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Gesellschaftliche Schranken.

Bazar. 4. November 1895.

Gewiss, das Dasein ist schön, das Leben gut und alles zum besten eingerichtet in der besten aller Welten. Aber wie wäre es, meine Damen, wenn wir uns das Tableau einmal von nahe besähen, man entdeckt dabei oft allerlei Unvermutetes, auch die Schatten im Bild. Und Sie wissen, die Welt ist heute so realistisch, man thut gut, sich die Wirklichkeit von Zeit zu Zeit immer wieder zu betrachten: alle Augenblicke wird ein neues Hilfsmittel, eine neue Methode gefunden, um die Dinge noch besser, noch genauer, so recht von Angesicht zu Angesicht zu sehen, um einen neuen Bazillus zu entdecken – was weiss ich.

Übrigens, der neue Bazillus passt ganz gut. Ich will Ihnen einen solchen zeigen, der besonders weibliche Organismen angreift, und den wir Frauen daher besonders studieren sollten. Aber statt zu orakeln, lieber direkt zur Sache.

Sie sind alle einmal siebzehn Jahre alt gewesen, sind es vielleicht eben geworden. Nun, mit siebzehn Jahren darf man gemeinhin die erste Reise nach der Hauptstadt oder zu Verwandten machen. Sie denken gern an diese Zeit zurück; es war schön, nicht wahr? Papa hatte Sie auf die Bahn gebracht; unter dem Schutz einer Tante oder mütterlichen Freundin fuhren Sie bis Berlin; auf der Friedrichstrasse empfing Sie Onkel Ludwig, in der Droschke wartete Vetter Paul, an der Entreethür fielen Sie in Tante Elsen's Arme, und unter der Hängelampe sprang Ihnen Cousine Marie um den Hals. Sie waren von Anfang an in der grossen, fremden Stadt zu Hause, Sie hatten ein Heim, wo man Sie liebte, und von wo aus alle Ihre Schritte im voraus geregelt und des weiteren bewacht wurden. Dass dem so sein würde, war die ausdrückliche Forderung von Papa und Mama gewesen; dass dem so sein konnte, war die selbstbewusste Freude von Tante und Onkel: sie hatten es ja dazu. Dass es überhaupt anders sein könne, und dass es nicht jedem so wird, ist Ihnen das jemals durch Ihr hübsches Köpfchen gegangen? Ich wette nein.

Aber wer kann auch an alles denken! Sie hatten ja so viel zu thun. Vom Morgen bis Abend gab es zu sehen und zu hören, Augen, Ohren, ja Mund und Nase aufzusperren. In die Museen, die Vorlesungen des Viktorialyceums und zu Freundinnen gingen Sie mit der resoluten und schlagfertigen Marie, die alle Strassen des Westends kannte, keine Angst vor Droschken hatte, keine Pferdebahnlinien verwechselte und sogar mit der Stadtbahn Bescheid wusste. Allerdings weiter als bis Bahnhof Alexanderplatz gingen Cousine Maries Kenntnisse der Stadt nicht, und vor Berlin NO. hatte sie einen aristokratischen Abscheu. Sie fand schon das Deutsche Theater in der Schumannstrasse etwas abgelegen.

Nur eins war störend bei den Ausgängen mit Marie: vor Dunkelwerden hiess es zu Hause sein, und das war bei den reizenden Plauderstündchen mit Freundinnen und den Kränzchen um Apfelkuchen mit Schlagsahne oft sehr schwer, nicht wahr, mein Fräulein? Einige Verspätungen in dieser Hinsicht zogen ein paar Ermahnungen von Tante nach sich; wenn ich mich recht erinnere, und es setzte Thränen, wenn ich gut berichtet bin. Aber diese Schatten verflogen bald, und warum es denn eigentlich so gefährlich und solch' ein grosses Verbrechen war, nach Dunkelwerden zu zweien noch auf der Strasse zu sein, das sich gründlich klar zu machen, hatten Sie abends vor dem Schlafengehen wirklich nicht die Zeit, und Ihre Diskussion darüber mit Marie brach mitten in dem Satze ab: »Was thun wir denn, wir gehen unsrer Wege, was ist denn Schlimmes –« Damit schliefen Sie ein, und Marie lachte vor sich hin: sie wusste als Grossstädterin wenigstens so viel, dass man zu nächtlicher Stunde auf der Strasse nichts von Ihnen, aber sehr viel für Sie fürchtete. Aber Sie hatten im Grunde beide zu solchen Überlegungen wenig Anlass: bei jeder grössern Unternehmung, jeder Feierlichkeit und geselligen Zusammenkunft waren die Ritter der Familie, Onkel Ludwig oder der treffliche Vetter Paul, zur Hand. Wie waren sie lieb, freundlich und aufmerksam; sie trugen Regenschirm und Cape, sie holten Wagen und bezahlten Rechnungen. Auf dem Ball besorgten sie Tänzer, zum Theater bestellten sie Billette; wollte Marie das Foyer betrachten, so begleitete sie Paul; wünschten Sie in der Loge zu bleiben, so blieb Onkel Ludwig bei Ihnen. Nach dem Schauspiel ging man soupieren. Es war reizend, zu so später Stunde in raschem Wagen durch die hellen Strassen zu rollen; es war entzückend, an Pauls Arm in die glänzend dekorierten Räume einzutreten, sich so sicher und selbstverständlich an den gedeckten Tisch zu setzen. Gewiss, aber Sie sagten sich nicht, dass ohne Onkel Ludwigs Frack und Pauls weisse Weste Sie sich niemals in diesen Saal getraut oder sich darin herzlich unbehaglich gefühlt haben würden. Sie waren diesen dunklen, männlichen Grundstrich so gewöhnt, und er war so unaufdringlich, so diskret, gefügig wie ein Schatten, dass Sie garnicht merkten, wie eigentlich er – aber ich will nicht vorgreifen.

