glaube nicht, daß ich als Regierungspräsident heimkehre. Rüste dich, den Ministerialdirektor zu empfangen!«

Langsam legte sie den Brief auf den Toilettentisch und entknüpfte den Schleier. Lange sah sie in den Spiegel auf ihr abgehärmtes graues Gesicht mit den entzündeten Augen. Ja, sie würde sich rüsten, den Ministerialdirektor zu empfangen. Er sollte seine verdiente Beförderung haben. Sie wollte ihm kein Hindernis sein. Nein. Nein. Sie wußte, wie er diesen Posten in der Zentralbehörde innerlich erstrebt hatte, wenn er auch keine Worte darüber machte. Sie wollte nicht aus seiner Lebensstraße ein Stein sein, über den er stürzte. Nein. –

Ergeben und gefaßt war sie jetzt. Die verrasten Stürme des Morgens lagen zurück, wie eine niedere Entwicklungsphase. Ihr starker Intellekt hatte sich endlich emporgerungen und dem Tode aus den Augen ihrer monistischen Lebenserkenntnis ins milde Antlitz geschaut. Alle Furcht war gewichen; ihr wissensklarer Glaube gab ihr jetzt Halt. Und wenn sie an Faber dachte, blutete die Scham in ihre kalkigen Wangen. Wie hatte sie das von seiner Mannhaftigkeit fordern können! – Einen falschen Eid von ihm! Wirr und angstverweht war sie gewesen und blind vor Todesgrauen. Sie wollte ihm schreiben. Ja. Später. Und morgen – morgen früh, ehe ihr Mann heimkehrte, wollte sie es tun. Ihr Entschluß stand jetzt wie eine Klippe im Meer. Ja, morgen früh beim Spazierritt würde sie verunglücken. Es gab da einen Weg hinauf zu einer Anhöhe mit einer verteufelt jähen Biegung. Hinter dem niedrigen Steingeländer gähnte ein steiler Abhang. Wer dort hinunter kam, den nahm die Ewigkeit in ihre linden Arme.

Wieder dachte sie voll schmerzlichen Mitleids an ihre arme Stute »Lenora«. Aber hatte sie nicht oft gelesen, daß Offiziere bei der Gefangennahme ihrem treuen Tiere den Degen ins Herz stießen, ehe sie ihn ablieferten. Damit der Gefährte ihrer Gefahren nicht in fremde Hände hinüberglitt! Auch ihre ›Lenora‹, die nun bald alt wurde, sollte in keine Schinderhände fallen. Und dann! Würde ›Lenora‹ nicht, wenn sie wählen könnte, gern mit ihr den Todessprung tun!

Es gab keinen zweiten unverdächtigen Weg. Das arme Tier mußte mit hinunter und hinüber. Vor den Menschen mußte es ein Unglücksfall sein. Auch vor ihrem Manne. Vielleicht kam es nicht zu dem Termin, wenn sie tot war. Man streitet nicht vor Gericht um die Ehre einer Frau, die kaum erkaltet mit zerschmetterten Gliedern im Sarge liegt. Vielleicht! Dann war auch Faber gerettet.

Morgen früh ja. Sie wußte jetzt, daß ihre Tapferkeit nicht wieder erblassen würde. Der Geist triumphierte jetzt über jede kleinmütige Todesfurcht. Den Rest des Tages heute und die Nacht wollte sie noch ausschlürfen in der guten genießenden wohligen Gemächlichkeit, die sie so liebte.

Am Nachmittag saß sie bei ihrem Jungen, half ihm bei den Schularbeiten, spielte mit ihm einen mutvollen Festungskrieg, las ihm die letzten Briefe des Kaisers und sprach, bis er schlafen ging, mit ihm über tausend Dinge, die seine lebhafte Kinderphantasie durchzuckten. Und war so heiter jung und so ausgelassen lustig mit ihm, und seine Augen lachten so knabenfröhlich und ritterlich verehrend zu ihr auf, daß sie wußte, er würde diesen letzten Tag seiner schönen lebensfrohen Mama niemals vergessen, niemals durch ein langes tatenreiches Leben hindurch.

Und als sie ihn abends zu Bett gebracht hatte, in wehmütiger Erinnerung an die glückliche reine Zeit ihrer jungen Ehe, ging sie in ihr Bibliothekzimmer.