Ein klein wenig von dem wahren Sachverhalt hat jedoch auch Ihnen damals schon flüchtig gedämmert. Sie entsinnen sich des Tages, wo Onkel und Paul beide nach Hamburg hinüber mussten? An dem Tage ging alles schief, oder besser, nichts ging. Die Billette zum Friedrich Wilhelmstädtischen Theater konnten nicht benutzt werden. »Damen allein können nicht dorthin gehen,« sagte Tante Else. Als Sie mit Marie von der Kunstausstellung zurückkamen und, von Müdigkeit, Durst und Hunger geplagt, baten, in eine Konditorei gehen zu dürfen, als Marie nach langem Zögern einwilligte, da waren Sie beide so unsicher in Ihrer Wahl und in Ihrem Auftreten, dass Sie sich ganz albern und am unrechten Platz vorkamen und gar keine Freude an Ihrem Kirschkuchen hatten. – Mehrere andere Pläne für den Nachmittag und Abend mussten gleichfalls aus Mangel an Herrenbegleitung aufgegeben werden, und als Sie, um Ihrem Ärger Luft zu machen, wenigstens noch einmal mit Marie die Tiergartenstrasse auf und ab laufen wollten, da hiess es: »Liebes Kind, es ist ja schon fast dunkel.«

Das war hart. Und Sie standen oben am Fenster, unter der grossen Fächerpalme, am Spiegeltisch, wissen Sie noch? Und bissen sich auf die Lippen: die schöne, lachende Welt kam Ihnen wie ein Gefängnis und Sie sich wie eine Gefangene vor. »Andere Mädchen gehen aber doch allein aus, Tante,« sagten Sie. Tante that, als höre sie nicht, und das gefährliche Wort fiel zu Boden.

Jawohl, mein Fräulein, andere Mädchen gehen allein aus. Sie hätten es auch einmal, dem Verbot zum Trotz, versuchen und Ihre Erfahrungen sammeln sollen. Andere Mädchen gehen allein aus, aber sie sind mit demselben Augenblick – vogelfrei. Seien Sie hübsch oder hässlich, jung oder alt, herausfordernd oder bescheiden, Sie werden auf Ihrem Wege immer jemanden finden, der sich eine Freiheit gegen Sie herausnimmt, d. h. Sie fühlen lässt, dass er der Herr und Sie ihm gegenüber machtlos sind. Sei es ein Blick, ein Wort, ein Lächeln, eine Geste, eine winzige Kleinigkeit – Blick, Lächeln, Wort und Geste sind nicht so, wie sie sein würden, wären Onkel oder Vetter an Ihrer Seite, sind nicht so, wie dieser jemand sie seiner Mutter oder Schwester gegenüber gelten lassen würde. Und warum? Weil Sie eine Frau sind, die gegen Aufdringlichkeiten keine andere Waffe hat als den passiven Widerstand. Man fürchtet Sie nicht, mein Fräulein, man weiss, dass Sie vielmehr jedes Aufsehen, jede Szene, jeden Skandal fürchten müssen und dass Sie lieber Höllenqualen erdulden, als gegen eine Frechheit anders als passiv reagieren werden. Davor, mein Fräulein, sollte die fortwährende Begleitung Sie beschützen: um auf der Strasse immer respektiert zu werden, müssen Sie eben jemanden bei sich haben, von dem im schlimmsten Falle ein Stockhieb, eine Ohrfeige, eine Forderung zu erwarten ist.

Machen Sie einmal die Probe auf mein Exempel. Stellen Sie sich vor, Sie wären allein ohne Familienanschluss nach Berlin gekommen und in der Eile in das erstbeste Kupee gestiegen. In der zweiten Klasse hätten Sie Ihre Reise vielleicht ganz unbehelligt zurückgelegt; in der dritten wären Sie – jung, hübsch und allein, wie Sie sind – vielleicht den süsslichen Artigkeiten eines Handlungsreisenden oder der aufdringlichen Mitteilsamkeit einer zweifelhaften Dame ausgesetzt gewesen, die nach Berlin »in Kondition« ging, als Kellnerin nämlich.

Am Bahnhof, kein Onkel, kein Vetter; die Dienstmänner reissen sich durchaus nicht um Ihr Gepäck, weil Frauen, dank ihrem wirtschaftlichen Unvermögen nämlich auch in Kleinigkeiten, wie Trinkgeldern, sparsam sind. Sie steigen endlich in Ihre Droschke und kommen in Ihrer »Pension« an. Diese Behausung ist nicht gerade glänzend, aber es geht sauber und ordentlich zu, und am nächsten Morgen gehen Sie sich Berlin ansehen. Sie müssen sich allein zurecht finden, da ist keine Marie, um Sie zu führen. Da man bei Ihrer Erziehung vernachlässigt hat, Sie auf die Himmelsrichtungen achten zu lehren, orientieren Sie sich nur schwer; und da Sie nicht bei Zeiten zur Selbständigkeit angeleitet sind, vergessen, verlieren, verlegen Sie einen Haufen Kleinigkeiten, fühlen sich unsicher und müssen Lehrgeld zahlen. Vor allem haben Sie nie das Gefühl, das jeder junge Mann – und sei es der Ärmste – hat: diese Welt ist für mich gemacht; wer kann mir was anthun? Ihnen sagt Ihr Gefühl nur zu gut, dass Sie von tausend Zufällen abhängen.

Ein Beispiel für viele: Sie hatten glücklich die Leipziger Strasse gefunden und standen mit naivem Entzücken vor den Schaufenstern. Zuerst waren Sie so vertieft, dass Sie garnicht merkten, wie man Sie von der Seite betrachtete. Dann näherte man sich, sprach Sie an; Sie gingen weiter – voll Ärger, denn Sie hätten die schönen Sachen noch gern länger betrachtet – und man folgte Ihnen. Sie eilten, und man eilte nach; Sie verirrten sich, und erst als Sie sich an den nächsten Schutzmann wandten, suchte der Verfolger das Weite. Aber um Ihre harmlose Freude war's geschehen; Sie wagten auch in den nächsten Tagen garnicht mehr vor den Läden stehen zu bleiben. Aber es wurmte Sie: was hatten Sie gethan, um eines billigen und unschuldigen Vergnügens verlustig zu gehen?

Ach, liebes Fräulein, wie waren Ihre Gedanken noch jung! Was Sie gethan hatten? Nichts. Aber Sie waren und sind gesellschaftlich die Schwächere und deshalb dazu bestimmt, ohne Unrecht zu thun, Unrecht zu leiden.

Sie gingen dann in's Museum. Ich glaube, dort passierte Ihnen an diesem Tage nichts; wohl aber am nächsten etwas Ähnliches wie in der Leipziger Strasse. Man verfolgte Sie durch mehrere Säle; diesmal still, ehrerbietig, mit grossen, bewundernden Augen. Ich glaube, es rührte Sie sogar und Sie hätten gern – begeistert und erhoben, wie Sie waren – ein Wort der Aussprache gehabt. Aber Sie waren lieber vorsichtig und wandelten schweigend weiter.

Bei Ihren zahlreichen Wanderungen durch die Galerien fiel Ihnen mit der Zeit einerlei auf: dass Sie sich nämlich auch hier nicht ganz frei und zu Hause fühlten. Waren Sie ermüdet und wollten sich ausruhen, oder sassen Sie einem Lieblingsbild gegenüber, um sich recht zu vertiefen – weiss Gott, Sie merkten dann stets, dass Sie beobachtet wurden; sei es von dem Galeriediener oder andern Besuchern, gerade als ob niemand glauben könne, dass Sie wirklich nur müde oder nur andächtig seien.

Sie haben recht gefühlt, mein Fräulein. Wenn in unsrer heutigen Gesellschaft eine Frau an einem öffentlichen Ort still sitzt, oder steht und wartet, so glaubt ihr selten einer, dass sie dazu sachliche Gründe hat, sondern man nimmt meist an, sie suche Abenteuer oder Rendez-vous.