Sie öffnete weit die breiten Scheibentüren der Schränke und strich abschiednehmend zärtlich mit der Hand über diese besten Freunde ihrer heiligsten Stunden. Hier und dort nahm sie ein Buch aus der Reihe und blätterte darin. Und alte, lang verschollene Erinnerungen tauchten auf an die Kindheit, an den geliebten gelehrten Vater, der nun auch längst an der Seite der jung verstorbenen Mutter zerstäubte, an die Geschwister, denen sie nie nahe gestanden hatte, tauchten auf, wiegten sich wie ein leises Jugendlied durch ihr Gemüt und verwehten. Hier, den Kant, hatte ihr Mann ihr in der Brautzeit geschenkt. Sie schlug die Widmung auf: »Meiner gelehrten Freundin und liebreizenden Geliebten.« Die Augen wurden ihr feucht. Schnell hob sie das Buch zum Munde und küßte es scheu und innig. Dann stellte sie es langsam zu den andern. Da stand der schwarzgebundene trotzige Foliant der Geschichte der Präraffaeliten, Fabers gewaltiges Jugendwerk. Wieder errötete sie in Scham. Wie häßlich war das Ende heute gewesen. So erniedrigt hatte ihre Verzweiflung sie beide. Sie würde ihm schreiben, nachher. Sie schlug das Buch auf. Da stand die Widmung, die er hineingeschrieben hatte, als er bei seinem Besuche kurz nach der Habilitation ihr stolz das Buch mitbrachte »Der Heiligen, der Gelehrten und der Frau.« Sie lächelte. Jung und überschwänglich und so lieb. Zag stellte sie das Buch zurück.

Und sah dann im Stuhle, die Hände matt im Schöße, und dachte an den Reichtum ihres Lebens. Einmal stand sie noch auf, öffnete eine Lade im Bibliotheksschrank. Sie vergilbten schon, die Blätter des Manuskriptes ihrer Torso gebliebenen Geschichte der Philosophie. Ihre Finger blätterten in den Seiten. Nein, vernichten wollte sie sie nicht. Sie hatte so viel von ihrem durchsättigtsten Denken und ihrem allerinnigsten Sein hineingewebt. Wie ein Denkmal ihres Ringens nach Erkenntnis, ihres Geistes und ihres Lebensglaubens war es. Sie ging zu ihrem lieben alten Mädchenschreibtisch, den sie aus dem Vaterhause hinübergenommen hatte in die junge Ehe, und schrieb mit ihrer eigentümlich markigen Schrift auf das Manuskript: »Meinem Sohne.«

Dann machte sie einen energischen Strich darunter und legte das Manuskript zurück in die Lade. Dort würde man es später finden, und keiner würde wissen, daß sie das Vermächtnis am letzten Tage ihres Lebens gestiftet.

Und der Abend rückte vor, dieser linde, liebe, blaue Juliabend. Da ging sie auf den Balkon vor ihrem Schlafzimmer, die Schreibmappe unter dem Arme. Hier hatte sie oft bis spät in die Nacht hinein gesessen und in den Himmel geträumt. Sie legte sich in den behaglichen Rohrsessel, legte die Mappe getreulich auf den Tisch und blickte auf zu den Sternen. Schon als Mädchen hatte sie stets eine unklare Sehnsucht zu den Welten dort oben hinaufgelockt. Später war sie immer damit umgegangen, ernsthafte astronomische Studien zu treiben. Doch immer war eine andere, wichtigere philosophische Frage des Okzidents, des Orients dazwischen getreten, die durchdacht und zur Klarheit getrieben sein wollte. Und heute – ach, die Astronomie war auch eine der vielen Dinge, die ihr Leben ungetan zurückließ. Der vielen, vielen Dinge, die morgen kommen sollten, morgen gewiß.

Sie rückte sich im Stuhle zusammen. Nicht weich weiden! Alle Menschen leben mit dieser Schuld, die morgen einkassiert werden soll. Auch wenn sie bis ins höchste Alter hinaufsteigen, immer soll morgen erst das tiefste, beste, reichste Leben beginnen.

Das wußte sie. Gerade über ihrem Scheitel schoß eine Sternschnuppe nieder, ein blaufeuriger Funke, wie eine Lanzenspitze niedersausend und plötzlich restlos zerstiebend ins All.

»Wie ein Menschenleben,« dachte Manja, »wie ein leuchtendes Leben in das Blau des Weltalls verlöscht.« Nietzsches tanzendes Lied an den Mistral surrte ihr durch den Sinn. »Sind wir Zwei nicht eines Schoßes Erstlingsgabe, eines Loses Vorbestimmte ewiglich?«

Ja, war nicht alles eines Schoßes Wundergabe, all die tausend Sterne dort oben, alle, und sie hier unten!

Aus einem Fenster der Nachbarschaft tönte zart eine Flöte in die Stille der Nacht.

»Wie lind,« durchrieselte es die einsame Frau, »wie lieb und lind ist diese Welt!«

Da griff sie zur Feder. Und hastig, wie die Gedanken sich überstürzten, warf sie die Worte auf das Papier:

»Mein lieber, lieber heller Junge.

jetzt habe ich mich gefaßt. Ich schäme mich so sehr. Wir haben uns heute gegenübergestanden wie zwei Überdrüssige der Liebe. Ich habe Dir eine Szene gemacht wie eine kleine gemeine Frau. Vergib mir! Du bist so reich an Verstehen. All das Bittere, Gemeine, das an dem Tier in uns haftet, hat die Todesangst in mir aufgewirbelt. Vergiß es! Du hattest recht, tausendmal recht. Ich weiß es jetzt, wußte es schon, als ich Deine Treppe hinabstieg. Ein Mensch wie Du kann sterben, aber nicht lügen. Lebe und werde glücklich mit Deinem herrlichen Weibe! Ich kenne sie nicht, man hat mir viel von ihr gesprochen. Deine beiden Jungen sollen Dir zu einer starken Mannesfreude erwachsen. Lebe ihnen und Deiner Lebensaufgabe, Jugend zu glücksstarken lebensfesten Menschen zu erziehen!

Sie läßt mich nicht, diese böse Stunde heute morgen. All das Jämmerliche, das Du an mir gesehen hast, vergiß es, vergiß es ganz! Tilge es von meinem Bilde! Du sollst mich ganz klar und hell sehen. Sieh, so kann das Grausen vor dem Letzten ein langes Leben des Strebens nach Schönheit entstellen!

Vergiß das böse Wort, das ich heute früh gellte. Ich schäme mich so sehr. Ich will, ich will, daß Du weißt, wie ich in Dich hineinsehe. Wie ich den Kampf in Deiner Brust mitkämpfe. Sieh, ein Mensch, der dort steht, wo ich heute nacht stehe, hat etwas Hehres, Seherhaftes, über menschliches Verstehen Hinausgereiftes. Und dieses Heilige in mir sagt: Du hast keine Pflicht gegen mich. Dein reiner genial ahnender Sinn hat es empfunden. Pflicht hast Du gegen Dein junges schönes Weib und Deine kleinen Kinder. Ihnen erfüllst Du in Liebe die Pflicht durch Dein mutiges Ausharren, wie ich meine Pflicht in Liebe gegen meinen Mann und meinen Jungen zu erfüllen glaube.

Sieh mich hell – hell! Wisch' diese böse Stunde aus Deinem Leben! Laß mich meine Hand auf diesen schwarzen Fleck legen. Weißt Du noch, wie Du meine kleine feste Hand einmal geliebt hast?

Sei vorsichtig, verrate nichts! Ich glaube, es wird alles gut enden. Sie werden sich nicht um meine Ehre streiten, wenn ich tot bin. Du wirst nicht Zeuge sein. Ich weiß es heute. Bleibe stets so strahlend, wie ich Dich sehe in dieser letzten Nacht meines Lebens!«

Sie legte die Feder nieder und sah aus zum Himmel, Und die Rätsel des Alls sanken auf sie herab.

Lange saß sie so. Dann griff sie noch einmal zur Feder.

»Ich fürchte mich nicht mehr. Ich sitze hier auf meinem lieben Balkon, rings der Garten, der flüstert vom Reifen des Sommers. Über mir der nächtliche Himmel und tausend Sterne. Weißt Du noch, wie oft wir über diese Wunder sprachen? In Norderney, in den brandenden Seenächten. An der Brücke brannten die einsamen Lichter und machten die Welt so einsam und groß. Und der Himmel stand wie eine Riesenfrage über dem schwarzen Meere. Damals fanden wir, und ich habe es nie so stark empfunden als jetzt in dieser Stunde unter dem Nachthimmel mit seinen atmenden Sternen, daß wir ein Teil dieses unendlichen Alls sind, ein unvergängliches. Daß Sterben nichts ist als Wandlung der Form. Daß an Kraft und Materie nichts verloren geht im Weltraum. Daß mein Lebensstoff unsterblich ist. Und morgen, wenn er anfängt, in den Raum zu zerstieben, dann lebe ich wie heute. Nicht als die irregegangene Manja von Ingenheim, doch als der ewige, reine, unvergängliche, neu verjüngte Stoff, aus dem sich das All dort oben und hier unten baut. Und darum bin ich still und trostreich gewärtig einer meiner Ewigkeitswandlungen.«

Und fest zog sie ihres Namens Zug.