Sie wissen das ja selbst aus eigenster Erfahrung, wenn Sie z. B. abends die Pferdebahn an der Haltestelle erwarteten. Jedesmal waren Sie irgend einer Aufdringlichkeit ausgesetzt. Ihnen graute zuletzt vor dem Nachhausekommen des Abends; auch wenn nichts passierte, der Gedanke allein machte Sie nervös; das Herz klopfte Ihnen, wenn ein Mann vorbei kam. Wie rechtlos und bange Sie sich in den hellen Strassen der grossen, so hochzivilisierten Stadt vorkamen!

Aber Sie konnten wirklich diese nächtlichen Nachhausewege nicht aufgeben, sonst war ja Ihre letzte Freude, der Theaterbesuch, dahin. Er musste schon ohne das mit Opfern erkauft werden. Es war Ihnen anfangs garnicht behaglich, allein im zweiten Rang zu thronen. Aber daran gewöhnten Sie sich bald. Nur die Pausen blieben unangenehm, weil Sie niemanden zum Aussprechen hatten und wieder das bewusste Misstrauen Ihrer Mitwelt um sich fühlten. Sie gingen auch nicht gern allein in's Foyer. Ein paarmal kamen junge Leute Ihnen artig entgegen. Sie wagten den Versuch, aber fast nie konnten Sie den Ton der höflichen Unterhaltung auf die Dauer festhalten und waren fast immer genötigt, das Gespräch abzubrechen. Da haben Sie sich oft gefragt: Liegt es an mir, dass man glaubt, sich etwas gegen mich herausnehmen zu dürfen? Unschuld! Du bist eine alleinstehende Frau, und die hat in der Gesellschaft noch keinen festen Platz.

Sie waren zum Besuch nach Berlin gekommen, und schon war Ihr Vergnügen ein sehr gemischtes. Ich setze nun den Fall, Sie leben in Berlin oder sonst in einer grössern Stadt als alleinstehende Frau, die sich ihr Brot verdient, als Lehrerin, Verkäuferin, Kassiererin u. s. w.

Da sind Sie nun den ganzen Tag beschäftigt; Sie kommen gegen Abend oder spät abends nach Hause. Ihre vier Mauern sehen Sie an; keine Familie, kein Heim, kein Behagen, keine Aussprache. Was bleibt Ihnen? Ihre vier Wände! Denn wo wollen Sie hingehen, um auszuspannen und sich zu amüsieren? Spazieren? Ja, so allein ist das eine schlimme Sache; die hübschen, einsamen Wege, wo Luft und Grün und keine Menschen sind, die sind nicht ganz geheuer. Zu späten Stunden allein lustwandeln, »schickt sich nicht«, und Sie haben, als Lehrerin besonders, auf Ihren Ruf zu achten. Gesellige Zusammenkünfte mit Berufsgenossinnen? Die sind am Wochentage nicht für Sie zu haben; es giebt keine Restaurants, wo Sie und Ihresgleichen fröhlich und unbeanstandet zusammen sitzen könnten. Eine schöne Musik, einen launigen Sänger hören? Alleinstehende Damen pflegen nicht in solche Lokale zu gehen. Und ich sehe schon, mein Fräulein, Sie werden nichts thun können, als Ihr Fensterlein öffnen, den Rosenstock davorstellen und in die Nacht hinaus vom Prinz Charmant träumen. Das macht ein wenig traurig, und wenn man das gar alle Tage thut, während man Jugendlust und Jugendfreude in den Adern hat – dann, nun dann zweifelt man daran, dass alles zum besten sei in dieser besten aller Welten.

Und nun der Schluss. Ich habe Sie in eine Welt schauen lassen, an die Sie sonst in Ihrem Luxus nicht denken. Dass ich nicht übertrieben habe, glauben Sie mir nicht nur, nein, Sie wissen es; durch jene kleinen, zeitweisen Verstimmungen und Beschränkungen, denen auch Sie unterworfen sind, haben Sie gemerkt, dass die Frau in dieser schönen Welt ohne den Mann an ihrer Seite unfrei ist.

Wie wollen wir da helfen? Sie meinen, indem wir jeder Frau einen Mann geben?

O, still, ich bitte Sie, das darf heute wirklich die naivste Weltverbesserin nicht mehr zu sagen wagen. Man kann nur geben, was man hat! – Aber auch abgesehen davon: wenn wir selbst jeder Frau auf ewige Zeit einen Onkel Ludwig und einen Vetter Paul zur Seite stellen könnten, ich würde immer eine andere Lösung vorziehen: ich würde die Welt so einzurichten suchen, dass eine Frau weder des Onkel Ludwig noch des Vetter Paul bedarf, ich würde die Frau gesellschaftlich frei und weltmündig machen. Meinen Sie nicht auch, dass dies besser sei?

Ja? Das ist schön. Dann helfen Sie uns dazu!


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