Dann saß sie und blickte in den Himmel, bis der Morgen graute. Fröstelnd ging sie leise in ihres Jungen Zimmer und saß an seinem Bette, bis er erwachte. Da lächelte sie in sein Staunen und verhieß, mit ihm zu frühstücken. Frisch und fröhlich, schon im Reitanzug, saß sie ihm in der hellen Frühstücksstube gegenüber. Und als sie ihn dann noch einmal in die Arme nahm und an das Herz preßte, verließ sie fast die Kraft. Doch der kleine Mann löste sich verwundert aus der Umarmung, lachte »Aua, Mama, du hast ja fast meine ganzen Vokabeln aus mir herausgedrückt, die ich so schwer in mich hineingepumpt habe!« Und fort lief er, gewaltig die Schulmappe schwingend. Sie sah ihm nach, bis er um die Ecke versprungen war.

Dann ging sie noch einmal durch alle Zimmer der Villa, Abschied nehmend. In der Arbeitsstube ihres Mannes warf eine Schwäche sie auf das Sofa. Sie trotzte sie nieder und ging hinaus. Vor der Gartentür hielt der Diener schon die beiden Pferde. Sie lief einige Schritte die Straße hinauf und warf den Brief in den Kasten. Dann trat sie zu den Tieren, streichelte erst ›Mumpitz‹ den muskelharten Hals. Dann stand sie vor ›Lenora‹. Mitleidig weh strich sie der klugen Stute über das ahnungslos schnuppernde Maul. Der Diener hielt den Bügel, hinauf, keinen Verdacht erregen! Sie saß im Sattel, das morgenfrische Tier drehte sich auf den Hinterbeinen, im Schritt ging es durch die Straßen. Dann begann der Reitweg im Stadtpark. Sie setzte die Stute sofort in Galopp. Der Diener folgte auf ›Mumpitz‹. Und dann kam der sandige Weg, der zur Höhe stieg. Immer steiler wand sich der Pfad, den sie oft geritten war; schon lag die Stadt mit ihren Türmen unter ihr zur Rechten. Tief unten glitzerte der Strom im Diamantenreichtum der Morgensonne. Jetzt kam die starke Biegung. Manja schaute gelassen über die niedrige Mauer hinweg in die jähe Tiefe, als sie vorbeiritt. Langsam, im Schritt ging es zum Gipfel. Dort ließ sie, wie stets, die Tiere nach dem beschwerlichen Anstieg verschnaufen. Und hielt Umschau. In goldenem Dunst lag die Welt. Sie wandte sich im Sattel nach allen Seiten. Grausilbern glänzten die Stangen der Rebenhügel ringsum in der Sonne.

Und dann geht es hinab. Sie nimmt scharfen Galopp. Der Diener folgt. Immer wilder greift die Stute aus. Der Wallach vermag kaum zu folgen. »Herrgott,« graut dem Diener, »geht die ›Lenora‹ mit ihr durch?!« Er gibt die Sporen.

Jetzt kommt die Biegung. Sie sieht ganz klar. Dort drüben jenseits der Mauer liegt morgenfroh das Land. Klar sieht sie alles. Sie saust den Weg hinab. Wenn das Tier nur nicht vorher stürzt! Das Herz steht plötzlich still. Ihr schwindelt. Es ist wie nebeldumpfes Träumen. Die Füße des Tieres berühren kaum den Boden. Es ist wie irrsinnsbanges Träumen. Jetzt, schreit irgend etwas in ihr – jetzt! Sie schlägt dem Tier den Sporn in die Weichen. Blut spritzt aus der Lippe, so fest hat sie die Zähne eingebissen. Die Kandare halten, die Kandare, schreit es im brennenden Hirn, daß die Stute nicht ausbricht! Hochauf schießt das schmerzgehetzte Tier. Ein Schrei wie Schwertblitzen hinein in die schimmernde Luft – sie fühlt noch klar das sekundenlange Vorwärtsstürzen ins Leere – in rasendem Schmerz reißt es in den Eingeweiden nach unten – Schwindel – tausend Farben vor den Augen – warm der Pferdeleib unter ihr – eisiges Sausen der Luft ringsum – sie krallt sich in das Fleisch des Pferdehalses – –

Unten im Tale liegen zwei zerschmetterte Kreaturen.


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